In der Buchreihe „Sternentänzer“ sind bisher erschienen:
Band 1: Das Rätsel um den weißen Hengst
Band 2: Das geheimnisvolle Mädchen
Band 3: Weißer Hengst in Gefahr
Band 4: Caro unter Verdacht
Band 5: Rettung für Lindenhain
Band 6: Bedrohung für den weißen Hengst
Band 7: Letzter Auftritt des weißen Hengstes?
Band 8: Der unheimliche Pferdehof
Band 9: Zeit der Entscheidung
Band 10: Hoffen und Bangen in Lilienthal
Band 11: Silbersterns Geheimnis
Band 12: Abschied mit Folgen
Band 13: Caro und das Mädchen im Moor
Band 14: Ponys in Not
Band 15: Eine rätselhafte Vision
Band 16: Das Geheimnis der Schlossruine
Band 17: Caro und die weiße Stute
Band 18: Die Botschaft des weißen Hengstes
Band 19: Achterbahn der Gefühle
Band 20: Die geheimnisvollen Briefe
Band 21: Eine unglaubliche Entdeckung
Band 22: Ein verhängnisvolles Erbe
Band 23: Geister aus der Vergangenheit
Band 24: Die Magie des weißen Hengstes
Band 25: Voller Einsatz für Lina
Band 26: Verwirrung des Herzens
Band 27: Caro und das Geheimnis der alten Frau
Band 28: Aufregung um Stute Aziza
Band 29: Eine Reise voller Überraschungen
Band 30: Caro und der rätselhafte Dieb
Band 31: Der Eisprinz und die große Liebe
Band 32: Ein unglaublicher Verdacht
Band 33: Die verschwundenen Ponys
Band 34: Caro gibt nicht auf
Band 35: Gefährliche Zeiten auf Lindenhain
Band 36: Feuerprobe für die Liebe
Band 37: Wo ist Sternentänzer?
Gefährliche Zeiten auf Lindenhain
Band 35
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Sternentänzer, Band 35 – Gefährliche Zeiten auf Lindenhain
© 2012 by Panini Verlags GmbH,
Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Verlagsleitung (Books/Kids): Gabriele El Hag
Redaktion: Birgitt Kehrer, Kathrin Hillmann
Lektorat: Helga Kronthaler
Umschlag: tab indivisuell, Stuttgart
Fotos: © mauritius images; Juniors Bildarchiv
Satz: Vanessa Buffy
ISBN: 978-3-8332-2216-0
eISBN: 978-3-8332-3116-2
www.panini.de
In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche ein, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.
Die Dämmerung legte sich wie eine Decke über den Tag, hinter den hohen Linden versank die Sonne. Carolin Baumgarten, genannt Caro, kauerte in einem bequemen Sessel in der Wohnung von Gunnar und Vicky auf Lindenhain – tief versunken in ihrer Pferdegeschichte. Gunnar Hilmer war der Chef und Besitzer des Reiterhofs Lindenhain. Vicky war seine Lebensgefährtin, die beiden waren seit Kurzem stolze Eltern einer Tochter.
„Uahh!“, gähnte Carolin nun und streckte sich. Sie klappte ihr Buch zu und ging zum x-ten Male ins Kinderzimmer, wo Luisa nach wie vor selig schlummerte. Sanft strich sie der Kleinen über die pfirsichweichen Wangen, über ihr feines, goldblondes Haar. Dann zog sie die Bettdecke ein Stückchen weiter nach oben. „Träum was Schönes, meine Süße!“, murmelte sie dabei.
Carolin warf einen Blick auf ihre Uhr. Schon halb elf. Jetzt müssten Vicky und Gunnar eigentlich bald kommen, überlegte sie. Die beiden wollten mal wieder einen Abend allein verbringen und waren ausgegangen, was sie seit Luisas Geburt sehr selten taten.
