In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche ein, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.
Es war ein schöner, sonniger, aber ein wenig kühler Nachmittag. Carolin Baumgarten, genannt Caro, holte ihren neuen dunkelblauen Fleecepulli aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Der Pulli war ein Mitbringsel ihrer Mutter, die aushilfsweise in einer Boutique in Lilienthal arbeitete. Carolin nahm ihren Rucksack, steckte die neueste Ausgabe der Pferdezeitschrift hinein und schnürte ihn fest zu. Dann sauste sie die Treppe hinunter in die Küche. Dort saß ihre Mutter Ines Baumgarten, das Gesicht verborgen hinter einer Zeitung. In der rechten Hand hielt sie einen rosafarbenen Leuchtstift, offenbar markierte sie damit hin und wieder etwas. Wie jetzt gerade. Sie legte die Zeitung auf den Tisch, neigte sich nach vorn und strich etwas an.
„Hallo, Mam!“, rief Carolin munter. „Muss ja spannend sein, was du da liest.“ Sie beugte sich über den Rücken ihrer Mutter und versuchte, in die Zeitung zu spähen.
Doch Ines war schneller. Rasch faltete sie die Zeitung zusammen und legte den Leuchtstift zur Seite.
„Was liest du denn da?“, fragte Carolin neugierig.
„Ach, nichts Bestimmtes“, winkte Ines ab. Sie musterte ihre Tochter und deutete auf den Rucksack. „Wo willst du denn hin?“
„Ich fahr nach Lindenhain“, erklärte Carolin fröhlich.
„Na klar! Auf deinen Reiterhof. Wohin auch sonst?!“, seufzte Ines.
„Aber nicht, um das zu tun, was ich sonst dort immer tue“, kicherte Carolin.
„Du reitest also nicht! Sondern?“
„Ich gehe zum Babysitting“, erzählte Carolin. „Vicky und Gunnar wollen einen Buggy kaufen und danach noch gemütlich eine Tasse Kaffee in der Stadt trinken. Ich passe in der Zwischenzeit auf die kleine Luisa auf.“ Gunnar und Vicky waren die Besitzer des Reiterhofs Lindenhain und seit Kurzem stolze Eltern einer süßen kleinen Tochter.
„Gut, gut, wie schön!“, meinte Ines geistesabwesend und griff wieder nach der Zeitung.
Carolin zog eine Küchenschublade auf und holte sich einen Müsliriegel heraus. Damit wedelte sie vor Ines herum. „Nervennahrung“, grinste sie.
„Jaja!“ Ines blätterte wieder die Zeitung auf.
Carolin öffnete den Kühlschrank und schaute prüfend hinein. „Mam, kann ich ein paar Karotten und Äpfel für Sternentänzer mit nach Lindenhain nehmen?“, fragte sie und erwartete eigentlich einen mittelschweren Protest – nach dem Motto: „Du kannst doch nicht unsere gesamten Nahrungsmittel auf deinen Pferdehof schleppen.“
Aber Ines schwieg, nickte nur vor sich hin.
Hm … irgendwie hört Ines heute gar nichts! Mal sehen!
„Mam, ich nehme den nächsten Flug nach Südamerika, miete mich dort ein und arbeite auf einer Bananenfarm“, startete Carolin ihren Versuchsballon.
Wieder kam nur ein völlig abwesendes Nicken.
Na gut! Dann halt nicht! Carolin packte die Karotten und die Äpfel in ihren Rucksack und schulterte ihn. „Mam, ich geh jetzt“, rief sie mit lauter Stimme und wartete auf ein „Aber komm nicht zu spät nach Hause! Hast du auch die Hausaufgaben schon gemacht?“ von ihrer Mutter.
Doch die war schon wieder so in ihre Zeitung vertieft, als würde es nichts anderes mehr auf der Welt geben.
