In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche ein, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.
„Jippiiiieh! Schneller, Sternentänzer, lauf!“ Carolin juchzte vor Begeisterung, während sie auf dem Rücken ihres wunderschönen Araberhengstes über die Wiese nahe dem Reiterhof Lindenhain galoppierte. Sie hatte sich weit nach vorne gebeugt, sodass ihr die seidenweiche mondhelle Mähne des Pferdes ins Gesicht wehte. Ach, wie ist das herrlich! Endlich wieder so unbeschwert mit dir ausreiten zu können! So lange haben wir das nicht mehr gemacht, Sternentänzer!
Carolin Baumgarten, genannt Caro, gab ihrem Pferd das Kommando, langsamer zu werden. Sternentänzer fiel zuerst in den Trab und wechselte schließlich in einen gemächlichen Schritt. Während Carolin sich aufrichtete, legte sie ihre Stirn in Falten und grübelte. Einen Monat lang, zwei Monate, drei …? Ich weiß es nicht genau. Eigentlich nicht mehr, seit ich auf Mallorca war. Ja, genau! Seit ich sie gesehen habe. Diese Falak. Mit einer hastigen Bewegung fuhr sich Caro über ihr Gesicht – so, als könne sie damit die Erinnerung an Falak wegwischen. Eine wilde Stute, die Sternentänzers Mutter war.
„Huch, was ist das denn?“, rief sie plötzlich aus, als ein kleines, feuchtes und kaltes Etwas, das ganz sanft auf ihrer Nasenspitze Platz genommen hatte, sie aus ihren Gedanken riss. Schnee? Jetzt? Dafür ist es doch viel zu warm! Das kann nicht sein.
Doch als Caro aufschaute, merkte sie, dass es tatsächlich schneite. Dicke weiße Schneeflocken wirbelten wie Wattebällchen durch die Luft und fielen auf die Erde – doch sobald die Boten des Winters den Boden berührten, schmolzen sie dahin.
Carolin blinzelte kurz in den grauen wolkenverhangenen Himmel. Dann richtete sie ihre Augen wieder auf den wunderschönen weißen Araberhengst – und trotz des plötzlichen Wintereinbruchs und der Kälte durchströmte ein wohliges Glücksgefühl ihren Körper. „Mein lieber, süßer Sternentänzer“, seufzte Carolin und hätte am liebsten die ganze Welt umarmt, so glücklich fühlte sie sich in diesem Augenblick. „Ich bin ja so froh, dass nun wieder alles gut ist!“
Sternentänzer schien den Schnee ebenso zu genießen: Immer wieder reckte er seinen eleganten mondhellen Kopf den Flocken entgegen.
„Mein braver, lieber Sternentänzer“, wiederholte Carolin und leckte mit der Zunge eine vorwitzige Schneeflocke weg, die auf ihren Lippen gelandet war. Endlich konnte sie sich wieder unbeschwert an ihrem prächtigen Schimmel erfreuen. Vorbei war die große Angst, ihr geliebtes Pferd könnte böse und aggressiv werden. Inzwischen wusste Carolin, dass Sternentänzer nicht von sich aus böse wurde, sondern nur, wenn er mit bösen oder schlechten Menschen zu tun hatte. Oder wenn sie ihm nicht mehr vertraute. Es hatte lange gedauert, bis sie das herausgefunden hatte – und seither fühlte sie sich endlos erleichtert.
Alles hatte mit einem Besuch bei ihrem Vater, der auf Mallorca lebte, angefangen. Dort hatte sie Falak, Sternentänzers Mutter, entdeckt. Ganz im Gegensatz zu ihrem Sohn hatte sich diese Stute als sehr wild und böse entpuppt, und ihr Besitzer, ein alter Mann namens Carlos Garcia, hatte zudem behauptet, dass Falak erst so bösartig geworden sei, nachdem sie Sternentänzer geboren hatte. Carlos Garcia vermutete daher, dass auch Sternentänzer etwas Böses an sich haben müsse. Lange Zeit hatte Caro um ihren Hengst gebangt. Ihn genau beobachtet … und schließlich war das eingetreten, wovor sie sich gefürchtet hatte. Sternentänzer hatte sich mehrmals aggressiv verhalten. Das war echt schlimm, Sternentänzer! Ich war völlig verzweifelt und hatte keine Ahnung, warum du dich so aufgeführt hast!