Carolin ging zum Fenster und blickte hinunter auf den Hof. Noch nichts. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Carolin wollte sich gerade wieder abwenden und ins Wohnzimmer gehen, da stutzte sie. „Was ist denn …?“
Sie stellte sich näher an das Fenster, schob den hellblauen Vorhang ein wenig zur Seite und drückte die Nase fest gegen die Scheibe. „Da ist doch Licht im Stall“, wunderte sie sich. Es schien ganz so, als würde sich der Lichtstrahl einer Taschenlampe im Stall hin und her bewegen. Carolin schob den Vorhang ganz zur Seite, um bessere Sicht zu haben. Dann – so plötzlich, wie es gekommen war – war das Licht wieder weg.
Du siehst schon Gespenster, Carolin Baumgarten! Wer soll denn um diese Zeit im Stall sein?! Und dann noch mit einer Taschenlampe! Sie wandte sich um und wollte aus dem Zimmer gehen. Doch zuvor warf sie noch mal einen Blick über die Schulter zurück und stutzte erneut. Da ist doch wieder dieses Licht! Oder doch nicht?
Carolin löschte die kleine Lampe neben Luisas Bettchen und blickte noch einmal aus dem Fenster. Nun war es wieder völlig dunkel im Stall. Spinn ich jetzt? Carolin fuhr sich mit beiden Händen durch ihre kurzen kastanienbraunen Haare – so, wie sie es immer tat, wenn sie nervös oder aufgeregt war.
Ist da jetzt Licht, oder bilde ich mir das nur ein? Am besten, ich geh in den Stall und schau nach, überlegte sie, lief los, blieb dann aber abrupt wieder stehen. Aber was, wenn da tatsächlich jemand ist? Wenn da jemand bei Sternentänzer ist? Carolin warf erneut einen Blick aus dem Fenster – und in diesem Moment war auch ganz deutlich Licht zu erkennen, nämlich das der Scheinwerfer eines Geländewagens, der gerade auf den Hof bog. Ah, sie kommen zurück!
Carolin huschte so leise wie möglich aus dem Kinderzimmer, um Luisa nicht aufzuwecken, und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort nahm sie ihr Buch und einen Pullover und packte beides in ihren Rucksack. Einen Augenblick später standen auch schon Gunnar und Vicky vor ihr.
„Hallo! Ich muss euch gleich …“, begrüßte Carolin die beiden hastig.
„Hallo, Caro!“, brummelte Gunnar und schob dabei seinen Cowboyhut, den er sommers wie winters trug, in den Nacken. Er war nicht besonders gut gelaunt, was Carolin in der Aufregung jedoch nicht weiter auffiel.
„Gut, dass ihr da seid!“, stieß Carolin hervor. „Ich glaube, da ist jemand auf dem Hof. Ich meine, ich weiß es nicht genau, vielleicht hab ich mir das auch nur eingebildet – aber da war Licht im Stall, nur kurz, dann war es wieder weg.“ Sie hielt inne, sah, wie Gunnar und Vicky schnelle Blicke wechselten. „Ich hab grad überlegt, ob ich nachgucken soll, wollte aber Luisa nicht allein lassen“, erklärte sie weiter. „Aber jetzt könnten wir ja nachschauen“, setzte sie dann hinzu.
„Ich gehe“, erklärte Gunnar.
„Ich komme mit.“ Carolin wollte sich schon in Bewegung setzen.
„Auf gar keinen Fall“, stoppte Gunnar sie. „Du gehst nicht in den Stall, Carolin. Auf keinen Fall! Du bleibst hier.“
„Aber …“
„Keine Widerrede!“, setzte Gunnar noch in einem Ton hinzu, der keinen Widerspruch duldete, und marschierte mit großen Schritten los.
Carolin drehte sich fragend zu Vicky um. Doch in diesem Moment tönte lautes Krähen aus Luisas Zimmer, und Vicky eilte gleich zu der Kleinen, um sie zu trösten. Unschlüssig blieb Carolin stehen. Und jetzt? Was, wenn ich einfach zu Sternentänzer in den Stall gehe, obwohl Gunnar es verboten hat?, überlegte sie, verwarf den Gedanken jedoch sogleich wieder. Gunnar hatte zu ernst und entschlossen geklungen. Komisch, warum eigentlich?
