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Shai Tubali

Die spirituelle
Revolution

Warum der Westen ein neues
Selbstbewusstsein braucht

Aus dem Amerikanischen von
Sarah Heidelberger

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Titel der kanadischen Originalausgabe:
THE MISSING REVOLUTION
A Manifesto of Future Spirituality

Copyright © 2013 by Shai Tubali

Brandheiße Infos finden Sie regelmäßig auf:
www.facebook.com/AMRAVerlag

1. Auflage 2015

Herausgeber & Lektor

Michael Nagula

Einbandgestaltung

FranklDesign

Layout & Satz

Birgit Letsch

Druck

Clausen & Bosse

Inhalt

1Die Revolution, die niemals stattfand

2Wenn der Osten dem Westen nicht gerecht wird

3Die Illusion der Leere

4Die Falle der Psychologie

5Der Tod des Gurus

6Ein prämodernes Gespenst

7Der Aufruf

8Ein Platz in der Welt

9Die dunkle Seite der westlichen Geisteshaltung

10Was ist eigentlich aus der Logik geworden?

11Der große Marsch der Evolution

12Unser Credo

Quellen und Inspirationen

Die CD »Ausdehnung«

Über den Autor

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Die Revolution, die niemals stattfand

Neben vielen weiteren Revolutionen ereignete sich im 20. Jahrhundert auch die große Revolution der New Age-Bewegung. Es entstand eine neue westliche Spiritualität, inspiriert von den östlichen Traditionen, der Schwächung der Religionen, der Geburt des freien und psychologischen Individuums und dem Aufkommen großer Lehrer, die Osten und Westen miteinander verbanden. Dank dieser Einflüsse gelang es, einen weitaus autonomeren, unabhängigeren und direkteren Kontakt mit der höheren Realität zu entwickeln.

Doch inzwischen scheint diese Revolution in spießbürgerliche Vergessenheit geraten zu sein. Warum schreitet sie nicht zu noch kühneren und radikaleren Stadien fort? Wo sind wir steckengeblieben, und was können wir tun, um diesen großartigen Geist wiederzuerwecken und zu stärken?

Das vorliegende Manifest umreißt die Krise und Aufgabe der New Age-Bewegung und zeigt einen Weg hinaus aus dieser Situation, hinaus und hinauf – in Richtung einer authentischen und reifen westlichen Spiritualität.

Das 20. Jahrhundert stellte für die spirituelle Welt des Westens einen gewaltigen Wendepunkt dar. Der Zustrom östlicher spiritueller Meister aus Indien, Tibet, China und anderen Ländern hat den westlichen Blickwinkel auf die Spiritualität dauerhaft geformt. Was noch im 19. Jahrhundert von kaum spürbarem Einfluss war, wurde zu einer Massenbewegung. Große Lehrer wie Vivekananda, der genau zum Ende des 19. Jahrhunderts im Westen auftauchte, Jiddu Krishnamurti, Yogananda, Sivananda, Muktananda, Osho, Maharishi Mahesh Yogi, der 14. Dalai Lama, Chögyam Trungpa, D. T. Suzuki und noch viele weitere führten den Westen an die Lehren von Yoga, Tantra, Buddhismus, Zen-Buddhismus, Taoismus und – vielleicht am wichtigsten – an das allgemeine Konzept spiritueller Erleuchtung und Befreiung heran.

Viele Menschen des Westens, die sich zwischen den Überresten der monotheistischen Religionen und dem Aufkommen des weltlichen Individualismus hin- und hergerissen fühlten, fanden Trost in den spirituellen Gedanken und Praktiken des Ostens. Sie waren der Vaterfigur Gottes und der Unaufrichtigkeit der religiösen Gebote und Gesetze überdrüssig, und so suchten sie nach einem direkteren und innerlicheren Ansatz, der gleichzeitig ihren ständig wachsenden Individualismus und ihre Suche nach der bloßen Wahrheit des Lebens unterstützen konnte.

Die östlichen Lehren waren genau das, was sie brauchten: Sie dienten als fehlendes Bindeglied, das eine Schnittstelle zwischen der individuellen Autonomie und der größeren Kraft des Lebens herstellen konnte. Langsam aber sicher lösten diese Lehren das monotheistische religiöse Gedankengut aus seinem schwerfälligen Symbolismus und seinen dogmatischen Strukturen und bereiteten den Weg für die Erkenntnis, dass religiöses Denken im 20. Jahrhundert nur überleben konnte, wenn es relevant und nützlich für den neuen, sich stetig weiterentwickelnden Intellekt blieb. Religiöser Aberglaube und die irrationale Forderung, einfach »zu glauben«, waren nicht mehr ausreichend. Das, was wir heute als die universellen Lehren der Kabbala oder das weitaus verbreitetere christliche Gedankengut kennen, hätte ohne den mächtigen Einfluss des östlichen Denkens in solcher Form niemals entstehen können.