Nur mit Schaudern erinnerte sich Carolin an die schreckliche Zeit, in der tiefe Sorgen sie geplagt hatten. Die ständige Angst, dass Sternentänzer vielleicht genauso werden würde wie seine Mutter Falak. Und dass sie ihn eines Tages vielleicht sogar weggeben müsse. Doch zum Glück hatte Ami dann das Rätsel gelöst und ihr den Grund für Sternentänzers seltsames Verhalten genannt. Ami war eine Hexe und Heilerin und die Großmutter ihrer besten Freundin Lina. Die weise alte Frau hatte Carolin schließlich erklärt, dass sie ihrem Pferd einfach vertrauen müsse. Dann würde alles gut werden – und so war es auch!
Überglücklich ließ Carolin kurz die Zügel los, breitete ihre Arme aus und reckte ihr Gesicht den Schneeflocken entgegen. Dabei stieß sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Ich werde meinem Sternentänzer künftig immer vertrauen. Ganz bestimmt! Und mit bösen Menschen hat er ja auch nichts zu tun!
Carolin nahm die Zügel wieder auf und dirigierte ihr Pferd quer über den Hof von Lindenhain. Kurz vor dem Eingang zum Stall glitt sie aus dem Sattel und führte Sternentänzer in seine Box.
Während sie den Hengst absattelte und putzte, schweiften ihre Gedanken ganz automatisch wieder um die letzten Monate. „Mann, Sternentänzer, wie sehr hab ich dich damals vermisst!“, murmelte sie und schmiegte sich dabei ganz fest an den Hals des geliebten Pferdes. „Ich weiß gar nicht, wie ich es überhaupt ohne dich aushalten konnte.“ Obwohl die Zeit damals für Carolin unheimlich schwierig gewesen war, sie die vertrauten Stunden mit ihrem Pferd ganz arg vermisst hatte, so wurde ihr doch erst im Nachhinein so richtig bewusst, wie sehr sie eigentlich gelitten hatte. Aber nun war zum Glück alles vorbei.
„Vorbei!“, schrie sie lauthals und schnaufte tief.
„Ey, alles klar bei dir?“, hörte sie auf einmal eine Stimme hinter sich. Die Stimme gehörte ihrer besten Freundin Lina Schniggenfittich. Das Naturmädchen mit den leuchtend grünen Augen trug wie immer mehrere geblümte Röcke übereinander, eine bunte Bluse und dazu dicke Schnürstiefel. Ihre rote Haarmähne hatte sie locker zu einem Pferdeschwanz gebunden.
„Es war noch nie klarer.“ Carolins Lächeln vertiefte sich. „Ich bin so wahnsinnig froh, dass der ganze Spuk endlich vorüber ist.“
Lina lehnte sich gegen die Boxentür. „Und ich bin so froh, dass ich meine Freundin zurückhab. In der letzten Zeit warst du echt drauf wie ein Zombie.“
„Stimmt“, nickte Carolin. „Genauso hab ich mich auch gefühlt. Die Sorge um Sternentänzer hat mich fast wahnsinnig gemacht!“
„Aber zum Glück bist du ja nun wieder die Alte!“
Ja, das bin ich“, strahlte Carolin und strich zärtlich über das weiche Fell ihres Pferdes.
Wie zur Bestätigung stieß Sternentänzer ein leises Schnauben aus, hob den Kopf und schnupperte sanft über Carolins Gesicht. Seine Tasthaare berührten ihre Wangen.
„Puh, das kitzelt!“, kicherte Carolin und wich einen Schritt zurück.
