Dein Name ist Jeremiah Cotton. Du bist ein kleiner Cop beim NYPD, ein Rookie, den niemand ernst nimmt. Aber du willst mehr. Denn du hast eine Rechnung mit der Welt offen. Und wehe, dich nennt jemand »Jerry«.
Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. Erleben Sie die Geburt einer digitalen Kultserie: COTTON RELOADED ist das Remake von JERRY COTTON, der erfolgreichsten deutschen Romanserie, und erzählt als E-Book-Reihe eine völlig neue Geschichte.
COTTON RELOADED erscheint monatlich. Die einzelnen Folgen sind in sich abgeschlossen. COTTON RELOADED gibt es als E-Book, Audio-Download (ungekürztes Hörbuch) und als Read&Listen E-Book (Text in Verbindung mit Hörbuch).
Killer-Apps
Cotton erreichte den Tatort gegen neun Uhr vormittags. Sechzehn Meilen Fahrt lagen hinter ihm. Die Strecke hatte ihn von Manhattan quer durch die Industrielandschaften New Jerseys ins beschauliche North Caldwell geführt. Diesen Vorort von New York kannte der G-Man bisher lediglich aus einer Fernsehserie als Wohnsitz von Tony Soprano.
Langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, bog er am Ziel in eine malerische Allee und rollte im Schritttempo weiter. Häuser im kolonialen Stil prägten das Straßenbild. Im Morgenlicht präsentierten sich ihre Fassaden blendend weiß. Alles wirkte sehr gepflegt, sehr sauber. Cotton hatte schon Schießereien an hässlicheren Orten erlebt.
Er parkte seinen Dienstwagen hinter einer Ansammlung von FBI-Fahrzeugen und Streifenwagen, stieg aus und folgte einem gewundenen Kiesweg durch einen Vorgarten voller Blumenbeete. An einer von Weinreben umrankten Haustür zeigte er einem Polizeibeamten seinen FBI-Ausweis und betrat den Eingangsbereich. Der Boden bestand aus Marmor, von der Decke hing ein pompöser Kronleuchter. An den Wänden waren gerahmte Fotos, auf denen sich eine gut situierte weiße Mittelstandsfamilie präsentierte. Alle Bilder stammten aus einem professionellen Studio. Posen, Frisuren, Kleidung, Beleuchtung, nichts war dem Zufall überlassen worden.
Die Aufnahmen zeigten ein attraktives Ehepaar in den Vierzigern. Der Mann wirkte wie jemand, der sein Leben damit verbrachte, Unterschriften auf Versicherungsverträgen zu sammeln. Abgesehen von ein paar Fältchen rings um die Augen sah seine Frau auf unnatürliche Weise so aus, als wäre sie seit ihrem dreißigsten Geburtstag keinen Tag älter geworden. Ihre schätzungsweise achtjährige Tochter besaß strohblondes Haar und ein bezauberndes Lächeln. Im Gesicht ihres Teenager-Bruders erblühte eine ziemlich wilde Akne.
Cotton folgte dem gedämpften Geräusch von Stimmen und gelangte in eine Küche von der Größe seines halben Apartments. Fast ein Dutzend Polizisten in Uniform und in Zivil standen hinter einer Absperrung aus gelbem Plastikband, das quer durch den Raum gespannt war.
Unter ihnen bemerkte der G-Man seine Partnerin, Special Agent Philippa »Phil« Decker. Im Moment wirkte sie eher abwesend. Beide Arme hielt sie fest um sich geschlungen, als würde sie trotz ihres Mantels über dem dunklen Hosenanzug frieren. Ihr Gesicht war kreidebleich, was von dem beklemmenden Anblick herrühren mochte, der sich ihr bot. Zu ihren Füßen lagen Hülsen von 9-Millimeter-Geschossen in einer Blutlache am Boden verstreut.
Cottons Blick schweifte zu Sarah Hunter. Die Forensikerin des G-Teams kauerte jenseits der Absperrung am Boden und fahndete nach biologischen und sonstigen Hinterlassenschaften des Täters, wie zum Beispiel Fingerabdrücke oder Fasern. Über ihrer normalen Kleidung trug sie einen antistatischen Einwegschutzanzug, der verhinderte, dass sie den Tatort kontaminierte. Routiniert ließ sie den Lichtkegel einer Stablampe über den Boden gleiten, den sie sorgfältig studierte. Ab und an klaubte sie irgendwelche winzigen Teilchen mit einer Pinzette auf und verstaute jedes einzeln in kleine Plastikbeutel.
