Gabriel Looser

Welches Leben nach dem Tod?

Reinkarnation und christlicher Glaube

Patmos Verlag

INHALT

Einleitung

Reinkarnation – eine drängende Frage

Das Schweigen der Kirchen

Mein Weg mit der Reinkarnationslehre

Der Weg zu diesem Buch und seine Aufgabe

Der Aufbau der Studie

Eine Frage des Glaubens

Reinkarnation und christlicher Glaube

Die Bedeutung der Reinkarnationsfrage am Sterbebett

Ursprünge der Reinkarnationsidee

Eine erste Wurzel: östliche Religionen

Eine zweite Wurzel: europäisch-abendländische Traditionen

Die Gnosis der Spätantike

Die Diskussion im 20. Jahrhundert

Allgegenwärtige Thesen

Theologen als Lehrer der Reinkarnation

Autoren ohne spezifisch theologischen Hintergrund

Wichtige Stationen in der Kirchengeschichte

Die Schule von Alexandria und Origenes

Das frühe Mittelalter

Das hohe Mittelalter

Die Neuzeit: Renaissance, Reformation und 19./20. Jahrhundert

Die Theologie des 20. Jahrhunderts: ein Gesprächsangebot

Die biblisch-christliche Tradition: Gericht und Hölle

Die Brücke zur Reinkarnation: das Fegefeuer

Das konstruktive Angebot eines Brückenschlages

Lehrte Jesus die Reinkarnation?

Der »wiedergekommene« Elija

Wer ist Jesus?

Die Heilung des Blindgeborenen

Nicht um Reinkarnation geht es, sondern um die Sendung Jesu

Schlüsselstellen, in denen nicht von Reinkarnation die Rede ist

Jesus als (gnostischer) Geheimlehrer?

Wurde die Bibel »gesäubert«?

Reinkarnation – eine Selbstverständlichkeit zur Zeit Jesu?

Ein-Leben-Lehre im Zweiten Testament?

Ein vorläufiges Fazit

Eine biblische Reinkarnationslehre

Ungewohnte Bibelinterpretationen

Entfaltung der biblischen Reinkarnationslehre

Kritische Würdigung

Eine christlich-theologische Reinkarnationslehre

Integration der Reinkarnation in das christliche Heilsverständnis

Die biblische Grundlage

Der gesamtkulturelle Kontext

Kritische Würdigung

Eine christliche Ein-Leben-Lehre

Die Entscheidung fällt beim Glauben

Die Frage nach der menschlichen Seele

Zwischen Tod und Jüngstem Gericht

Fegefeuer oder Reinkarnation?

Gnade oder Karma?

Vergebung der Sünden durch Christi Kreuzestod

Die Ein-Leben-Lehre ergibt sich aus der Geschöpflichkeit des Menschen

Reinkarnationsglaube – Überschätzung menschlicher Möglichkeiten

Kritische Würdigung

Wie hältst du’s mit der Reinkarnation?

Überblick

Das Wichtigste in Kürze I: Jesus und die Reinkarnation

Das Wichtigste in Kürze II: die Reinkarnation in der Geschichte der Kirchen

Meine eigene Position

Ein undogmatischer Vorschlag für einen Ausgleich

Die beschränkte Tauglichkeit von Kompromissen

Ein gemeinsames Größeres

Unterschiede bleiben – der Wettstreit der Hoffnungen

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

Ein Gespräch unter vier Augen mit einer Interessentin an meiner Ausbildung in »Spiritueller Sterbebegleitung«. Manchmal bringe ich das Thema »Reinkarnation« selbst ein, diesmal kam meine Gesprächspartnerin darauf zu sprechen: »Ja, an die Reinkarnation glaube ich ganz bestimmt. Das ist für mich eine Tatsache.« Etwas später äußerte sie ebenso klar, dass sie überzeugte Christin sei, wenn auch kirchenfern. Auf meine Nachfrage, wie sich ihrer Meinung nach das Verhältnis darstelle von Christus als Erlöser zum Reinkarnationsglauben, nach welchem doch jeder den Weg selbst gehen müsse und diesen nicht stellvertretend einem Heiland überlassen könne, wurde sie unsicher: »Ja, so genau habe ich mir das nicht überlegt.« Aber sicher sei, eine ewige Hölle könne es nicht geben, schließlich sei Gott die absolute Liebe. Da sei die Reinkarnation zwingend. Auf meine Bemerkung, dass die Hölle als ewige Strafe sehr wohl Teil der biblischen Lehre sei, reagierte sie erneut zögernd. Sie bekräftigte jedoch ihre Haltung mit dem Hinweis, dass sie irgendwo gelesen habe, dass die Kirche ursprünglich die Reinkarnation auch gelehrt habe, bis sie von einem Konzil verboten worden sei.

