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»Alles ist in allem«,

hat ein verrückter Künstler einmal zu mir gesagt.

Deshalb hat diese Geschichte keinen Anfang.

Und kein Ende.

1.

Nacht.

Ich habe nicht geweint.

Die Augen brennen.

Nichts wird so sein.

Der Mond taucht die Welt in Silber. Meine Gedanken rasen durch die Atmosphäre. Ich sitze immer noch neben Opa. Seine Hand fühlt sich warm an. Aber das ist wahrscheinlich nur die Wärme meiner eigenen Hand, die sich überträgt.

Bei Opa rast nichts mehr. Keine Gedanken und auch kein Herz. Alles still. Nur der flackernde Schein des Fernsehers täuscht manchmal. Dann denke ich, dass da doch noch etwas ist. Aber da ist nichts.

Die Fernsehbilder kommen mir skurril vor. Ausgerechnet eine Comedyshow. Aber ich bringe es auch nicht über mich, Opa die Fernbedienung aus der Hand zu nehmen oder aufzustehen, um das Gerät abzuschalten. Seit ich am Nachmittag von Janka nach Hause gekommen bin, habe ich mich nicht mehr bewegt. Ich sitze hier, halte Opas Hand und starre in den Mondlicht-Garten. Mir ist noch nie aufgefallen, wie schnell der Mond vorbeizieht. Eben war er noch über dem Apfelbaum. Jetzt scheint er zwischen den Ästen der alten Eiche hindurch. Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist.

 

Ich muss eingeschlafen sein. In meinem Mundwinkel spüre ich angetrockneten Sabber. Zuerst denke ich, dass ich den Fernseher ausmachen und nach oben ins Bett gehen sollte. Ich überlege, ob ich meine Hausaufgaben schon gemacht habe.

Der Schock ist schneller als mein Verstand. Er sitzt wie ein Holzklotz in meinem Inneren, füllt alles aus und blockiert meine Atemwege. Ein schmerzhaftes Klirren zerreißt den Nebel in meinem Kopf. Der Holzklotz ist plötzlich weg. Stattdessen arbeiten die Organe jetzt mit voller Kraft. Mein Herz hämmert so stark, dass alles an mir anfängt zu zittern. Sogar meine Knie. Wütend schlage ich mit der Faust auf meine unkontrolliert zuckenden Beine.

In einer Endlosschleife jagt ein einziger Gedanke durch meinen Kopf: Opa ist tot. Opa ist tot. Opa ist tot. Opa ist tot.

Mit lautem Summen setze ich meine Stimme gegen die schreckliche Wahrheit ein, um so der Realität zu entkommen. Wenn mir wenigstens ein echtes Lied einfallen würde. Nur Leere in meinem Hirn. Ich summe wie eine Geistesgestörte. Wie die Psychos im Film schaukele ich meinen Oberkörper vor und zurück. Opa sagt immer noch nichts. Wie auch. Er ist tot.

Bestimmt würde dieses weisheitstraurige Lächeln durch sein Gesicht huschen, wenn er uns so sehen könnte. Ich, wie eine Irre auf dem Sofa, und er daneben, vor dem laufenden Fernseher ohne Ton. Den hatte er abgeschaltet. Wie immer, wenn ihn plötzlich die Müdigkeit überkam. Aber dieses Mal schläft er weiter. Nicht wie immer. Für immer!

Ich stelle mir vor, dass er uns tatsächlich sehen kann, und was er sagen würde. »Das hier ist eine Tatsache. Mit Tatsachen muss man umgehen.«

Wahrscheinlich würde er das sagen. Sein Lebensmotto.

 

Komisch, dass ich die ganze Zeit nicht aufs Klo musste. Jetzt muss ich dringend. Um die ganze Starre und das Irre zu vertreiben, stehe ich abrupt auf, sehe Opa an und verkünde derb: »Ich muss erst mal pissen.«

Der unmädchenhafte Ausdruck zerschneidet mit der Wucht einer Axt den dunklen Kokon, der Opa und mich für Stunden umhüllt hat. Als würde mir die krasse Sprache helfen, die Seite zu wechseln. Heraus aus der emotionalen Starre und hinein ins Handeln.

Auf der Toilette bleibe ich viel länger sitzen, als es nötig ist. Nur, um nicht wieder in das Wohnzimmer gehen zu müssen. Dahin, wo Opa liegt. Mein Blick wandert über die weißen Fliesen, aber es leuchtet keine Geheimschrift auf, die mir verrät, was zu tun ist. Ich sehe nur ein paar schmutzige Wasserflecken, die Opa beim Waschen seiner Garten-Hände hinterlassen hat. Schonungslos fasse ich die Tatsachen zusammen: Milla Engel, sechzehn Jahre alt und Vollwaise. Opa ist tot. Ich habe keine weiteren Angehörigen. Es gibt nur noch mich.

Es gibt nur noch mich, es gibt nur noch mich, hallt es in meinem Kopf wider. Meine Augen fühlen sich trocken an und brennen. Mein Entsetzen ist zu groß für Tränen. Der Satz hat mich voll im Griff: Es gibt nur noch mich.

Vor der angelehnten Badezimmertür ertönt ein Schnaufen. Takoda versucht, seine riesige Schnauze durch den Schlitz zu drängen. Unweigerlich muss ich lächeln und verbessere den Satz: Es gibt nur noch mich und Takoda. Mit Schnauze und Pfote attackiert er die Tür, um zu mir zu gelangen – obwohl er weiß, dass der Zugang zum Badezimmer für ihn strengstens verboten ist. Vielleicht spürt er, dass er mich abholen muss, damit ich jemals wieder diesen weiß gekachelten Raum verlasse. Im Flur sinke ich auf die Knie und lege meine Arme um seinen Hals. Der Doggenmischling zieht seine Zunge durch mein Gesicht. Dann lässt er sich neben mich auf die Fliesen fallen und legt seinen riesigen Kopf auf meinen Oberschenkel. Mechanisch streichele ich das silbergraue Kurzhaarfell, das sich an den Ohren wie Seide anfühlt. Flüsternd drücke ich Nase und Mund an sein Ohr: »Was machen wir denn jetzt?«

Takoda schnauft. Ich weiß, dass ich jemanden anrufen müsste. Vielleicht Jankas Eltern. Sie sind die einzigen Erwachsenen, die mir einfallen. Obwohl die Eltern meiner besten Freundin mich mit ihren ständigen Verboten und Zurechtweisungen nerven, stehen sie mir näher als alle anderen Erwachsenen, die jetzt noch übrig sind. Ich bin froh, dass Opa mich nicht so maßregelt. Gemaßregelt hat, verbessert eine beißende Stimme in meinem Kopf. Opa ist tot. Ich habe keine Angehörigen mehr. Es gibt nur noch mich – und Takoda.