Lina trat auf die Boxengasse. „Ach übrigens, Thorben hat erzählt, dass dein Vater und seine neue Freundin euch demnächst besuchen werden. Wie kommt das denn so plötzlich?“
Thorben Sander war Linas Freund und Carolins Stiefbruder. Sein Vater, der Tierarzt Doktor Sander, und Carolins Mutter hatten vor Kurzem geheiratet.
Carolin nickte. „Meine Schuld. Mam ist es natürlich nicht entgangen, dass ich seit Mallorca megaschlecht drauf war. Sie dachte, meine miese Stimmung würde mit Paps zusammenhängen. Deswegen hat sie ihn ziemlich spontan angerufen und eingeladen.“ Carolin schmunzelte. „Schätze, inzwischen bereut sie das schon. Aber sie kann ihn ja schlecht wieder ausladen. Steht allerdings noch nicht ganz fest, ob’s auch klappt.“
Lina rollte mit ihren schönen grünen Augen. „Da stehen dir ja möglicherweise ein paar turbulente Tage ins Haus.“
Carolins Grinsen wurde noch breiter. „Ich fänd’s klasse. Ich würd sie schon gern wiedersehen. Paps und auch seine neue Freundin Carmela.“
„Wie ist diese Carmela denn so?“, erkundigte sich Lina.
„Kaum älter als wir, echt hübsch und voll cool“, antwortete Carolin. „Ich hab mich richtig mit ihr angefreundet, als ich auf Mallorca war.“
„Und wie findet deine Mutter sie?“
Carolin zog eine Grimasse. „Mam hat keine Ahnung – weder wie sie aussieht, noch wie alt sie ist. Bin echt mal gespannt, wie sie darauf reagiert.“
Zum Abschied drückte Carolin ihrem Pferd einen Kuss auf die Nüstern, dann schlossen die Mädchen die Boxentür und gingen auf den Hof.
Lina warf eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelockert hatte und der Wind ihr nun ins Gesicht blies. „Da wird deine Mutter schon ziemlich überrascht sein.“
„Wenn sie tatsächlich kommen! Paps weiß nämlich noch nicht genau, ob er das arbeitsmäßig hinkriegt.“ Carolin machte eine schnelle ausholende Handbewegung und versuchte, eine Schneeflocke zu erhaschen.
„Nee, so geht das nicht!“ Lina streckte ihre flache Hand aus, und die Schneeflocken landeten darauf. „Schneeflocken sind wie Federn oder wie das Glück. Sobald man versucht, danach zu jagen, verschwinden sie. Wenn du aber geduldig deine Hand hinhältst, kommen sie von allein.“
„Klingt nach einem echten Ami-Spruch“, sagte Carolin und grinste.
„Ist es auch“, gab Lina zu. „Gestern gelernt.“ Lina sollte eines Tages die Nachfolgerin ihrer Großmutter werden und nahm daher schon eine ganze Weile Unterricht bei ihr. Mit wechselndem Erfolg. Mal lief es gut, mal weniger gut. Momentan lief es eher schlecht. Lina wandte sich zu Carolin. „Sag mal, hast du mich gestern angerufen und dann aufgelegt?“, fragte sie ganz unvermittelt.
Carolin schüttelte den Kopf. „Nee, ganz bestimmt nicht! Wenn ich dich anrufe, will ich auch mit dir sprechen. Warum also sollte ich auflegen?!“
„Komisch!“ Lina zögerte einen Moment und holte tief Luft. „Vorgestern kam auch schon so ein dämlicher Anruf. Wenn ich rangehe, meldet sich niemand. Aber man hört, dass jemand dran ist und nach einer Weile wird aufgelegt.“
„Wahrscheinlich hat sich jemand einfach nur verwählt“, vermutete Carolin, ohne Linas Worte allzu große Bedeutung beizumessen.
„Wahrscheinlich“, antworte Lina und versuchte, das kleine Grummeln zu ignorieren, das sich in ihrem Bauch warnend ausbreitete.
Wenig später machten sich die beiden Mädchen auf den Heimweg.
