Prof. Dr. Reinhard Krüger
Nichts ist normaler als ein Ritual und nichts ist ritualisierter als das Ereignis, das man alle Jahre wieder feiern kann – oder muss –, nämlich wenn sich der Tag der eigenen Geburt jährt. Zum besonderen Muss wird dies, wenn man auch noch berühmt ist und die Öffentlichkeit erwartet, dass man sich feiern lässt. Also werden für solche Menschen Geburtstagsfeiern von der Gesellschaft vorbereitet, die sie damit verpflichtet, an ihrer Feier auch teilzunehmen ... also das alljährlich Normale zu tun. So auch in Princeton, der Universitätsstadt im US Bundesstaat New Jersey, am 14. März 1951: Es ist der 72. Geburtstag Albert Einsteins, der hier schon vor seinem Zwangsexil aus Nazi-Deutschland als Professor tätig war. Er hat nicht viel für derartige Veranstaltungen übrig, doch ergibt er sich in sein Schicksal und folglich auch dem Ritual. Nach dem Lunch aber verlässt er seine Feier, steigt von Fotografen verfolgt in ein bereitstehendes Auto, wo auch der Fotograf Arthur Sasse seine Kamera hineinhält: Einstein streckt ihm seine Zunge heraus, Sasse drückt ab und es entsteht das berühmteste Einstein-Foto überhaupt.

Abb. 1: Arthur Sasse: Albert Einstein, 14.3.1951
Es dokumentiert den Moment, in dem die Bedrängnis durch soziale Umstände so groß geworden ist, dass sich Einstein nur mit einer aggressiven Geste der Abwehr verteidigen kann. Die Zunge herauszustrecken, gilt in zahlreichen Kulturen als Zeichen äußerster, symbolischer Aggression, Abwehr und Beleidigung. In der Öffentlichkeit ist diese Geste als Ritual zu beobachten, wenn neuseeländische Sportmannschaften auf andere treffen und dort das kommende sportliche Aufeinandertreffen mit ihrem ritualisierten, aus der Maori-Kultur stammenden Kampftanz des »Haka« vorbereiten.

Abb. 2: Gesichtsausdrücke der Maori während des Haka, Neuseeland.
Obgleich sich Einstein sicherlich durch die Situation des Erleidens von Sozialstress dazu verleiten ließ, die Zunge herauszustrecken und damit in jedes Fettnäpfchen getreten ist, das bereitstand, gibt er später eine ganz andere Interpretation der Situation. Seiner Vertrauten Johanna Fantova gegenüber, einer Bibliothekarin in Princeton, die sich Notizen über ihre Gespräche mit Einstein machte, interpretierte er diese Geste im Kontext des politischen Klimas in den USA der McCarthy-Zeit folgendermaßen: »Die ausgestreckte Zunge gibt meine politischen Anschauungen wieder.«1 Später fasste er die politische Lage in den USA in einem Satz zusammen: »Die Herrschaft der Dummen ist unüberwindlich, weil es so viele sind und ihre Stimmen genauso zählen wie unsere.« Er interpretierte seine Lage offenbar so, dass er sich in Opposition gegenüber jener US-amerikanischen Mehrheit fühlte, die Michael Moore viel später als die stupid white men beschreiben wird. Seine Resistenz gegenüber den Unbilden des sozialen Zusammenlebens unterstreicht Einstein mit den Worten: »Es gibt niemanden, der mich verletzen kann, es fließt an mir ab wie Wasser am Krokodil.« Es ist offensichtlich so etwas wie eine undurchlässige ›innere Haut‹ der Abwehr sozialer Daten, die ihn dazu veranlasste, in Abwehrhaltung zu gehen, wenn er hinsichtlich der Wahrung der Regeln sozialer Kommunikation zu sehr gefordert war. Doch kannte Einstein diese Regeln ganz genau. Er konnte unterscheiden zwischen demjenigen, der sich diese Geste in der Öffentlichkeit erlauben darf, und dem, der diese in keinem Fall zeigen darf. Auf einem Exemplar der insgesamt neun Abzüge dieses Bildes, die Einstein anfertigen ließ, schrieb er folgende Widmung an den Journalisten Howard K. Smith in deutscher Sprache: »Diese Geste Dir gefällt, weil sie gilt der Menschenwelt. Der Zivilist kann es sich leisten, kein Diplomat kann sichs erdreisten. Ihr treuer und dankbarer Zuhörer. A. Einstein.«2
Hinter dem ersten, misanthropischen Satz erkennen wir als zweiten Albert Einsteins Ausdruck der Einsicht in die Funktionsweise sozialer Konventionen. Er, von dem ja immer wieder vermutet wird, dass er wenigstens am Rande des Autismus-Spektrums einzuordnen sei, kannte offensichtlich die Regeln der sozialen Interaktion so genau, dass er sogar zu unterscheiden wusste zwischen den verschiedenen sozialen Funktionsträgern und dem ihnen jeweils angemessenen Typus des kommunikativen Handelns.
Ein zweiter Fall: Es wird berichtet, dass Leonardo da Vinci sich immer wieder plötzlich grimassierend in der Öffentlichkeit den überraschten Menschen zeigte, um an deren Gesichtsausdrücken Studien zur Mimik betreiben zu können. Man stelle sich vor, heutzutage spränge jemand nicht vom damaligen Bekanntheitsgrad da Vincis in der Öffentlichkeit herum und zeigte sich plötzlich fratzenschneidend den Passanten einer Fußgängerzone. Wie lange würde es dauern, bis jemand den Verdacht hegte, dass hier nicht etwa ein Malergenie unterwegs sei, um seine Gesichterstudien zu betreiben, sondern ganz einfach ein ›ganz normaler Irrer‹, der nur die öffentliche Ordnung störte?
Die genannten Beispiele zeigen die ganze Widersprüchlichkeit der Lage: Wer kann es sich wann leisten, von der Alltagsnorm abweichendes kommunikatives Verhalten zu zeigen? Handelt es sich dabei um Episoden, kann die Öffentlichkeit zwar daran Anstoß nehmen. Kaum jemand aber käme ernsthaft auf die Idee, einen pathologischen Zustand, vielleicht im Sinne der Definition des Autismus nach dem aktuellen Diagnostischen und statistischen Handbuch mentaler Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5th Edition, 2013, abgekürzt DSM-V) anzunehmen und Albert Einstein oder Leonardo da Vinci einem therapeutischen Sozialtraining unterziehen zu wollen. Und dies, obgleich Einstein sich noch Jahre später, also nachhaltig zu der Richtigkeit dieser Geste bekannt hat, und auch da Vinci seine Studien zu Gesichtsausdrücken sicherlich mehrfach ausgeführt haben wird. Wir kennen ja seine Bücher angefüllt mit entsprechenden Zeichnungen. Immerhin wäre somit bei beiden auch das Kriterium der Dauerhaftigkeit einer solchen Handlungsweise gegeben, was üblicherweise ja wiederum eines der Kriterien für das Vorliegen einer Störung ist.