Jankas Eltern kommen als Ratgeber nicht infrage.

 

Durch das Flurfenster sehe ich die Morgendämmerung rote Schlieren in das Dunkel ziehen. Mit steifen Knien raffe ich mich auf und gehe nach oben. Bloß nicht ins Wohnzimmer. Die Holztreppe knatscht unter meinen Schritten. Oben gibt ein Türspalt den Blick auf Opas unbenutztes Bett frei. Ich zucke zusammen. Überall drängt sich Opa plötzlich in den Vordergrund.

Ich brauche dringend eine Pause. Muss nachdenken. Klare Gedanken fassen. Bestimmt darf eine Vollwaise nicht alleine in einem Waldhaus leben.

Takoda ist mir nach oben gefolgt und drängelt sich an mir vorbei in mein Zimmer. Erleichtert ziehe ich die Tür hinter uns zu. Als könnte ich die Tatsachen aussperren. Ich kommentiere meine eigenen Gedanken mit einem verächtlichen Schnaufen.

Mein toter Opa liegt auf dem Sofa.

Muss ich jetzt in ein Heim? Diese Überlegung trifft mich mit voller Wucht. Ich sinke auf mein Bett. Fahle Betonmauern, Kinder in schäbigen Klamotten und klapprige Fahrräder – das Jugendwohnheim in Gottsdorf baut sich erschreckend klar vor meinen Augen auf. In meinem Kopf hetzen sich Szenen. Fremde Menschen. Ein winziges Zimmer mit einem dunkelbraunen Schrank, dessen Holzfurnier an den Kanten splittert. Immer neue Bilder zucken wie Blitze auf. Zwei Worte attackieren mich in schnellem Wechsel: Heim und Pflegefamilie. Es gibt kein Entkommen. Die Tatsachen lassen sich nicht aussperren, in beängstigenden Schwaden dringen sie durch den Türspalt. Ich muss es machen, wie Opa immer gesagt hat: mit ihnen umgehen.

Am liebsten würde ich so tun, als wäre er gar nicht gestorben.

Etwas flackert in mir auf. Und wenn? Wenn ich es niemandem sage? Noch nicht einmal Janka?

Janka! Der Gedanke an sie setzt eine neue Kette in Gang. Es ist Montag. Ich muss zur Schule. Der Himmel sieht nach halb sieben aus. Ich hangele mich quer über das Bett und greife nach dem Wecker. Fast sieben Uhr. Wenn ich ohne Erklärung nicht in der Schule erscheine, rufen Lehrer an, und spätestens am Nachmittag steht Janka vor der Tür.

Schwerfällig rappele ich mich auf, fummele mein Handy aus der Hosentasche und tippe eine Nachricht: »Schlimme Magen-Darm-Grippe. Komme heute nicht zur Schule. Kannst du Tesslaff Bescheid sagen?«

Jankas Antwort kommt sofort. »Oh, du Ärmste. Mache ich. Gute Besserung. Hoffentlich lag es nicht an meinem Auflauf. Komme dann nachher vorbei. Drücker.«

Schnell schreibe ich zurück: »Nee, der Auflauf war es nicht. Opa auch krank. Nicht kommen. Bestimmt ansteckend.«

Dieses Mal dauert es etwas länger, bis mein Handy wieder piept. Wahrscheinlich fährt Janka gerade mit dem Fahrrad zum Bus. Ihr Weg ist nicht so weit wie meiner, weil sie direkt in der Ortsmitte von Wieben wohnt, aber sie nimmt trotzdem das Rad. Wir gehen seit Jahren in dieselbe Klasse und fahren immer zusammen mit dem Bus. Im Geiste verfolge ich Jankas Weg und male mir aus, wie sie sich an der Haltestelle vom Fahrrad schwingt, ihre blonden Haare hinter das Ohr klemmt, im Rucksack nach dem Schlüssel kramt, das Schloss um Zaun und Rad schlingt und ihr Handy aus der Hosentasche zieht.

In diesem Moment piept es. »Okay, dann rufe ich nachher an.«

Erleichtert lasse ich mich zurücksinken.

Ich fühle mich wie von einem Trecker überrollt. Schwach klopfe ich mit der Hand auf die Matratze. Normalerweise darf Takoda nicht ins Bett, aber mein Bedürfnis nach dem tröstlichen Hundefell kennt keine Regeln. Verstohlen schiebt er sich in Zeitlupe auf die Matratze. Das Schauspiel ringt mir ein Lächeln ab. Matt rücke ich etwas näher an seinen Kopf und lege meine Hand auf sein Seidenohr. Langsam legt sich der Schlaf über mich. Doch plötzlich bin ich wieder hellwach. Opa!

Erschrocken springe ich auf. Er sitzt immer noch auf dem Sofa, und jeder kann direkt ins Wohnzimmer gucken. Der Postbote, Onkel Ernst, die Jogger – einfach jeder. Ich renne nach unten und verharre auf dem Flur. Alles in mir weigert sich, den Wohnraum zu betreten, in dem nur brusthohe Mauern Küche, Esszimmer und Wohnzimmer voneinander trennen. Es ist leichter, das Ganze zunächst von draußen zu betrachten. Takoda steht schon schwanzwedelnd an der Haustür. Wahrscheinlich hofft er auf den Morgenspaziergang. Unschlüssig drücke ich die Klinke nach unten, öffne die Tür einen Spalt und überprüfe die Lage auf dem Sandweg vor dem Haus.

Dass alles aussieht wie immer, ist ein Schock. Die Welt hat nichts gemerkt. Der riesige Riss in meinem Leben lässt nicht einmal die schwarz-weiße Katze innehalten, die ihren morgendlichen Streifzug durch die Felder macht. Mit einem heftigen Ruck fliegt die Tür auf, und ein silbergrauer Schatten jagt über den Rasen. Aufgebracht springt Takoda gegen den Maschendrahtzaun und vertreibt endlich diese unerträgliche Morgenromantik mit wütendem Gebell. Die Katze verharrt nur für einen winzigen Moment. Dann setzt sie unbeeindruckt ihre tägliche Jagd nach Mäusen und – das weiß ich von Opa – neugeborenen Kaninchen fort.

