Vorwort
Glaube und kämpfe.
Wenn du den Mut dazu hast.
Wenn das Herz nicht stottert.
Die Freiheit der Dunklen
– die ist ja nicht deswegen schlecht,
weil sie Freiheit von anderen bedeutet.
Das ist auch nur die Erklärung für die Kinder.
Die Freiheit der Dunklen ist in erster Linie
Freiheit von dir selbst,
von deinem Gewissen und deiner Seele.
Wenn du spürst,
dass in deiner Brust nichts mehr schmerzt,
dann schlag Alarm.
Obwohl es dann eigentlich schon zu spät ist.
(aus dem Roman »Wächter der Nacht« von Sergei Lukjanenko)
Immer wieder begegnen mir Menschen, die sich nicht recht vorzustellen vermögen, wie jemand glücklich sein kann, wenn er sich wie ich jeden Tag intensiv mit dem wirklichen Grauen auseinandersetzt. Gewalttaten, Vergewaltigungen, Tötungen und Kindesmissbrauch sind die Themen, mit denen ich mich in meinem Beruf – und sogar in großen Teilen meiner knapp bemessenen Freizeit – beschäftige. Auch nach Jahren, in denen ich diese Frage gestellt bekomme, fällt es mir schwer, meine Haltung dazu wirklich nachvollziehbar darzustellen. Denn Entsetzen und Abscheu sind unwillkürliche Gefühle, die viele Menschen empfinden, wenn sie mit derlei Themen in Berührung kommen. Solche Empfindungen hatte ich in dieser Form noch nie, wenn es um Verbrechen ging. Dennoch bedauere auch ich jeden Tag, dass es all diese Taten überhaupt gibt. Hätte ich die Wahl, würde ich lieber in einer Welt leben, in der es keine Verbrechen gibt – auch wenn mein Leben dann völlig anders aussehen würde.
Als ich mich in den letzten beiden Jahren intensiver mit meiner Familiengeschichte zu beschäftigen begann, wurde mir klar: Meine eher unorthodoxe Art, mit diesen Themen umzugehen, scheint auch eine genetische Komponente zu haben. So wie es in manchen Familien beispielsweise eine Häufung von Angsterkrankungen wie der sozialen Phobie oder der Blutphobie gibt, so herrscht in meiner Familie seit Generationen ein verstärktes Interesse an düsteren Themen und Kriminalfällen, gepaart mit einer gewissen Abenteuerlust. Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Großmutter mütterlicherseits viel über ihre eigene Kindheit und Familie. Dabei erfuhr ich, dass ihre Mutter die Angewohnheit hatte, ihren Kindern aus Grusel- und Kriminalromanen vorzulesen. Einige dieser Geschichten erzählte meine Großmutter mir auch weiter. Außerdem hatte jene Urgroßmutter – wie auch meine Großmutter selbst – den Ruf, eine ziemlich abgeklärte und furchtlose Person zu sein. Im damaligen Deutsch Piekar in Oberschlesien, wo meine Urgroßmutter lebte, war Aberglaube weit verbreitet. In dieser Umgebung war sie für einen Spruch bekannt, den sie immer dann parat hatte, wenn mal wieder ein Dorfbewohner von gespenstischen Erscheinungen auf dem örtlichen Friedhof erzählte: »Du hättest nicht so viel trinken sollen, dann wären dir auch keine Geister erschienen. Vor den Toten brauchen wir keine Angst zu haben, sondern nur vor den Lebenden.« In dieser Einstellung mag sich ihre eher rationale Art niedergeschlagen haben, aber auch ein Interesse für jede Art von Kriminalfällen.
Ihr Sohn, mein 2014 verstorbener Großonkel Leon Bogacki, erbte ihre Faszination für derlei Themen. Er studierte Jura und machte eine steile Karriere bei den Ermittlungsbehörden im damaligen kommunistischen Polen. Was er während seiner langen Berufslaufbahn alles erlebte, das erzählte er seiner Familie und mir erst vor wenigen Jahren, nämlich als er mitbekam, in welche Richtung meine Interessen und meine berufliche Laufbahn gehen. Dazu muss man wissen, dass niemand in meiner Familie jemals in irgendeiner Form versucht hat, in mir das Interesse für die Beschäftigung mit Verbrechen zu wecken. Ganz im Gegenteil sahen alle meine Verwandten, egal wie nah oder fern, meine schon als Kind angelegte Sammlung von Ordnern, Büchern und VHS-Kassetten über Kriminalfälle als ein etwas schrulliges Hobby an, von dem sie annahmen, es würde sich irgendwann legen.