Das Ziel einer jeden therapeutischen oder pädagogischen Intervention im Bereich des Sozialtrainings dürfte immer sein, den betroffenen Menschen zu helfen, in sozialer Hinsicht dem durch die soziale Erwartung abgesteckten, mehr oder weniger breiten Rahmen einer Verhaltensnorm nicht nur zu genügen, sondern in diesem Rahmen auch möglichst erfolgreich und mit Befriedigung sozial zu interagieren. Daher spielt die Frage, was denn eigentlich die Regeln des sozialen Zusammenlebens sind, eine ebenso große Rolle wie die nach den einzuhaltenden Normen des kommunikativen Handelns. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass es durchaus aus der Sicht der Betroffenen – wie im Titel einer einschlägigen Publikation – heißen kann »Glaubt nur weiter, ich wäre gern normgerecht« (Schirmer 2010) Nicht normgerecht leben und handeln zu wollen, sollte in unseren Gesellschaften durchaus als Grundrecht angesehen werden, solange es nicht die Interessen und die Freiheit anderer einschränkt oder zur Belastung des sozialen Systems führt. Dies kann man moralisch-ethisch mit Immanuel Kants »Kategorischem Imperativ« begründen: »Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann« (Kant 1968). Man solle also stets so handeln, dass die Maxime des eigenen Handelns zur Maxime des Handelns aller werden kann. Aufs Pragmatische heruntergebrochen kann man diesen Imperativ mit Rosa Luxemburg weiterdenken, wonach die eigene Freiheit zu denken und zu handeln ihre Grenzen dort findet, wo sie die Freiheit der anderen einschränkt.3 Dies bedeutet aber, dass die Interessen der anderen so erkannt und vergegenwärtigt werden sollten, dass sie als die eigenen Interessen vorgestellt werden können und man sein eigenes Handeln so reguliert, dass diese vorgestellten Interessen der anderen Menschen dann nicht eingeschränkt werden.
Wenn Albert Einstein auf dem berühmt gewordenen Foto den Fotografen die Zunge weit herausstreckt – oder wenn Johnny Cash der »normalen« amerikanischen Öffentlichkeit den ›Stinkefinger‹ entgegenstreckt –, dann sind dies kommunikative Handlungen, die im Rahmen des öffentlichen Auftretens eines »schrulligen«, aber genialen Gelehrten oder eine Künstlers als legitim erscheinen mögen. Einem Vertreter der neurotypischen Fraktion der Menschheit – manche Menschen sagen auch »schwerstmehrfachnormal« – sähe man eine solche Handlung kaum nach. Artikuliert man solches in Gegenwart eines Polizisten oder sogar zur Kamera, mit der man beim zu schnellen Fahren fotografiert wird, dann riskiert man Strafen wegen Beleidigung von Amtspersonen. Dass der neurotypische Mensch diese Regeln und Einschränkungen jedoch in der Regel kennt, selbst wenn er sie absichts- und wirkungsvoll brechen will, erkennen wir am Beispiel des früheren kanadischen Ministerpräsidenten Pierre Trudeau. In einer heftigen Parlamentsdebatte rief er dem politischen Gegner nicht etwa »fuck you!« zu (was in der angelsächsichen Welt nach »motherfucker« und »cunt« auf dem dritten Rang der schwerwiegenden Schimpfwörter steht), sondern sagte nur »read my lips«. Danach zeigte er die stummen Lippenbewegungen, die entstehen, wenn man die Worte »fuck you!« ausspricht. Er selbst interpretierte seine Lippenbewegungen auf Journalistennachfrage später als die Bewegungen, die zu sehen sind, wenn man »fuddle duddle« sagte. Tatsächlich hatte er damit einen Euphemismus für »fuck you« gebildet, was dazu führte, dass man heute in Kanada »fuddle duddle« sagen kann und jeder weiß, was damit gemeint ist.
Dies ist der legitime Rahmen, in dem ein bis heute als außergewöhnlich angesehener, neurotypischer Mensch wie Pierre Trudeau also durchaus imstande war, selbst die eigenen, von der Norm abweichenden Artikulationen so zu steuern, dass sie noch als sozial kompatibel durchgehen mochten. Immer ist also die Herstellung von regelgetreuer Normalität der Rahmen der Steuerung des eigenen Handelns. Doch dieser Rahmen ist von sozialer Klasse und kulturellem Rang her ebenso verschieden wie von Nation zu Nation und von Kultur zu Kultur.
Anders als bei Leoanardo da Vinci und Albert Einstein besteht, wenn man Menschen mit Autismus genau beobachtet, sehr schnell Einigkeit darüber, dass sie Auffälligkeiten im Verhalten aufweisen, die sich unter anderem auch dauerhaft in ihrer sozialen Interaktion zeigen. Daher ist auch nach allen Diagnosehandbüchern der Autismus als eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Fähigkeit zur angemessenen sozialen Interaktion definiert worden. Autismus zeichnet sich durch eine Abweichung von normgerechtem Verhalten aus, die das Resultat einer Störung der Entwicklung sei. Trifft diese Beschreibung zu, so ist es sofort einsichtig, weshalb vor allem Wissen vermittelt werden muss, wie die Fähigkeit zur sozialen Interaktion so trainiert werden kann, dass eine bessere, erfolgreichere und glücklichere Teilhabe der betroffenen Menschen am sozialen Leben möglich wird.