»Das ist die Natur«, kommentiert seine Stimme, als könnte er mein Mitleid spüren. Hier, in diesem Augenblick, zwischen Tür und Angel, ist mir klar, dass von nun an Opas Stimme in meinem Ohr ihr Unwesen treiben wird. Sie wird mich niemals darum bitten, gehört zu werden.

Ohne Umschweife kommentiert sie schon wieder direkt in meinen Gehörgang: »Mit Tatsachen muss man umgehen.«

Ich muss lächeln. Gleichzeitig liebe und verfluche ich diese Stimme schon jetzt. Ein Stück Opa, das bei mir bleibt. Fluch und Segen.

 

Takoda hat vom Zaun abgelassen und erkundet trabend das Grundstück. Neidvoll bemerke ich die Leichtigkeit seiner Schritte, während ich immer noch wie angetackert in der Tür stehe. Ich will nicht durch die Glastür auf meinen toten Opa starren. Doch ich muss überprüfen, ob man ihn vom Sandweg aus sehen kann. Ich gehe bis zur Gartenpforte und drehe mich schwerfällig um.

In der Terrassentür zum Wohnzimmer spiegelt sich der Himmel. Angestrengt starre ich durch das Glas und versuche, etwas im Raum zu erkennen. Aber da sind nur die lockeren Wolken, deren morgendliche Röte beständig einem hellen Gelb weicht. Schritt für Schritt gehe ich auf dem Betonpflaster zur Haustür und lasse die Scheibe, hinter der Opa auf dem Sofa liegt, nicht aus den Augen. Erst in der seichten Biegung, dort, wo sich der Blickwinkel auf das Fenster ändert, kann ich Opas Umrisse erahnen. Dennoch traue ich meinem Experiment nicht. Vielleicht ist in einer Stunde, wenn die Sonne höher steht, die schützende Spiegelung verschwunden. Den Rollladen kann ich nicht herunterlassen. Zu ungewöhnlich. Gardinen gibt es nicht. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Situation vom Wohnzimmer aus zu betrachten.

Widerwillig zwinge ich meinen Körper bis in den Flur. Dann straffe ich die Schultern, atme tief durch und gehe entschlossen zum Sofa. Irgendwie sieht Opas Körper verändert aus. Was, wenn er doch noch lebt? Ich sollte seinen Puls fühlen. Aber dann müsste ich ihn anfassen. Ich will Opa nicht mehr anfassen. Weil ich es weiß. Er lebt nicht doch noch. Er ist tot. Bis zum Brustkorb verhüllt ihn seine graue Decke. Nur der Oberkörper ist zu sehen. Suchend blicke ich mich um und bleibe an meiner bunten Wollrestedecke, die Mama mir gestrickt hat, hängen. Sie liegt neben Opa, aber der Zipfel steckt unter ihm fest. Daran zu ziehen, ist ein unangenehmes Gefühl. So, wie Erbrochenes wegzuwischen. Es würgt in der Kehle und muss doch getan werden. Ein brutaler Ruck mit geschlossenen Augen gibt die Decke endlich frei. Mit einer gemurmelten Entschuldigung werfe ich sie Opa über den Kopf. Dann haste ich nach draußen und beuge mich atemringend nach vorn, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mich gebracht. Mühsam richte ich mich auf und mache mich bereit für den Blick durch das Fenster.

Opa mit der Decke über dem Kopf.

Verzweifelt sinke ich auf die Knie. Takoda kommt sofort angerannt und leckt in meinem Gesicht herum.

»Lass es«, zische ich mit schriller Hysterie und schiebe ihn grob zur Seite. Ich möchte heulen, mich irgendjemandem in die Arme werfen, der alles in Ordnung bringt – aber hier bin nur ich, die etwas in Ordnung bringen kann.

Fieberhaft suche ich nach Möglichkeiten, gehe wieder ins Wohnzimmer, sehe mich um und schiebe endlich die große Anrichte vor die Couch, damit Opa von außen nicht mehr zu sehen ist. Flüchtig inszeniere ich einen Frühjahrsputz. Den Staubsauger lehne ich von innen gegen die Fensterscheibe, daneben stelle ich einen Eimer. Das muss reichen. Völlig ausgelaugt rufe ich Takoda, schließe die Haustür und fliehe in mein Zimmer. Mein Bett kommt mir vor wie eine Oase.

 

Ich erinnere mich kaum daran, wie ich mich durch den Tag geschleppt habe. Nur an ein ständiges Ringen mit der Zeit, ein Wandeln durch das Haus, hin und wieder ein Nachrichtenaustausch mit Janka. Irgendwann um drei Uhr in der Nacht muss ich eingeschlafen sein. Durch das geöffnete Fenster sehe ich wieder Morgenröte.

Über Nacht haben Flieder und Maiglöckchen ihren betörenden Duft entfaltet, der jetzt in mein Zimmer wabert. Die Fliederhecke ist wahrscheinlich schon so alt wie das Grundstück, aber das Maiglöckchenbeet unter meinem Fenster hat Opa nur für mich angelegt.

Das unangenehme Gefühl schweißnasser Kleidung auf der Haut reißt mich aus meiner Schwärmerei. Ich habe im Traum heftig geschwitzt. Sogar die Bettwäsche ist nass.

Meine Eltern waren bei mir. Sie wollten meine Hand halten, aber zwischen unseren Welten war eine Mauer aus dickem, aber klarem Glas. Ich habe geschrien. Auf der anderen Seite hat Mama geweint und ihre Hände gegen das Glas gepresst. Dann bin ich aufgewacht.

Was für ein durchschaubarer Traum. Das Glas als Symbol für die Fensterscheibe, durch die ich Opa gestern angesehen habe. Auch sonst bedarf es keiner großen Interpretationskunst: Meine Eltern sind tot.

Als ich neun Jahre alt war, ist in einem Krisengebiet irgendwo auf dieser Welt ein kleiner Bus von einer Bombe in die Luft gejagt worden. Es war der Bus, in dem meine Eltern saßen. Katrin und Joachim Engel. Meine Mutter war Fotografin, mein Vater Journalist. Trotz aller Warnungen waren sie in das Krisengebiet gereist, um eine bewegende Reportage über die Menschen dort zu machen. Zurück kamen nur ein paar Habseligkeiten, verschickt vom deutschen Konsulat, darunter ein Fotoapparat meiner Mutter, der noch im Hotel lag. Danach ist Opa zu mir ins Haus gezogen.