Okay! Carolin zuckte die Achseln. Umso besser. Sie packte auch noch den Müsliriegel in ihren Rucksack. „Ich bin dann mal weg.“
„Jaja“, kam es wieder nur geistesabwesend von Ines.
Kopfschüttelnd schlüpfte Carolin in ihre Jacke. Dann verließ sie fröhlich pfeifend das Haus, schnappte sich ihr Fahrrad und schwang sich auf den Sattel.
Sie freute sich heute noch mehr als sonst auf Lindenhain. Aus zwei Gründen: Zum einen auf das Babysitten, denn die kleine Luisa mit ihren blauen Kulleraugen war sehr süß und pflegeleicht. Vielleicht mache ich mit ihr heute einen kleinen Spaziergang?, überlegte Carolin, während sie nach Lindenhain radelte. Oder ich trage sie hoch zur Pferdekoppel, wo wir Sternentänzer und die anderen Lindenhain-Pferde beobachten können? Bestimmt hat sie auch irgendwann Hunger, dann werde ich ihr ein Gläschen geben. Carolin erinnerte sich, wie sie Luisa das erste Mal gefüttert hatte, und musste schmunzeln. Nach dem Essen war fast die ganze Küche voller grüner Spinatflecken gewesen. Luisa hatte ausgesehen wie nach einer Schlacht mit kleinen grünen Männchen, Carolin nicht viel besser. Aber inzwischen klappte das mit der Fütterung schon richtig gut. Nur ab und an ging noch eine Ladung daneben.
Zum anderen war heute ein ganz besonderer Tag. Jubiläumstag mit Sternentänzer. Kennenlern-Jubiläum. Der Tag, an dem sie dem herrlichen Araberschimmel zum ersten Mal vor Jahren begegnet war. Sein damaliger Besitzer hatte ihn damals nach Lindenhain gebracht. Heute jährte sich dieser Tag wieder. Carolin war von der allerersten Sekunde total fasziniert von dem prächtigen mondhellen Schimmel gewesen. Und schon bald darauf hatte er ihr gehört …
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen bog Carolin in die Einfahrt zu ihrem geliebten Pferdehof. Für sie der schönste Pferdehof der Welt. Er erhob sich auf einem sanften grünen Hügel zwischen knorrigen, alten Linden. Dazu gehörte ein langer hellgelber Stall, ein Reitplatz, eine Reithalle und das große Haupthaus. Gleich daneben stand ein hübsches, zweistöckiges Ferienhaus, in dem Reitgäste einquartiert wurden. Entlang der riesigen Koppel führte ein Feldweg zu einem zweiten Hügel mit großen Linden.
In dem Moment, als Carolin ihr Rad abstellte, kam Vicky auch schon aus dem Haupthaus. Sie sah richtig schick aus, hatte ein hellrotes Etuikleid an und halbhohe Schuhe.
„Hallo, Vicky! Hier bin ich schon.“
„Sorry, Caro, es hat sich erledigt“, fiel Vicky ihr gleich ins Wort.
„Was meinst du damit?“ Carolin sah Vicky verwundert.
Vicky wirkte aufgebracht – ihre Wangen glühten, die Augen funkelten. „Danke dir, Caro, aber ich brauche heute doch keinen Babysitter. Ich bleibe nämlich hier“, erklärte sie und machte ein Gesicht, als hätte sie soeben in eine saure Zitrone gebissen.
„Ihr wolltet doch in die Stadt?“, hakte Carolin erstaunt nach.
„In der Tat“, nickte Vicky. „Das wollten wir, bis es sich der liebe Gunnar spontan anders überlegt hat.“
„Hatte er keine Lust?“
„Nee, plötzlich keine Zeit mehr! Er musste auf einmal woanders hin.“
„Wohin denn?“
„Was weiß denn ich?! In irgendein Kaff“, zischte Vicky und gestikulierte heftig. „Spontan irgendwo irgendwelche Tiere retten.“
„Pferde?“, vermutete Carolin. Gunnar hatte ein großes Herz für Tiere, wann immer irgendwo Tiere in Not waren, war er zur Stelle.
