In einer stürmischen Vollmondnacht schlägt ein Blitz in eine jahrhundertealte Eiche ein, und eine Sternschnuppe fällt vom Himmel. Im gleichen Moment wird ein wunderschöner Schimmel mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn geboren.
Es war ein wunderbar warmer Frühsommertag. Carolin Baumgarten, genannt Caro, und ihre beste Freundin, Lina Schniggenfittich, saßen im Schneidersitz auf einer blauweiß karierten Picknickdecke vor Linas hellgelbem Wohnwagen. Wenn sich in diesem Moment hinter den beiden Mädchen die Erde ein Stück weit aufgetan hätte, hätten sie es vermutlich kaum bemerkt – so andächtig und aufmerksam lauschten sie den Erzählungen von Rocco. Linas Onkel war ein weltbekannter Feuerschlucker und Fakir – und inzwischen auch Zirkusdirektor. Sein Künstlername: Rocco Muraro.
Mit seinem Zirkus war er lange Zeit um die halbe Welt gezogen. Vor ein paar Tagen dann war er urplötzlich zur Überraschung aller wieder in Lilienthal aufgetaucht, hatte auf einmal an die Wohnwagentür von Linas Eltern geklopft. Und nun saß er leibhaftig vor den beiden Mädchen auf der Wohnwagenwiese.
„Genial, dass du wieder da bist, Onkel Rocco!“, wiederholte Lina zum x-ten Mal und strahlte glückselig über das ganze Gesicht. Ihre schönen grünen Augen funkelten wie Edelsteine. Sie liebte ihren Onkel von ganzem Herzen und hatte ihn schwer vermisst.
„Finde ich auch!“, stimmte Carolin freudig ein. Auch sie mochte Linas Onkel sehr gern. Er war wie ein bunter Paradiesvogel, und die zwei Mädchen hatten schon viele Abenteuer mit ihm erlebt.
„Die Zeit vergeht wie im Flug, wenn man von einem Land zum anderen zieht“, sagte Rocco mit seiner sanften, aber kräftigen Stimme. Auch optisch war er etwas anders als andere. Er hatte lange, dunkle Korkenzieherlocken, die er meist mit einem Tuch zusammenband, und seine warmen braunen Augen waren mit schwarzem Kajal umrandet. Er hatte breite Schultern, eine kräftige athletische Figur und trug fast nur Anzüge mit Tiermustern, so wie heute einen Overall im Zebramuster und darüber eine Lederjacke.
„Wahnsinn, wo du schon überall rumgekommen bist!“, schwärmte Lina.
„Hast du auch Kamele und Eisbären gesehen?“, wollte Carolin wissen.
Rocco grinste. „Kamele ja, bis zum Nordpol haben wir’s aber leider noch nicht geschafft.“
„Und Wölfe?“, erkundigte sich Lina. „Hast du Wölfe gesehen?“
Rocco schüttelte den Kopf. „Leider nicht! Aber manchmal hab ich ganz deutlich ihr lautes Heulen gehört.“ Seine Augen leuchteten. „In Rumänien zum Beispiel. Vor allem in Vollmondnächten, da heulen sie besonders laut!“
„Rumänien, so weit weg!“
„Von dort hab ich euch …“ Rocco kramte in einem großen, schon etwas abgeschabten Lederkoffer, der neben ihm auf der Picknickdecke stand. „… diese hier mitgebracht.“ Mit einer weit ausholenden Armbewegung zog er zwei bunte, luftig leichte Tücher hervor. Er reichte jedem Mädchen eines davon.
„Wow! Das ist superschön, danke“, freute sich Carolin und legte es sich um die Schultern.