Und jetzt ist er auch tot.

Schwerfällig wühle ich mich aus dem kaltnassen Bettzeug, streife das T-Shirt ab und werfe es auf den Boden. Unter der Dusche merke ich, dass mein Magen knurrt. Erstaunt stelle ich fest, dass ich seit vorgestern nichts mehr gegessen habe. Ich muss etwas essen – und ich muss mir etwas wegen Opa einfallen lassen. Mich entscheiden, ob ich Jankas Eltern doch einweihe und das Risiko eingehe, in ein Heim zu kommen, oder ob ich Opas Tod verschweige. Weiter kann ich nicht denken. Fest steht: Opa kann nicht ewig mit der Decke über dem Kopf auf dem Sofa bleiben.

Frisch angezogen gehe ich, gefolgt von Takoda, in die Küche. Den Blick vom Sofa fernhaltend, sehe ich mich nach etwas Essbarem um. Für ein aufwendiges Frühstück fehlt mir die Kraft, ich setze mich mit der Cornflakespackung, Milch und einer Schüssel an den Tisch.

Das Geräusch beim Schütten der Flocken beruhigt mich. Es ist so angenehm alltäglich. Ich warte einen Moment, weil ich die Cornflakes lieber matschig mag, und starre auf die Packung. Oben in der Ecke bleiben meine Augen hängen. Endlich neu. Macht, was IHR wollt.

Die Wörter klingen in mir nach, während ich den Löffel in die Schüssel tauche und die erste Nahrung seit eineinhalb Tagen zu mir nehme. Erneut lese ich den Spruch. Macht, was IHR wollt. Der Satz bringt etwas in mir zum Klingen.

Etwas richtet sich in mir auf, und meine innere Stimme ruft mir zu: »Mach, was DU willst.«

Eine Entscheidung braut sich zusammen, Hände ziehen den Schleier der Hilflosigkeit zur Seite, und plötzlich weiß ich, was zu tun ist. Nach langen, quälenden Stunden eröffnet sich mir zum ersten Mal seit vorgestern eine Option.

»Macht, was IHR wollt«, sage ich mir selbst mit einem frechen Grinsen und stehe so abrupt auf, dass der Stuhl umkippt. Fast unberührt bleiben meine Matsch-Flakes auf dem Tisch stehen.

 

Die Frühlingssonne macht die Werkstatt zu einem Ort der Nostalgie. Der Anblick von Kneifzange, Hammer und Opas Nagelsortiment in dem diffusen Licht lässt mich einen Moment innehalten. Alles liegt da, als wäre es aus einem anderen Jahrzehnt. Am liebsten würde ich die Kamera holen. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Zielstrebig beäuge ich Werkzeug und Material.

Ich brauche große Holzplatten und finde ein paar brauchbare Stücke, die Opa gegen die Wand gelehnt hat. Schnell überschlage ich den Bedarf: Eine rechteckige Kiste hat vier lange Seiten und zwei kurze Enden. Aus einem Haufen von Holzresten und Latten ziehe ich schließlich drei schwere, passende Platten heraus. Eine fehlt. Seufzend suche ich Holzschuppen und Grundstück ab.

Der Garten sieht aus, als hätte Opa ihn zum Abschied extra noch hergerichtet, wie eine Botschaft an mich: »Schau nur, die Welt ist schön. Ich bin noch hier, in diesen Blumen.«

Der Löwenzahn verbreitet überall ein Gelb, das so fröhlich leuchtet, als gäbe es keine Traurigkeit. Takoda läuft schwanzwedelnd neben mir her, stupst immer wieder gegen meine Hand und sieht mich erwartungsvoll an. Beschämt bleibe ich stehen. Ich habe ihn die ganze Zeit nicht gefüttert. Vielleicht sollte ich mich fragen, ob ich dieser ganzen Sache überhaupt gewachsen bin.

»Du Ärmster«, entschuldige ich mich bei Takoda und mache ihm im Haus eine Dose Hundefutter auf. Angewidert drehe ich den Kopf zur Seite. Dieser Geruch ist echt ekelhaft. Während Takoda sich über seine Mahlzeit hermacht, durchsuche ich das Haus.

Vor Opas Zimmer zögere ich einen Moment, betrete es dann aber doch. Seine Schreibtischplatte, die auf zwei Bürocontainern liegt, fällt mir sofort ins Auge. Das müsste die richtige Größe sein.

»Sorry, Opa«, murmele ich und räume ein paar Papiere, Stifte und Utensilien auf den Fußboden. Meine Beute über die Treppe zu bugsieren, ist eine Herausforderung. Ein paar Mal muss ich die Holzplatte absetzen, aber schließlich in der Werkstatt angekommen, bin ich mit meiner Aktion zufrieden. Passt.

 

Stunden sind vergangen. Obwohl Opa mir beigebracht hat, Säge und Hammer sinnvoll einzusetzen, ähnelt mein Werk noch nicht annähernd einem Sarg. Regelmäßig hat Opa mich in sein kleines Reich geholt, mir Inbusschlüssel, Kreuzschlitz und Kombizange erklärt und gesagt, dass ein Mädchen besser im Leben klarkommt, wenn es mit Werkzeug umgehen kann. Richtung Wohnzimmer, wo Opa hinter der Hauswand auf dem Sofa liegt, sage ich: »Tut mir leid, Opa. Das wird nichts. Du hast doch auch immer gesagt, dass man mit Lösungen flexibel sein muss. Also – es wird kein schöner Sarg, aber es ist der Beweis, dass dein kleines Mädchen in der Lage ist, sich für Alternativen zu entscheiden.«

Es ist merkwürdig, in der Werkstatt zu stehen und mit Opa zu sprechen. Bisher habe ich Menschen, die Selbstgespräche führen, für komplett abgedreht gehalten. Dabei reden sie vielleicht nur mit ihren toten Männern, Frauen, Kindern, Eltern oder Großeltern.

Von meinem armseligen Versuch erschöpft, setze ich mich für einen Moment in die Sonne, trinke etwas Wasser und wünschte, dieser Tag wäre schon vorbei. Dann bezwinge ich mich selbst und stapfe mit dem Spaten durch den verwilderten Teil des Grundstücks.