Besteht darüber weitgehende Einigkeit, so ist dies doch weniger der Fall, wenn es erstens darum geht, zu erklären, welches denn die Ursachen des Autismus sind, und zweitens mit welchen Maßnahmen man am besten korrigierend eingreifen kann. Wie selbstverständlich gehen wir mit Begriffen wie »Normalität« und »Störung« um als sei es allen bewusst, was hiermit gemeint ist. Tatsächlich benötigen wir im Alltag keinen analytischen Verstand, um »normal« und »gestört« zu unterscheiden: Wir wissen dies intuitiv. Es handelt sich hierbei um routiniert von uns gebildete Urteile, die es uns gestatten, uns schnell in der sozialen Umwelt zu orientieren und unsere potentiellen Kommunikationspartner einzuschätzen. Das intuitive, also nicht reflektierte Urteil, wonach wir »normal« und »gestört« unterscheiden und erkennen können, leitet unsere Wahrnehmung so automatisiert, als seien es Vorurteile. Es stellt sich jedoch die Frage, ob derartig unreflektierte Urteile im Falle des professionellen Umgangs mit Menschen mit Beeinträchtigungen der Fähigkeiten sozialer Interaktion angebracht und nützlich sind.
Üblicherweise wird eine ganze Reihe von möglichen Ursachen von »mentalen Störungen« genannt, wobei diese Ursachen meistens nur als das Ergebnis der Beobachtungen von Phänomenen benannt werden. Wird beispielsweise eine mangelnde Fähigkeit der Entwicklung einer theory of mind festgestellt, so trifft dies möglicherweise bei einer ganzen Reihe von Menschen mit Autismus zu, erklärt aber das Phänomen der Beeinträchtigung des kommunikativen Handelns von seinen Ursachen her keineswegs.
Unter kommunikativem Handeln wird hier der Einsatz aller dem Menschen verfügbaren Zeichensysteme verstanden, und zwar von der Rede über die Augensprache, die Mimik, die Gestik und Körpersprache bis hin zu metasprachlichen Zeichen (Lachen, Schreien, Hüsteln, Räuspern, Durchatmen, mit der Zunge schnalzen), Zeigeverhalten (Deixis), Näheverhalten (Proxemik). Mit all diesen Zeichensystemen – und mit noch vielen mehr – kommunizieren Menschen unter gegebenen historischen und kulturell geprägten Umständen miteinander, was den einen mit größerem und den anderen mit geringerem Erfolg möglich ist.
Nun ist es durchaus so, dass spezifische Trainingsprogramme, die das Ziel haben, die soziale Kompetenz zu erhöhen, auch ihren Lernerfolg haben, wenn sie nur ausreichend dauerhaft betrieben werden. Doch einem tieferen Verständnis der Ursachen und damit möglicherweise einer noch zielgenaueren Anwendung der Methoden ist man damit noch nicht auf den Grund gekommen.
Dass es Menschen gibt, denen der Einsatz von Zeichen der Kommunikation genauso schwerfallen kann, wie ihnen überhaupt das Erkennen dieser Zeichen schwerfällt, liegt daran, dass die Zeichen, die wir verwenden, meistens das Ergebnis von unendlichen (und in Hunderten, wenn nicht Tausenden von Generationen eingeübten) Abstraktionsprozessen sind. Diese zu artikulieren und einzusetzen, wiederholen wir selbst Hunderte oder Tausende von Malen, bis wir sie angemessen verwenden können. Mit diesen Zeichen teilen wir anderen Menschen die Inhalte unserer Wahrnehmungen oder unseres reflektierenden Bewusstseins mit. Menschen mit Autismus weisen jedoch eine Wahrnehmungsbesonderheit auf, die gerade darin besteht, dass sie in einzelnen oder gar sehr vielen Bereichen der Wahrnehmung nicht zur Konstruktion von Abstraktionen imstande sind. Abstraktionen werden immer auf der Grundlage (der Identifikation oder der Behauptung) gemeinsamer Merkmale verschiedener Objekte der Wahrnehmung gebildet. Es sind die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Objekten, die es uns gestatten, Abstraktionen zu konstruieren, die ja grundsätzlich von dem Detail der einzelnen Objekte absehen müssen. Hierin liegt nun die Spezifik der Wahrnehmung vieler Menschen mit Autismus, nämlich dass sie Ähnlichkeiten zwischen den Objekten nicht feststellen können, weil sie diese erstens nur schlecht (oder auch zu genau) vergleichen und ihnen zweitens alle Informationen, die sie von einem Objekt wahrnehmen, daher als gleichwertig erscheinen können. Die Tatsache beispielsweise, dass neben einem weißen glatten Ei ein braunes mit unebener Oberfläche liegt, muss nicht unbedingt Anlass sein, zwischen diesen eine Ähnlichkeit festzustellen. Das Ergebnis ist, dass die Bildung allgemeiner Kategorien möglicherweise von erheblichen Beeinträchtigungen gekennzeichnet ist. Damit ist aber die Grundlage für die Wahrnehmung, die Verarbeitung und die Verwendung von Zeichen gleichfalls beeinträchtigt. Aufgrund neuronaler Besonderheiten können von Menschen mit Autismus Abstraktionen möglicherweise nur mit Einschränkungen gebildet werden, was dazu führt, dass auch die Wahrnehmung der Daten aus der sozialen Umwelt beeinträchtigt sein kann: Diese Daten sind Zeichen, und wer Zeichen aufgrund ihres Abstraktionscharakters nicht als solche wahrnehmen und verarbeiten kann, der kann aus ihnen auch nicht auf die Absichten des Kommunikationspartners schließen. Es kann sogar so sein, dass der betroffene Mensch mit Autismus die sozialen Daten noch nicht einmal als solche identifizieren kann und diese als gleichwertig mit den anderen Informationen der Umwelt sieht, was erhebliche Irritationen stiftet. Umgekehrt ist der Mensch mit neurotypischer Kognition in der Regel imstande, auf der Basis nur sehr weniger Daten und damit auch sehr schnell, ein Gesicht als solches zu erkennen. Daher reicht zur Konstruktion eines Gesichts die Anwendung eines alten Kinderreims aus: »Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht«. Es handelt sich dabei auch um die Konstruktionsanweisung für Smiley, der für einen neurotypischen Menschen nicht etwa in eine gelbe Scheibe, eine Kreislinie, zwei Punkte und einen Halbkreis zerfällt, sondern von dem die Wahrnehmung solcher graphischer Konstrukte zum Bild eines menschlichen oder wenigstens doch eines dem Menschen ähnlichen Gesichts zusammengefügt werden. Die Einzelwahrnehmungen werden von dafür zuständigen Neuronenmodulen im Gehirn zu einer Gesamtwahrnehmung integriert und dann entsprechend interpretiert. Menschen mit neurotypischer Ausstattung sind daher u. a. Spezialisten für die Wahrnehmung von Gesichtern, was die Voraussetzung dafür ist, dass die von diesen Gesichtern ausgehenden Zeichen erkannt und interpretiert werden können.