Onkel Rocco war schon wieder auf der Suche in seinem Koffer. „Und aus Andalusien, das liegt in Spanien, hab ich euch das hier mitgebracht.“ Geschickt holte er zwei Paar Kastagnetten heraus, steckte sie über die Daumen und schlug mit den Fingern die beiden Holzschalen schnell gegeneinander. Dabei führte er abwechselnd die Arme über den Kopf und hinter den Rücken. Schließlich überreichte er den Mädchen die Kastagnetten. Er zwinkerte ihnen zu. „Die hat mir die schönste Flamencotänzerin der Welt geschenkt. Sie hieß Esmeralda und hatte glänzend schwarzes Haar bis zur Hüfte.“
„Danke“, kam es fast gleichzeitig von Lina und Carolin. Kichernd versuchten sie, die Kastagnetten zum Klappern zu bringen.
Wieder tauchte Rocco in seinen Koffer. Diesmal fischte er zwei daumengroße Figuren heraus und gab sie den Mädchen.
Mit gerunzelter Stirn untersuchte Carolin das Geschenk. Es war eine kleine Frau mit nacktem Oberkörper, langen Haaren und Fischschwanz, sie saß auf einem Felsen. „Was ist das denn?“
„Das ist die kleine Meerjungfrau aus Kopenhagen in Dänemark. Sie sitzt auf einem Felsen am Meer und wartet geduldig auf ihren Liebsten. Das Problem ist nur, dass sie mit ihrem Fischschwanz nicht an Land kann und ihr Liebster, der ein Mensch ist, nicht im Wasser leben kann“, erzählte Rocco.
„Cool!“, sagte Carolin und drehte und wendete die kleine metallene Figur hin und her.
„Und aus Holland …“ Rocco wühlte erneut in seinem Koffer. „… kommt dieses Mitbringsel.“ Er hielt zwei kleine Schlüsselanhänger hoch, an denen jeweils zwei bunt bemalte Holzclogs in Miniaturgröße baumelten, und reichte sie den Mädchen.
Lina hielt sich die Schuhe dicht an die Nase und schnupperte daran.
„Was machst du da?“, kicherte Carolin.
„Ich hab nur geprüft, ob die Schuhe nach Käse riechen“, erklärte Lina grinsend. „Schließlich kommt doch so viel Käse aus Holland.“
Schmunzelnd griff Onkel Rocco wieder in seinen Koffer und zog doch tatsächlich einen Käse heraus. „Exakt deswegen habe ich auch ein Stück mitgebracht“, sagte er und lachte. „Aber nicht nur das.“ Er beugte sich nach vorn und zauberte hinter Carolins Ohr eine rote Tulpe hervor. „Auch hierfür ist das Land bekannt.“
Carolin tastete verdutzt hinter ihr Ohr. Doch da war nichts. Gar nichts. „Wie hast du das nun gerade wieder hingekriegt?“
Aber Onkel Rocco kramte schon wieder im Koffer. Er holte eine klitzekleine Dose hervor. „Hat jemand Lust auf Kaviar aus Russland? Leckerste Fischeier für den Feinschmecker?“, fragte er in die Runde. Als sich Carolin und Lina leicht angeekelt schüttelten, steckte er mit einem „Na gut, dann eben nicht!“ die kleine Dose wieder zurück in seinen Koffer. „Moskau hat großartige Artisten“, erzählte er dann. „Wirklich grandios!“ Seine Augen glänzten. „Dort habe ich auch ein Angebot vom russischen Staatszirkus bekommen. Ein festes Engagement in Moskau.“ Sein Blick schweifte in die Ferne. „Ein sehr reizvolles Angebot. Fast hätte ich angenommen. Aber dann hat mich mein Zigeunerblut wieder weitergetrieben.“
„Wo hat es dir eigentlich am besten gefallen?“, wollte Carolin wissen. Sie liebte es, Onkel Rocco bei seinen Erzählungen zuzuhören. Es war wie eine Abenteuerreise.
„Gute Frage!“ Onkel Rocco runzelte die Stirn. „Kann ich gar nicht sagen. Überall. Jedes Land, jeder Ort hat etwas Besonderes.“ Er lachte. „Am besten hat es mir unterwegs gefallen.“
Lina ließ sich mit ausgebreiteten Armen nach hinten fallen. „Oh Mann! Ich will auch nach unterwegs.“
Carolin kicherte. „Au ja, wir gehen in ein Reisebüro und buchen eine Woche nach unterwegs.“
„Mit Vollpension!“, setzte Lina prustend nach und kullerte über den Boden.