Carolin trat ans Wohnzimmerfenster und schaute nach unten auf den Hof und hinüber zum Stall, doch dort war alles ruhig und dunkel. Kein Licht war mehr zu sehen, Gunnar auch nicht. Carolin lehnte sich gegen das Fenster, knabberte nachdenklich an ihrer Unterlippe und kämpfte tapfer gegen die Versuchung, einfach in den Stall zu laufen und dort nach dem Rechten zu schauen.
Auf einmal hörte sie, dass jemand ihren Namen rief. Es war Gunnars Stimme. Von ganz weit weg. „Caro!“
„Jaha!“, rief Carolin laut zurück.
Vicky schoss aus dem Kinderzimmer. „Pschscht, Caro! Luisa ist gerade wieder eingeschlafen.“
„Sorry“, gab Carolin zerknirscht zurück.
„Caro!“, ertönte es wieder von unten.
Vicky rollte mit den Augen. „Oh Mann, Gunnar! Das gilt auch für dich!“
Carolin packte ihren Rucksack und flitzte nach unten. Im Flur wäre sie beinahe mit Gunnar zusammengestoßen, der gerade um die Ecke bog. „Ups!“
„Ich wollte dich gerade holen. Komm bitte mit!“ Gunnar marschierte voraus. Er wirkte angespannt, das sah man sogar von hinten.
Was ist denn los?, wunderte sich Carolin.
Als Gunnar sich dem Gemeinschaftsraum näherte, wunderte sich Carolin noch mehr. Was will er denn nachts im Gemeinschaftsraum? Einen Kaffee trinken? Echt komisch!
Als Gunnar schließlich die Tür zum Gemeinschaftsraum öffnete und Carolin hineinblickte, fiel sie aus allen Wolken. Am hinteren Tisch neben dem Fenster saßen Jan und Tim. Jan war Lindenhains Mann für alles. Und Tim steckte gerade mitten in seiner Ausbildung zum Pferdewirt. Carolin mochte die beiden Jungs sehr gern, sie waren fast wie ältere Brüder für sie.
„Hi, Caro!“, begrüßte Tim sie, und Jan hob wortlos die Hand zum Gruß.
„Ähm … ja … hallo!“, stammelte Carolin völlig baff. „Was ist das denn für eine merkwürdige Versammlung?“
„Setz dich doch erst mal hin, Caro!“ Gunnar deutete auf einen Stuhl. Er sah ernst aus. Sehr ernst.
Als Carolin saß, holte Gunnar tief Luft. „Also Leute, ich hab euch geholt, weil es etwas sehr Wichtiges zu besprechen gibt.“
Was denn? Carolin blickte fragend zu Jan und Tim, die ebenso wenig informiert schienen wie sie, zumindest hatten auch sie Fragezeichen im Gesicht.
Gunnar verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. „Vicky und ich wollten heute ja eigentlich zusammen essen gehen. Vicky hatte einen Tisch reserviert, wir haben uns echt darauf gefreut.“
„Und dann hatte das Restaurant heute Ruhetag“, warf Jan grinsend ein.
Gunnar verzog keine Miene, konnte über den kleinen Scherz gar nicht lachen. „Auf dem Weg zum Restaurant klingelte plötzlich mein Handy. Es war der Reiterhof Espenlaub.“
„Was wollten die denn von dir?“, fragte Tim erstaunt nach.
„Es war Heiko Krüger, der Besitzer von Espenlaub. Er hat alle Reiterhöfe in der Gegend angerufen und zu einem spontanen Treffen eingeladen.“
„Aha!“, meinte Tim und blickte ratlos zu Carolin und Jan hinüber.
„Wegen Gefahr im Verzug“, ergänzte Gunnar.
Bei Carolin schrillten sofort die Alarmglocken. „Was denn für eine Gefahr?“
„Vicky und ich haben dann also das Abendessen sausen lassen und sind zu dem Treffen …“
„Welche Gefahr denn, Gunnar?“, fiel Tim ihm ins Wort. „Jetzt sag schon!“
Gunnar kratzte sich am Kinn. „Herr Krüger hat berichtet, dass wohl eine Bande umgeht“, berichtete er schließlich.