Hinter dem Haus liegt ein kleiner Wald. Abgesehen von dem unscheinbaren Maschendrahtzaun ist der Übergang zu unserem Garten fast nahtlos. Hier hinten ist Wildnis. Lockerer Sandboden, Kiefern, Büsche, ein paar Birken und Eichen und Unkraut bis zu den Knien. Ich weiß genau, wo der richtige Platz für Opa ist. An einer Stelle geben die Baumkronen den Blick in den Himmel frei. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und drehe mich, wie früher als Kind, mit ausgebreiteten Armen. In der Bewegung verschwimmend, bilden die Kronen der Bäume einen exakten Kreis, durch den das Licht auf den Erdboden flutet. Fasziniert halte ich inne, bleibe in der Mitte des Kreises stehen und beginne zu graben. Irgendwie ist das ein heiliger Platz.

Nach wenigen Minuten bin ich schweißüberströmt. Immer wieder prallt der Spaten an dicken Baumwurzeln ab. Takoda springt um mich herum und wühlt in der frisch ausgehobenen Erde. Frustriert schaue ich zu, wie ein Teil der ausgehobenen Erde wieder zurück in das noch viel zu kleine Loch rutscht. Ich gönne mir einen Moment, grabe dann entschlossen weiter, vergesse Zeit und Raum – und irgendwann sogar den Anlass dieser Aktion. Erst als alles an meinem Körper schmerzt und meine aufgescheuerten Hände brennen, ramme ich den Spaten neben meinem Fuß in die Erde. Abschätzend nehme ich Maß. Das ausgehobene Loch kommt einem Grab schon sehr nahe.

Völlig entkräftet schlurfe ich ins Haus, gehe mit dem schon gewohnt abgewendeten Blick an Opa-unter-der-Decke vorbei, halte mir in der Küche eine Flasche Wasser an den Mund und trinke, bis ich keine Luft mehr bekomme. Es ist erst Nachmittag, aber ich wanke nur noch nach oben, streife mir schon auf dem Flur die dreckigen Klamotten ab, beseitige unter der Dusche den schlimmsten Schmutz und krieche in mein Bett. Kurz bevor ich in den Schlaf sinke, nehme ich noch das Blinken meines Handys wahr, das ich am Morgen hier liegen gelassen habe.

 

Es dämmert bereits, als ich abends aufwache. Zuerst steigt die Erinnerung an das blinkende Handy auf. Janka natürlich. Fünf Nachrichten.

»Ganzen Tag geschlafen. Schlapp. Kann nicht schreiben.« Mehr ringe ich mir als Antwort auf ihre besorgten Fragen nicht ab. Dann gehe ich nach unten. Mein Körper verlangt nach einer warmen Mahlzeit.

Im Kühlschrank finde ich eine Tüte mit Käse-Tortellini, die nur zwei Minuten kochen müssen. Den Teller nehme ich mit nach oben. Die Gegend um Opa herum meide ich. Ich habe Angst vor Verwesungsgeruch.

Und was ist eigentlich mit Totenstarre?

Mehr als eine Ahnung von den biochemischen Prozessen im Körper eines Toten habe ich nicht. Auf dem Bett sitzend, stopfe ich mir die Tortellini in den Mund. Takoda giert sabbernd jedem Bissen hinterher. Nach der Hälfte rebelliert mein entwöhnter Magen, und ich stelle den Teller auf den Fußboden. Mit zwei Happen ist der Fall erledigt.

Das Thema Leichenstarre hat mich neugierig gemacht. Immerhin will ich morgen meinen Opa beerdigen.

»Erst denken, dann handeln«, sagt Opas Stimme.

Ein paar mehr Informationen über Leichen könnten wahrscheinlich wirklich nicht schaden. Das Internet verkündet mir, dass Opas Totenstarre sich schon wieder lösen müsste. Genau genommen hätte sie schon in der ersten Nacht, als ich noch seine Hand gehalten habe, einsetzen müssen. Aber davon habe ich nichts gemerkt. Seine Hand fühlte sich nicht starr an – aber alles andere um mich herum schien wie eingefroren. Die Zeit, Opa, ich – sogar Takoda lag fast regungslos die ganze Nacht vor dem Sofa.

Plötzlich fällt mir ein, dass ich vielleicht eine Art Zeremonie vorbereiten sollte. Ein paar Worte, die ich an Opas Grab spreche. Was kann ein sechzehnjähriges Mädchen seinem Opa, den es heimlich im Garten verscharrt, mit auf den Weg geben? Der helle Schein des leeren Dokuments auf dem Computer blendet. Ideenlos sitze ich davor. Es kommt mir vor, als hätte ich jeglichen Anschluss an die Welt da draußen verloren. Das Waldgrundstück und das Haus sind zu einem Mikrokosmos geworden. Ich wundere mich, dass ich gegessen habe, dass ich ein Grab ausgehoben habe – dass ich mich überhaupt bewegt habe. Einem Roboter gleich, organisiere ich hier die unglaublich bizarre Beerdigung meines Opas. Das Entsetzen über mich selbst löst sich in einem hysterischen Kichern. Die Entschlossenheit von heute Morgen kehrt zurück, und ich suche im Internet nach Grabreden. Nach ein paar gelesenen Zeilen schließe ich genervt das Browserfenster. »Lieber Opa«, beginne ich die erste Zeile in meinem Dokument. Dann lösche ich die Buchstaben und schreibe sie erneut. Es ist schon zwei Uhr nachts, als meine Finger sich endlich wie von selbst über die Tasten bewegen. Eine Stunde später rattert der Drucker, und ich schließe den Laptop. Ohne Zähne zu putzen, gehe ich ins Bett.

 

Wieder erwache ich von nassem Stoff auf meiner Haut. Opa ist im Traum zu mir gekommen und hat mir über das Haar gestreichelt. Ich habe das Gefühl, im Schlaf geweint zu haben. Aber ich bin mir nicht sicher. Es kommt mir vor, als befände ich mich nicht in meinem Körper. Ein Teil von mir hat sich abgespalten, ein kopfschüttelndes Milla-Ich, das den Rest von mir von außen betrachtet und nicht glauben kann, was es sieht. Mein Gedankenkarussell macht mich wahnsinnig. Fünf Uhr. Egal. Ich stehe auf. Diese Grübelei halte ich nicht aus. Außerdem habe ich heute viel vor. Es steht fest: Ich ziehe die Beerdigung durch. Schwächeln verboten. Opas Leiche muss aus dem Haus, sonst drehe ich durch.