Vicky rollte mit den Augen. „Ich weiß nichts Genaues. Ist ja eben erst passiert. Wir wollten gerade los, haben eigentlich nur noch auf dich gewartet, da rief der Freund eines Freundes an. Daraufhin hat Gunnar einfach unseren Ausflug in die Stadt gestrichen, schnappte sich den Hänger und düste los. Zack – und weg war er!“
„Sonst hat er nichts gesagt?“, wunderte sich Carolin.
„Er wisse nicht, wann er zurück sei. Er würde sich von unterwegs melden.“ Vicky schüttelte erbost den Kopf. „So hatte ich mir unseren gemeinsamen Nachmittag echt nicht vorgestellt.“
„Bestimmt war es ein Notfall“, verteidigte Carolin Gunnar. „Einfach so grundlos sagt er eure Verabredung doch nicht ab.“
„Und wenn schon?“, schimpfte Vicky. „Warum muss immer er sich um Notfälle kümmern!? Bestimmt hat er sich wieder bequatschen lassen und konnte nicht Nein sagen.“
„Ich bin sicher, es geht um Pferde in Not“, wiederholte Carolin ihre Vermutung. „Hoffentlich kann er sie retten!“
„Ja, du hast ja recht“, meinte Vicky nun schon ein klein wenig versöhnt. „Er hat nun mal ein großes Herz für alle Schwachen, das weiß ich ja.“ Sie seufzte tief. „Das ist ja etwas von den vielen Dingen, die ich an ihm liebe.“ Sie lächelte leicht. „Nur heute hätte er mal eine Pause machen können.“
„Das kann man sich bei Notfällen nun mal nicht aussuchen“, sagte Carolin grinsend. „Deswegen heißen sie ja auch Notfälle.“
Vicky straffte die Schultern. „Jaja, schon gut! Ich hatte mich nur schon so sehr auf diesen Nachmittag gefreut.“ Sie sah Carolin an. „Wie wär’s? Wollen wir beide zusammen einen hübschen Spaziergang mit Luisa machen?“
„Klar“, antwortete Carolin und folgte Vicky ins Haus. Die kleine Luisa stand in ihrem Laufstall, schaute sie mit ihren großen blauen Augen an und krähte ihnen fröhlich entgegen. Ihre feinen goldblonden Härchen standen in alle Richtungen. Um ihren Hals baumelte ein knallroter Schnuller.
Vicky beobachtete die Kleine mit einem seligen Lächeln. „Sie wird so schnell groß. Bis vor Kurzem war sie noch völlig hilflos, jetzt krabbelt sie schon und zieht sich die Gitterstäbe hoch.“
„Dauert nicht mehr lang und sie sitzt im Sattel“, sagte Carolin lachend.
„Na ja, bis dahin ist es schon noch eine Weile.“
Vicky verschwand schnell, um sich bequeme Sachen anzuziehen. Dann zogen sie Luisa warm an, setzten sie in den Kinderwagen und marschierten los.
Nach dem Spaziergang mit Vicky und Luisa lief Carolin hinüber zur Koppel und setzte sich auf das Holzgatter, ihren Lieblingsplatz. Von hier aus beobachtete sie die Lindenhain-Pferde, die friedlich in der Spätnachmittagssonne grasten. Auch Sternentänzer. Sein Fell, die üppige Mähne und der Schweif leuchteten im Sonnenlicht. Nun hatte der mondhelle Schimmel Carolin entdeckt. Leise schnaubend setzte er sich in Bewegung, lief auf sie zu und stieß sie mit dem Kopf auffordernd an.
„Hallo, mein Schöner“, begrüßte ihn Carolin liebevoll. „Du willst, dass wir zusammen ausreiten? Du willst mit mir über die Felder jagen, stimmt’s?“
Der Schimmel stupste sie ein weiteres Mal an, als wolle er zustimmen.