„Eine Bande?“, wiederholte Carolin fassungslos.
„Eine Bande, die es mit ihrem Vandalismus und ihrer Zerstörungswut offenbar auf Pferdehöfe abgesehen hat“, fuhr Gunnar fort. „Pferdeställe werden nachts geöffnet, sodass die Tiere ausbrechen können, Weidezäune werden eingerissen, Futter verstreut und vieles mehr. Die Motivation ist offenbar, einfach nur Schaden anzurichten. Denn bisher sind zwar Pferde ausgerissen, aber nicht entführt worden. Der Besitzer von Espenlaub beobachtet das auf seinem Hof schon eine Weile. Erst hatte er vermutet, es handle sich um Nachlässigkeiten seiner eigenen Leute. Als er aber mit dem Chef vom Reiterhof Weilermühle telefonierte und dabei erfuhr, dass dort Ähnliches passiert ist, hat er ganz dringend diese Besprechung einberufen.“ Gunnar hielt inne.
„Krass!“ Tim schüttelte den Kopf. „Echt, nee!“
Carolin und Jan sagten gar nichts, lauschten nur völlig entsetzt Gunnars Erzählung.
„Bei diesem Treffen heute haben auch noch einige andere Reiterhofbesitzer von ähnlichen Vorfällen berichtet – nur Lindenhain scheint bisher verschont geblieben zu sein. Zum Glück!“ Gunnar blickte in die Runde. „Oder ist euch in letzter Zeit hier etwas Ungewöhnliches aufgefallen, Jungs? Etwas, was euch irritiert hat, dem ihr aber keine Bedeutung beigemessen habt?“
Jan und Tim schüttelten den Kopf.
„Nee, mir nicht“, antwortete Jan.
„Mir auch nicht“, bestätigte Tim.
„Moment mal“, begann Carolin. „Da war doch dieses Licht im Stall, vorhin …“
Gunnar winkte ab. „Da war nichts, ich hab sofort überall nachgeschaut.“
„Aber dieses flackernde Licht, wie von einer Taschenlampe“, setzte Carolin nach.
„Das war bestimmt die Nachtbeleuchtung. Vermutlich hat eine Birne geflackert, und dann den Geist aufgegeben“, vermutete Jan.
Carolin war nicht überzeugt.
„Gestern Abend war der Stall auch mal hell erleuchtet, obwohl ich ganz sicher bin, dass ich die Nachtbeleuchtung angemacht hatte“, überlegte Tim.
„Das war ich“, warf Jan ein. „Ich war noch mal kurz im Stall.“
„Und dann …“, begann Tim erneut.
„Stopp!“, fiel Gunnar ihm ins Wort. „Es hat jetzt gar keinen Sinn, wenn wir uns verrückt machen. Fakt ist, bisher ist bei uns auf Lindenhain zum Glück nichts geschehen.“
„Noch nicht“, meinte Tim ernst.
„Und wir werden dafür sorgen, dass dies auch so bleibt“, fügte Jan mit düsterer Miene hinzu.
„Hallo, Leute!“ Die Tür ging auf, und Vicky kam herein. „Endlich ist Luisa wieder eingeschlafen. War ein hartes Stück Arbeit.“ Sie nickte Carolin zu. „Ich fahr dich jetzt nach Hause, Caro. Wie versprochen.“
Jan und Tim standen auf. „Wir checken besser noch mal den Hof“, erklärten sie.
„Ich komme mit“, nickte Gunnar.
„Ich auch“, schloss sich Carolin an. „Ich muss unbedingt noch nach Sternentänzer sehen.“ Rasch rannte sie nach draußen über den Hof bis zum Stall, riss die Stalltür auf und lief weiter, bis sie vor Sternentänzers Box stand.