„Und Anreise“, giggelte Carolin.
„Ich biete mich gern als Chauffeur an“, stimmte Rocco fröhlich ein. Lachend erhob er sich und verschwand im Wohnwagen.
„Hach“, machte Lina, als sie sich wieder gefangen hatte. „Im Ernst, Caro, ich hätte total Lust, mal wieder wegzufahren.“ Ihre schönen grünen Augen funkelten.
„Schon vergessen?!“ Sofort wurde Carolin ernst und knuffte Lina in die Seite. „Fast hättest du deine Koffer für immer packen können. Sei also lieber froh, dass du nicht weg musst!“
„Hast ja recht“, nickte Lina. „Aber verreisen ist was völlig anderes als umziehen müssen.“ Sie legte den Arm um Carolins Schulter, zog die Freundin an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Was ich ja dank meiner allerbesten Freundin auch nicht muss!“
Um ein Haar hätten Lina und ihre Familie die Wiese am Ortsrand von Lilienthal räumen müssen, da ein Investor dort ein riesiges Einkaufszentrum errichten wollte. Zum Glück hatte sich am Ende herausgestellt, dass die Wiese im Besitz von Carolins adliger Großmutter Helena von Borken war, und so hatte der Bau verhindert werden können. Und Lina und ihre Familie durften bleiben.
„Aber irgendwie so frei durch die Gegend ziehen, das wär’s doch.“ Lina ließ Carolin wieder los. „Nur du und ich, wär das nicht genial? Frei wie der Wind!“
„Ey, vergiss es, ich krieg voll fette Blasen an den Füßen, wenn ich lange marschiere“, protestierte Carolin lachend.
„Hm?“ Lina ringelte eine ihrer langen roten Haarsträhnen um den Finger. „Wer sagt denn was von marschieren? Wir könnten doch die Pferde mitnehmen.“
„Mensch, Lina! Wieso ist mir das nicht eingefallen? Klar reiten wir.“
„Genau“, bestätigte Lina. „Du auf Sternentänzer, ich auf Marhaba.“
„Boah, das wär’s, das wär echt ein Traum!“ Carolin nickte vor sich hin. Für einen Augenblick sah sie ihren wunderschönen, mondhellen Araberhengst vor sich, seine dunklen Augen, seine üppige Mähne. Sie stellte sich vor, wie sie auf seinem Rücken über die Felder galoppierte …
„He, Mädels!“ Onkel Rocco streckte den Kopf aus dem Wohnwagen. „Ich hab eine Runde Granatapfeltee zubereitet. Frisch aus der Türkei. Dazu eine Ladung Baklava. Kommt ihr?“
„Aber hallo!“ Lina sprang auf. „Das lassen wir uns nicht zweimal sagen, stimmt’s, Caro?“ Sie lief auf den Wohnwagen zu, Carolin folgte ihr.
Bei intensiv duftendem Tee und unglaublich süßen Süßigkeiten saßen die beiden Freundinnen noch bis spät in den Abend im Wohnwagen und lauschten Onkel Roccos Erzählungen.
Fröhlich pfeifend fuhr Carolin am nächsten Morgen auf ihrem Rad in die Schule. Lina war schon da und kritzelte gedankenverloren in ihrem Englischheft herum. Irgendwas, was aussah wie ein Nadelkissen mit ziemlich spitzen Nägeln.
„Was wird das denn?“, wollte Carolin wissen, während sie aus ihrer Jacke schlüpfte.