„Es ist leider schon ziemlich spät, und für heute habe ich etwas anderes mit dir geplant.“ Zärtlich fuhr Carolin mit dem Finger den kleinen schwarzen Stern auf seiner Stirn nach. „Komm, mein Süßer, ich hab eine Überraschung für dich!“
Sie sprang vom Gatter und führte den Hengst von der Koppel in den Stall.
„So, mein schöner Sternentänzer, jetzt kommt unsere Feierstunde.“ Als Sternentänzer in seiner Box stand, holte sie rasch das Putzzeug aus der Sattelkammer und striegelte ihn ausgiebig – bis sein prächtiges mondhelles Fell glänzte wie flüssiges Silber. Doch Sternentänzer war nicht nur ein herrlicher Araberschimmel, sondern er besaß auch eine ganz außergewöhnliche Gabe. Er war nämlich ein magisches Pferd. Wenn Carolin in Vollmondnächten auf ihm ausritt, konnte sie in die Zukunft schauen.
Nach dem Putzen besorgte Carolin sich einen Teller und richtete darauf die Karotten und Äpfel an, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Das Ganze garnierte sie noch mit zwei Leckerli und verzierte es mit etwas Heu. Einen Strohhalm bog sie zu einem großen S wie Sternentänzer. Dann nahm sie den Teller in die Hand und balancierte ihn vorsichtig in Sternentänzers Box.
„Tatarata!“ Sie stellte sich vor ihr Pferd hin und hielt ihm den Teller vor das Maul. „Mein geliebter Sternentänzer“, begann sie ihre Jubiläumsansprache und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. „Ich erinnere mich noch so genau an den Tag, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Fast so, als wäre es erst gestern gewesen.“
Sternentänzer hielt erst ganz still, dann hob er seinen Kopf und schnupperte über ihr Gesicht. Immer wieder. „Das kitzelt“, kicherte Carolin, genoss aber seine Liebkosungen. „Ach du!“ Sie stellte den Teller rasch ab, schlang ihre Arme um den Hals des Pferdes und vergrub ihr Gesicht in dem schönen Fell. „Erinnerst du dich noch,“ fuhr sie fort, „als ich nach langer Suche in der Bücherei deine Prophezeiung gefunden habe.“ Sie schluckte.
„In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren … Er verfügt über außergewöhnliche Kräfte, er kann in die Zukunft blicken … Doch Unzählige sind an ihm gescheitert. Denn seine magischen Kräfte erfährt nur, wer sein Vertrauen besitzt“, zitierte Carolin.
Inzwischen kannte sie jedes Wort auswendig. Zärtlich strich sie über Sternentänzers samtweiche Nüstern. „Und das bin ich. Ich besitze dein Vertrauen und kann daher deine magischen Kräfte nutzen. Bis heute. Danke mein schöner Sternentänzer. Danke für all die Visionen, die du mir bis heute beschert hast. Danke für die vielen Male, bei denen du mir mit deinen Visionen geholfen hast. Ich bin stolz und froh, dass ich deine Gabe nutzen darf, dass ich dich kennenlernen durfte.“ Carolin blinzelte die Tränen weg.
Sternentänzer sah sie mit seinen großen dunklen, feucht schimmernden Augen an. Sein Blick ging Carolin durch und durch. Sie fühlte ein merkwürdiges Kribbeln, sie bekam eine Gänsehaut – genau so, wie bei ihrer allerersten Begegnung auf Lindenhain. Aber da war noch mehr, dieser Zauber, der von dem prächtigen Schimmel ausging. Etwas Magisches. Etwas ganz Merkwürdiges, das man nicht sehen konnte, sondern nur fühlen. „Du bist etwas ganz Besonderes, das wusste ich vom allerersten Moment“, murmelte sie und berührte zärtlich seine Stirn. „Und das wirst du für mich auch immer und ewig bleiben.“ Noch einmal schmiegte sie sich fest an ihr Pferd.