Als Carolin nach Hause kam, war im Ahornweg 16 alles dunkel. Keiner da? ... Auch gut! Carolin lief in die Küche und holte sich einen Pfirsichsaft aus dem Kühlschrank. Sie goss sich ein Glas voll, schlenderte ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Gerade als sie es sich auf der Couch gemütlich machen wollte, hörte sie ein Geräusch, das von der Terrasse kam. Carolin schreckte zusammen. Einbrecher?
Die Tür öffnete sich, und ihre Mutter trat ein. „Ach, Caro, bist du schon da? Ich hab dich gar nicht gehört“, murmelte sie etwas geistesabwesend.
Was heißt da schon, Mam? Draußen ist es stockfinster! Carolin betrachtete ihre Mutter. Sie sieht komisch aus!, dachte sie.
Seit Kurzem hatte Ines eine neue Frisur. Sie hatte sich ihre Haare verlängern lassen. Nun stand ihre angeschweißte Haarpracht in alle Richtungen, und ihre Augen schimmerten verräterisch. In der Hand hielt sie ein Stück Papier. Es sah aus wie ein Brief. Ihre Hände zitterten ein wenig.
„Ist was passiert, Mam?“, fragte Carolin alarmiert.
Ines schloss die Tür hinter sich. „Paul hat geschrieben.“
Aha! Paps. Meistens, oder eigentlich fast immer, wenn Ines schräg drauf war, hatte es etwas mit Paul Baumgarten zu tun. Inzwischen waren ihre Eltern zwar schon lange geschieden, aber Ines hatte es ihrem Ex-Mann wohl nie so richtig verziehen, dass er sie damals mit seiner rothaarigen Sekretärin betrogen und dann sitzen gelassen hatte. Schon merkwürdig!, überlegte Carolin. Obwohl inzwischen schon ewig viele Jahre vergangen sind und Mam glücklich verheiratet ist, schafft es Paps immer noch, sie aus der Fassung zu bringen. „Ja und?“
Ines setzte sich zu Carolin auf das Sofa. „Er kommt“, sagte sie dann mit einem abgrundtiefen Seufzer.
„Echt?“
Ines nickte. „Seine neue Freundin kommt auch mit.“
“ „Juhu, cool!“, kreischte Carolin. „Das wird super!“
„Na ja ...!“
„Doch!“
„Wie ist sie denn so?“, wollte Ines wissen.
„Wer denn?“, fragte Carolin scheinheilig nach, obwohl sie ganz genau wusste, von wem ihre Mutter sprach.
„Diese Carmela.“
„Öhm ... ich weiß nicht ...“
„Aber du kennst sie doch“, bohrte Ines weiter.
„Schon, aber ... na ja, sie ist ... sie ist ganz normal eben.“
„Sie ist Spanierin, oder?“
Carolin nickte.
„Ab einem gewissen Alter neigen die Südländerinnen ja zur Fülle“, meinte Ines.
Caro zuckte nur mit den Schultern. Carmela hatte eine traumhafte Figur. Und das gewisse Alter, das ihre Mutter vermutete, hatte sie noch lange nicht erreicht. „Du lernst sie ja bald selbst kennen“, erklärte Carolin schließlich.
Liebevoll strich Ines ihrer Tochter über den Kopf. „Erst kürzlich haben dein Vater und ich vor Gericht noch über das Sorgerecht für dich gestritten. Und jetzt treffen wir uns alle. Das Leben ist schon komisch.“ Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche ihres hellgrünen Ballonkleids. Angeblich der letzte Schrei. Doch Carolin fand es einfach nur entsetzlich. „Was essen denn die Spanier so?“
Carolin rollte die Augen. „Was weiß denn ich? Ich glaub nicht, dass Paps und Carmela wegen eines Bratens oder so anreisen.“
„Braten, genau!“, nickte Ines entschlossen. „Das ist eine gute Idee. Ich werde den besten, knusprigsten Braten aller Zeiten zubereiten. Einen Braten, von dem sie in Spanien nur träumen können.“
Na toll! Auf das Gespräch mit Ines hab ich jetzt echt keine Lust. Carolin stand auf und ging zur Tür.