Onkel Leon und der Vampir von Krakau
Kurz gesagt:
Töten und das Blut der Opfer trinken,
Menschen zerstören und ihr Eigentum.
(Karol Kots Lebensmotto)
Als mein Onkel und ich vor wenigen Jahren ein Gespräch über meine Arbeit mit Straftätern führten, meinte er, es sei doch ein merkwürdiger Zufall, dieses Interesse. Denn obwohl er in seinem gesamten Berufsleben eigentlich »nur« dafür da war, die »bösen Jungs« zu fangen, hatte er ebenso wie ich schon immer wissen wollen, warum sie das taten, was sie taten.
Als junger Ermittler arbeitete er am Fall des polnischen Serienmörders Karol Kot, dessen Nachname auf Polnisch »Kater« bedeutet und der bis heute allen Polen ein Begriff ist. Karol Kot wurde in Polen als »Vampir von Krakau« bekannt. In vielerlei Hinsicht war er für die damaligen Ermittler ein Rätsel. Im Gegensatz zu vielen schweren Verbrechern stammte er aus einer bürgerlichen, gebildeten, finanziell eher gut gestellten Familie. Der Sohn eines Ingenieurs war ein durchschnittlicher Schüler mit einem schelmischen Jungengesicht und – wenn er es wollte – feinen Manieren. Sein adrettes äußeres Erscheinungsbild und seine höflichen Umgangsformen wiesen Parallelen zu dem westdeutschen Serienmörder Jürgen Bartsch und dem ostdeutschen Serienmörder Erwin Hagedorn auf. Ebenso wie diese beiden begann er früh mit seiner mörderischen Karriere.
Mit siebzehn attackiert Kot eine alte Frau, die in der Kirche zum Gebet kniet, mit einem Jagdmesser. Die Frau überlebt. Wenige Tage später wiederholt er seinen Versuch an einer anderen Frau ähnlichen Alters. Nachdem auch diese überlebt, verläuft sein dritter Messerangriff innerhalb eines Monats auf eine ältere Frau schließlich tödlich. In den nächsten anderthalb Jahren verändert er seinen Modus Operandi, also seine Art der Tatdurchführung. Er versucht mehrfach, Menschen zu vergiften. In den meisten Fällen sind diese Versuche gegen Fremde gerichtet. Er schüttet Arsen in Bier- oder Limonadenflaschen und lässt diese offen stehen, während er sie aus einiger Entfernung beobachtet. Als aber niemand die Getränke zu sich nimmt, versetzt er eine Flasche Essig in einem Restaurant mit dem Gift. Er hofft, das scharfe Aroma des Essigs werde mögliche Geschmacksveränderungen durch das Gift verdecken. In den Tagen darauf sucht Kot in den Tageszeitungen Berichte über Vergiftungserscheinungen oder Todesfälle von Restaurantgästen, doch er wird nicht fündig.
Entmutigt versucht er nun, einen Mitschüler mit einem vergifteten Getränk zu töten. Aber auch dieser Versuch scheitert, da der Mitschüler einen ungewöhnlichen Geruch des Getränks wahrnimmt und sich daher weigert, es zu trinken. Als Giftmörder dauerhaft erfolglos, ändert Kot seine Vorgehensweise erneut. Anderthalb Jahre nach seiner Angriffsserie auf ältere Frauen zieht er an einem nebligen, verschneiten Wintertag im Februar 1966 los, um zu töten. Zufällig begegnet er dem 11-jährigen Leszek, der mit seinem Schlitten unterwegs ist. Er fragt den Jungen, ob die lauten Geräusche aus der Nähe von einem Schlittenrennen herrühren. Der bejaht – auf dem nahe gelegenen Hügel finde ein Schlittenrennen statt. Als Leszek weitergehen will, packt Kot seinen Kopf mit der linken Hand, zieht ihn nach hinten und versetzt ihm mit der rechten Hand elf Stiche mit einem großen Messer. Der Junge stirbt auf der Stelle, für die Tat gibt es keine Zeugen.