In dieser Hinsicht war das 20. Jahrhundert ein wichtiger Kreuzungspunkt zwischen der Schwächung religiösen Gedankenguts und religiöser Praktiken, der Geburt des freien Individuums, den östlichen Lehren und dem Aufkommen von Lehrern, die östliche und westliche Ansätze miteinander verbinden wollten. Diese neue Art von Lehrern – so wie Jiddu Krishnamurti, Osho und Gurdjieff – begriff mit bemerkenswerter Klarheit und Klugheit, dass wir im Westen keine religiösen Autoritäten oder vermittelnde Traditionen als Krücken brauchen; wir müssen als authentische Individuen unabhängig bleiben, das Göttliche in uns finden und unser göttliches Selbst sein. »Es gibt keine Kraft außerhalb des Menschen«, sagte U. G. Krishnamurti, und dieser Ausspruch fasst eigentlich die gesamte neue Philosophie zusammen: Spirituelle Erleuchtung ist der Schlüssel zur Geburt eines neuen und wirklich unabhängigen Menschentyps.

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Diese bemerkenswerte Revolution in unserem spirituellen Verständnis verlief nicht viel anders als die übrigen Revolutionen des 20. Jahrhunderts auch. In der Physik und Kosmologie dekonstruierte Einstein die Absolutheit von Zeit und Raum und ebnete dabei unabsichtlich den Weg für das auf Zufälligkeit und Ungewissheit beruhende Weltbild der Quantenphysik. In der Philosophie rief Nietzsche den Tod Gottes aus und begründete sowohl die Entstehung einer authentischen weltlichen Individualität als auch die postmoderne, dekonstruktivistische Denkweise. In der Psychologie schuf Freud die menschliche Psyche neu als vollkommen innerliche Arena, in der unser Verhalten und unsere Handlungen von den inneren Kräften des Unterbewussten geformt werden. In der Literatur zerschmetterten Joyce und Proust alle literarischen Gewissheiten des 19. Jahrhunderts, auch die abstrakte Malerei und die atonale Musik waren unumgänglich.

Das wohl größte intellektuelle Unterfangen des 20. Jahrhunderts war die Dekonstruktion alles Absoluten und aller äußerlichen Kräfte. Wir erkannten, dass das Universum etwas Innerliches ist: dass es nicht eingebettet ist in irgendein äußeres, absolutes Wesen-an-sich, sondern objektiv-gottlos und dass es allein durch die Evolution von Natur und Mensch funktioniert. Es erwies sich, dass die Wahrheit nicht länger eine außenstehende, unbeteiligte ewige Präsenz ist – sie muss innerhalb des Universums gefunden werden, in seinen Molekülen und filigranen subatomaren Strukturen.

Die mechanische, absolute Newtonsche Ordnung, die Physik, Musik, Kunst, Philosophie und Psychologie klar definierte, löste sich im Relativitätsgedanken auf. Alles war beeinflusst, inklusive des spirituellen Gedankenguts. Dies war die tatsächliche Geburt der New Age-Bewegung, in deren Zentrum der Gedanke steht, dass »Gott (oder das Göttliche) in meinem eigenen Selbst liegt«. Die dualistische Trennung, welche die westlichen Religionen so lange erfolgreich bewahrt hatten, konnte diese Entwicklung hin zum Zusammenbruch alles Absoluten und aller externer Faktoren nicht überleben. Die New Age-Bewegung verlagerte alle Kräfte in den innerlichen Bereich: Gott wird vom Jemand zu einem Bewusstseinszustand, das göttliche Gesetz wird zur Beobachtung des eigenen Innenlebens und zu einem Prozess innerer Revolution, das Warten auf göttliche Gnade schlägt eine neue Richtung ein und verwandelt sich schließlich in die volle Verantwortung für unser eigenes Leiden und unsere Ignoranz und zu dem Begreifen, dass unser Verhalten und unsere Handlungen der einzig wahre mögliche Ursprung für Gnade sind.