„Onkel Rocco will es mir beibringen“, strahlte Lina. „Ist das nicht voll cool!“
„Und was?“
„Das Gehen und Liegen auf dem Nagelbrett natürlich!“ Sie fasste Carolin am Arm. „Willst du es auch lernen?“
„Ja klar“, gab Carolin ironisch zurück, während sie sich auf ihren Platz setzte. Leise kicherte sie vor sich hin. „Witzig wär’s schon. Dann könnte ich zu meiner Mutter gehen und sagen: Mam, ich hab endlich ein neues Hobby! Ich beschäftige mich in meiner Freizeit nicht mehr nur mit Pferden, sondern nehme jetzt Fakirstunden. Freust du dich?“
Lina grinste über das ganze Gesicht. „Ja, schätze, deine Mam wäre hellauf begeistert.“
„Guten Morgen, ihr zwei!“ Jennifer winkte Carolin und Lina fröhlich zu. Jennifer war neu in der Klasse und wie immer superschick angezogen. Sie trug eine teure Jeans und ein hippes Shirt, dazu halbhohe Schuhe mit Korkabsätzen. Anfangs hatten Carolin und Lina befürchtet, Jennifer könnte sich als zweite Julia Schlupf entpuppen.
Julia war eine ihrer Mitschülerinnen und ebenfalls stets nach der neuesten Mode gekleidet. Außerdem war sie reich, verwöhnt und hochnäsig. Ganz besonders gern spottete sie über Lina und deren Kleidungsstil. Julia konnte das ungestüme Naturmädchen, das immer mehrere Röcke übereinander und derbe Schürstiefel trug, nämlich überhaupt nicht leiden und hatte schon diverse richtig gemeine Attacken gegen sie gestartet. Zwischen den beiden Mädchen hatte von Anfang an große gegenseitige Abneigung bestanden.
Als es so ausgesehen hatte, als müssten Lina und ihre Familie die Wohnwagenwiese für das Bauvorhaben räumen, hatte Julia triumphiert und keine Gelegenheit ausgelassen, Lina damit zu ärgern. Als Jennifer dann neu in die Klasse gekommen war, hatte Julia sie sofort unter die Fittiche genommen. Doch bald hatten sie gemerkt, dass Jennifer zwar auf schicke Klamotten stand, aber sonst richtig nett war. In der Sache mit dem Modezentrum hatte sie sich auf die Seite von Lina gestellt und klar gegen Julia Position bezogen – was Julia natürlich mächtig gestunken hatte. Auch jetzt saß Julia auf ihrem Platz und beobachtete mit verkniffenem Gesichtsausdruck Jennifers freundliches Winken hinüber zu Carolin und Lina. Als Jennifer sich schließlich neben sie setzte, beugte sich Julia gleich zu ihr und redete auf sie ein.
„Arme Jennifer“, seufzte Carolin mitfühlend. „Ich hätte überhaupt keinen Bock, neben Julia zu sitzen.“
„Vor allem jetzt, da Julia weiß, dass Jennifer nicht unbedingt nach ihrer Pfeife tanzt, sondern durchaus eine eigene Meinung hat“, pflichtete Lina ihr bei. „Diese fiese Giftspritze wird der armen Jennifer das Leben zur Hölle machen. Und ich weiß ganz genau, wie das ist.“
„Good morning, my friends!“ Miss Katie Somerset, ihre Englischlehrerin, betrat schwungvoll das Klassenzimmer und legte ihre Tasche auf den Tisch. Miss Somerset war eine junge Frau, etwa Mitte dreißig mit aschblondem kurzem Haar. Seit einiger Zeit besprühte sie sich immer so intensiv mit Parfum, dass die Schüler schon vor der Tür erschnüffeln konnten, ob sie da war oder nicht.
Carolin mochte Englisch und folgte dem Unterricht sehr aufmerksam. Das konnte man von Mathe, das in einer Doppelstunde danach folgte, nicht gerade behaupten.
In der großen Pause versammelten sich die Freundinnen dann auf dem Schulhof. Thorben Sander, Carolins Stiefbruder und Linas Freund, leistete ihnen Gesellschaft. Er ging ebenfalls in ihre Klasse.
Lina zappelte hin und her, sie schien aufgedreht wie eine Spieluhr.