Ein paar Schritte daneben stand Joe Brandenburg, Cottons ehemaliger Partner während seiner Zeit beim NYPD. Mit ausdrucksloser Miene, beide Hände in den Hosentaschen vergraben, verfolgte er Hunter bei der Arbeit. In seiner grimmigen Art wirkte er wie ein Relikt aus einer Zeit, als die Polizei ihre Fälle mehr mit den Fäusten als mit kriminalistischen Methoden aufgeklärt hatte. Passend zu diesem Bild steckte er in einer dunklen Macho-Lederjacke. Die Ausbeulung in Höhe der linken Brust rührte vom Halfter her, in dem eine großkalibrige Halbautomatik steckte.
»Hi, Joe.« Cotton platzierte sich neben ihn.
»Wieso mischt ihr euch hier ein?«, knurrte Brandenburg. Feingefühl gehörte nicht gerade zu seinen Stärken. »Halten die Pinsel im Rathaus die New Yorker Polizei für unfähig, einen läppischen Mordfall zu klären?«
»Ich finde es auch schön, dich hier zu treffen«, meinte Cotton lakonisch. Er drehte sich um und stieß beinahe mit einem FBI-Fotografen zusammen. Der blasse Mann dokumentierte den Tatort aus verschiedenen Blickwinkeln. Seine Kamera besaß einen am Objektiv aufmontierten Ringblitz, der eine schattenlose Ausleuchtung ermöglichte. Dessen blendendes Licht flammte in kurzen Abständen auf und bannte eine groteske Szene auf den Speicherchip.
Auf dem Küchentisch standen vier Teller mit blutgetränkten Cornflakes. Davor saß das Ehepaar, dessen Fotos Cotton an der Wand im Flur gesehen hatte. Den Einschüssen nach zu urteilen, hatten sie einem durchgeknallten Killer als Zielscheibe gedient. Offenbar hatte er ein ganzes Magazin geleert. Dem männlichen Opfer stand der Mund wie zu einem Schrei offen. In den aufgerissenen Augen seiner Frau schien das Grauen festgehalten, das sie im Augenblick ihres Todes empfunden hatte. Zu ihren Füßen lagen ein umgekippter Stuhl und die Leiche ihrer Tochter. Ihr Sohn war am hinteren Ende der Küche an der Spüle tot zusammengesunken.
Cotton trat neben Decker. »Was ist hier los?«
»Das sehen Sie doch.« Sie wich seinem Blick aus und bemühte sich, die Bestürzung in ihrem Gesicht zu verbergen. »Bei den erwachsenen Opfern handelt es sich um die Hausbesitzer Mr und Mrs Lancester. Sie saßen gerade beim Frühstück, als es passierte.« Decker deutete mit dem Kinn auf die Leiche des Mädchens. »Das ist ihre Tochter Lucille. Sie wurde mit einem Kopfschuss getötet. Tatwaffe ist eine auf ihren Vater registrierte Browning.«
»Lancester hat erst seine Familie und dann sich selbst erschossen?«, fragte Cotton.
Decker schüttelte den Kopf. »Wie es aussieht, hat der Sohn Randy erst seine Familie und dann sich selbst getötet.«
»Der Sohn?« Cottons Augen verharrten bei dem Jungen. Tatsächlich umklammerte der eine Waffe, die halb unter seinem Körper vergraben war. »Wie alt ist er? Vierzehn?«
»Dreizehn.«
»Und woher hat er die Pistole?«
»Vermutlich aus dem Waffenschrank seines Vaters. Im Schloss steckt noch der Schlüssel.«
»Warum sollte der Junge so etwas tun? Wissen Sie schon etwas über das Motiv?«
»Nein. Es könnte alles Mögliche sein, angefangen von Rache, bis hin zu einem verdrängten ödipalen Komplex. Familiäre Auseinandersetzungen bergen oft rational nicht nachvollziehbare Gründe.«
»Vielleicht wurde der Tatort manipuliert, um dem Sohn den Mord in die Schuhe zu schieben?«
»Daran haben wir auch schon gedacht, aber bisher spricht nichts für diese Theorie. Angenommen, ein unbekannter Täter hätte den Jungen zusammen mit den anderen am Frühstückstisch erschossen – aus welchem Grund sollte er seine Leiche ein paar Schritte weiter weg platzieren? Außerdem ist da der Einschusswinkel der Kugel. Der Verlauf von unten nach oben verweist darauf, dass die Mündung unters Kinn des Jungen gepresst wurde. Jemanden aus der Entfernung so zu treffen ist unmöglich.«