Auch für uns, die Teil der New Age-Bewegung sind – und wir alle sind Teil von ihr, sobald wir eine weltliche, unabhängige und individuelle Spiritualität an den Tag legen –, ist Gott tot. Natürlich starb in diesem Prozess nichts Stoffliches; was starb, ist nur eine Idee, die irrige Annahme, es gäbe etwas Absolutes. Was bleibt, ist ein wesentlich weniger duales Bild von Göttlichkeit. Diese Wahrnehmung bringt mehr Verantwortung und mehr Energie für das individuelle Selbst mit sich.

In gewisser Weise wurden wir in dem Augenblick, in dem Gott starb, selbst zur Gottheit; diese Freiheit bedeutet auch ein angsteinflößendes Alleinsein, denn von nun an können wir niemals wieder von einer äußerlichen Kraft gerettet werden.

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Sind wir uns dieser Revolution bewusst, deren Teil wir alle sind? Ist uns klar, dass wir den Schlüssel zu einer neuen Spiritualität des Westens in Händen halten? Verstehen wir, was wir getan haben und welche Folgen diese großartige Leistung hat?

Da ein wesentlicher Bestandteil der New Age-Neurose in der Unfähigkeit, ja der stolzen Weigerung besteht, den Prozess, den wir durchlaufen, objektiv zu betrachten und ihn als Teil der großen, äußerlichen Evolution des Menschen zu begreifen, fällt es uns meist sehr schwer, diese großangelegte Revolution – geschweige denn unsere aktive Beteiligung daran – ernsthaft zu durchdenken.

Wir haben eine unabhängige, individuelle, weltliche, nicht-duale Spiritualität des Westens begründet. Diese Spiritualität bezieht ihre Kraft sowohl aus den Gaben des Ostens als auch aus den inneren Weisheiten der großen Traditionen der westlichen Vergangenheit. Darüber hinaus ziehen wir unsere Kraft – wenn auch weniger bewusst – aus Freud und Nietzsche, Einstein und Darwin. Wir haben das Konzept der göttlichen Gnade abgeschafft und Gott zu einem Teil unseres Bewusstseins gemacht. Wir haben den Glauben zerstört und durch Verantwortung und Selbstermächtigung ersetzt.

Spiritualität wurde zu einem inneren Reich, das keinen Glauben, sondern direkte Verbundenheit mit diesem Reich erfordert – und genau das ist der Grundgedanke der Meditation, ganz anders, als es beispielsweise beim Gebet der Fall ist.

Unsere New Age-Spiritualität fordert die absolute Befreiung von allen äußerlichen Faktoren, auch von allen äußerlichen spirituellen Autoritäten und Vermittlern, Gesetzen und Geboten, Belohnungen und Bestrafungen. Sie macht unsere Fähigkeit geltend, uns selbst durch die Kraft unseres Bewusstseins zu retten, da sich unser Schwerpunkt, unsere Verantwortlichkeit und unsere Führerschaft ins Zentrum des menschlichen Geistes verlagert haben.

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Aber haben wir all das auch verkündet – bewusst, deutlich, mutig? Wurde all dies zu einem Eckpfeiler von irgendetwas? Absolut nicht. Stattdessen scheinen wir, seit dieser große Zustrom spiritueller Leidenschaft die New Age-Bewegung ins Leben gerufen hat, nichts weiter zu tun, als uns irgendwo in den entlegenen Randbereichen der Welt zu verschanzen. Wir sind verstreut, schwach und einzig mit uns selbst beschäftigt. Niemand hört unsere Stimme. Doch warum ist das so? Liegt es etwa im Wesen des spirituellen Lebens, der Welt aus Zeit und Raum teilnahmslos gegenüberzustehen und aus den Höhen der ewigen Reiche des Geistes arrogant auf sie herabzusehen? Haben wir das, was wir getan haben, möglicherweise vollkommen missverstanden und Individualität mit Narzissmus und Selbstermächtigung mit Selbstbesessenheit verwechselt? Oder liegt es einfach daran, dass wir unser Bestes geben, uns vor der schweren Last der Verantwortung zu drücken, und versuchen, den komplexen Schlussfolgerungen auszuweichen, die vor allem eine neue und hochentwickelte westliche Interpretation der Spiritualität für das 21. Jahrhundert fordern?

Ich habe das starke Gefühl, dass es an der Zeit ist, dass wir eine eigene Spiritualität entwickeln. Darin liegt der nächste notwendige Schritt, den wir immer weiter auf die lange Bank geschoben haben. Natürlich geht es hier um einen großen Paradigmenwechsel, und wenn wir ihn weiter vorantreiben, müssen wir alle mutig und gründlich vorgehen. Doch solange wir uns weigern, diesen Weg weiter zu beschreiten, sind wir dazu verdammt, von einer Welt zur nächsten zu wandern, ohne dass unser Handeln sonderlich viel Sinn hätte.