Thorben beobachtete seine Freundin grinsend. „Na, da hat aber eine mal richtig gute Laune!“
„Yes!“, nickte Lina, hielt inne und umarmte erst ihn, dann Carolin. „Hab ich nicht allen Grund dazu? Wir dürfen auf unserer Wohnwagenwiese bleiben, und mein genialer Onkel Rocco ist wieder da. Was will ich mehr? Das Leben kann so schön sein!“
„War echt superknapp mit eurer Wiese“, erwiderte Carolin. Sie steckte den Strohhalm in ihre Kakaotüte.
„Deine Großmutter hat uns gerettet“, juchzte Lina.
„Und mein Reitunfall“, ergänzte Carolin. „Es gibt nichts Schlechtes, das nicht auch was Gutes hat!“
Bei dem Reitunfall war Sternentänzer nämlich über ein Seil gestolpert, das eine kriminelle Gang quer über einen Reitweg in der Nähe von Lindenhain gespannt hatte. Zum Glück hatte die Polizei die Typen inzwischen geschnappt. Es war zu einer Verhandlung gekommen, und ein Gericht hatte Carolin Schmerzensgeld in beträchtlicher Höhe zugesprochen. Ein bisschen Geld hatte sie sich für den Unterhalt von Sternentänzer zurückbehalten, den Großteil ihrer Großmutter Helena von Borken gegeben. Und die hatte damit den Pachtzins für das Grundstück am Ortsrand von Lilienthal bezahlt. Über die Jahre hatte sich ein ordentliches Sümmchen angesammelt, das Helena von Borken allein nicht aufbringen konnte. Ihre Familie war zwar adlig, aber finanziell nicht sehr gut aufgestellt. Also hatte Carolin spontan mit dem Geld ausgeholfen. Denn nur so konnte der Bau des geplanten Einkaufszentrums letztendlich gestoppt werden. „Was bedeutet schließlich alles Geld der Welt, wenn die beste Freundin wegziehen muss“, hatte Carolin gefunden.
Lina drückte Carolin einen dicken Schmatz auf die Wange. „Meine Heldin!“
„Hi!“ Jennifer kam auf die drei zu, in der Hand hielt sie eine Limoflasche.
„Und, wann magst du wieder mal mit nach Lindenhain kommen?“, erkundigte sich Carolin gleich. Jennifer hatte Caro schon ein paar Mal auf den Reiterhof begleitet und fühlte sich sehr wohl dort. Sie liebte Pferde und wollte einen Reitkurs machen. Und sie war ganz begeistert von Sternentänzer. Einmal hatte sie sogar schon auf seinem Rücken gesessen.
„Wie wär’s denn mit übermorgen Nachmittag um drei“, schlug Lina sogleich vor und lächelte dabei irgendwie merkwürdig.
„Warum übermorgen?“, hakte Carolin verwundert nach.
„Warum nicht übermorgen?“, gab Lina zurück.
„Übermorgen ist cool“, erklärte Jennifer. „Dann komm ich übermorgen Nachmittag um drei nach Lindenhain.“
„Ach wie nett!“, spottete Julia, die Jennifers letzten Satz gehört hatte. Sie tippte Jennifer auf die Schulter. „Du musst aufpassen, Jennifer, wenn du so viel mit den beiden abhängst, läufst du bald auch noch so rum wie die.“
„Mensch, Julia, wie bist du denn wieder drauf?“, gab Jennifer zurück. „Es kommt doch wirklich nicht darauf an, was jemand anhat, sondern wie er ist.“
„Pah!“, machte Julia nur, zog ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch und stolzierte dann erhobenen Hauptes weiter zum Schulgebäude.
Nach der Schule radelte Carolin nach Lindenhain. Für Carolin war es der schönste Reiterhof der Welt. Die Anlage erhob sich auf einem sanften, grünen Hügel zwischen knorrigen, alten Linden, bestand aus einem langen, hellgelben Stall mit blauen Türen, einem Reitplatz, einer Reithalle und dem großen Haupthaus. Außerdem gehörte noch ein hübsches terrakottafarbenes Ferienhaus dazu.