Ines blickte ihr nach. „Wo willst du denn hin, Kind? Ich dachte, du wolltest fernsehen?“
Wollte ich auch. „Eigentlich bin ich schon ziemlich müde, Mam. Ich geh ins Bett.“
„Schlaf gut! Ach, Caro ... sag mal, hast du nicht zufällig ein Foto von dieser Carmela? Ich wüsste zu gerne, wie sie aussieht!“
„Nee, hab ich nicht. Aber sie kommt doch bald und dann siehst du sie“, erwiderte Carolin. Mann, Mam, du nervst mit deinen Fragen. Ich werd dir nichts über Carmela verraten! Und ohne eine Antwort abzuwarten, lief Carolin nach oben in ihr Zimmer.
Da sie entgegen ihrer Aussage aber überhaupt noch nicht müde war und ins Bett wollte, setzte sie sich an ihren Computer und klickte ihr Mailprogramm auf. Sie hatte Post!
Die kann nur von Annit sein! Aus Syrien! Echt toll, wo die überall rumkommt! Obwohl ... in Syrien ist sie eigentlich meinetwegen. Weil ich diese blöde Vision hatte. Weil ich sie auf Silberstern reitend in einem arabischen Land mitten in der Wüste gesehen hab und wir dann beschlossen, dass sie dort hinreisen muss. In das Land, aus dem die Vorfahren unserer Pferde stammen. Neugierig öffnete Carolin die Mail.
„Liebe Caro, ich hab so viele Neuigkeiten, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Zuerst das Wichtigste: Heute Nacht hab ich diesen schrecklichen Flammentraum besiegt …“
Ach ja, Silberstern hat Annit lange diesen merkwürdigen Traum geschickt. Caro erinnerte sich. Und auch an den Tag, an dem sie zum ersten Mal von Silbersterns magischer Gabe erfahren hatte. Genau wie sein Vater war auch er ein magisches Pferd. Doch während Carolin in die Zukunft blicken konnte, wenn sie in Vollmondnächten auf Sternentänzer ausritt, hatte Silberstern andere magische Fähigkeiten. Er konnte Gefahren erahnen und warnte seine Besitzerin in Träumen davor. Meist waren es Albträume, die auch ab und an Rätsel aufgaben. Arme Annit! Es muss schrecklich sein, solche Träume zu haben.
Carolin riss sich aus ihren Gedanken und las weiter. Ihre Freundin erzählte davon, wie wohl sie sich in Syrien bei diesem Beduinenstamm inzwischen fühlte. Und zudem hatte sie herausgefunden, dass Sternentänzer einen Vater hatte, der Sahir hieß und genau wie Silberstern aussah. Schwarz, mit einem kleinen weißen Keilstern auf der Stirn.