Meine Vernunft zwingt mich zu einer Mahlzeit. Matsch-Cornflakes, wie gestern. Aber dieses Mal esse ich auf. Immer wieder lese ich den Spruch, fast, als wollte ich mir damit Absolution erteilen. »Macht, was IHR wollt«, sage ich noch vor mich hin, während ich die Holzplatten in das Grab schiebe. Immer wieder muss ich die Grabwände begradigen. Ich baue eine Verschalung, keinen Sarg. Aber selbst diese Behelfskonstruktion kostet meine gesamte Kraft. Um kurz nach sieben piept mein Handy, das ich extra mit in den Garten genommen habe.

»Heute etwas besser?«, fragt Janka.

»Geht so«, schreibe ich zurück. »Noch ziemlich matt.«

In kurzer Folge tippt sie, wahrscheinlich im Bus sitzend, die wichtigsten Infos. Dass wir nächste Woche eine Mathearbeit schreiben und Sophie nicht mehr mit Laurenz zusammen ist. Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Es interessiert mich nicht. Der Alltag hat keinen Platz in meinem Mikrokosmos. Abwesend tippe ich »krass« und fühle mich wie eine Lügnerin. Es fühlt sich falsch an, Janka etwas zu verschweigen. Ich sehne mich danach, ihr alles zu erzählen und sie an meiner Seite zu haben. Doch meine Angst schreibt eigene Gesetze. Opas Tod sprengt die Dimension unserer bisherigen kleinen Geheimnisse.

Um mich einem weiteren Wortwechsel zu entziehen, schicke ich schnell noch eine Nachricht hinterher: »Muss wieder schlafen. Bis morgen.« Dann widme ich mich wieder den Bestattungsvorbereitungen im nebligen Morgenlicht.

Gegen Mittag ist meine Grabverschalung fertig. Ich musste noch ziemlich viel graben. Aber jetzt stecken alle Holzplatten fest an den Seiten. In der Werkstatt habe ich Malerfolie gefunden, mit der ich den Sarg auskleide, gegen die Feuchtigkeit. Es ist Zeit für das Schlimmste. Ich muss Opa holen und in das Grab legen. In meinem Kopf spult sich fortwährend ein Film ab. Opa mit verrenkten Gliedern. Opa, der zu schwer für mich ist. Opa, der plötzlich aufwacht.

Aus dem alten Kleiderschrank im Flur hole ich zwei Decken, die ich ins Grab legen will. Meine Rede steckt in meiner Hosentasche. Den Bollerwagen habe ich vorhin schon ins Wohnzimmer geschoben. Es gibt keinen Grund mehr zu zögern. Vorsichtig nehme ich die bunte Decke von Opas Kopf. Sein Körper hat sich wenig verändert. Er sieht nur irgendwie … toter aus.

Es kostet mich Überwindung, ihn anzufassen. Der Bollerwagen steht so vor dem Sofa, dass ich Opas Körper fast hineinziehen kann. Die schlimmsten Bilder aus meinem Film werden wahr. Sein Leichnam ist schwer und störrisch. Am Ende komme ich um rohe Gewalt nicht herum. Mein Herz zerspringt vor Schmerz, ich muss vor Ekel würgen, und meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Schließlich liegt Opa in grotesker Verrenkung ausgerechnet in dem Wagen, der ein Symbol für meine Kindheit ist. Beine und Arme hängen über den Rand wie bei einer riesigen Stoffpuppe. Takoda tänzelt aufgebracht um uns herum. Verzweifelt wiederhole ich in meinem Kopf: »Entschuldigung, Opa, es tut mir so leid. Entschuldigung, Opa, es tut mir so leid.«

Nur ein Moment meines bisherigen Lebens ist noch schlimmer: die Minuten, in denen ich Opa in das Grab lege. Von Legen kann natürlich keine Rede sein. Ich wiege um die fünfzig Kilo und bin einen Meter achtundsechzig groß. Mein Opa ist mindestens fünfzehn Zentimeter größer und wiegt wahrscheinlich achtzig Kilo.

Ich habe den Bollerwagen längs zur Fußseite des Grabes gestellt. Breitbeinig stehe ich über der Ausschachtung. Die Seiten des Wagens sind herausnehmbar. Also drücke ich Opas Körper nach vorne, entferne die kurze Seite des Bollerwagens und greife mit beiden Armen unter Opas Achseln. Dann ziehe ich. Leider rollt der Wagen Richtung Grab. Ich habe vergessen, eine Bremse einzubauen. Bevor ich mich selbst unter Opa begrabe, schaffe ich es, den improvisierten Leichenwagen zu stoppen und einen Stein vor die Räder zu legen. Ich wage einen neuen Versuch. Es klappt.

Breitbeinig hangele ich mich rückwärts über das Grab hinweg, bis Opas Beine hineinplumpsen. Dann lasse ich seinen Leichnam so langsam wie möglich nach unten gleiten. Ich bin selbst erstaunt, dass er einigermaßen ordentlich in der Verschalung liegt, auf den Decken, die ich zuvor reingelegt habe. Vielleicht sollte ich versuchen, seine Hände zu falten. Obwohl – mit Gott und so, das war eigentlich nicht sein Ding. Mental fühle ich mich auch nicht mehr in der Lage, den toten Körper erneut zu bewegen.

Während ich nach vorne zu den Maiglöckchen laufe, schaue ich immer wieder zum Sandweg. Ich habe eine Höllenangst, dass mich jemand bei dieser Bestattungszeremonie überrascht. Mein Beobachtungs-Ich kommentiert mit vernichtenden Blicken die Eile, mit der ich Maiglöckchen abkneife und einen Fliederzweig vom Busch breche. Es ist Panik, die mich antreibt, nicht Herzlosigkeit, erkläre ich mir selbst. Dem Anlass etwas angemessener, drossele ich das Tempo, stecke einen kleinen Strauß zurecht und gehe zurück zum Grab.