Es war angenehm warm, und die Lindenhain-Pferde grasten friedlich auf der Koppel. Sternentänzer auch. Carolins Pferd war ein wunderschöner weißer Araberhengst mit einem kleinen schwarzen Stern auf der Stirn und dunklen geheimnisvollen Augen. Sein Fell schimmerte in der Sonne wie flüssiges Silber, seine Mähne glänzte herrlich. Doch Sternentänzer war nicht nur wunderschön, er verfügte auch über eine magische Gabe. Wenn Carolin in Vollmondnächten auf ihrem Pferd ausritt, konnte sie in die Zukunft blicken. Zum Glück geht es Sternentänzer wieder gut, dachte Carolin. Nach dem Reitunfall hatte der Hengst nämlich eine Zeit lang gelahmt, und es war gar nicht klar gewesen, ob Carolin ihn je wieder würde reiten können. Doch nun schien wieder alles in Ordnung.
Carolin stellte ihr Rad vor dem Haupthaus ab und lief zu ihrem Lieblingsplatz – dem Holzgatter drüben bei der Koppel. Schwungvoll hievte sie sich hoch und machte es sich gemütlich. Kaum hatte der Schimmel sie entdeckt, setzte er sich schnaubend in Bewegung, trabte auf sie zu und stieß sie mit dem Kopf auffordernd an.
„Ich weiß, mein Schöner“, lächelte Carolin liebevoll. „Du willst, dass ich mit dir ausreite, stimmt’s, mein Süßer! Du willst über die Felder jagen, hab ich recht?“
Wie zustimmend stupste Sternentänzer sie ein weiteres Mal an.
Carolin streichelte sanft seine samtweichen Nüstern. „Ich will das doch auch. Aber der Doc meinte, wir sollen es noch nicht übertreiben. Erinnerst du dich, mein Schöner? Alles ganz langsam!“
Sternentänzer schaute sie mit seinen geheimnisvollen, dunklen Augen an. Dann wieherte er leise und trottete wieder davon. Carolin blickte ihm nach und spürte, wie ihr ganz warm ums Herz wurde. Wie hab ich um dich gebangt, mein Schöner. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dass mit dir alles wieder in Ordnung ist! Ein Lächeln huschte über Carolins Gesicht. Ende gut, alles gut!
„Hi, Caro!“
Carolin fuhr herum. Hinter ihr stand Jan, Lindenhains Mann für alles. Er war im blauen Arbeitsoverall und hielt einen Hammer in der Hand, den er gerade hin und her schwang.
„Hi, Jan, wie geht’s denn so?“ Carolin mochte den jungen Mann wie einen Bruder.
Jan schüttelte den Kopf. „Ich weiß bald nicht mehr, wie ich das alles schaffen soll!“, stöhnte er, formte mit seinem Kaugummi eine dicke Blase und ließ sie geräuschvoll zerplatzen. „Jetzt muss ich erst mal rasch ein paar lockere Zaunlatten befestigen, nicht dass sich unsere Gäule noch selbstständig machen. Danach muss ich ausmisten und die Boxen neu einstreuen, dann in die Stadt fahren, Futter und Heu für die Pferde besorgen. Und jetzt hat Vicky mich auch noch gebeten, abends nach der Arbeit auf Luisa aufzupassen. Wenn ich reiten könnte, würde sie mich glatt noch zum Reitunterricht verdonnern. Du weißt ja, seit Tim seine Ausbildung zum Pferdewirt angefangen hat, hat der nicht mehr so viel Zeit.“ Jan strich über seine blonden Haare. „Die Lösung wär echt ein zusätzlicher Reitlehrer und ein Babysitter, ich sag’s Vicky immer wieder. Aber meine Tante will die Kleine keinem Fremden anvertrauen, was ich ja auch wieder verstehen kann.“
„Die kleine Luisa ist aber doch echt so was von süß“, schwärmte Carolin.