Es kann also gleichermaßen die Fähigkeit beeinträchtigt sein, soziale Daten überhaupt als solche zu identifizieren wie auch die Fähigkeit, den Zeichen – als abstrakten Gebilden – einen konkreten Sinn zu geben. Die Wahrnehmung von Menschen mit Autismus tendiert in vielen Fällen zum Konkretismus, d. h. zur Überbewertung der Details, was der Bildung von Abstraktionen und Generalisierungen im Wege steht. Auf der anderen Seite ist der Konkretismus in der Wahrnehmung ein Stil, der es gestattet, dort Details zu entdecken, wo der neurotypisch ausgestattete Mensch bereits auf dem Wege der Generalisierung und Abstraktion ist (vgl. Krüger 2013). Praktisch bedeutet das, dass der Mensch mit Autismus möglicherweise noch an der Identifikation eines Wahrnehmungsinhalts als Zeichen arbeitet, während der neurotypische Mensch das Zeichen bereits verstanden hat. Es gibt in dieser Frage jedoch keine absoluten Maße, nach denen entschieden werden könnte, was neurotypisch ist und was autistisch. Jeder von uns ist in verschiedenen Bereichen mehr oder weniger intensiv zur Generalisierung oder zur Konkretisierung in Wahrnehmungshandlungen befähigt. Wir können z. B. üblicherweise Millionen von verschiedenen Menschengesichtern unterscheiden, verfügen in dieser Frage also über einen hochgradig konkretistischen Wahrnehmungsstil. Was wir als neurotypische Menschen allerdings auch können, das ist die generalisierenden Feststellung, dass es sich bei all diesen Gesichtern um Menschengesichter handelt. Dies ist bei Menschen mit Autismus in extremen Fällen in nur eingeschränktem Maße der Fall. Nicole Schuster berichtet, dass für sie in ihrer Kindheit ihre erste Therapeutin gleichbedeutend war mit den anderen Objekten im Zimmer, in dem die therapeutischen Sitzungen stattfanden. Dietmar Zöller berichtet, dass er befürchtete, das Bild seiner Mutter zu vergessen, als sie zu einem Krankenhausaufenthalt das Haus verlassen musste, und Tito Rajarshi Mukhopadhyay konnte seinen Therapeuten nur wiedererkennen, wenn er ihn in einer bestimmten, grünen Umgebung traf.
Die Gefahr, dass man Gesichter nicht oder nur schlecht wiedererkennen kann, liegt auch darin begründet, dass jedes einzelnen Bild der jeweils wahrgenommenen Person nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt wird. Das bedeutet, dass von den Einzeleindrücken nicht so weit generalisiert und abstrahiert werden kann, dass das Wiedererkennen unter allen Bedingungen gesichert ist. Diese mangelnde Fähigkeit zur Generalisierung für die Wahrnehmung einer einzelnen Person setzt sich auf der allgemeinen gesellschaftlichen Dimension fort: Einzelne Gesichter werden möglicherweise ebensowenig erkannt wie menschliche Gesichter trotz ihrer Verschiedenheit als Charakteristikum der Spezies Mensch identifiziert werden. Die Fähigkeiten der Gesichterwahrnehmung sind auch bei Menschen mit Autismus so verschieden intensiv ausgeprägt, dass es besser ist, ein umfangreiches Spektrum von sehr stark ausgeprägten bis zu sehr schwach ausgeprägten Fähigkeiten der Gesichterwahrnehmung anzunehmen.
Wahrnehmungen prasseln nicht einfach so auf unsere Sinnesorgane ein. Sie sind das Ergebnis einer speziellen Aktivität unseres Gehirns, die aus den Daten der Außen- wie der Innenwelt auswählt, bestimmte davon für wichtig und unwichtig erklärt, mit gespeicherten Daten vergleicht und schließlich zuordnet. Ein plötzlicher, stechender Schmerz in der Handfläche, der zunehmend heftiger wird – und auf eine bestimmte Weise nachhaltig ist –, wird vom Gehirn irgendwann mit anderen Schmerzen dieser Art verglichen, bis sich aufgrund der Charakteristik des Verlaufs des Schmerzes in Bruchteilen von Sekunden herausstellt, dass man sich nicht etwa eine Stecknadel in die Handfläche gestochen hat, sondern dass eine Wespe dort ihren Stachel und ihr Gift hinterlassen hat. Dies findet bereits – als Wahrnehmungshandlung und Interpretationsleistung des neuronalen Systems – statt, noch bevor die Handlung ausgelöst wird, die Ursache dieses Schmerzes zu beseitigen.
Abstraktion vom konkreten Erlebnis und Generalisierung sind neuronale Verfahren der Routinisierung und Abkürzung von Aktivitäten der Wahrnehmung, die man sich als bewusst vollzogene Handlungen des Gehirns vorstellen muss. Sie bringt letztlich eine verminderte Intensität der Aufmerksamkeit und damit auch einen verringerten Energieaufwand für den Gewinn und die Speicherung von Informationen mit sich. Damit diese Wahrnehmungshandlungen routinisiert stattfinden können, müssen allerdings auch entsprechende neuronale Verbindungen im Gehirn vorhanden sein. Das führt dazu, dass man beispielsweise Menschen sogar wiedererkennen kann, selbst wenn nur einige wenige ihrer visuellen Qualitäten wiedergegeben werden. Dies spielt in der Karikatur ebenso eine Rolle wie wenn man lediglich die Schwarz-Weiß-Umrisse eines Körpers wiedergibt:

Abb. 3: Körperschema einer bekannten deutschen Politikerin, aus: Der Stern 37, 2013, S. 78
Ebenso sind Menschen mit neurotypischer Ausstattung aufgrund ihrer Abstraktionsleistungen imstande, allen graphischen Konstruktionen, die Elemente aufweisen, die als Darstellung eines Gesichts interpretiert werden können, auch tatsächlich als Gesicht zu erkennen.