„Hallo, Sternentänzer!“ Sternentänzer war ein wunderschöner weißer Araberhengst mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn, er hatte dunkle, geheimnisvolle Augen und gehörte Carolin. Doch Sternentänzer war nicht nur schön, er war auch ein magisches Pferd. Wenn Carolin in Vollmondnächten auf ihm ausritt und ihm eine Frage stellte, konnte sie in die Zukunft schauen.
Der prächtige Schimmel wieherte ihr schon entgegen.
Carolin streichelte seine seidenweichen Nüstern, schlang beide Arme um seinen sehnigen Hals und schmiegte ihre Wange gegen sein Fell. „Mein lieber Sternentänzer. Allein der Gedanke, dass hier jemand rumschleichen und dir was antun könnte, macht mich wahnsinnig.“ Carolin spürte, wie sie mit einem Mal am ganzen Körper zitterte. „Mein geliebter Sternentänzer …“
„Ey, Caro, bei dir alles klar?“, ließ Jans Stimme sie aufschrecken. Einen Augenblick später stand der junge Mann schon neben ihr in Sternentänzers Box. Dicht gefolgt von Tim.
„Ja, hier ist alles okay“, nickte Carolin. „Zum Glück!“
Sternentänzer wieherte leise, richtete seine Ohren aufmerksam nach vorn und schien höchst irritiert von dem abendlichen Rummel im Stall.
„Bei den anderen Pferden passt auch alles“, bestätigte Tim und nickte Carolin aufmunternd zu.
„Caro!“, rief Gunnar in den Stall. „Kommst du?“
Carolin verabschiedete sich von Sternentänzer, strich noch mal über sein weiches Fell. „Tschüss, mein Süßer, bis morgen.“
„Caro!“ Wieder Gunnar.
„Komme!“, rief sie zurück. Es fiel ihr unendlich schwer, sich von ihrem heiß geliebten Pferd zu trennen. Schweren Herzens verließ sie die Box. „Gute Nacht, Sternentänzer!“, flüsterte sie dem Schimmel nochmals zu, bevor sie die Boxentür hinter sich schloss. Dann lief sie zu Gunnar, der draußen auf dem Hof neben seinem Auto stand.
„Steig ein, Caro! Ich bring dich heim“, sagte er. „Luisa ist wieder aufgewacht. Kein Wunder bei diesem Trubel! Vicky versucht gerade, sie zu beruhigen.“ Er öffnete die Wagentür und reichte Carolin ihren Rucksack. „Dann mal los!“
Manchmal fällt es schwer, zu unterscheiden, ob man noch träumt oder ob man schon wach ist. So ging es Carolin am nächsten Morgen.
„Caro, Schatz!“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter Ines Baumgarten, gefolgt von einem sanften Rütteln an ihrer Schulter. „Du musst aufstehen! Die Schule wartet!“
Carolin wohnte mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater Dr. Joachim Sander und dessen Sohn Thorben in einem hübschen gelben Häuschen im Ahornweg 16 mitten in Lilienthal. Rund um das Haus gab es einen schönen Garten, in dem ein paar knorrige Obstbäume und viele Sträucher wuchsen. Carolins Zimmer befand sich im ersten Stock. Kürzlich hatte sie es neu gestrichen: zwei Wände in Sonnengelb und zwei Wände in einem warmen Orangeton.
„Hallo, Caro! Aufstehen!“
„Nee!“ Carolin zog das Kissen über die Ohren.
„Du bist ja ganz nass geschwitzt“, stellte ihre Mutter fest. „Hast du schlecht geträumt?“
Schlecht geträumt ist gut! Carolin hatte sich die ganze Nacht hin und her gewälzt und war erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf gefallen. Immer wieder hatte sie dunkle vermummte Gestalten gesehen, die auf Lindenhain herumschlichen. „Hm!“, gab sie wortkarg zurück.
„Beeil dich ein bisschen, Caro! Du bist spät dran“, ermahnte ihre Mutter sie noch, bevor sie das Zimmer verließ.