Dann löste sie sich, trocknete sich mit dem Ärmel ihres Pullis die nassen Augen, bückte sich und stellte den Teller genau vor Sternentänzer hin. Der Schimmel machte sich auch gleich darüber her und zermalmte lautstark die Karotten und die Äpfel. Carolin hockte sich ins Stroh und betrachtete ihn glücklich. Als sie nach einer Weile den Stall verließ, dämmerte es draußen bereits.
Mit einem kleinen Anflug von schlechtem Gewissen radelte Carolin von Lindenhain zurück nach Hause in den Ahornweg. Irgendwie hatte sie im Stall bei Sternentänzer komplett die Zeit vergessen. Bestimmt sitzen daheim schon alle beim Abendessen! Bestimmt ist meine Mam supersauer, dass ich so spät komme! Aber sie hat ja schließlich nicht gesagt, wann ich zurück sein soll!, versuchte Carolin, sich dann zu beruhigen. Zieht nicht, Caro! Schließlich weiß ich ja, wann wir zu Abend essen, korrigierte sie sich im nächsten Moment.
Geschwind stellte Carolin ihr Rad ab, schnappte sich ihren Rucksack und eilte im Laufschritt zur Haustür. Sie wühlte in ihrer Jackentasche nach dem Hausschlüssel, doch da war nichts. Mist, das auch noch! Der Hausschlüssel ist ja noch in der anderen Jacke! Reinschleichen war also nicht.
Carolin drückte die Klingel und sah schon das vorwurfsvolle Gesicht ihrer Mutter vor sich. „Mam, ich …“, begann sie gleich, als sich die Haustür öffnete.
„Ey, seit wann seh ich aus wie deine Mam?“, grinste ihr Thorben entgegen, der die Tür geöffnet hatte. Thorben war ihr Stiefbruder, der Sohn von Tierarzt Dr. Joachim Sander, mit dem Ines in zweiter Ehe verheiratet war.
Carolin drückte sich an ihm vorbei ins Haus. „Wartet ihr schon auf mich?“
Thorben schüttelte den Kopf. „Nee, ich nicht! Und sonst ist keiner da.“
Carolin zog ihre Jacke aus. „Echt? Mam hat gar nicht gesagt, dass sie noch weg will.“
„Das scheint wohl auch eher ein spontaner Entschluss gewesen zu sein“, erklärte Thorben.
„Wie kommst du denn da drauf?“
„Paps fuhr vor, Ines sprang hopplahopp ins Auto, und schwups waren die beiden auch schon weg.“
„Hä? Was geht denn da bei denen ab?“, fragte Carolin erstaunt.
„War in der Tat ein etwas merkwürdiger Abgang“, stimmte Thorben zu.
Carolin schlüpfte aus ihren Schuhen. „Und sie haben nicht gesagt, wo sie hinfahren?“
Thorben grinste. „Bevor ich fragen konnte, waren die beiden ja schon weg. Ines rief mir nur noch kurz zu, dass wir schon mal das Abendessen vorbereiten sollen.“
„Das heißt ja wohl, dass sie nicht allzu lange wegbleiben“, überlegte Carolin.
„Kann schon sein!“ Thorben kratzte sich am Kopf. „Apropos Abendessen. Sie meinte, wir könnten ja schon mal Kartoffeln kochen. Hast du eine Ahnung, wie man das macht? Wirft man die in kochendes Wasser wie Spaghetti? Muss man die vorher schälen, oder kommen die so in den Topf?“ Etwas ratlos ging er in die Küche, Carolin folgte ihm.
„Ich würde sagen, die Kartoffeln kommen so in den Topf.“ Carolin zog ein Küchenfach auf und holte einen Topf heraus. „Vielleicht hat Mam bei Florentine was vergessen, was sie noch schnell abholen wollen.“ Florentine war Ines’ beste Freundin, sie führte die einzige Boutique in Lilienthal. Dort half Ines ab und an aus, um etwas Geld dazuzuverdienen.