Szenenwechsel: Ein junger Lehrer für Medialität (Kontakte zur geistigen Welt) kam im Laufe eines Vortrags vom Thema ab und auf die Reinkarnation zu sprechen, die für ihn eine fraglose Tatsache war. Seine Gesichtszüge veränderten sich leicht, verloren etwas von ihrer sympathischen Spontaneität und nahmen den Ausdruck eines Wissenden an: Während seiner Ausbildung zum Medium in England habe er sich eingehend auch mit dieser Frage befasst. Man wisse ja, dass die Reinkarnation ursprünglich Teil der kirchlichen Lehre und auch in der Bibel fest verankert gewesen sei. Im Mittelalter sei sie dann aber verurteilt und daraufhin seien die entsprechenden Stellen aus der Bibel gestrichen worden. Viel Nicken bei den Zuhörenden – in diesem Punkt herrschte offensichtlich große Einigkeit und man war bereit, dem jungen Referenten Kompetenz zuzubilligen. »Man« weiß es: Seit 1500 Jahren führt »die Kirche« einen erbitterten, aber zunehmend erfolglosen Kampf gegen die Idee der Reinkarnation.

Schließlich noch eine dritte Erfahrung, diesmal anlässlich eines Schulungstages für Pflegende in der (traditionell katholischen) Innerschweiz. Es war eine heiminterne Schulung, die Leute kannten sich und waren einander vertraut; die Gespräche verliefen recht offen. Der Tag näherte sich seinem Abschluss und ich fragte in die Runde, ob jemand noch eine Frage habe. Eine Frau sprach das Thema Reinkarnation an und was es damit auf sich habe. Die Unsicherheit in ihrer Stimme ließ mich ahnen, dass die Frage sie schon seit Längerem umtrieb. In solchen Situationen, in denen es um Glaubenseinstellungen geht, vermeide ich es in der Regel, sofort eine direkte Antwort zu geben, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wüsste die Antwort. So richtete ich mich an die Runde und gab die Frage weiter. Eine weitere Teilnehmerin brachte sich ein. Ja, sie habe sich mit diesem Thema auseinandergesetzt, und diese Idee überzeuge sie entschieden mehr als die Lehre der ewigen Höllenstrafe. Darauf entgegnete die erste Fragestellerin erneut zögernd, grundsätzlich habe diese Idee auch für sie etwas Positives (so ihre Wortwahl), aber sie wisse nicht recht, schließlich lehne die Kirche diese Lehre ab; darüber könne man sich doch nicht einfach hinwegsetzen. Die Befürworterin: Die Kirche habe das am Anfang auch gelehrt, das sei erst später verboten worden. Die zögernde Frau insistierte, ob das wirklich wahr sei; das könne sie fast nicht glauben. Vielleicht sei das ja bloß eine »esoterische Idee«. Auf meine Rückfrage an die Befürworterin, was es mit diesem kirchlichen Verbot auf sich habe, meinte diese lediglich, Genaueres wisse sie nicht, aber sie habe das einmal gelesen – erneut fand ich mich mittendrin in der Kontroverse mit all ihren Unsicherheiten …

Reinkarnation ist offenbar ein Thema, für das nicht nur der »Kopf« zuständig ist; sie ist ebenso eine Angelegenheit des »Bauches«. Es geht auch um Emotionen und Erfahrungen, um subjektive Überzeugungen, die sich nicht immer leicht in Worte fassen und logisch begründen lassen. Oft ist es schwierig, ein Gleichgewicht zu finden, beiden Ebenen von uns Menschen gerecht zu werden. Der »Bauch« kennt Gewissheiten, mit denen der »Kopf« nicht immer klarkommt. Das Resultat ist eine verbreitete Unsicherheit.