Schlaftrunken wühlte sich Carolin aus dem Bett und schleppte sich ins Badezimmer. Wie kann man nur so drauf sein?, fragte sie sich, während sie sich wusch und fertig machte. Chaos auf Pferdehöfen anzurichten und dann noch Pferde freizulassen! Sie vielleicht noch zu erschrecken? Was da alles passieren kann, darf ich mir gar nicht ausmalen! Wenn die auf eine Straße laufen oder …
„Caro! Beeil dich!“
„Jaaa!“ Carolin lief zurück in ihr Zimmer, zog sich rasch an und eilte nach unten.
Thorben, ihr Stiefbruder, war schon fertig, hatte die Türklinke in der Hand und wollte los. „Tschüss!“, rief er noch kurz über die Schulter zurück, dann war er auch schon weg.
„Das mit dem Babysitten war wohl keine gute Idee! Du bist viel zu spät ins Bett.“ Mit vorwurfsvoller Miene drückte Ines ihrer Tochter ein Schokocroissant in die Hand. „Du musst dich jetzt sputen!“
Weiß ich doch, Mam! Wer geht täglich in die Schule, du oder ich?, wollte Carolin entgegnen, ließ es dann aber bleiben und nickte nur brav. Sie nahm das Croissant, biss hinein und schlüpfte dabei in ihre Jacke. Mit einem „Tschüss, Mam!“ griff sie nach ihrer Schultasche, lief nach draußen zu ihrem Rad und radelte los, so schnell sie konnte.
„War ja klar“, knurrte Carolin kurz darauf und stoppte vor dem Bahnübergang, der natürlich geschlossen war. „Wenn ein Tag schon so beginnt!“ Die Bahnschranke, die Lilienthal in zwei Hälften teilte, war eines von Carolins Omen. War die Schranke unten, bedeutete dies nichts Gutes für den Tag, war sie geöffnet, stand in der Regel ein erfreulicher Tag bevor.
Genervt rollte Carolin mit den Augen. Ausgerechnet heute war in der ersten Stunde Mathe angesagt, ein Fach, mit dem sie ohnehin auf Kriegsfuß stand. Bei dem überaus strengen Dieter Hufnagel. Aber noch schlimmer war, dass sie keine Zeit haben würde, Lina gleich von der schrecklichen Bande zu erzählen, die zurzeit offenbar ihr Unwesen auf Reiterhöfen trieb. Dass sie damit bis zur Pause würde warten müssen.
Exakt mit dem Gongschlag raste sie schließlich ins Klassenzimmer. Sie hatte sich so beeilt, dass sie völlig außer Puste war.
„Caro, was ist denn mit dir los?“, fragte Lina sie auch gleich. „Du siehst ja aus, als wärst du auf der Flucht.“ Lina Schniggenfittich war ihre beste Freundin und saß in der Schule neben ihr. Das Naturmädchen mit den dunkelroten Locken und den leuchtend grünen Augen trug meist mehrere geblümte Röcke übereinander, geschnürte Blusen und dazu Stiefel. Auch sonst war sie ungewöhnlich: Sie wohnte mit ihrer Familie auf einer Wohnwagenwiese in der Nähe von Lilienthal.
„Nee“, stieß Carolin hervor. „Es war nur mal wieder die Bahnschranke unten und überhaupt …“
„Wegen Mathe hättest du dich jedenfalls nicht so beeilen müssen, Herr Hufnagel kommt eine halbe Stunde später.“
„Echt?“ Carolin sah die Freundin an. „Wenigstens eine gute Nachricht.“
„Wir haben bald Ferien, das ist dann schon die zweite gute Nachricht“, erinnerte Lina sie grinsend. „Oder vielmehr, das ist die allerallerbeste Nachricht.“
Carolin verstaute ihre Schultasche unter dem Tisch, dann wandte sie sich an Lina. „Du hast ja keine Ahnung, was passiert ist!“
„Wieso, was ist denn passiert?“, erkundigte sich Lina.
„Hier in der Gegend treibt sich seit Kurzem eine Bande rum. Die Typen brechen auf Reiterhöfen ein, lassen Pferde frei, zerstören alles Mögliche und richten Schäden an“, fasste Carolin rasch zusammen.