Abb. 4: Kind, m. 9 Jahre: »Assemblage« aus externer Festplatte, Zahnstocher, Geldstücken und verbogener Gürtelschnalle, August 2013
Wenn ein Mensch nun über eingeschränkte Möglichkeiten der Wahrnehmung und der Verarbeitung sozialer Daten verfügt, dann ist er wenigstens teilweise aus der Kommunikationsgemeinschaft ausgeschlossen und zweitens ist es ihm nur mit erheblichen Einschränkungen möglich, aus den sozialen Daten zu entschlüsseln, was der Kommunikationspartner fühlen, meinen oder denken könnte (vgl. Tomasello 2002). Wie wir sehen, kann dies aber nicht mit einer unzureichend ausgebildeten theory of mind erklärt werden, denn diese ist nicht ursächlich, sondern nur das Resultat einer andersartigen »Verschaltung« des Wahrnehmungsapparates, der das Ergebnis und die Voraussetzung einer anderen Art von Wahrnehmungsverarbeitung ist: Diese ist nämlich eine Spezifik von Menschen mit Autismus, die neuronal bedingt ist.
Die Ursachen der Einschränkungen im Bereich der sozialen Kognition liegen also nicht in einer mangelhaft ausgebildeten theory of mind (denn diese ist nur das Ergebnis einer besonderen Wahrnehmungsbeeinträchtigung), sondern in den neurobiologischen Besonderheiten von Menschen mit Autismus. Um also zu verstehen, womit wir es hierbei zu tun haben, reichen rein phänomenologische Beschreibungen nicht aus, sondern wir müssen der Problematik auf den Grund gehen, die in der neurobiologischen Verfassung von Menschen mit Autismus selbst liegt. Diese, so die These, ist keine Störung, sondern Ergebnis einer vom Zusammenspiel zwischen Zufall und äußeren Bedingungen bestimmten Entwicklung des Gehirns.
Wir müssen bei der Ursachenforschung also erheblich tiefer vordringen und nur wenn wir die Ursachen präziser erkennen können, werden wir auch imstande sein, nicht nur an der Oberfläche der Phänomene »abweichenden Verhaltens« versuchsweise zu intervenieren, sondern von der Tiefe der Ursachen heraus an die Frage heranzugehen.
Bei der Entwicklung eines menschlichen Fötus werden in der Phase des Gehirnwachstums bis zu 500 000 Neuronen und 1,8 Millionen Synapsen pro Sekunde gebildet. Schon aus einfachsten statistischen Erwägungen heraus wird klar, dass hier eine zufallsbedingte Streuungsbreite bei der Entwicklung des Gehirnaufbaus eine Rolle spielen muss. Diese ist aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive auch sinnvoll und erforderlich, um ein ausreichend breites Spektrum an Möglichkeiten zu schaffen. Dieses kann im Falle, dass die Spezies Mensch unter Überlebensstress – oder erhöhte Anforderungen beim Überleben – gerät, dazu führen, dass eine gewisse Anzahl von Menschen neuronal so vorteilhaft ausgerüstet ist, dass die Art sich weiter vermehren und überleben wird. Solche Veränderungen sind in der Geschichte der Menschwerdung wenigstens zweimal geschehen. Durch die Verdoppelung von Genen, die das Wachstum und den Aufbau des Gehirns regulieren, trat eine Verlangsamung des Wachstums der Neuronenäste ein. Dadurch konnten vermehrt Querverbindungen zwischen den Neuronenästen gebildet werden. Die qualitativen Sprünge in der Entwicklung des Gehirns des Menschen fanden also nicht statt, indem das Gehirn etwa größer wurde, sondern indem sich global betrachtet die einzelnen Gehirnareale noch immer intensiver vernetzten.
Dies führte dazu, dass das für den heutigen Menschen charakteristische Gehirn verstärkt vernetzt ist. Das bedeutet, dass zahlreiche Ansammlungen von Neuronen, die durch Synapsen miteinander verbunden sind, Module bilden, die besondere Aufgaben bei der Datenverarbeitung wahrnehmen. Diese Module sind üblicherweise wiederum miteinander verbunden, was zur Ausbildung der heute für das menschliche Gehirn eigentümlichen Leistungsfähigkeit führt. Eine solche Aufteilung der Aufgaben im Gehirn erhöht die Verarbeitungsgeschwindigkeit und multipliziert die Verarbeitungskapazität. Dieser Aspekt des menschlichen Gehirns wird die ›globale Konnektivität‹ genannt, die sich in einem gewissen Rahmen zufälligerweise einstellt und von der es durch den Zufall bedingte Abweichungen geben kann.
Die These von der zufälligen Konfiguration der Gehirnstrukturen wird heutzutage von den Ergebnissen der evolutionären Entwicklungsbiologie bestätigt (vgl. Caroll 2008). Dabei wird vor allem untersucht, wie genetische Programmierung und äußere Bedingungen bei der Entwicklung eines Einzelwesens zusammenwirken. Vereinfacht kann man sagen, dass es erstens solche Prozesse bei der Entwicklung eines Wesens gibt, die unbedingt unverändert eingehalten werden müssen, damit das entstehende Wesen überhaupt zu der Spezies gehört. Zweitens vollziehen sich darauf aufbauende Entwicklungsprozesse in Abhängigkeit von äußeren Bedingungen im Rahmen eines vorbestimmten Spektrums von Möglichkeiten. Drittens können andere sich nach vollkommen zufälligen Impulsen vollziehen. Bei jedem Menschen müssten sich also bei normaler Entwicklung beispielsweise fünf Knospen an den entstehenden Armen bilden, aus denen dann die Finger wachsen. Wie lang die einzelnen Finger wachsen, ist dann beeinflusst von den hormonellen Gegebenheiten, unter denen sich das Wachstum der Finger vollzieht. Hinzu kommen Daten, die von den entstehenden Fingern zurückgeschickt werden, die wiederum der Regulierung des Fingerwachstums dienen. Bei der Ausprägung der Fingerkuppen – d. h. der Rillen auf ihnen – schließlich besteht eine derartig große Freiheit in der Gestaltung, dass sogar eineiige Zwillinge nicht identische Papillarlinien aufweisen. Dies trifft bei eineiigen Zwillingen auch für die Iris, das System der Venen, die biometrisch messbaren Unterschiede im Gesicht zu (vgl. Bauer) und es dürfte für viele andere Bereiche des Körpers – z. B. die Struktur des Gehirns – auch zutreffen.
Das entstehende Gehirn bildet sich als neuronales Gegenstück zu dem entstehenden und innervierten Körper. Jede Region des Gehirns befindet sich in einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Beziehung zum Körper, den es regulieren soll. So wie alle Teile der Körper von Menschen einander ähnlich sind, so sind auch ihre Gehirne ähnlich. Das bedeutet aber auch, dass sie nicht identisch aufgebaut sind, sondern eben nur ähnlich.