Reinkarnation – eine drängende Frage

Gerade für spirituell interessierte Menschen ist die Frage der Reinkarnation tatsächlich von großer Bedeutung, sie wollen ihr Aufmerksamkeit schenken, sich mit ihr auseinandersetzen. So viel Befremdliches, so vieles, das spontan unsere Auflehnung provoziert, begegnet uns im Leben: Kinder werden hier in die fürsorgliche Liebe wohlhabender Familien hineingeboren und finden beste Voraussetzungen für eine gedeihliche Entfaltung vor. Kinder sind dort das Ergebnis von Vergewaltigungen im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen, werden in bittere Armut geboren und schon vor ihrer Geburt abgelehnt und haben somit kaum eine Chance, ihre Möglichkeiten jemals zu entfalten. Was ist ferner mit jenen, die schon im Kindesalter wieder sterben, nur für wenige Jahre, vielleicht nur ein paar Wochen oder sogar nur Stunden hier sind; was mit jenen, deren Leben bereits im Mutterschoß sich vollendet, sei es durch eine Fehlgeburt, sei es durch Schwangerschaftsabbruch? – drängende Fragen …

Die traditionellen kirchlichen Antworten verweisen in der Regel auf den für uns Menschen unergründlichen Willen Gottes, der in seiner Weisheit und Güte jedem Menschen das Los zukommen lasse, was für diesen das Beste sei. Hinter einer solchen Haltung steht der Appell an ein (oft fast) übermenschliches Vertrauen in diesen gütigen und allwissenden Gott. Doch diese Antworten vermögen heute viele Menschen nicht mehr zu überzeugen.

Da wird der Reinkarnationsidee und der damit verbundenen Karmalehre zunehmend eine höhere Plausibilität eingeräumt. Unter Karma versteht man – kurz zusammengefasst – eine Bilanz am Ende des Lebens: Wo steht der Mensch jetzt auf seinem Weg der Entwicklung und Reifung? So legt dieses Karma fest, welche Lernschritte in der nächsten Inkarnation anstehen. Und dies wiederum bestimmt, unter welchen Umständen (Kultur, soziale Schicht, Geschlecht, gesunder oder behinderter Körper etc.) diese zu erfolgen habe. Dabei spricht eine aufgeklärte Reinkarnationslehre niemals von einem »schlechten« Karma. Vielmehr gibt es »schwieriges« Karma, wenn Schritte zu gehen sind, die aufgrund dieser Lebensbilanz strengere Voraussetzungen erfordern.

Beide Haltungen jedoch – die traditionell kirchliche wie die reinkarnatorische – bergen in sich auch die Gefahr der Teilnahmslosigkeit gegenüber Mitmenschen in Not. So hört man gelegentlich von Reinkarnationsgläubigen, dass schwere Schicksale das Karma der Betroffenen sei und dass man nichts machen könne, sie »da halt einfach durch« müssten. Von der anderen Seite wird der allwissende Gott ins Spiel gebracht, der nie grundlos strafe.

Beide Perspektiven verletzen das Grundgesetz hinter allem, das Liebesgebot. Weder der Glaube an das Karma noch an die Gerechtigkeit Gottes dürfen jemals zum Vorwand werden, diese Basis aller großen religiösen Traditionen außer Kraft zu setzen.

Das Schweigen der Kirchen

Für viele Menschen sind heute »Christsein« und der Glaube an die Reinkarnation ohne Weiteres vereinbar. Kirchenferne, aber dem christlichen Glauben dennoch Verbundene äußern sich in dieser Weise und zunehmend breitet sich diese Überzeugung auch unter kirchlich Engagierten aus. Gleichzeitig herrscht, wie gesehen, viel Unklarheit und wichtige Fragen stehen unbeantwortet im Raum. Ein Blick in die »einschlägige« Literatur bringt oft nur wenig Hilfe. Da stoßen wir häufig auf vehement bis aggressiv vorgebrachte Behauptungen, aber nur selten findet man ernsthafte Begründungen, und sachliche Belege werden keine beigebracht – für kritische Leser kann das allein keine ausreichende Antwort auf ihre drängenden Fragen sein.