»So ein Blutbad habe ich noch nie gesehen.« Cotton ließ den Blick über die Opfer schweifen. »Kennt man inzwischen die genaue Tatzeit?«
»Gegen sieben Uhr heute früh alarmierten Nachbarn die Polizei, nachdem sie Schüsse und Schreie aus diesem Haus gehört hatten. Die Beamten mussten die Tür aufbrechen, da alle Eingänge und Fenster von innen verriegelt waren. Was ein weiteres Indiz dafür sein dürfte, dass kein Täter von außen eingedrungen ist. Außerdem ist das Gebäude mit einer Alarmanlage, Videoüberwachung und Bewegungsmeldern gesichert. Wir haben sämtliche Systeme überprüft. In den vergangenen Stunden wurde keins aktiviert. Zwar ist die Sichtung des Überwachungsvideos noch nicht abgeschlossen, bisher wurde aber nichts Verdächtiges darauf gefunden.«
»Was war Mr Lancester von Beruf?«
»Er arbeitete in Manhattan als Vertreter bei einer großen Versicherungsgesellschaft. Seine Frau war Hausfrau. Die Kinder gingen beide noch zur Schule.«
»Hatte der Junge irgendwelche schulischen Probleme?«
»Nichts dergleichen. Er ist nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. In der Nachbarschaft galt er als freundlich und hilfsbereit.«
»Mir ist nicht ganz klar, wieso wir in diesem Fall ermitteln. Streng genommen ist das doch Sache der New Yorker Mordkommission.«
»Die Frage müssen Sie schon unserem Chef stellen. Mr High hat uns auf den Fall angesetzt. Sobald wir hier fertig sind, sollen wir ins HQ kommen und ihm Bericht erstatten.«
Sarah Hunter packte die gesicherten Beweise mitsamt ihrem Equipment in zwei Laborkoffer und kam zu Decker und Cotton.
»So«, verkündete sie. »Ich bin mit der Spurensicherung fertig. Ich bin im Labor und werte das Beweismaterial aus.«
»Danke, Sarah«, erwiderte Decker.
In den nächsten Stunden nahmen sich die Agents jeden Raum des Hauses vor, insbesondere das Zimmer des Jungen. Die der Tür gegenüberliegende Wand nahm von der Decke bis zum Boden ein Regal ein. Auf den Brettern waren Bücher und Plastikmodelle von Luxusautos. Rechts standen ein ungemachtes Bett und eine Nachtkommode. An der Wand darüber dienten Poster von drallen Motorradbräuten als Blickfang. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch aus hellem Fichtenholz mit einem Monitor und einem Drucker darauf und einem drehbaren Bürostuhl davor. Der dazugehörige Computer war unter dem Tisch untergebracht.
Cotton drehte sich in der Mitte des Raumes langsam um die eigene Achse und schaute sich aufmerksam um.
»Beunruhigt Sie diese Normalität auch so?«, wollte Decker wissen.
Der Gefragte zuckte nur mit den Schultern. »Offen gesagt, es gibt Dinge, die mich mehr beunruhigen würden. Bilder von sezierten Kleintieren zum Beispiel.«
Seine Partnerin durchsuchte die Schubladen. Unter anderem brachte sie dabei eine Gebrauchsanleitung für einen DVD-Player zum Vorschein. Zwischen den Seiten lag das Foto eines hübschen, etwa 14-jährigen Mädchens. War das seine Freundin, von der seine Mutter nichts wissen sollte?
Cotton nahm den Computer näher in Augenschein. Doch weder auf der Festplatte noch auf USB-Sticks fand sich etwas Aufschlussreiches. Auf der Nachtkommode lag ein eingeschaltetes Smartphone. Offenbar hatte es der Junge heute benutzt. Das Display zeigte das Icon einer App. Nichts Besonderes – eine kleine, lustig aussehende Cartoon-Figur.
In diesem Moment riss der Klingelton seines eigenen Smartphones den G-Man aus den Gedanken. Er nahm es aus der Tasche und drückte den Empfangsknopf: »Ja?«
»He, Alter. Hier ist Zeerookah«, meldete sich der IT-Experte des G-Teams.