Opas Anblick weckt das Bedürfnis, ihn zuzudecken. Schweren Herzens hole ich seine graue Decke. Sie wäre ein wichtiges Andenken für mich gewesen. So genau weiß ich allerdings auch nicht, ob ich sie jemals hätte benutzen können. Behutsam decke ich ihn bis zum Brustkorb zu und lege den kleinen Frühlingsstrauß ganz nah an sein Herz. Aus meiner Hosentasche hole ich den Zettel hervor und setze mich im Schneidersitz an das Kopfende. Takoda lässt sich neben mir nieder. Mit brüchiger Stimme lese ich:

Lieber Opa,

du hast dein Leben für mich komplett umgekrempelt, bist zu mir gezogen, hast mich großgezogen und mir eine Menge Wissen und Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Ich danke dir dafür. Ich weiß, dass ich dich eigentlich nicht im Garten vergraben sollte. Du hast eine echte Beerdigung verdient, bei der deine Freunde an deinem Grab stehen. Bitte verzeih mir. Ich habe einfach zu viel Angst, in einem Heim zu landen. Auf der Cornflakespackung habe ich einen Satz gelesen. Da stand: Macht, was IHR wollt. Und ICH will einfach nur hierbleiben, in unserem Haus, mit Takoda im Wald. Ich schaffe das schon. Auch das mit der Schule. Ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, dass ich mein Abi machen werde. Jetzt hast du dein Grab also in unserem Garten. Das ist ein bisschen ungewöhnlich, aber die Maiglöckchen, die seit dem Tag nach deinem Tod ganz intensiv duften, sagen mir, dass es nicht ganz falsch sein kann. Ich werde immer an dich denken, besonders in diesem Garten. Ich werde dich in jeder Blume sehen. Wie in diesem Gedicht, das ich für dich geschrieben habe.

 

Wenn ich durch deinen Garten gehe,

leuchtet die Sonnenblume deine Freude in mein Herz,

und Pusteblumen verstreuen dein Lachen bis in den Himmel.

Das Schilf raschelt deine Stimme,

Flieder und Maiglöckchen hüllen mich duftend in deine Umarmung.

Üppig blüht mir dein Leben im Takt der Jahreszeiten,

und das tränende Herz weint mit mir.

 

In Liebe, deine Milla

Eine Weile bleibe ich noch sitzen und lasse die Worte durch die Lichtung zwischen den Baumkronen in den Himmel entweichen. Dann raffe ich mich auf und lege endgültig den Deckel auf die Verschalung.

Ich vergieße keine einzige Träne. Meine Zähne sind fest aufeinandergepresst. Der Kiefer schmerzt schon seit gestern.

Schließlich schaufele ich die Erde auf das Grab. Es ist nicht tief, und die paar Schaufeln kommen mir lächerlich wenig vor. Deshalb sammele ich Äste und Laub auf und schichte sie über die Stelle. So, als hätte nie jemand den Waldboden berührt. Nur die aufgehäufte Erde verrät, dass hier etwas passiert ist. Ich nehme mir vor, Wildblumen darauf auszusäen. Ausgelaugt verstaue ich Bollerwagen und Schaufel in der Werkstatt. Das Gelb der Butterblumen springt mir übertrieben fröhlich entgegen. Doch dieser Optimismus kommt nicht bei mir an. Es ist, als sei ein Teil von mir mit Opa gestorben.

Sterben auf einer Blumenwiese, denke ich.

Keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Ich spüre nur Leere. Ziellos wandere ich im Haus herum. Dann setze ich mich mit gesüßtem Tee auf die kleine Stufe zur Hintertür. Sonne und Blätter schenken mir ein besänftigendes Lichtspiel. Der heiße Tee schmeckt tröstlich. Ich werde müde in der wärmenden Sonne. Zögerlich entspannt sich mein Körper, und ich lehne mich seufzend gegen die Tür. Durch die Bäume hindurch ist Opas Grab kaum zu erkennen. Takoda liegt ausgestreckt vor meinen Füßen und lässt sich die Sonne auf das silbergraue Fell scheinen.

Ein perfekter Maitag und der Tod: bittersüß.

 

Am Abend schreibe ich Janka eine Nachricht. »Es geht mir etwas besser. Morgen noch ausruhen, dann komme ich wieder zur Schule.«

Ein paar Nachrichten später kenne ich alle Neuigkeiten: Montag Englischarbeit, Dienstag Mathe. Janka hat neue Schuhe. Sooo cool. Und Tesslaff ist heute ausgerastet und hat Nina das Handy weggenommen. Ich tue interessiert und wundere mich erneut, wie wenig mir die Informationen, die mir vor ein paar Tagen noch hundert Sätze wert gewesen wären, bedeuten. Ich verordne mir selbst eine Mahlzeit – zwei Spiegeleier auf Brot – und gehe früh ins Bett.

Einschlafen kann ich nicht. Nachdem ich mich eine Stunde lang hin- und hergewälzt habe, stehe ich wieder auf und gehe in Opas Zimmer. Die fehlende Schreibtischplatte ist erschreckend präsent. Mein Herz gerät ins Stocken, und ich wende mich schnell ab. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich mir die Bücher in Opas Regal an. Wildpflanzen, Urmedizin, Gandhi – Mein Leben, Die Buddenbrooks, Kräuterapotheke Gottes, Pippi Langstrumpf – ich bin mir nicht sicher, wessen Bücher das sind. Es könnten auch welche von meinen Eltern dabei sein. Pippi Langstrumpf stammt aus meinem Bestand. Ich nehme die drei kleinen Bände aus dem Regal. Daneben liegen Briefe von Behörden. Im Adressfeld steht Opas Name: Albert Engel.

Ein Stapel Notizbücher verwundert mich. Ob die auch aus dem Nachlass meiner Eltern sind? Neugierig schlage ich eines auf. Die Seiten sind leer. Sie haben lediglich verschiedene Farben, ansonsten sind sie gleich. Ich nehme ein rotes Buch aus dem Regal und gehe wieder in mein Zimmer.

Opas Abwesenheit wird immer deutlicher. Unsere Gespräche fehlen mir. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich seit Tagen kaum gesprochen habe. Automatisch nehme ich das rote Buch, einen Stift, und schreibe alles auf. Angefangen bei Opa-auf-dem-Sofa bis zum Opa-im-Gartengrab. Keine literarische Höchstleistung, aber befreiend. Mit Pippi Langstrumpf lasse ich den Tag zu Ende gehen. Über die erste Seite komme ich nicht hinaus.