Doch der wichtigste Absatz von Annits Mail war der letzte: „ ... So funktioniert das nämlich. Magische Pferde werden nur dann aggressiv und böse, wenn sie von ihrem Besitzer enttäuscht werden. Niemals von sich aus. Deswegen ist Falak auf Mallorca auch so ausgerastet. Der alte Mann dort konnte absolut nichts dafür! Es war der Stammesfürst der Beduinen hier, der sie schwer enttäuschte, weil er das Versprechen, sie eines Tages zurückzuholen, nicht eingelöst hat.“
Carolin las die Mail zu Ende, und ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Dass magische Pferde nur böse wurden, wenn sie mit bösen Menschen zu tun hatten oder enttäuscht wurden, wusste Carolin ja schon. Aber es nun nochmals so deutlich schwarz auf weiß zu lesen, beruhigte sie unheimlich. Jetzt kann ich ganz sicher sein. Mein Sternentänzer wird nicht böse werden …
Manno, Annit! Carolin seufzte und schloss die Augen. Auf einmal sah sie die Freundin vor sich. Mit ihren langen schwarzen Locken und den außergewöhnlich klaren, strahlend blauen Augen. Wie sie auf Silberstern, Sternentänzers Sohn, über die Wiese galoppierte. Eines Tages vor langer Zeit war das Mädchen in Lilienthal aufgetaucht. In zerschlissenen Jeans, die bis zum Knöchel reichten, Flipflops und einem Rucksack. Da sie ausgezeichnet reiten und voltigieren konnte, hatte Linas Onkel Rocco sie für seinen Zirkus engagiert. Dort trat sie mit Silberstern in einer eigenen Voltigiernummer auf. Mit Amis Hilfe hatten sie dann herausgefunden, dass Annit die Auserwählte war, der Silberstern seine magische Gabe offenbarte. Ihr teilte er sich über Träume mit und warnte sie so vor Gefahren. Von Lilienthal war die Zirkustruppe dann nach Polen gereist. Dort hatte Annit Silberstern von Onkel Rocco gekauft – denn es war klar, dass die beiden zusammengehörten. Sie hatten eine ähnlich enge Verbindung wie Carolin und Sternentänzer. Schließlich war Annit mit ihrem Pferd weiter nach Rumänien, Griechenland und in die Türkei gezogen. Inzwischen hielt sie sich bei einem Beduinenstamm mitten in der Wüste Syriens auf, um dort nach dem Geheimnis ihrer magischen Pferde zu suchen und um herauszubringen, ob sie eine böse Seite hatten. Denn es war klar, dass sie die Antworten auf ihre vielen Fragen in der Vergangenheit ihrer Pferde suchen mussten.
Carolin drückte auf Antworten. „Annit, mir stehen die Haare zu Berge, das sind ja Hammernews! Bin ich happy! Ich musste neulich einem Mädchen Reitunterricht geben. Sie war eigentlich sehr nett, Sternentänzer aber hat sich ihr gegenüber total aggressiv aufgeführt. Ich war schon voll am Verzweifeln. Aber mit Amis Hilfe haben wir dann herausgefunden, dass er nur so aggressiv reagiert hat, weil ich ihm nicht vertraut habe. Weil ich an ihm gezweifelt hab. Weißt Du, was ich dann gemacht hab? Ich hab ein Tagebuch geschrieben. Abgefahren, oder? Mit meinen schönsten Erlebnissen mit Sternentänzer. Von da an hab ich mich ihm wieder ganz nahe gefühlt. Sag mal, was hast Du jetzt eigentlich vor? Kommst Du zurück nach Deutschland? Sehen wir uns bald wieder? Das wäre sooooooo schön! Grüße Caro.“
Schließen und weg! Carolin wartete noch eine Weile auf Antwort, doch offenbar saß Annit schon nicht mehr vor dem Computer. Der Gedanke, dass sie Silberstern und Annit bald wiedersehen könnte, ließ Carolins Herz einen kleinen Satz machen. Ihr Blick fiel auf das Bild von Sternentänzer in dem silbernen Rahmen vor sich. Sahir heißt also dein Vater. Ein geheimnisvoller Name. Ein wilder pechschwarzer Hengst, genauso schön wie du. Ob er auch eine magische Gabe besitzt – so wie du? Wo ist er jetzt?
Carolin fuhr mit dem Finger sanft über Sternentänzers Bild. „Wenn Annit nun zurückkommt, werden wir das nie erfahren, Sternentänzer.“ Sie seufzte. „Aber was macht das schon, das Wichtigste ist, dass du nicht böse wirst. Alles andere ist nicht so wichtig.“
Doch da sollte sie sich täuschen.
„Good morning, my friends!“ Schwungvoll wie immer betrat ihre Englischlehrerin Miss Somerset das Klassenzimmer und stellte ihre gemusterte Designertasche auf den Tisch.
„Hast du die Hausi gecheckt?“, raunte Lina Carolin zu, die neben ihr saß.
„Geht so“, flüsterte Carolin zurück. Sie war in Englisch zwar nicht gerade eine Leuchte. Aber es war wenigstens nicht ganz so kompliziert wie Mathe für sie.