Und woran liegt das? Daran, dass wir als spirituelle Anhänger des Westens genau auf der Grenze zwischen Materie und Geist leben, zwischen Osten und Westen, Vergangenheit und Zukunft, Wissenschaft und Religion, weltlichem Individualismus und dem Gottvater vergangener Zeiten, zwischen Absolutismus und Relativismus.

Bislang haben wir diese spezielle Lebensweise noch nicht bewusst gewählt. Ein spiritueller Mensch des Westens zu sein bedeutet, in einer Welt des Werdens und der Weiterentwicklung, des Erreichens und Fortschreitens zu leben. Es bedeutet, an einer bestimmten Mentalität und einer Stimmung der Veränderung und der Bewegung teilzuhaben.

Vor allem aber bedeutet es, die Welt der Veränderung und Bewegung offenen Herzens anzunehmen.

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Es hat ganz den Anschein, als hätten wir, die Anhänger der New-Age-Bewegung, uns diese Welt überhaupt nicht ausgesucht. Darum leben wir in ihrer Peripherie und versuchen, möglichst wenig von ihr berührt zu werden und der Rolle, die wir in ihr spielen, weiträumig auszuweichen. Es ist, als würden wir versuchen, den genauen Gegensatz zu ihrer Mentalität und ihrem Geist zu leben – und dennoch leben wir in ihr. Dieser Versuch, hier im Westen zu leben, gleichzeitig aber seinen Gegensatz zu leben, ist für viele von uns offenbar der Ursprung ihres Leids. Wir tun unser Bestes, die Welt zu verleugnen, obwohl wir an einem Ort leben, in dessen Wesen es liegt, die Welt offen anzunehmen und sie voll auszuleben.

Meine These hier lautet, dass wir unseren Platz nicht einnehmen. Deshalb bleiben wir eine bedeutungslose Minderheit, obwohl wir meiner Meinung nach die Schlüssel zur nächsten menschlichen Evolution in unseren Händen halten. Wir machen uns unsichtbar, anstatt voller Elan weiter am Durchbruch der New Age-Bewegung zu arbeiten.

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Dieses Manifest wurde durch eine einzige sorgenvolle Überlegung inspiriert: Wer sind wir wirklich? Wo sind wir steckengeblieben? Warum werden wir nicht zu einem authentischen Bestandteil der Weltgeschichte? Warum gelingt es nicht, irgendwo spürbare Wirkung zu zeigen? Warum ist unsere Präsenz so schwach, wo es doch eigentlich unsere Verantwortung ist, die neue spirituelle Weisheit in eine gewaltige Präsenz zu übersetzen, die die Welt verändern wird? Warum versammeln wir uns nicht und fragen uns voller Enthusiasmus, was unsere Aufgabe und unser Schicksal als Weltbewegung ist?

Durch unsere Bereitschaft, in der Peripherie zu leben, fügen wir nicht nur uns selbst, sondern auch der Welt großen Schaden zu. Denn damit weichen wir unserer wahren Natur aus, deren wichtigste Eigenschaft eine Haltung des Engagements und der Partizipation ist. Als Yogi in einer Höhle zu leben, ist gewiss nicht unsere Form von Spiritualität – und dennoch verstecken wir uns in unseren komfortablen, spießbürgerlichen westlichen Höhlen. Aber sind wir nicht aus einem bestimmten Grund hier? Etwas hält uns hier fest: eine Art Fragezeichen, das idealerweise dazu gedacht ist, uns den Weg zu zeigen.

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Meine Überlegungen gehen auf das Jahr 2012 zurück, das viele Anhänger der New Age-Bewegung so ungeduldig erwartet hatten, als würde irgendetwas Kosmisches aus dem Himmel fallen und uns auf wundersame Weise alle verändern. Doch diese Haltung ist das genaue Gegenteil der wahren New Age-Bewegung, die begriffen hat, dass die einzige Revolution, die jemals stattfinden kann, eine Revolution ist, die wir bewusst selbst erschaffen, da es keine Macht jenseits des Menschen und keine grundlegenden Veränderungen jenseits bewusster menschlicher Entscheidungen gibt.

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Wenn der Osten dem Westen nicht gerecht wird

Wie die Inspiration durch die großen Lehren des Ostens auf ihrem langen Weg verzerrt und für uns im Westen zu einer Quelle der Verwirrung wurde.