„Das schon.“ Jan schwang wieder den Hammer. „Aber auch anstrengend. Na ja, ich muss jetzt los, ehe die Gäule checken, was Sache ist, und sich aus dem Staub machen.“
Carolin sah ihm noch nach, wie er mit großen Schritten zum oberen Ende der Umzäunung marschierte. Babysitten … das wäre vielleicht eine Möglichkeit, überlegte sie dabei. Ich könnte dringend etwas Kohle brauchen, und Vicky braucht Hilfe. Ich könnte sie fragen, ob ich nicht für sie babysitten darf. Einen Versuch wär’s auf jeden Fall wert.
Carolin sitzt auf Sternentänzer und galoppiert über die Felder, juchzend jagt Lina auf Marhaba hinterher. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel, die beiden Mädchen halten an einem Bauernhof. Sie sitzen ab, binden die Pferde an, hocken sich an einen Tisch und essen mit Käse belegte Brötchen, schlürfen Limonade. Nach einer Weile schwingen sie sich wieder auf die Pferde und galoppieren weiter. Immer weiter über Felder und blühende Wiesen. Carolin spürt den sehnigen Körper des Pferdes unter sich und fühlt sich herrlich frei …
„Caro!“
„Ja, Lina?“, murmelte Carolin.
„Oh nein! Hier ist nicht Lina. Hier ist deine Mutter, die dich aufweckt, weil du verschlafen hast!“
Carolin öffnete ein Auge. Tatsächlich! Weit und breit keine Wiesen und kein Bauernhof. Nur ihre Mutter, die neuerdings gelbe Strähnen in den Haaren hatte und nun – die Hände in die Hüften gestemmt – vor ihrem Bett stand. „Du hast verschlafen, beeil dich!“, mahnte sie streng.
Unwillig wühlte sich Carolin aus dem Bett. „Ich mach ja schon.“
„Na los, gibt Gas, Caro!“ Damit wandte sich Ines Baumgarten um und verließ das Zimmer.
In Windeseile suchte Carolin ihre Klamotten zusammen, veranstaltete im Bad eine kurze Katzenwäsche und flitzte dann nach unten. Rasch schlürfte sie ihr Müsli, eilte aus dem Haus, schwang sich aufs Rad und fuhr in die Schule. Sie schaffte es sogar noch rechtzeitig, bevor der Schulgong ertönte, ins Klassenzimmer.
Lina hing ähnlich verschlafen auf ihrem Stuhl. Nun beugte sie sich nach vorne und legte den Kopf auf die Arme. „Ich möcht gern weiterschlafen“, nuschelte sie dabei vor sich hin. „Ich hab grad so schön geträumt.“
„Ich auch“, seufzte Carolin und unterdrückte mühsam ein Gähnen.
Lina legte den Kopf zurück und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich hab von unseren Reiterferien geträumt.“
„Ich auch“, fiel Carolin ihr ins Wort.
„Ich hab davon geträumt, wie wir über die Felder und Wiesen galoppieren“, erzählte Lina weiter.
„Ich auch.“
„Echt?“ Jetzt drehte Lina den Kopf, sodass sie Carolin in die Augen blicken konnte. „Ist ja merkwürdig!“
„In meinem Traum sind wir zu einem Bauernhof gekommen und haben dort Pause gemacht“, erklärte Carolin.
„In meinem Traum haben wir in einer Scheune übernachtet.“ Lina grinste. „Das Heu hat ein bisschen gepikst. Aber sonst war es herrlich.“
„In meinem Traum auch“, seufzte Carolin.
Lina lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Caro, wir sollten es echt machen.“
„Was machen?“
„Na, diese Reiterferien.“
Carolin rollte nur mit den Augen. „Träum weiter!“
Lina wollte noch etwas entgegnen, doch da stand Jennifer vor dem Tisch. „Hi, ihr zwei! Passt das noch mit heute Nachmittag?“
„Was denn?“, fragte Carolin nach.
„Wir wollten doch alle zusammen nach Lindenhain“, erinnerte Jennifer sie.
„Ja klar, passt“, antwortete Carolin. Sie wandte sich an Lina. „Bei dir klappt das doch auch?“
„Ach … ähm … ich kann nicht, mir ist was dazwischengekommen“, verkündete Lina urplötzlich.