Immer wieder lese ich: »Sie hatte keine Mutter und keinen Vater, und eigentlich war das sehr schön, denn so war niemand da, der ihr sagen konnte, dass sie zu Bett gehen sollte, gerade wenn sie mitten im schönsten Spiel war, und niemand, der sie zwingen konnte, Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte. Früher hatte Pippi mal einen Vater gehabt, den sie schrecklich geliebt hatte. Ja, sie hatte natürlich auch eine Mutter gehabt, aber das war so lange her …«

So ist das also. In Zukunft kann ich jede Menge ungesunde Bonbons futtern, ohne dass sich jemand darüber aufregt. Ich habe das Gefühl, weinen zu müssen. Weinen zu wollen. Aber es geht nicht.

Es scheint, als würde mir ein unbekanntes Wesen bestimmte Dinge zuspielen. Erst der Spruch auf der Cornflakespackung. Macht, was IHR wollt. Jetzt Pippi Langstrumpf. Hat irgendwie Ähnlichkeit. Machen, was man will. Vielleicht geht es darum im Leben. Vielleicht ist das meine Lektion. Keine Ahnung, welchen Auftrag ich hier habe, warum Opa tot ist, warum ich keine Eltern mehr habe und wie ich es bringen konnte, meinen eigenen Opa im Garten zu begraben. Darauf kommt doch kein normaler Mensch!

An Schlaf ist immer noch nicht zu denken. Ich lese weiter Pippi Langstrumpf. Bei dem Goldkoffer stutze ich. Eine Erinnerung kämpft sich an die Oberfläche. In meinem Ohr meldet sich die Opa-Stimme und setzt mir das Wort »Einmachglas« in die Synapsen. Es dauert einen Moment, bis die Erinnerung sich zusammengepuzzelt hat. Doch jetzt habe ich ein Bild im Kopf und renne in den Keller. Obwohl es etwas gruselig ist, hier unten in dem einzigen Raum unterhalb des Hauses, fange ich an, die Einmachgläser zu inspizieren.

»Hier, Milla«, hat Opa gesagt und ein Weckglas in der Hand gehalten, »hier sind zwanzigtausend Euro drin. Für meine Beerdigung. Oder für Notfälle. Man weiß nie, was mit den Banken passiert. Sicher ist sicher.«

Klar und deutlich taucht die Szene vor meinen Augen auf, und ich weiß exakt, an welcher Stelle ich ins Regal greifen muss. Ganz hinten links in der Ecke steht ein Glas, das mit Steinen und Muscheln gefüllt ist, die ich als Kind am Meer gesammelt habe. Zittrig öffne ich es und wühle mit dem Zeigefinger in den Muscheln. Sofort stoße ich auf anderes Material und ziehe ein Bündel zusammengerolltes Geld hervor. Ich weiß genau, wie viel es ist. Zwanzigtausend Euro. Trotzdem streife ich das Gummiband ab und zähle. Es bleibt dabei: ganz genau zwanzigtausend Euro.

Zuerst will ich es mit nach oben nehmen. Doch dann rolle ich es wieder zusammen, stecke es zurück in das Glas und ordne alles so an, wie ich es vorgefunden habe. Mit klopfendem Herzen husche ich die Treppen hinauf. Meine Füße sind auf dem Steinboden im Keller eiskalt geworden. Ich wickele mich in meine Bettdecke und schiebe Takoda die Füße unter den warmen Bauch. Noch weiß ich nicht, was ich mit meinem neuen Wissen anfangen soll. Nur, dass es irgendwie beruhigend ist.

 

Am nächsten Tag beseitige ich das Chaos im Haus. Zuerst werfe ich meine bunte Decke, die über Opas Kopf gelegen hat, in die Waschmaschine. Dann schiebe ich die Anrichte zurück an ihren Platz. Das Sofa bleibt ein Problem. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals wieder daraufsetzen kann.

Vier Stunden lang räume, sauge und putze ich, entsorge Pellkartoffeln, die Opa offenbar am Tag seines Todes gekocht hat, und sammele die dreckigen Klamotten vom Fußboden meines Zimmers ein. Die Waschmaschine und der Trockner laufen den ganzen Tag. Die Sachen von Opa wasche ich nicht mit. Ich will seinen Geruch noch behalten. Sorgfältig lege ich sie in seinem Zimmer auf das Bett. Auch seine Sachen im Badezimmer lasse ich stehen. Die Dose mit dem Rasierschaum, den Rasierer, die Zahnbürste und das altmodische Birkenhaarwasser. Die Hausaufgaben, die ich vorvorgestern noch erledigen wollte, mache ich nicht. War es tatsächlich erst vorvorgestern? Zeit scheint dehnbar wie ein Gummiband. Es kommt mir vor, als hätte ich Wochen in diesem Mikrokosmos verbracht.

Pünktlich nach Schulschluss bekomme ich eine Nachricht von Janka: »Besser?«

»Viel besser«, schreibe ich.

»Tel?«, fragt sie zurück, und ich rufe sie an.

»Mensch, Milla, du armer Hase. Ist alles wieder gut?«

Alles wieder gut! Nichts ist gut. Ich schlucke schwer und zwinge mich zu einem lahmen »Ja, geht schon wieder«. Aber ich weiß, dass nichts wieder geht, und auch, dass ich so mit Janka nicht weitermachen kann. In Gedanken versunken, lasse ich ihren Bericht aus der Schule an mir vorbeiziehen. »Milla? Erde an Milla! Kommst du nun morgen?«

Ich muss den Faden verloren haben. Keine Ahnung, was Janka erzählt hat. »Ja«, murmele ich.

»Milla, ganz ehrlich, was ist los? Ist was passiert? Was ist eigentlich mit Albert? Geht es dem auch wieder besser?«

Wie ein Stromstoß jagen ihre Worte durch mich hindurch. Janka hatte schon immer ein seismografisches Gespür für unausgesprochene Unebenheiten in meinem Leben. Aber ich kann jetzt nicht über Opa reden. »Geht so, er liegt noch im Bett«, erwidere ich vage. »Ich glaube, ich schlafe mich bis morgen auch noch ein bisschen gesund. Wir sehen uns dann am Bus.« Ich merke, dass meine Sprachlosigkeit Janka irritiert. Dennoch lässt sie sich auf meinen Schlusssatz ein: »Okay, dann bis morgen. Gute Besserung noch.«