Die Informationen, die aus den gleichfalls einander nur ähnlichen Sinnesorganen stammen, sorgen für weitere Strukturbildung im Gehirn. Doch auch diese Prozesse führen nur zur Herausbildung ähnlicher und in ähnlicher Weise miteinander verschalteter Gehirnareale, nicht jedoch zu identischen Ergebnissen. Insgesamt ergibt sich somit von der fötalen Entwicklung des Gehirns bis zur vollständigen postnatalen Ausbildung der Gehirnstrukturen, mit denen der Mensch ins eigenständige Leben eintritt, etwa folgendes Bild: Die notwendige Biodiversität innerhalb der Spezies Mensch manifestiert sich auch als Neurodiversität bei den entwickelten Individuen der Spezies Mensch. Wir unterscheiden uns nicht nur von den anderen Lebewesen, sondern auch mehr oder weniger deutlich voneinander in jeder Hinsicht, also auch bezüglich des Aufbaus unseres Gehirns. Biodiversität bedeutet demzufolge nicht nur die Existenz einer Vielfalt von Arten, sondern auch das Vorhandensein von deutlich erkennbaren Unterschiedenen zwischen den Individuen einer Spezies (vgl. Picq 2013). Davon abgeleitet müssen wir auch die Neurodiversität der Individuen anerkennen, wobei die Gehirne so verschieden sein können wie die Gesichter, die Iris oder die Fingerrillen (Papillarlinien) und mit Sicherheit noch vieles andere mehr.
Es gilt hier, was allgemein in der Entwicklungsbiologie gilt: Die Gene erzeugen Möglichkeiten und die Umwelt stellt die Bedingungen her, unter denen sich diese Möglichkeiten als brauchbar erweisen können (vgl. Caroll, Grenier & Weatherbee 2009). Übertragen auf das Gehirn bedeutet das: In der Entwicklung der Vielzahl der Individuen der menschlichen Spezies entsteht eine Vielzahl von Möglichkeiten der neuronalen Verschaltungen. Doch nur ein bestimmtes, wahrscheinlich aber sehr großes Spektrum an Möglichkeiten gestattet es dem Einzelwesen, sein Gehirn in angemessener Weise im sozialen Umfeld so zu formatieren, dass es in seiner natürlichen und sozialen Umwelt überlebensfähig und funktionstüchtig ist.
Wir werden nicht alle mit dem gleichen Gehirn geboren, sondern wir verfügen sogar ab der fötalen Entwicklung unseres Gehirns über eine verschiedene neuronale Ausrüstung. Schon die geschmacklichen Vorlieben von Müttern während der Schwangerschaft sorgen über den Geschmack des Fruchtwassers dafür, dass sich beim Fötus geschmackliche Vorlieben herausbilden. Die in der europäischen Kultur und in den von dieser abhängigen anderen Kulturen verbreitete Ablehnung von Insekten als Speise ist Ergebnis kultureller Formung und nicht etwa ein artspezifisch angeborenes Verhalten. Alles dies und noch vieles mehr manifestiert sich in deutlich identifizierbaren neuronalen Verbindungen.
Biodiversität und in der Folge davon auch die Neurodiversität gehören zu den Grundcharakteristika des Menschen und sicher auch aller anderen neuronal gesteuerten Lebewesen. Wahrscheinlich kann hiervon die von Eric Kandel (2006) für seine Untersuchungen wegen der Einfachheit ihres Neuronensystems bevorzugte Meeresschnecke Aplysia nicht ausgenommen werden. Dies bedeutet, dass wir bei aller Ähnlichkeit zur Herausbildung ganz verschiedener Kompetenzen geboren sind. Diese können durch die Einpassung in die jeweilige Gesellschaft, d. h. durch Sozialisierung und Lernen in verschiedene Richtungen gelenkt werden, was zu weiterer Verstärkung der Neurodiversität beiträgt. Da menschliche Gehirne in ähnlicher, jedoch nicht in identischer Weise strukturiert sind, können wir mehr oder weniger auch vergleichbare Leistungen vollbringen, wenn man das Leistungsspektrum nur ausreichend großzügig auslegt.
Wir verfügen über vergleichbare Gehirnareale, die jedoch nicht an genau den gleichen Orten zu lokalisieren sind und die auch unterschiedlich stark ausgeprägt und mit anderen vernetzt sein können. Im letzten Aspekt besteht einer der wesentlichen Unterschiede zwischen neurotypischen Menschen und solchen im Autismus-Spektrum. Die globale Konnektivität, d. h. die Zahl und die Qualität der Verbindungen zwischen den verschiedenen Gehirnarealen und Modulen ist bei Menschen im Autismus-Spektrum geringer ausgeprägt oder in einzelnen Bereichen sogar abwesend. Damit aber weist das Gehirn von Menschen im Autismus-Spektrum mehr oder weniger umfangreiche Einschränkungen im Bereich der parallelen Datenverarbeitung und im Vergleich der Informationen auf. Dagegen steht eine bei neurotypischen Menschen eher selten anzutreffende Fähigkeit, kleinste Details wahrzunehmen und gerade nicht zu generalisieren. Dies jedoch dürfte eines der entscheidenden Merkmale künstlerischer und wissenschaftlicher Kreativität sein.