Lina runzelte fragend die Stirn. „Ich versteh grad nur Bahnhof, Caro. Ist auf Lindenhain was passiert? Ist was mit Sternentänzer oder den anderen Pferden?“
„Nein, Gott sei Dank nicht!“ Carolin sah ihre Freundin eindringlich an. „Aber das könnte bald passieren.“
Lina fasste sie am Arm. „Jetzt red doch mal Klartext, Caro! Ganz von Anfang an!“
Carolin schilderte der Freundin die Geschehnisse des Vorabends.
Fassungslos schüttelte Lina den Kopf. „Das darf ja wohl nicht wahr sein. Wer kommt denn auf so eine blöde Idee? Was bringt das denn?“
Carolin zuckte die Achseln. „Keine Ahnung!“
Lina pustete laut die Luft aus. „Die haben doch keinen Vorteil davon. Das können wirklich nur totale Idioten sein!“
„Ja, solche Aktionen sind völlig sinnlos“, pflichtete Carolin ihr bei. „Es geht nur darum, Angst und Schrecken zu verbreiten.“
Lina fischte nach einer ihrer langen roten Haarsträhnen und wickelte sie um den Zeigefinger. „Auf welchen Höfen waren die denn schon?“, wollte sie dann wissen.
„Auf Espenlaub und noch einem anderen Reiterhof, hat Gunnar erzählt. Genaueres weiß ich auch nicht. Ich muss unbedingt mehr rausfinden.“
Lina nickte. „Ich bin dabei.“
„Guten Morgen, die Herrschaften!“ Herr Hufnagel betrat das Klassenzimmer, der Matheunterricht begann.
„Kommst du nach der Schule mit zu mir?“, raunte Carolin ihr noch zu.
„Ich komme“, raunte Lina zurück.
Gleich nach der Schule radelten die zwei Mädchen in den Ahornweg. Carolin hatte sturmfreie Bude. Ines half in der Boutique ihrer Freundin Florentine aus, Dr. Sander war in seiner Tierarztpraxis und Thorben beim Basketball.
Carolin schloss die Haustür auf, Lina folgte ihr. Carolin holte rasch noch eine Packung Schokokekse und zwei Gläser mit Orangenlimonade aus der Küche, dann liefen die zwei nach oben in Carolins Zimmer.
Carolin setzte sich an ihren Computer und fuhr ihn hoch.
Lina schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben die Freundin. „Gib mal Vandalismus ein!“
„Vandalismus bedeutet, jemandem absichtlich zu schaden oder etwas mutwillig zu beschädigen“, las Carolin schließlich vor. „Der Begriff Vandalismus geht auf die Germanen zurück, die vor über 1500 Jahren in Südfrankreich eingefallen sind und dabei geplündert, zerstört und gemordet haben. Sie wurden daraufhin als Vandalen bezeichnet, dieser Begriff hat sich für sinnlose Zerstörer bis in die heutige Zeit erhalten.“ Carolin hielt kurz inne und schnaufte tief. „Manchmal ist es aber auch reine Zerstörungslust oder Zerstörungswut, also das aggressive Abreagieren von aufgestauten schlechten Gefühlen, was vor allem Jugendliche zu einem solchen Verhalten bringt. Immer wieder passiert es, dass Menschen, oft alkoholisierte Jugendliche, in voller Absicht fremdes Eigentum beschädigen oder zerstören.“
„Ich glaub’s echt nicht! Wie kann man sich denn besser fühlen, wenn man anderer Leute Sachen kaputt macht!“, rief Lina aufgebracht.
„Zerstörendes Verhalten zeigt sich ganz unterschiedlich, etwa durch Beschädigen von Autos, Bussen oder U-Bahnen, Beschmieren von Gebäuden oder auch Randale bei Fußballspielen“, las Carolin weiter. „Und selbst vor Friedhöfen machen diese Vandalen keinen Halt. Nicht selten werden dort Grabsteine umgestürzt …“