Der polnische Serienmörder Karol Kot (*1946, †1968).
Dieses Erlebnis muss Kot einen starken Schub von Glückshormonen versetzt haben, denn schon zwei Monate später sucht er ein neues Opfer. Er tritt in den Eingang eines Wohnblocks und beabsichtigt, dort jemanden anzugreifen. Nach einer Weile, in der sich niemand zeigt, setzt er sich auf die Treppe. Da sieht er, wie ein kleines Mädchen die Treppe herunterkommt und zum Briefkasten geht, um die Post ihrer Eltern zu holen. Er stellt sich hinter die siebenjährige Małgosia und beginnt, mit einem Dolch auf sie einzustechen. Doch auch dieses Opfer kann trotz seiner schweren Stichverletzungen gerettet werden. Bald darauf wird Kot aufgrund einer Zeugenbeschreibung verhaftet und von den älteren Damen wiedererkannt, die er angegriffen hatte. Wegen zweifachen Mordes, zehnfachen versuchten Mordes und vierfacher Brandstiftungen wird er schließlich zum Tode verurteilt.
In Haft versucht Kot nicht einmal, Bedauern zu heucheln. Stattdessen berichtet er erschreckend kühl und offen von seiner seltsamen Entwicklung zum Serientäter. Die Diskrepanz zwischen seinem kindlich-unschuldig wirkenden Äußeren und dem Grauen seiner eiskalten Worte und Taten beeindruckt alle, die an dem Fall arbeiten. Genau diese erschreckende Kluft zwischen Schein und Sein ist es auch, die zwei Monate später Westdeutschland (im Fall Jürgen Bartsch) und fünf Jahre später Ostdeutschland (im Fall Erwin Hagedorn) erschüttern wird. Auch von diesen wird später bekannt, dass sie schon als Kinder auffällig waren, andere Kinder quälten und sich für Foltermethoden interessierten.
Kots Geschichte beginnt mit seiner früh entwickelten regelrechten Obsession für Messer. Sie üben eine unbeschreibliche Anziehungskraft auf ihn aus, sodass er die unterschiedlichsten Ausführungen sammelt und damit umzugehen übt. Bald ist er sehr geschickt im Messerwerfen oder auch darin, ein Messer möglichst schnell zwischen seinen gespreizten Fingern in den Tisch zu rammen. Auch wenn dieses Hobby eher ungewöhnlich ist, macht sich in seinem Umfeld niemand große Gedanken. In einer Zeit, wo Jungs noch Cowboy und Indianer spielen, lässt sich die Vorliebe für derlei Spielchen als Auswuchs eines durch Abenteuergeschichten geformten Freiheitsdranges interpretieren. So zumindest scheinen es seine Lehrer zu sehen. Nur einer sagt ihm irgendwann, er sei doch langsam zu alt für solche Spiele.
Mit seinen Messern zieht er bald los, um Tiere aufzuschneiden, die er in der Wildnis findet. An Kröten, Maulwürfen, Vögeln übt er das Töten und Zerteilen. Dabei entdeckt er, dass das frische, warme, fließende Blut in ihm ein angenehmes Gefühl weckt. Dieses Gefühl will er unbedingt verstärken. Gelegenheit dazu hat er während seiner Ferien in einer ländlichen Gegend. Da ihm langweilig ist, sieht er bei Schlachtungen landwirtschaftlicher Tiere zu. Dies begeistert ihn sehr, und er bittet den Metzger darum, ein bis zwei Gläser mit dem frischen Blut abzapfen zu dürfen. Der Metzger wundert sich zwar etwas, gestattet es dem Jungen aber, sodass Kot zum ersten Mal frisches Blut größerer Lebewesen trinken kann. Dies zu tun, solange das Blut noch warm ist, empfindet er als ultimativen Kick, wie er später beschreibt: »Das ist das echte Getränk der Götter. Das Bewusstsein darüber, dass du Blut trinkst, welches eben noch lebendig war, das ist etwas Erhebendes. Ihr (…) werdet das nicht begreifen, verstehen können dies nur Auserwählte. Ich war auf dieser Erde dazu auserwählt, um dies zu empfinden und meinen Körper mit dem vergehenden Leben anderer Wesen zu nähren.« Diese Blutleidenschaft lebt Kot auch in seinen mörderischen Überfällen aus, indem er das frische Blut von den Klingen leckt.