Thorben runzelte die Stirn. „Und was soll das sein, was sie bei Florentine vergessen hat?“
„Keine Ahnung! Wo könnten sie denn sonst hin sein? Essen holen sind sie nicht. Sonst müssten wir ja nicht kochen.“ Carolin füllte Wasser in den Topf.
„Vielleicht sind sie ja zum Shoppen?“, überlegte Thorben. „Oder sie wollen mal gemütlich in einem Café sitzen? In letzter Zeit verstehen sich die beiden ja echt gut.“
„In der Tat“, grinste Carolin. „Sie halten sogar Händchen abends beim Fernsehen.“
Thorben rollte mit den Augen. „Muss Liebe schön sein!“
Carolin knuffte ihren Stiefbruder in die Seite. „Sei doch froh, dass sie sich so gut verstehen.“
„Hast ja recht, bin ich ja auch“, erwiderte Thorben. Er nahm die Papiertüte mit den Kartoffeln und öffnete sie. „Wenn das jetzt aber jeden Abend so sein soll, dass wir kochen müssen und die zwei sich verziehen, bin ich für deutlich weniger Romantik!“
Carolin stemmte die Hände in die Hüften. „Sollen wir die Kartoffeln jetzt schon kochen oder erst später?“
Kaum hatte sie ausgesprochen, hatte Thorben auch schon den Inhalt der Tüte in den Topf geleert. „So“, nickte er dabei entschlossen. „Und wenn’s nichts wird, essen wir eben belegte Brote.“
„Was gibt es eigentlich zu den Kartoffeln?“, erkundigte sich Carolin.
Thorben zuckte die Schultern. „Keine Ahnung! Es war nur die Rede vom Kartoffelkochen.“
„Aber wir können doch nicht nur Kartoffeln essen“, beschwerte sich Carolin.
Thorben rieb sich den Bauch. „Ich hab auch schon richtig fetten Kohldampf.“
„Oh nee!“ Carolin rollte mit den Augen. „Du bist momentan echt verfressen.“ Die ganze Familie Baumgarten-Sander hatte kürzlich Urlaub bei Carolins Großmutter Helena von Borken auf deren Gestüt in Norddeutschland gemacht. Thorben hatte dort gefuttert wie ein Scheunendrescher. Offenbar hielt sein Appetit auch zu Hause weiterhin an. Carolin ging zum Kühlschrank, öffnete das Tiefkühlfach und inspizierte den Inhalt. „Hm … Speck, Muscheln, Garnelen am Spieß“, zählte sie den Inhalt des Fachs auf. „Ihhh! Eins ekliger als das andere!“ Sie wollte das Fach gerade wieder schließen, als sie in einer Ecke eine grüne Packung entdeckte. „Wie wär’s mit Rahmspinat zu den Kartoffeln?“, schlug sie vor.
Thorben nickte. „Meinetwegen.“
Carolin überflog die Kochanweisung. „Einfach nur im Topf auftauen, das kriegen wir hin.“
Carolin hatte gerade den Spinat in den Topf gegeben, als die Haustür aufgesperrt wurde. Eine Minute später standen Ines und Dr. Sander in der Küche.
Ines inspizierte sogleich den Herd. „Super habt ihr das gemacht“, lobte sie.
„Wo wart ihr eigentlich?“, wollte Carolin neugierig wissen.
„Ach, nur ein bisschen spazieren“, antwortete Ines und guckte unschuldig.
„Ganz spontan?“, bohrte Thorben nach.
Dr. Sander legte die Hände auf die Schultern seines Sohnes. „Genau, ganz spontan, mein Junge! Und jetzt würd ich dich bitten, ganz spontan den Tisch zu decken.“
„Aber wo seid …?“, startete Carolin noch einen weiteren Versuch.