»Was gibt’s?«
»Vorhin ging ein Hilferuf beim NYPD ein, der ans FBI und das G-Team weitergeleitet wurde und irgendwie im Zusammenhang mit dem Fall zu stehen scheint, an dem ihr gerade arbeitet.«
»Geht es vielleicht ein bisschen präziser?«
»Leider nein. Erstens redete der Anrufer ziemlich wirres Zeug, und zweitens endete der Anruf abrupt. Offenbar geht es um einen Zwischenfall bei einer Hochzeit.«
»Ist die Polizei schon unterwegs?«
»Ja. Aber Mr High meinte, ihr solltet auch mal einen Blick auf das Brautpaar werfen. Ich schicke dir die Adresse aufs Smartphone. Wir sehen uns.«
Auf Cottons Display erschien die Anschrift des nächsten Tatorts. Cotton prägte sich die Adresse ein und steckte sein Smartphone in die Tasche zurück. Das Handy des Jungen nahm er ebenfalls mit. Vielleicht fanden die Spezialisten des G-Teams etwas Nützliches darauf.
Auf dem Weg zur Zimmertür rief Cotton seiner Partnerin zu: »Wir müssen nach Queens.«
»Aber wir sind hier noch nicht fertig!«
»Kann warten«, kam es aus dem Flur zurück. »High ist unter die Hellseher gegangen.«
»Wieso?«
»Wenn ich das wüsste, könnte ich auch hellsehen. Aber dieses Fachgebiet überlasse ich lieber Spinnern.«
Im Laufschritt verließen die beiden Agents das Gebäude. Vor dem Haus wuchs die Menge der Gaffer an. Polizisten hatten gelbes Absperrband zwischen den geparkten Streifenwagen gespannt. Inzwischen hatten sich auch die ersten Reporter eingefunden. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis die Übertragungswagen der großen Fernsehanstalten vorfuhren.
Wieso, fragte sich Cotton auf der Fahrt nach Manhattan, nagte dieses Gefühl in ihm, dass der wahre Schuldige an dem Blutbad immer noch auf freiem Fuß war?
Die Agents fuhren mit Cottons Dienstwagen zu ihrem neuen Einsatzort nach Queens. Ihr Ziel lag jenseits der Triboro Bridge und des East River am Ende einer trostlosen Seitenstraße. Die von Rissen durchzogene Fahrbahn säumten verkommene Lagerhallen, Schnapsläden mit geschwärzten Fenstern, schäbige Wohnblocks und winzige Kneipen, in denen gescheiterte Existenzen Abwechslung bei billigem Bier und Spielautomaten suchten. Jemanden für den Erwerb einer dieser Immobilien zu interessieren, daran hätte sich selbst der gewiefteste Makler New Yorks die Zähne ausgebissen.
Wie es aussah, war die örtliche Polizei bereits am Tatort. Decker parkte hinter einem leeren Streifenwagen.
Eine mannshohe Hecke trennte die Straße vom dahinter liegenden Areal, auf dem die Hochzeit stattfand. Die Agents mussten ein Stück weit gehen, ehe sie eine schmiedeeiserne Pforte fanden. Cotton schob sie auf und betrat einen überraschend großen und gepflegten Garten. Dessen Mittelpunkt bildete eine Gaststätte im verspielten Landhausstil. Es war, als hätte man eine andere Welt betreten. Nichts erinnerte auf diesem Gelände mehr an die schmutzig braunen Straßenzüge, die die Architektur des Viertels prägten. Stattdessen schien die Gartenanlage in der Beschaulichkeit des 19. Jahrhunderts erstarrt zu sein. Ein gepflasterter Weg aus Natursteinplatten verband die Gartenpforte mit dem von Rosen umrankten Eingang der Gaststätte.
»Seltsam«, sagte Cotton. »Dafür, dass hier eine Hochzeit stattfinden soll, ist es bemerkenswert ruhig.«
Die Agents kamen an einem von Kugeln zersplitterten Sprossenfenster vorbei. Hinter der Scheibe waren die Vorhänge zugezogen. Die Haustür lag im Schatten zweier Birken verborgen. Die Agents blieben davor stehen, zückten ihre Dienstwaffen und entsicherten sie.
Cotton stieß die Tür auf. Schon beim Überschreiten der Schwelle hatte er das Gefühl, dass sich in diesem Gebäude etwas Schreckliches zugetragen haben musste. Die teils weiß getünchten, teils mit dunklem Ahorn getäfelten Wände verliehen dem Schankraum eine anheimelnde Atmosphäre. Ein halbes Dutzend Tische waren mit Speisen und Getränken gedeckt. Daran verharrten immer noch die Hochzeitsgäste wie auf ihren Stühlen erstarrt. Mehrere waren blutüberströmt und stöhnten vor Schmerz. Andere lagen regungslos am Boden. Der Raum, in dem am Morgen eine unbeschwerte Hochzeitsfeier begonnen hatte, hatte sich in ein Schlachthaus verwandelt.