Parallel zu seiner Leidenschaft für Blut spielt Kot mit Feuer und beginnt damit, kleine Brände zu legen. Unter Gleichaltrigen ist er nicht sonderlich beliebt, er gilt als seltsamer Kauz, wozu er durch seine Art allerdings auch aktiv beiträgt. Seine Spitznamen in der Schule sind »der Schlitzer« (wegen seiner Vorliebe für Messer), »der Blutige« (wegen seines Interesses für alles, was mit Tötungsmethoden zusammenhängt), »der Verrückte« (wegen seines für die Mitschüler nicht immer nachvollziehbaren Verhaltens) oder »Erotoman« (da er sich Mitschülerinnen gegenüber unangemessen verhält und sie beispielsweise immer wieder unsittlich berührt). Seit früher Kindheit lernt Kot Karate; ein für die damalige Zeit eher ungewöhnlicher Sport, den er gerne einsetzt, vor allem gegen seine Mitschüler. Auch tritt er diversen Vereinen bei, die mit Uniformen, Waffen und Macht assoziiert sind, unter anderem dem Schützenverein, wo er durch gute Schießleistungen auffällt. Außerdem besorgt er sich Bücher über Anatomie und Gifte, um den Aufbau des menschlichen Körpers für die Realisierung seiner Tötungsfantasien besser verstehen zu können.
Koterzählt freiheraus und geradezu stolz von seinen ungewöhnlichen Vorlieben, Gedanken, Gefühlen und auch von seinen Taten. Seine frühen, ungewöhnlichen Interessen und Hobbys sind nicht die Ursache, sondern nur ein Ausdruck seiner äußerst auffälligen Psyche. Wie auffällig diese ist, wird auch Kot selbst deutlich. Später wird er beispielsweise aussagen: »Es ist doch wohl nicht normal, dass ein 19-jähriger Junge schon ein so verwirrtes Gewissen hat. Ich habe es meiner Freundin Danka gesagt, dass ich wohl krank bin und an Schizophrenie oder Psychopathie leide. Die Gutachter waren da anderer Meinung. Sie finden, dass ich nicht krank bin. Ich denke mir, warum haben meine gleichaltrigen Kollegen nicht solche Taten begangen? Wenn ich gemordet habe und psychisch ebenso gesund bin wie sie, dann ist es für sie wahrscheinlich verletzend, dass ich zu derselben Gruppe normaler Jungs gehöre wie sie.«
Obwohl Kot umfangreiche Auskünfte zu seiner sehr ungewöhnlichen Gefühls- und Gedankenwelt gibt, bleibt eine umfassende, schlüssige Erklärung für seinen psychischen Zustand und seine Taten zunächst aus. Mein damals 30-jähriger Onkel Leon besucht ihn mehrfach im Gefängnis und spricht mit ihm. Er erhofft sich nachvollziehbare Antworten auf die Frage nach dem »Warum«. Auch will er wissen, wie so ein extremer Serienmörder im persönlichen Kontakt wirkt. Onkel Leon beschreibt mir Kot über vierzig Jahre nach ihren Begegnungen als einen intelligenten, gebildeten jungen Mann mit einem feinen, leicht düsteren Sinn für Humor, der auffällig kaltblütig von seinen Verbrechen berichtet. Auch meinem Onkel fällt deutlich auf, dass Kot in der Tat wohl nicht einen Funken Reue zeigt und auch angesichts der bevorstehenden Hinrichtung erstaunlich gefasst und sachlich wirkt.