Und die Kirchen schweigen! Ja, in den Kirchen herrscht oft erschreckende Sprachlosigkeit. Ihr Jahrhunderte währendes, missbilligendes Schweigen lastet noch immer lähmend auf vielen Priestern und Pfarrern. Wohl wagen sich einzelne Amtsträger gelegentlich etwas vor. So erzählte mir ein evangelischer Pfarrer einer Landgemeinde, ein überzeugter Reinkarnationsgläubiger, dass er Tauffeiern gerne mit den Worten einleite: Das Kind »(Name) ist wiedergekommen.« Noch nie habe er eine ablehnende Reaktion erlebt. Nun, das mag teilweise auch daran liegen, dass die Leute oft nur wenig aufmerksam zuhören. Auf alle Fälle aber genügt eine solche Aussage bei Weitem nicht. Suchende Menschen brauchen entschieden mehr als versteckte Hinweise.

Angesichts der Tatsache, dass eine stetig wachsende Zahl kirchlich Gläubiger sich der Reinkarnationsidee zuwendet, kommen die Kirchen nicht länger darum herum, sich dieser Frage zu öffnen. Im Gegensatz zu vielen reinkarnationsfreundlichen Autoren, welche diese Forderung ebenfalls erheben, meine ich damit jedoch nicht, Kirchen und Pfarrer müssten sich »endlich« zur Reinkarnation bekennen und diese lehren – nein, darum geht es nicht. Aber sie müssen sich den Fragen stellen.

Die Reinkarnation muss in den innerkirchlichen Diskussionen ihren Raum finden. Das aber setzt voraus, dass die kirchlichen Repräsentanten sich zunächst einmal eine entsprechende Kompetenz aneignen – und eine hilfreiche Sprechweise! Hier geht es nicht bloß darum zu predigen, dafür oder dagegen. Vielmehr müssen Räume geschaffen werden für eine offene Auseinandersetzung. Natürlich hat jeder Pfarrer das Recht, ja mehr noch: die Pflicht zu einer persönlichen Haltung. Und er soll diese sachlich, das heißt biblisch und theologisch begründen können. Im Weiteren – ganz wichtig! – soll er sachlich begründete andere Glaubenshaltungen als ebenso gültig akzeptieren. Bei unsicheren Kirchenvertretern mag auch die Angst mitspielen, dass sie, wenn sie sich nur schon der Thematik ernsthaft stellen, den »wahren Glauben« verraten würden.

Es wird zu zeigen sein, dass man mit guten Gründen Christ sein und an die Reinkarnation glauben, mit ebenso guten Gründen aber auch Christ sein und an ein einziges Leben glauben kann. Doch die Fragen müssen thematisiert werden!

Für Schulen gilt im Übrigen dasselbe. Auch hier geht es nicht darum, dass Lehrpersonen für oder gegen die Reinkarnationslehre Stellung beziehen. Aber sie müssen den Heranwachsenden das geistige Rüstzeug vermitteln, mit dem diese kompetent ihre eigene Entscheidung zu treffen imstande sind. Dass damit sowohl Lehrende wie Pfarrerinnen und Pfarrer im konkreten Einzelfall oft überfordert sind, ist offensichtlich. Das ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, wie völlig abwesend das Thema in beider Ausbildung ist. Diese verbreitete Ahnungslosigkeit ist keine Schande – aber eine Herausforderung.

Mein Weg mit der Reinkarnationslehre

Meine erste Begegnung mit dem Wiedergeburtsglauben hatte ich schon in frühen Kinderjahren – unter ganz besonderen Umständen. Ich verbrachte meine Kindheit in den 1950er-Jahren in einer kleinen Stadt in der Schweiz, damals 12 000 Einwohner, der historischen Entwicklung entsprechend ungefähr je zur Hälfte Katholiken (zu denen unsere Familie gehörte) und Reformierte (Zwinglianer). Ein paar jüdische Familien ergänzten die kleine Gemeinschaft. Im Alltag funktionierte das Zusammenleben problemlos. Man wusste, wer wohin gehörte, und alle lebten in der Überzeugung, selbst die Wahrheit zu glauben und die anderen im Irrtum zu wissen. Doch tat dies einem gedeihlichen Stadtleben keinen Abbruch.