„Und du hilfst ihm bitte dabei“, fiel Ines ihr ins Wort. Ganz offensichtlich hatten die beiden so gar keine Lust, von ihrem kleinen Ausflug zu erzählen.
Carolin und Thorben sahen sich an und zuckten die Achseln. Dann eben nicht!
Als Carolin am nächsten Tag nach Lindenhain radelte, war ihre Vorfreude noch eine ganze Portion größer als sonst. Ich bin ja schon so gespannt, welche Pferde Gunnar diesmal gerettet hat!, überlegte sie, während sie ihr Rad über den Hof rollen ließ. Vielleicht wieder geschundene Ponys? Carolins Blick wanderte hinüber zur Weide. Dort grasten die Haflinger Lila und Moritz und die Shettys Bella und Lola. Alle vier waren gequälte Jahrmarktponys, die vor längerer Zeit auf Lindenhain ein neues Zuhause gefunden hatten. Auch Marhaba stand dort, ein brauner Hengst mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif. Er war ehemals das Geburtstagsgeschenk eines wohlhabenden Vaters an seine Tochter gewesen. Als die sich dann nicht mehr für das Pferd interessierte, kam Marhaba nach Lindenhain. Und die drei Musketiere waren da, drei Pferde, die Carolin und ihre Freunde in einer Nacht- und Nebelaktion befreit hatten. Alles Notfälle! Dann war da noch Aziza, eine Araberstute, eigentlich auch ein Notfall. Sie war ein wertvolles Turnierpferd, konnte aber wegen einer Verletzung keine Leistung mehr bringen. Gunnar hatte schließlich zugestimmt, dass sie auf Lindenhain bleiben durfte. Carolin schmunzelte. Wir haben hier echt ein Sammelsurium an Notfall-Pferden. Mal sehen, welche Rasse diesmal noch dazukommt!
„Hallo,
Caro!“ Carolin drehte sich um.
Hinter ihr stand Jan, Lindenhains Mann für alles, mit einem Schubkarren voller Stroh, Kaugummi kauend wie immer. Jan war Vickys Neffe, hatte kurze blonde Haare und fast immer gute Laune.
„Hi, Jan!“ Carolin deutete auf den Schubkarren. „Streust du schon die Boxen für die neuen Pferde ein?“
„Pferde?“ Jan schob die Basecap auf seinem Kopf zurück und kratzte sich. „Ich weiß nix von neuen Pferden.“
„Hi, Caro!“ Tim kam auf die beiden zu. Tim machte auf Lindenhain gerade eine Ausbildung als Pferdewirt. Genau wie Jan war er für Carolin inzwischen ein richtig guter Kumpel geworden.
Jan sah Tim fragend an. „Weißt du vielleicht was von neuen Pferden?“
Tim schüttelte ratlos den Kopf. „Nee! Keine Ahnung. Wo sollen die denn herkommen?“
„Ich meine die Pferde, die Gunnar gestern mitgebracht hat“, setzte Carolin nach. „Er ist doch extra deswegen los.“
„Pferde?“, wiederholte Jan. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Er nickte Tim zu. „Tim, Caro meint die Pferde von gestern Abend, du weißt schon!“
„Ach diese Pferde!“ Jetzt grinste auch Tim übers ganze Gesicht.
Carolin blickte fragend von einem zum anderen. „Was geht denn bei euch ab? Was bitte ist so furchtbar komisch an meiner Frage nach den Pferden?“
„Och, gar nichts!“, meinte Tim, hatte dabei allerdings größte Mühe, nicht laut loszuprusten.
„Gar nichts“, bestätigte Jan, der ebenso angestrengt um einen ernsten Gesichtsausdruck bemüht war.
Doch man sah den beiden an den Nasenspitzen an, dass sehr wohl etwas war. „Ist was mit den Pferden?“, wollte Carolin wissen. „Sind die seltsam?“
„Nö, mit den Pferden ist nichts, oder, Tim?“
„Nö, Jan, mit den Pferden ist gar nichts“, lachte Tim los.