Dieser persönliche Eindruck passt zu einer Aussage, die Kot bezüglich seiner Taten zu Protokoll gab: »Ich weiß, dass man nicht töten darf … aber trotzdem habe ich beschlossen zu töten, weil mir dies Vergnügen bereitete. Selbstverständlich hätte ich mir diese Art des Vergnügens versagen können, wenn ich dies gewollt hätte, doch das wollte ich nicht. Ich zog es vor zu töten. Eigentlich bereue ich nichts. Es tut mir auch nicht leid um die Menschen, denen ich geschadet habe. Wenn ich nicht aufgehalten worden wäre, so versichere ich, dass ich dasselbe tun würde, also weiterhin Menschen töten würde, Erwachsene und Kinder.«
Interessanterweise fällt meinem Onkel auch Kots seltsam anmutende Beziehung zu seiner Mutter auf. Diese versucht alles, um ihren Sohn vor der Todesstrafe zu bewahren. Sie scheint hinter der Fassade der besorgten Übermutter eine dominante Persönlichkeit zu haben, von der sich Kot nicht gut abgrenzen kann. Seine Aussagen zu den Verhältnissen in seiner Familie sind äußerst widersprüchlich. Je nachdem, mit wem er spricht, behauptet er entweder, seine Kindheit sei sehr schön und das Verhältnis zu seinen Eltern stets bestens gewesen; oder er sagt, er könne seine Mutter nicht leiden und sähe seinen Vater am liebsten tot. Mit diesem Widerspruch konfrontiert, erklärt er in seiner ganz eigenen Logik: »Tatsächlich habe ich das gesagt, aber das war etwas anderes. Sie machten mit mir so seltsame Tests, fragten mich nach Assoziationen, da habe ich das gesagt. Doch ich kann versichern, und das wird wahrscheinlich der einzige Trost für meine Eltern sein, dass ich sie tatsächlich geliebt habe.« Auch Jürgen Bartsch und Erwin Hagedorn hatten derart zwiespältige Beziehungen zu ihren Eltern, die nach außen hin um den perfekten Schein bemüht waren. Offenbar zeigen alle drei Täter eine von starker Ambivalenz – also widersprüchlichen und eigentlich nicht miteinander zu vereinbarenden Gefühlen – geprägte Bindung zu ihren Eltern. Interessanterweise geben alle drei an, ihre Eltern seien die wichtigsten Menschen und Bezugspersonen in ihrem Leben.
Ebenso zwiespältig ist Kots Verhältnis zu seiner acht Jahre jüngeren Schwester. Obwohl er behauptet, sie eigentlich zu mögen (unter anderem sagt er, sie und seine Cousine seien die einzigen Frauen auf der Welt, die er nicht töten würde, was interessanterweise seine Mutter nicht mit einschließt), misshandelt er sie körperlich schwer. Er gibt zu, sich immer wieder von dem deutlich jüngeren Mädchen genervt zu fühlen und zu glauben, die Eltern würden sie mehr lieben als ihn. Wenn Kot mit ihr alleine zu Hause ist, schlägt er seine kleine Schwester immer wieder; mal mit der Hand, mal mit seinem Gürtel oder sogar einem Kleiderbügel. Danach schließt er sie in ihrem Zimmer ein. Wie diese Misshandlungen seinen Eltern dauerhaft verborgen bleiben konnten, ist schleierhaft. Ganz offensichtlich ist im Inneren dieser Familie einiges nicht so, wie es wünschenswert wäre und wie es die glatte Fassade nach außen hin glauben macht. Auch hier wird eine deutliche Parallele zu den Biografien Bartschs und Hagedorns erkennbar.
Auch in der Schule ist Kots Verhalten bei genauerem Hinsehen sehr auffällig. Er attackiert immer wieder männliche und weibliche Mitschüler. Allerdings wird auch er häufiger von Mitschülern geärgert, worunter er doch mehr leidet, als er zugeben möchte. Diesbezüglich vertraut er sich manchmal seiner Mutter oder seiner engsten Freundin an. Auch der sechs Jahre älteren Danuta, in die er verliebt ist und mit der ihn eine vertrauensvolle Freundschaft verbindet, fallen zunehmend Auffälligkeiten auf. Er berichtet ihr von seinen gewalttätigen Fantasien und dass ihn die Vorstellung, Menschen zu quälen, erregt. Sie rät ihm, einen Arzt oder Psychologen aufzusuchen, was er jedoch ablehnt.