Es gab zwei prominente Repräsentanten in der Stadt, der Bürgermeister, der hier Stadtammann heißt und traditionell der Freisinnigen Partei, die zu der Zeit hauptsächlich von Reformierten und Freidenkern gebildet wurde, anzugehören hatte, und der katholische Stadtpfarrer. Die beiden hatten einander von Amtes wegen feindselig gesinnt zu sein, aber natürlich gab es gesamtstädtische Anlässe, die eine Begegnung unausweichlich machten. Mein Großvater erzählte mir eine Geschichte, die sich in seiner Jugendzeit zugetragen haben soll. Die beiden Kontrahenten waren genötigt, an derselben Festtafel zu speisen. Da habe der Stadtammann, vielleicht nach dem zweiten Glas Wein, den Pfarrer gut hörbar und hämisch gefragt: »Na, Herr Pfarrer, wenn ich eines Tages sterbe, werden Sie mein Begräbnis übernehmen, auch wenn ich nicht zu Ihrer Kirche gehöre?« Der Stadtpfarrer, für seine Schlagfertigkeit bekannt, erwiderte maliziös schmunzelnd: »Ihr Begräbnis, Herr Stadtammann, ganz bestimmt; mit Freuden – am liebsten schon morgen!«

In dieser kleinräumigen Gesellschaft – die Soziologie bezeichnet sie als Primärgesellschaft – kannte jeder jeden, wenigstens die alteingesessenen Familien, zu denen neben Ärzten, Notaren und anderen Notablen auch viele Geschäftsleute und Handwerker zählten. Ein großes Industrieunternehmen bot Arbeitsplätze aller hierarchischen Stufen an und trug zum allmählichen wirtschaftlichen Aufschwung wesentlich bei.

Zum Urgestein dieser kleinen Stadtgemeinschaft gehörte auch Vater Walser, ein anerkannter Geschäftsmann. Wegen seines fortgeschrittenen Alters hatte er seinen Laden an den Sohn übergeben, gehörte aber weiterhin zum Stadtbild. Allerdings gab es Leute, die ihm gegenüber Berührungsängste hatten, denn es kursierte ein Gerücht … Eines Tages am Mittagstisch platzte unsere Mutter mit der Neuigkeit heraus: »Also hört mal, Vater Walser glaubt an die Wiedergeburt!« Etwas so Exotisch-Abartiges in unserer kleinen und ansonsten doch so rechtschaffenen Stadt! Da waren Reformierte und Katholiken und auch Juden sich einig: Das passt nicht zu uns!

Ein paar Jahre später machte die Nachricht die Runde, Vater Walser sei gestorben. Am folgenden Tag fehlte auf dem Mittagstisch von Familie Zünd ausnahmsweise der Salat. Mutter Zünd, eine stramme Katholikin und nicht auf den Mund gefallen, sprühte mit ihren achtzig Jahren noch immer vor Lebendigkeit und Lebenslust, was zu jener Zeit eine bemerkenswerte Seltenheit war; sie kochte auch in ihrem Drei-Generationen-Haushalt weiterhin für die ganze Familie. Mutter Zünd eröffnete bei diesem Mittagsmahl ihren Lieben, dass sie heute keinen Salat kaufen mochte. Sonst hätte sie womöglich beim Zurüsten darin eine Schnecke gefunden und das wäre dann vielleicht der wiedergeborene Vater Walser gewesen; und was hätte sie bloß mit dieser Schnecke tun sollen … Im ganzen Städtchen wurde über diese Geschichte herzhaft gelacht und der treffende Humor der alten Mutter Zünd bewundert; sie selbst hatte dafür gesorgt, dass die Episode bekannt wurde – und ich erfuhr auf diese Weise erstmals, dass es »ein paar verschrobene Typen« gebe, die an die Wiedergeburt glauben. In den folgenden langen Jahren der Schul- und Studienzeit spielte dieses Thema für mich keinerlei Rolle mehr, es kam ganz einfach nicht vor.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung setzte erst Jahrzehnte später ein. Meine allgemeine Neugierde trieb mich dazu, mich auch mit »esoterischen« (damals eine ehrenhafte Bezeichnung für geistig Suchende) Themen zu beschäftigen, darunter mit der Reinkarnation. Einen kräftigen Schub erhielt dieser Wissensdrang, als ich, in der Zeit als Krankenhausseelsorger angeregt durch viele Begegnungen mit sterbenden Menschen, mich entschied, mich dem Thema Sterben, Tod und Weiterleben vertieft zuzuwenden. Da gehörte die Frage der Reinkarnation fraglos dazu. Ich erkundigte mich nach kompetenten und anerkannten Autoren und machte mich an die Lektüre ihrer Bücher. Neben Staunen, Zweifel und Faszination machte sich in mir bald aber auch ein Befremden breit. Nicht wegen des Inhaltes, auf den war ich ja neugierig und wollte ihn ohne Vorurteile zur Kenntnis nehmen. Was mich unangenehm berührte, war vielmehr der Stil, dem ich in diesen Schriften so oft begegnete: keineswegs nur, wie ich es aus meiner Studienzeit gewohnt war, Informationen und sachliche Argumentationen, sondern immer wieder Polemik und Rechthaberei.