Ungläubig starrten die Agents auf die Szene, die sich ihnen bot. Zwei brutale Fälle von Massenmorden in New York City an nur einem Tag. Was für ein bizarrer Zufall. Nur glaubte Cotton nicht an Zufälle. Zumindest nicht bei Verbrechen von diesen Dimensionen.
Er brauchte einen Moment, um die Szene zu verarbeiten. Es war kein schöner Anblick, ein Brautpaar in seinem Blut liegen zu sehen. Vor den Tischen lagen auch die Leichen der beiden uniformierten Polizisten. Wahrscheinlich hatten sie das Pech gehabt, zu früh am Tatort gewesen und auf den Massenmörder gestoßen zu sein. Das war eindeutig das Werk eines Psychopathen.
Mehr noch als der Anblick der Leichen verstörte Cotton jedoch das Verhalten der Überlebenden. Wieso saßen die Leute wie versteinert an den Tischen? Warum waren sie nicht längst nach draußen geflohen?
Wie zur Antwort vernahm Cotton schräg hinter sich ein metallisches Klicken. Er kannte diesen Laut nur allzu gut. Es war das Geräusch eines Schlagbolzens, der an einer Waffe gespannt wurde.
Das linke Kopfende des Raumes füllte eine wuchtige Theke aus gebürstetem Edelmetall. Hinter dieser Theke erhob sich nun ein kompakt gebauter Mann Ende zwanzig, breitschultrig, mit schwammigen Gesichtszügen und extrem kurz geschnittenen schwarzen Haaren. Seine dunklen Augen wirkten ausdruckslos wie schwarze Murmeln. Gekleidet war er wie ein Kellner: dunkler Anzug und blütenweißes Hemd. In seinen Händen hielt er ein Gewehr von einem Kaliber, das furchtbaren Schaden anrichten konnte. Damit zielte er auf Deckers Kopf.
Die Agentin bemerkte den Schützen. Wie versteinert starrte sie auf die Waffe.
»Damit kommen Sie nicht durch«, versuchte Cotton, die Aufmerksamkeit des Amokläufers auf sich zu lenken. »Ich …«
»Klappe.« Der Killer kniff die Augen zusammen und sog die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. »Ihr seid beide so was von tot …«
Er feuerte seine Waffe ab. Flackerndes Mündungsfeuer erhellte den Raum. Alles geschah so schnell, dass Cotton nur noch instinktiv reagieren konnte. Als der Amokläufer schoss, war der G-Man bereits in Deckers Richtung gehechtet und hatte sie zu Boden gerissen.
Der Killer drückte noch zweimal ab. Die Projektile durchschlugen die Tischplatte, unter der die Agents Schutz gesucht hatten, ohne dabei Schaden anzurichten. Zwei weitere Feuerstöße zerschmetterten das Geschirr auf einem Nachbartisch. Die Leute kreischten vor Entsetzen. Cotton wartete den Moment ab, in dem der Killer seine Waffe wieder durchlud. Dann sprang er blitzschnell aus seiner Deckung Richtung Bar. Dahinter versuchte der Amokschütze sein Gewehr erneut in Anschlag zu bringen. Bevor er abdrücken konnte, flankte der G-Man über die Theke. Sein rechter Fuß traf den Gegner an der Hüfte. Der Mann taumelte nach hinten. Im Zurückstolpern kämpfte er mit dem Gleichgewicht. Dabei riss er automatisch den Arm mit dem Gewehr hoch und drückte instinktiv ab, doch die Kugel fuhr in die Decke.
Cotton landete vor dem Amokläufer, packte ihn mit einer Hand und stieß ihn mit dem Rücken gegen das Regal. Mit der anderen Hand entriss er ihm die Waffe.
Der Amokläufer ballte die Fäuste und holte zum Schlag aus, doch Cotton rammte ihm die Stirn gegen die Nase. Die zum Schlag erhobenen Arme des Mannes fielen schlaff herab, seine Beine gaben nach. Er ging nur deshalb nicht zu Boden, weil Cotton ihn mit beiden Händen am Kragen gepackt hielt.
»Wie viele seid ihr?«, fuhr er den Killer an. »Wie viele Irre treiben sich hier noch rum?«
Keine Antwort. Cotton zog den Mann an sich heran und schmetterte ihn gegen das Regal. Er gab ein ersticktes Geräusch von sich.