»Der weise Suchende weiß: Die Frucht meines Strebens wird dem Ausmaß meines Bemühens entsprechen, und weder Schicksal noch ein Gott können etwas anderes bestimmen.«

Yoga-Vasishtha, antike Hindu-Schrift

Die Gaben

Vor allem anderen müssen wir uns mit einem der Haupteinflüsse auf die New Age-Kultur auseinandersetzen: den östlichen Traditionen. Hinduismus, Yoga, Tantra, Buddhismus, tibetischen Buddhismus, Zen-Buddhismus, Taoismus und weitere kleinere Traditionen zu einem einzigen Weltbild zusammenzufassen ist zwar eindeutig eine ausgesprochen grobe Vereinfachung, dennoch habe ich den Eindruck, dass ihnen allen eine gemeinsame Geisteshaltung zugrunde liegt. Wie ich im ersten Kapitel bereits erwähnte, fand diese Haltung gegen Ende des 19. Jahrhunderts langsam ihren Weg in den Westen und erreichte ihre größte Einflusskraft gegen Mitte des 20. Jahrhunderts.

Die größte Gabe der östlichen Spiritualität ist ihre befreiende Direktheit. Anders als die monotheistischen Religionen des Westens wird diese Form von Spiritualität – zumindest in der Form, in der sie dem Westen während des 20. Jahrhunderts präsentiert wurde – nicht durch Metaphern, Symbole und die grundsätzlich zögerliche Haltung gottesfürchtiger Theologen getarnt. Sie fordert keinen Glauben ohne Beweise, kein strukturiertes und starres Regel- und Gesetzeswerk und keinerlei Beziehung zu irgendeinem Gottvater. Die östliche spirituelle Philosophie dreht sich um die Befreiung des individuellen Bewusstseins und die Bedingungen, zu denen sich dies realisieren lässt. Sie handelt davon, unser Recht zu behaupten, eine Vereinigung mit dem göttlichen Bewusstsein beziehungsweise der Ganzheit von Leben und Kosmos zu erfahren. Alles dreht sich um die Erkenntnis, dass »ich« und »jenes« im Grunde genommen ein und dasselbe sind; sie ist ein Finger, der mutig auf das suchende Subjekt als letztes Ziel allen Suchens zeigt. Und das Beste daran ist, dass sie keine Philosophie ist, die man nach langem Nachdenken schließlich annehmen kann, sondern eine nackte innere Wahrheit, die sich nur durch direkte innere Erfahrung bestätigen lässt. Im Zentrum dieser Traditionen steht sogar die Forderung nach direkter Erfahrung als Grundlage der gesamten philosophischen Struktur. Entsprechend liegt der Schwerpunkt dieser Form von Spiritualität natürlich auf der Meditation, die letztlich den Versuch darstellt, die richtige Geisteshaltung zu erzeugen, um eine Wahrheit zu begreifen, die sich jenseits der bekannten Grenzen des Geistes befindet und die sich allen vertrauten Strukturen religiöser Praktiken entzieht.

Der Einfluss dieser Haltung auf die beschleunigte Entwicklung der New Age-Bewegung im Laufe des 20. Jahrhunderts kann kaum überschätzt werden. Sie hat unsere Vorstellung von Gott vollständig in einen Bewusstseinszustand umgewandelt und die Gottheit entsprechend zu einem innerlichen Phänomen gemacht, das als höhere Ebene der Selbstidentifizierung aus dem individuellen Bewusstsein hervorbrechen soll. Auf einmal wurde Religion nicht länger gebraucht; man konnte in sich selbst suchen und tatsächlich das grundlegende religiöse Verlangen stillen, mit der höheren Macht zu kommunizieren. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Ebene innerer Erkenntnis in den spirituellen Kulturen des Westens niemals aufgetreten wäre. Denn in kleineren Untergruppen der großen Religionen und in seltenen Individuen war dies durchaus der Fall. Doch selbst dann verpackte man sie in der Regel in Symbole und religiöse Begrifflichkeiten. So oder so wird deutlich, dass die spirituelle Kultur des Westens als Massenbewegung eine Erweckung dieser Art von Geisteshaltung dringend benötigte und dass sie diese Form von Ausrichtung und Fokussierung nur durch die große Welle erreichen konnte, die aus dem Osten an ihre Ufer spülte.

Die östlichen Traditionen waren immer besonders gut in der sorgfältigen Kartierung der inneren Gebiete des