Mein Wissensdrang führte mich daher zu nächsten Schritten. Nicht nur lesen und nachdenken würden weiterführen, ich brauchte auch eigene Erfahrungen. Deshalb habe ich mich entschlossen, selbst Rückführungen zu machen. Solche »Einblicke in vergangene Leben« haben mir tatsächlich dazu verholfen, schwierige Situationen in meinem Leben in größeren (die Grenzen dieses einen Lebens überschreitenden) Zusammenhängen zu verstehen und damit auch, diese gegenwärtigen Lebensumstände zu akzeptieren und in mein (heutiges) Leben zu integrieren. Ich habe im Weiteren eine sogenannte »Déjà-vu«-Erfahrung gemacht (man kommt zum ersten Mal an einen fremden Ort und fühlt sich spontan heimisch oder vertraut, was von entsprechenden Fachleuten als Erinnerung an ein früheres Leben an diesem Ort gedeutet wird) – ausgerechnet im Tempel von Karnak in Ägypten!

Gleichwohl bin ich nicht wirklich sicher, objektiv in »frühere Leben« geschaut zu haben. Dies ist für mich eine vernünftige Erklärung für solche Erfahrungen neben anderen. Die moderne Psychologie, ich denke in erster Linie an die Lehre des kollektiven Unbewussten von C. G. Jung, bietet andere, ebenso vernünftige Erklärungsmodelle an. Auch die in letzter Zeit viel beachtete Quantentheorie eröffnet ganz neue Dimensionen. Sie erkennt Ebenen der Verbundenheit, von denen bis vor Kurzem niemand – außer den Mystikern – eine Ahnung hatte.

Was ist nun »die Wahrheit«? Ich kann mit dieser Ungewissheit gut leben. Ja, ich empfinde dabei sogar eine Entlastung vom Druck, alles verstehen und erklären zu wollen, unter dem wir moderne Menschen der westlichen Welt ständig stehen. Nicht-Wissen eröffnet auch Freiheit – man darf weiterdenken.

Meine Neugierde aber führte mich weiter zu vertieften und ernsthaften Studien. Schon lange also begleitet mich das Thema, verschiedentlich habe ich Hinweise gegeben, auch in früheren Publikationen. Nun ist der Moment gekommen, ihm in einer Zusammenschau den ihm gebührenden Raum zu geben.

Der Weg zu diesem Buch und seine Aufgabe

Die Publikation, die ich hier vorlege, will nicht bloß ein weiteres Buch sein, das sich über das Für und Wider der Reinkarnationsidee an sich Gedanken macht; solche gibt es schon in einer unüberschaubaren Fülle. Meine Erfahrung mit diesen Büchern ist aber, dass ich nach so mancher Lektüre mit dem unguten Gefühl zurückblieb, dass da so vieles behauptet und als Tatsache hingestellt wird, das durchaus nach tieferer Betrachtung und Befragung, oft auch Infragestellung ruft.