Die Leistungsfähigkeit menschlicher Gehirne kann bei der Meisterung verschiedener Aufgaben recht unterschiedlich sein. Sie wird sich hinsichtlich der Verteilung der Leistungsfähigkeit aber immer wie eine Gauß’sche Verteilungskurve mit einem Maximum an Repräsentanten eines durchschnittlichen Leistungsniveaus in der Mitte und Minima unter- oder überdurchschnittlicher Leistungen an den Rändern darstellen. Je mehr die Leistung eines Individuums in die Richtung des Maximums reicht, desto eher wird dieses Individuum dem Spektrum der Normalität zugerechnet werden können. Geht es über dieses Maximum hinaus, dann ist es überdurchschnittlich leistungsfähig, bleibt es deutlich darunter, dann zeigt es nur eine geringe Leistungsfähigkeit in dem getesteten Bereich. Diese Abweichungen vom Bereich der größten Häufigkeit eines Leistungsniveaus sind Ergebnisse der als Neurodiversität sich manifestierenden Biodiversität der Gehirne. Diese Ergebnisse können durch Ausbleiben oder durch Intensivierung von Bildung noch verändert werden, folgen jedoch wahrscheinlich einer Grunddisposition. In jedem Fall werden wir an den Rändern der Verteilungskurve jene Individuen wiederfinden, die sich durch über- oder unterdurchschnittliche Leistungen in bestimmten Bereichen auszeichnen. Eine defizitorientierte Betrachtung derartiger Ergebnisse würde immer davon ausgehen, dass bei der Abweichung von der Normalverteilung eine »Störung« vorliegt. Es würde dabei nicht betrachtet werden, welche anderen Fähigkeiten stattdessen oder zusätzlich vorhanden sein könnten. Abweichung von der Normalverteilung »nach unten« gilt demnach immer als eine Störung und wird nach den verschiedenen Versionen des DSM seit 1951 als mental disorder verstanden. Damit ist von Haus aus die Chance vertan, die Abweichung aus der Perspektive von Bio- und Neurodiversität zu verstehen und damit nicht als zu korrigierenden Defekt, sondern als Element im Spektrum der biologischen Normalität, das seine eigenen Anforderungen stellt. Daher sollte man weniger von Autismus-Spektrum-Störung sprechen als eben von Menschen im Autismus-Spektrum und damit die Vor- und Nachteile gleichermaßen zum Ausgangspunkt helfender Maßnahmen machen.
Zweifellos stellen Minderleistungen beispielsweise auf dem Gebiet der Gesichtererkennung Beeinträchtigungen dar, doch gibt es im Falle der Prosopagnosie keinen Anlass, therapeutisch zu intervenieren, denn die Betroffenen kommen damit in der Regel zurecht und finden eigene Strategien, damit umzugehen und den Nachteil auszugleichen. Es kann hiernach also weniger darum gehen, eine »Störung« zu beseitigen oder – womöglich mit Produkten der pharmazeutischen Industrie – zu therapieren, sondern durch entsprechende, präzise geplante Hilfen Wege zu finden, wie die Folgen des Nachteils wenigstens ausgeglichen, wenn sie nicht durch spezielle Verfahren des Trainings gar vollkommen nebensächlich werden können. Hinweise, Hilfen, Training oder Therapie sind dabei nur Abstufungen eines allgemeinen Vorgangs, den wir schon bei unseren Primatenverwandten entdecken können: Es handelt sich immer um Lernen.
Natürlich geht es bei Menschen im Autismus-Spektrum gerade wegen der oben entwickelten Gründe für die Minderleistung bei der Wahrnehmung und Verarbeitung sozialer Daten insbesondere auch um Hilfestellungen und Training, um die Kompetenz bei der Verarbeitung sozialer Daten zu erhöhen. Dies ist bei zweckmäßigem und dem Einzelnen angemessenen Einsatz der Mittel durchaus mit einigem Erfolg möglich. Doch wenn diese Hilfen nur schematisch angeboten und angewendet werden, dann wird die Spezifik der neurobiologischen Verfassung des jeweiligen Individuums nicht zur Kenntnis genommen und damit auch die Möglichkeit eines viel effizienteren Einsatzes der sozialen Hilfen genommen. Man muss also Stärken und Schwächen genau kennen, um einen optimalen und hochdifferenzierten Einsatz der Mittel zu leisten. Möglicherweise befindet sich ja im Bereich der nur selten wahrgenommenen Stärken gerade jenes Potential, mit dem der betroffene Mensch selbst einen Teil seiner Beeinträchtigung kompensieren kann.
Die Gewohnheit, sich auf die Normalität in der Kommunikation wie allgemein im Sozialverhalten zu beziehen, bestimmt nun üblicherweise die Handlungen jener, die mit der therapeutischen Intervention bei Menschen mit Autismus zu tun haben. Aus der eigenen Normalität wird der Maßstab konstruiert, der nun auch für den Lernerfolg eines Menschen mit Autismus gelten soll. Tatsächlich befinden wir uns in der Frage danach, was als Norm gelten mag und was nicht zur Norm gehört, in der Grauzone unklarer Definitionen. Dabei ist das durchaus kein beklagenswerter Umstand: Jede Suche nach Definitionen in diesem Feld muss kulturelle, historische und individuelle Spezifika außer Acht lassen. Sie ist daher kein geeignetes Mittel des Vorgehens, wenn es um Individuen geht, die sich durch Neurodiversität auszeichnen.
Diese Diversität und damit Individualität des Menschen ist heute in Gefahr geraten. So wie der Mensch durch seinen Eingriff in die Natur wohl seit seinem sozial hochorganisierten Auftreten in dieser Welt deren Diversität bedroht hat (die Ausrottung aller Großsäuger der Megafauna wie Mammut, Riesennashorn, Riesenkänguru, Riesenfaultier oder Säbelzahntiger etc. geht wahrscheinlich auf seine Rechnung), so ist er heute durch Definitionen, wie sie aktuelle Handbücher der mentalen Störungen (z. B. das DSM-V) enthalten, auf dem Wege, seine eigene Neurodiversität, die ja das Resultat seiner eigenen Biodiversität ist, zu zerstören.
So gibt es Tendenzen zur Auflösung der Vorstellungen von Normalität in ein feingliedriges Spektrum von als Abweichung definierten Verhaltensweisen. Der Psychiater Allen Frances, der selbst maßgeblich an der Ausarbeitung des DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th Edition, 1994) beteiligt war, hat neuerdings aus Anlass der Arbeit am DSM-V und in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dessen Publikation im Mai 2013 in einer umfangreichen Untersuchung vor der Pathologisierung aller möglichen Verhaltensweisen durch die definitorische und klassifikatorische Arbeit fleißiger Ärzte und Psychologen gewarnt (Frances 2013). Mit der Arbeit am DSM-V würde die Normalität faktisch abgeschafft und es bliebe nur noch ein Spektrum von Ausnahmen im Verhalten, d. h. vor allem Verhaltensstörungen. Wenn eine Gesellschaft aber nicht mehr imstande ist, sich darüber zu verständigen, was als normal gelten darf, dann bleibt nur noch ein breites Spektrum von Verhaltensweisen, die sämtlich als Störungen verstanden werden müssen und entsprechend – vor allem auch medikamentös – zu therapieren sind. Daher, so Frances, dient solche Arbeit vor allem den Interessen der Pharmaindustrie. Diese Art des analytischen Denkens und des therapeutischen Handelns richtet sich zweifelsfrei gegen die auf Biodiversität beruhenden, evolutionären Gesetze der Natur und kann sich daher nur vernichtend auswirken oder es muss außer Kraft gesetzt werden.