„Wie ihr ja wisst, werden wir demnächst eine Klassenarbeit schreiben“, begann Miss Somerset sogleich und schob eine Strähne ihrer aschblonden kurzen Haare aus der Stirn. „Aber das ist noch nicht alles ...“ Sie ließ ihren Blick über die Schüler schweifen. „Es gibt da noch ein weiteres wichtiges Projekt.“
„Noch eins?“, murmelte Lina unwillig. „Ich bin schon total froh, wenn ich diese dämliche Klassenarbeit auf die Reihe kriege!“
„Eure Klasse wird das Vergnügen haben, für die Ausrichtung des diesjährigen Schulballs zuständig zu sein. Wie ihr wisst, ist es Tradition, dass die Mittelklasse diese Veranstaltung jeweils ausrichtet. Eure Eltern wurden darüber auf dem letzten Elternabend ja bereits informiert.“ Miss Somerset schaute ihre Schüler aufmerksam an und lächelte erwartungsvoll.
„Und was genau heißt das?“, wollte Matthias schließlich wissen.
„Das bedeutet vor allem eine Menge Arbeit, my friends“, erklärte Miss Somerset. „Damit ihr lernt, wie so was geht, seid ihr für die gesamte Vorbereitung und Abwicklung des Abends verantwortlich. Das heißt, ihr müsst die Getränke und das Essen organisieren. Ihr werdet auch ein kleines Theaterstück einstudieren, und anschließend gibt’s Musik und Tanz.“ Sie machte eine kleine Pause. „Zusammen mit euren Deutsch- und Mathelehrern werde ich euch bei der Organisation des Schulballs unterstützen. Aber mehr dazu in der nächsten Stunde. Nun schlagt bitte das Englischbuch auf Seite vierzig auf. Caro, please! Beginnst du bitte mit Vorlesen!“
In der zweiten Stunde war Mathe bei Dr. Hutmacher angesagt. Der ältere Herr trug einen seiner üblichen braunen Anzüge und hatte wie immer seine paar spärlichen dunkelgrauen Haarsträhnen fein säuberlich von rechts nach links gekämmt, um seine Glatze zu verdecken. Er begann sofort damit, den Schülern voller Begeisterung seine Mathe-Pläne für den Schulball zu erklären. Berechnen, wie viele Getränke es einzukaufen galt. Wie viele Brötchen zu schmieren waren und welche Menge an Belag sie dazu benötigten. Und natürlich was das alles kosten würde und ob die Einnahmen dafür reichten. Seine Augen funkelten hinter seiner kleinen Brille mit dem Goldrand. „Da kommt zwar einiges an Arbeit auf euch zu. Aber ich bin sicher, es wird euch viel Spaß machen“, schwärmte er und schrieb eifrig Zahlen an die Tafel.
Deutschlehrerin Frau Herbert verkündete von einem Theaterstück, das sie als Höhepunkt der Feier einstudieren sollten. Voller Vorfreude rieb sie sich die Hände, während sie in der Klasse auf und ab stolzierte. „Gleich ab nächster Woche werden wir mit den Proben starten. Dazu versammeln wir uns nachmittags in der großen Aula. Heute geht auch ein Brief an alle Eltern raus, in dem sie nochmals offiziell über den bevorstehenden Schulball und die damit für euch verbundenen Vorbereitungen informiert werden. Auf dem Elternabend hatten wir ihnen das ja bereits mitgeteilt.“
„Pah, ich kann nach der Schule nicht“, raunte Carolin Lina zu. „Ich muss nach Lindenhain, ich hab Reitstunden.“ Seit Vicky, die Lebensgefährtin von Lindenhain-Besitzer Gunnar, schwanger war und sich von den Tieren weitestgehend fernhielt, hatte Carolin die Reitstunden auf dem Hof übernommen.
„Carolin, darf ich bitten!“ Frau Herbert warf ihr einen mahnenden Blick zu.
„Schätze, das kannst du vergessen“, tuschelte Lina zurück, als sich Frau Herbert wieder Richtung Tafel gedreht hatte.