Also entschloss ich mich, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Ich habe in jahrelanger Arbeit die Originaltexte der infrage kommenden Konzilien in ihrer offiziellen und autorisierten Fassung (das heißt in griechischer und lateinischer Sprache) studiert. Im Blick auf die angebliche Überarbeitung der Bibel habe ich mich an kompetenter Quelle über ganz alte biblische Handschriften informiert, die von einer solchen Manipulation Zeugnis geben könnten. Ich habe bei Stellen in den Lehren Jesu, die hinsichtlich unseres Themas strittig sind, gelegentlich auch den griechischen Urtext im Zweiten Testament zurate gezogen, um zu einer kompetenteren Sichtweise zu gelangen. Für die Bibelzitate, die ich selbst in meine Argumentation einbringe, stütze ich mich auf die »Jerusalemer Bibel«. Diese genießt in Fachkreisen hohe Anerkennung für ihr Bemühen, möglichst nahe am Originaltext zu übersetzen. Im Weiteren habe ich mich ausführlich mit authentischen Übersetzungen der Schriften der sogenannten Qumranfunde auseinandergesetzt. Sie haben Relevanz für dieses Thema.

Natürlich mache ich keinem der einschlägigen Autoren einen Vorwurf, wenn er kein Latein oder Griechisch lesen kann. Ich meine aber, dieser Umstand sollte weit mehr zu Zurückhaltung führen als zu oft wiederholten, nicht belegbaren Thesen. Zudem sind viele wichtige Quellen auch ohne solche Sprachkenntnisse ohne Weiteres zugänglich. Es erforderte bloß einen ehrlichen Willen.

Es ist mein Bestreben, sachlich die Fragen zu untersuchen, die in der Literatur oft als bloße Behauptungen und ohne Begründung dastehen. Dabei ging es mir zu Beginn meiner Nachforschungen zunächst einmal darum, für mich selbst Klarheit zu gewinnen – meine Einstellung zu einer christlichen Reinkarnationslehre hat sich im Laufe der Jahre grundlegend verändert! Während ich nach meinem zehnjährigen Theologiestudium von der Unvereinbarkeit der biblischen Lehre mit der Reinkarnationsidee überzeugt war, habe ich heute, wie ich an späterer Stelle darlegen werde, eine sehr viel differenziertere Haltung gewonnen.

Ziel dieser Darlegungen ist es, Klarheit zu schaffen. Jede und jeder Interessierte soll sich auf der Basis sachlicher Informationen ein eigenes Bild machen, soll selbst entscheiden können, welches Modell das überzeugendere ist, und soll diese Entscheidung auch kompetent begründen können – deswegen werden die anderen Sichtweisen nicht automatisch falsch.

Viele eifrige Reinkarnationsautoren schreiben ihre Bücher in der klar formulierten Absicht, die Leserschaft von der Reinkarnation zu überzeugen, was oft zu arg polemischen Attacken gegen »Andersgläubige« führt. Für mich, liebe Leserin, lieber Leser, ist es absolut unwichtig, ob Sie an die Reinkarnation glauben oder nicht, oder ob Sie, gestützt auf die Informationen in diesem Buch, Ihren bisherigen Glauben weiterentwickeln oder ändern. Mein Bestreben ist einzig, dass Sie, wie immer Ihr Glaube aussieht, diesen auf tragfähige Argumente stützen können; dass Sie sich sachlich begründet Ihre eigene Haltung bilden und auch vertreten können. Eine solche Kompetenz gibt Ihnen größere Sicherheit, und damit fühlt man sich in der Regel besser.

Folgen Sie Ihrem »Bauch«, diese Impulse sind ernst zu nehmen; ich liefere Ihrem »Kopf« die Grundlagen, eine vernünftige und durchdachte Idee zu entwickeln. Die vorliegende Studie lädt Sie ein, sowohl in sich nachzuspüren, wo »Ihr Herz schlägt« in diesen Fragen, als auch nachzudenken und vernünftige Antworten zu finden – oder, falls Sie solche schon gefunden haben, Sie in diesen zu bestärken.