Die Pathologisierung der verschiedensten Abstufungen des kommunikativen Verhaltens versteht die Vielfalt nicht als die anzuerkennende Realität des Lebens. Stattdessen werden diese als System von fein gegeneinander definierten Abstufungen von Störungen verstanden, die als therapiebedürftig dargestellt werden. Damit wird die Biodiversität gerade nicht als die Normalität bestätigt, sondern faktisch als die Gesamtsumme pathologischer Zustände, also von mental disorders aufgefasst. Dieses Konzept ist wenigstens 60 Jahre alt und angesichts der Befunde der heutigen Gehirnforschung vollkommen und hoffnungslos veraltet. Nun geht es hier nicht darum, von Ideen wie autistic pride oder der Vorstellung von einer eigenen Kultur der Menschen im Autismus-Spektrum zu reden. Dies sollen die Betroffenen als Strategie der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen selbst tun. Aber erst, wenn nicht mehr die Rede von Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ist, sondern von Menschen im Autismus-Spektrum, dann wird die defizitorientierte Definition bedeutungslos und der Blick kann auf das Gesamtspektrum der Leistungen von Menschen im Autismus-Spektrum gerichtet werden.
In diesem Sinne versteht sich dieses Buch als eine Sammlung von Hinweisen darauf, wie man die Frage des Sozialtrainings von Menschen im Autismus-Spektrum in differenzierter Weise angehen kann, wobei jeder schematische Ansatz von Hause aus unterbleiben sollte. Verfahren sind dabei immer wie Werkzeuge für das geeignete Ziel einzusetzen, und es hat keinen Sinn, eine Schraube mit dem Zimmermannshammer aus der Wand hebeln zu wollen, wenn man nicht das Risiko eingehen will, dass man dabei auch noch Teile der Wand selbst mit herausreißt. Jedes Verfahren muss angemessen eingesetzt werden und angemessen bedeutet, dass man vor allem zuerst genau wissen muss, wie sich die individuelle Problemlage des Einzelnen darstellt. Diese aber ist das Ergebnis der Neurodiversität, die macht, dass ein schematisches Handeln für den Menschen im Autismus-Spektrum nur schädlich und auch für den Praktiker beruflich unbefriedigend ist, weil der Einsatz am Menschen im Autismus-Spektrum durch schematisches Handeln in die falsche Richtung zielen kann.
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Kant I (1968) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (= Akademie-Ausgabe Kant Werke IV). Berlin, 436, 30–437, 1.
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1 http://www.planet-wissen.de/politik_geschichte/persoenlichkeiten/albert_einstein/wissensfrage.jsp
2 Einsteins legendäres Zungenfoto versteigert, in: Der Standard, 21. Juni 2009, http://derstandard.at/1244461110285/Einsteins-legendaeres-Zungen-Fotoversteigert.
3 »Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.« Rosa Luxemburg (1983) Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung, in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, IV. Berlin, 359.
»Doktor Cottard wußte nie mit Sicherheit, in welchem Ton er jemandem antworten sollte, ob sein Gegenüber scherzte oder es ernst meinte. Und für alle Fälle gab er jedem seiner Gesichtsausdrücke den Ansatz eines in der Schwebe gehaltenen und vorläufigen Lächelns bei, dessen erwartungsvolle Subtilität ihn vom Vorwurf der Naivität freispräche, sollten die Worte, die man ihm gesagt hatte, sich als Scherz herausstellen. ... Er war nicht selbstsicherer, was die Art und Weise betrag, in der er sich auf der Straße oder im Leben überhaupt geben sollte ... und so sah man ihn den Passanten, den Kutschen, den Ereignissen mit einem spöttischen Lächeln begegnen, das seine Haltung von vornherein von dem Verdacht freisprach, etwas mißverstanden zu haben. ... Was Redensarten betraf, so war sein Bedürfnis nach Erklärungen unersättlich, da er, in der Annahme, viele von ihnen hätten eine genauere Bedeutung, als es der Fall ist, wissen wollte, was man ganz exakt mit denjenigen sagen wollte, die er am häufigsten hört ... er nahm alles wortwörtlich ...« (Marcel Proust, Ausg. 2005, S. 23–25).
Was genau bestimmt eigentlich soziales Verhalten – und was ist Sozialtraining? Wie unterscheidet sich Sozialtraining von anderen Therapiemöglichkeiten bei Autismus? Für wen ist dieses Buch geschrieben worden?
Als Sozialverhalten wird aus Sicht der Psychologie jede Form des Verhaltens bezeichnet, welches auf andere Menschen gerichtet ist. Dazu zählen die Sprache, die Körpersprache sowie der Blickkontakt und die Handlungen eines Menschen. Soziales Eingebundensein in Gruppen und Beziehungen zu anderen Menschen wird als wichtiger Faktor der geistigen und psychischen Entwicklung betrachtet. Die Entwicklung des Sozialverhaltens beginnt bereits im Säuglingsalter, da schon ein Baby mit seiner Umwelt interagiert und von ihr soziales Verhalten erlernt. Sozialverhalten ist Verhalten, welches zu einem großen Teil durch Emotionen gesteuert wird, die wir durch Interaktionen mit anderen erleben. Emotionen drücken sich durch Mimik und andere Formen der Körpersprache aus. Diese Kommunikationsform wird »nonverbale Kommunikation« genannt und beeinflusst soziale Interaktionen und somit unser Sozialverhalten auf entscheidende Weise. Die Art, wie ein Individuum sich anderen Menschen gegenüber verhält, bestimmt zu einem großen Maße den Verbleib des Individuums in einer Gemeinschaft.
Menschen im Autismus-Spektrum befinden sich in Bezug auf ihr Sozialverhalten außerhalb der Gemeinschaft. Sie können oder wollen sich nicht integrieren und erwerben aufgrund konstitutioneller Voraussetzungen nicht dasselbe soziale Wissen wie nicht-autistische Personen.
Sozialtraining für Menschen im Autismus-Spektrum zielt darauf ab, soziales Verhalten verstehbar und anwendbar zu machen. Es richtet sich daher direkt auf die Schwierigkeiten, die autistische Menschen mit dem Erwerb sozialer Regeln, Mimik, Gestik und Körpersprache, Blickkontakt und dem Begreifen von Absichten, Wünschen und Überzeugungen anderer Menschen haben.
Sozialtraining ist selten von anderen Therapieformen zu trennen bzw.