Eines Tages reißt er Danuta ohne erkennbaren Grund bei einem Waldspaziergang zu Boden und hält ihr ein Messer an den Hals. Er werde sie töten, sagt Kot. Danuta, die ihm nicht glaubt, dass er ihr etwas antun würde, erwidert überraschend sachlich, das sei doch Unsinn. Schließlich sei bekannt, dass er sie in den Wald begleitet habe. Würde er sie hier töten, so würde man ihn leicht überführen können. Von diesem plausiblen Argument lässt sich Kot überzeugen. Nachdem sie einige Schritte weitergegangen sind, attackiert er ihren Hals allerdings erneut, jetzt mit einer scharfen Glasscherbe. Würde er ihr damit jetzt die Pulsadern aufschneiden und ihre Leiche dann in den Fluss werfen, meint er, so würden die Leute glauben, sie hätte sich selbst getötet, aus Liebeskummer wegen ihm. Danuta hält es weiterhin für einen schlechten Scherz. Erst später, nachdem seine Taten aufgedeckt worden sind, wird ihr klar, dass er nicht nur ein seltsamer Junge mit einer allzu lebhaften Fantasie war.
Doch selbst all diese Auffälligkeiten in Kots Leben liefern aus Sicht der Ermittler und Juristen keine plausible Erklärung für die unheimlichen Verbrechen des noch so jungen Mannes. Mein Onkel geht schließlich freiwillig zu Kots Hinrichtung am 16. Mai 1968. Er spricht noch kurz vorher mit ihm. Eigentlich hofft er, der zu diesem Zeitpunkt 21-Jährige könne noch irgendeinen plausiblen Hinweis auf die Ursachen seiner Motive geben. Vielleicht werde er auch im letzten Moment noch Reue oder Schuldgefühl zeigen. Doch nichts davon geschieht, und Karol Kot stirbt am Galgen. Mein Onkel, der seine Gespräche mit diesem ungewöhnlichen jungen Mann nie vergisst, findet nie die Antworten auf das »Warum« für seine bizarren Taten.
Ein seltsames Erbe
Wer in der Zukunft lesen will,
muss in der Vergangenheit blättern.
(André Malraux)
Auch mich treibt, solange ich denken kann, die Frage um: Warum gibt es so viele unvorstellbare Verbrechen? Grausame Vergewaltigungen oder Serienmorde, deren Details die Vorstellungskraft der meisten Menschen sprengen und deren Motive unbegreiflich zu sein scheinen?
Mit der Zeit begann ich aber auch, mich zu fragen: Warum gibt es diese seltsame Bandbreite von emotionalen Reaktionen auf wahre Verbrechen – von Entsetzen bis zu weitgehender Gleichgültigkeit. Als Jugendliche wurde mir zunehmend bewusst, wo ich mich persönlich auf dem Spektrum dieser emotionalen Reaktionen anzusiedeln hatte: Mir dämmerte, dass ich wie einige meiner Verwandten emotional eher unbeteiligt blieb und dass wir wahrscheinlich gerade deswegen eine Affinität zur Beschäftigung mit Verbrechen oder anderweitig düsteren Motiven hatten. Ist man wie ich in seiner Persönlichkeit so gestrickt, dann wirkt die Auseinandersetzung mit brutalen Straftaten nicht unerträglich belastend, sondern eher intellektuell anregend, da Verbrechen stets eine eigene Logik beinhalten.