Ein weiterer Hinweis ist mir wichtig. Wenn ich in der Bibel lese, tue ich das nicht mit der Frage: Lehrt die Bibel, lehrt Jesus die Reinkarnation oder nicht? Ich hege Zweifel gegenüber einer solchen Vorgehensweise, da sie die Gefahr der Manipulation, oft nur subtil, in sich birgt: Vielleicht lese ich, durch mein Interesse angeregt, etwas in die Bibel hinein, das sie so gar nicht meint. Oder ich gebe meiner Frage ein Gewicht, das sie in der Bibel nicht hat. Analog befragen nämlich auch Vegetarier, Atomkraftgegner, Umweltschützer und viele andere die Bibel – und alle werden irgendwie fündig und stoßen auf Aussagen, die ihre Haltungen bestätigen.

Mein Befragen der Bibel bemüht sich um Offenheit: Was lehrt die Bibel? Wenn ich dabei auf »mein« Thema stoße, umso besser. Wenn nicht, ist das kein Unglück! Die Bibel ist für mich eine Weisheitsquelle neben anderen und ich habe nicht den Anspruch, zu jeder Frage, die mich beschäftigt, ausgerechnet hier die klärende Antwort zu finden. So lasse ich mich von den Inhalten der biblischen Schriften, der Lehre Jesu leiten, nicht von meinen besonderen Interessen.

Der Aufbau der Studie

Ich beginne mit einem Blick zurück zu den Anfängen, den Wurzeln der östlichen ebenso wie der westlichen Reinkarnationslehren. Dabei geht es darum, die tiefen Unterschiede zwischen den beiden Traditionslinien zu erkennen. Als Nächstes geht es um die teilweise heftig geführten Diskussionen im 20. Jahrhundert: eine vorläufige Übersicht über die Themen ebenso wie über die wichtigsten Autoren. Um sich in diesen Auseinandersetzungen besser zurechtfinden zu können, ist ein Blick auf den Brennpunkt der Kontroversen, das heißt auf wichtige Stationen der Kirchengeschichte, hilfreich (geistige Strömungen zu verschiedenen Epochen, Kirchenlehrer, Konzilsbeschlüsse). Da alle an der Diskussion Beteiligten sich auf die Bibel und da vor allem auf Jesus berufen, ist auch hier ein tieferes, nicht durch eine ideologische beziehungsweise dogmatische Brille gefärbtes Hinschauen hilfreich. Schließlich folgen drei Modelle christlicher Glaubenslehren, zwei schließen die Reinkarnation ein (das eine auf der Basis der biblischen Botschaft, das andere gründet in theologischen Überlegungen), das dritte vertritt den Glauben an ein einziges Leben. Zum Abschluss stelle ich einen Gedanken vor, wie die beiden Glaubensformen vielleicht doch zueinander vermittelt werden können.

Eine Frage des Glaubens

Die Frage nach der Reinkarnation ist eine Glaubensfrage und als solche lässt sie sich nur subjektiv beantworten. Für einen Glauben gibt es subjektive Gewissheiten, aber keine objektiven Beweise. Missionarischer Eifer für was auch immer, das heißt das Bestreben, andere von der eigenen Gewissheit mit allen Mitteln zu überzeugen, ist ein Verstoß gegen die Freiheit der Meinung und eine Missachtung des Glaubens anderer. Solches ist mir tief im Herzen zuwider.

Wahrheit ist …

Mein Verständnis von Wahrheit bei geistigen und weltanschaulichen Themen lässt sich am besten mit dem Bild eines bunten Blumenstraußes erläutern. Das Bild sagt aus, dass von den Menschen, die im Kreis um diesen Strauß herumsitzen (wie etwa in meinen Seminaren), jeder als erste eine bestimmte Blume in ihrer Farbe erblickt. Aufgeklärte Menschen wissen um die Relativität ihrer eigenen subjektiven Überzeugung, im Bild: ihres Blickes auf den Strauß. Erst in einer Zusammenschau des ganzen Straußes nähern wir uns der Wahrheit an. Das heißt, Ziel des Austausches mit »Andersgläubigen« kann nicht sein, diese von der eigenen Sichtweise zu überzeugen, im Bild: nur die Farbe der eigenen Blume als einzige Wahrheit gelten zu lassen. Ziel ist vielmehr, im gegenseitigen Austausch gemeinsam ein umfassenderes Verständnis der Wahrheit zu gewinnen. Die Fülle der Wahrheit kann nur in der Zusammenschau der verschiedenen Teilaspekte erahnt werden.