Während ich in den letzten beiden Jahren vermehrt über meine Familie nachdachte, fielen mir einige Besonderheiten auf: Mein Großvater mütterlicherseits – also der Schwager von Onkel Leon – war in seinem Leben unter anderem als Schlachter und als Polizist tätig. Ich besitze noch ein Schwarzweißfoto, auf dem er gut gelaunt in der Schlachterei bei der Arbeit zu sehen ist, ein anderes zeigt ihn und einen Polizeikollegen auf dem Motorrad. Auch meine Verwandten väterlicherseits sind gewissermaßen von eher abenteuerlustigem Naturell. Bis zu meinem Urgroßvater zurückverfolgbar, ist es in dieser Familienlinie normal, in jungen Jahren auszuwandern – und nicht unbedingt zurückzukehren. Die Zwillingsschwester meines Großvaters väterlicherseits etwa wanderte nach Belgien aus und arbeitete dort für die Polizei. Kinder bekam sie nie; ungewöhnlich für die damalige Zeit. Ihr Zwillingsbruder, mein Großvater, hatte, auch das auffällig für sein soziokulturelles Umfeld in Polen, schon als junger Mann ein gut sichtbares Tattoo auf seinem Unterarm.
Die Reaktion der väterlichen Familienlinie auf meine Tätigkeit als Autorin zu kriminalpsychologischen Themen barg für mich eine weitere Überraschung: Meine Tante, die Schwester meines Vaters, den ich nie näher kennengelernt habe, sagte mir, das sei wirklich seltsam. Denn mein Vater habe genau wie ich seit seiner Kindheit Bücher über Kriminalfälle gelesen und sich für Gerichtsmedizin und Polizeiarbeit interessiert. Das habe sie mir aber bewusst nie erzählt, weil sie mich lieber nicht durch diese Aussage beeinflussen wollte. Seine Hobbys galten jedenfalls als seltsam und nicht unbedingt fördernswert. Dasselbe galt für seine Vorliebe für abenteuerliche Aktivitäten wie Sportschießen, Fliegen mit dem Gleitflugzeug und Fallschirmspringen – alles typische Betätigungsfelder für ausgeprägte »Sensation Seeker«, also »Erlebnissucher«. Die Suche nach starken Reizen und ungewöhnlichen Erfahrungen ist eine bedeutsame Persönlichkeitseigenschaft, die ich noch näher erklären werde und die deutlich genetisch vererbbar ist.
Sei es selektive Wahrnehmung meinerseits oder doch eine irgendwie geartete Form von familiär »gehäufter« und vielleicht sogar vererbter Vorliebe für eher ungewöhnliche Themen und Aktivitäten: Auf jeden Fall kam mir schon früh der Gedanke, dass sich meine Fähigkeit und Begeisterung dafür, Verbrechen und ihre Ursachen analytisch zu beleuchten, sinnvoll für mich und andere Menschen einsetzen lässt. Einer der Gründe, warum ich als Therapeutin von Straftätern arbeite, ist mein Wunsch, etwas an dem Vorhandensein von Verbrechen zu ändern. Ich möchte die Menschen, die ich behandle, positiv verändern und gleichzeitig durch die Arbeit mit ihnen ein immer genaueres Verständnis für ihre psychischen Besonderheiten und deren biografische Hintergründe entwickeln. In meiner Weltsicht funktionieren Menschen metaphorisch betrachtet wie Computer; ihre Gene und ihre neurologische Ausstattung sind die Hardware, ihre durch Erlebnisse, Erfahrungen und Bindungspersonen geformte Persönlichkeit ist die Software. Die psychischen »Programme«, ihre Ursprünge und Wechselwirkungen immer besser zu verstehen, ist meine größte Leidenschaft. Auf einen großen Teil der Fragen, die Karol Kots Persönlichkeit für meinen Onkel Leon und viele seiner Zeitgenossen aufwarf, haben moderne wissenschaftliche Erkenntnisse inzwischen Antworten gegeben.
Hinter diesem Buch steht folgender Grundgedanke: Ich will dem interessierten Leser Erklärungsansätze aufzeigen, die ihm beim Nachdenken über kriminell sadistische Täter und ihre tragischen und komplexen Taten helfen können. Die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitseigenschaften und deren Auswirkungen auf Fühlen, Denken und Handeln zu verstehen, ist der Kern jeder psychologischen Betrachtung. Es ist die Grundlage für die Logik des Verbrechens.