Über Anna Seghers

Netty Reiling wurde 1900 in Mainz geboren. (Den Namen Anna Seghers führte sie als Schriftstellerin ab 1928.) 1920-1924 Studium in Heidelberg und Köln: Kunst- und Kulturgeschichte, Geschichte und Sinologie. Erste Veröffentlichung 1924: »Die Toten auf der Insel Djal«. 1925 Heirat mit dem Ungarn Laszlo Radvanyi. Umzug nach Berlin. Kleist-Preis. Eintritt in die KPD. 1929 Beitritt zum Bund proletarisch- revolutionärer Schriftsteller. 1933 Flucht über die Schweiz nach Paris, 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs. 1941 Flucht der Familie auf einem Dampfer von Marseille nach Mexiko. Dort Präsidentin des Heinrich-Heine-Klubs. Mitarbeit an der Zeitschrift »Freies Deutschland«. 1943 schwerer Verkehrsunfall. 1947 Rückkehr nach Berlin. Georg-Büchner-Preis. 1950 Mitglied des Weltfriedensrates. Von 1952 bis 1978 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR. Ehrenbürgerin von Berlin und Mainz. 1978 Ehrenpräsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. 1983 in Berlin gestorben.Romane: Die Gefährten (1932); Der Kopflohn (1933); Der Weg durch den Februar (1935); Die Rettung (1937); Das siebte Kreuz (1942); Transit (1944); Die Toten bleiben jung (1949); Die Entscheidung (1959); Das Vertrauen (1968). Zahlreiche Erzählungen und Essayistik.

Informationen zum Buch

»Ein Roman gegen Diktatur schlechthin.« Marcel Reich-Ranicki.

»Das siebte Kreuz« machte Anna Seghers mit einem Schlag berühmt und wurde zu einem bis heute anhaltenden Welterfolg. Die dramatische Geschichte einer Flucht vor den Nazis ist durchdrungen von Seghers’ eigenen Fluchterfahrungen. Aus sieben gekappten Platanen werden im Konzentrationslager Westhofen Folterkreuze für sieben geflohene Häftlinge vorbereitet. Sechs der Männer müssen ihren Ausbruchsversuch mit dem Leben bezahlen. Das siebte Kreuz aber bleibt frei.

»Der Stoff, aus dem dieses Buch gemacht ist, ist dauerhaft und unzerstörbar, wie weniges, was es auf der Welt gibt. Er heißt: Gerechtigkeit.« Christa Wolf.

Sieben Gefangene sind aus dem Konzentrationslager Westhofen geflohen, aber nur einer erreicht das rettende Ufer. Auf seinem Fluchtweg trifft Georg Heisler auf Männer und Frauen, die sich entscheiden müssen zwischen Verrat und Treue, egoistischer Abkehr und Mitmenschlichkeit, Denunziation und Solidarität.

Anna Seghers schrieb ihren berühmten Roman in Paris, einer Zwischenstation auf ihrer lebensgefährlichen Flucht vor den Nazis ins Exil, mit der Souveränität einer Schriftstellerin von Weltrang und einer Klarsicht, die die Lektüre bis heute zur tief berührenden existenziellen Erfahrung macht. Der Text ist durchdrungen von Seghers’ eigenen Erfahrungen und dem inneren Bild ihrer rheinhessischen Heimat.

Die vorliegende Ausgabe folgt dem Wortlaut der Erstausgabe von 1942 unter Berücksichtigung der heute gültigen Rechtschreibung und Interpunktion.

Mit einem Nachwort von Thomas von Steinaecker.

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Anna Seghers

Das siebte Kreuz

Roman aus Hitlerdeutschland

Mit einem Nachwort von Thomas von Steinaecker

Inhaltsübersicht

Über Anna Seghers

Informationen zum Buch

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Personenverzeichnis

Erstes Kapitel

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Zweites Kapitel

I

II

III

IV

V

VI

VII

Drittes Kapitel

I

II

III

IV

V

Viertes Kapitel

I

II

III

IV

V

VI

Fünftes Kapitel

I

II

III

Sechstes Kapitel

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Siebentes Kapitel

I

II

III

IV

V

VI

Anhang

Thomas von Steinaecker Nachwort

Bildnachweis

Impressum

Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet. Es verdankt sein Erscheinen in Mexiko der Freundschaft und gemeinsamen Arbeit deutscher und mexikanischer Schriftsteller, Künstler und Drucker.

Anna Seghers

Personenverzeichnis

Georg Heisler, geflüchtet aus dem Konzentrationslager Westhofen

Wallau
Beutler
Pelzer
Belloni
Füllgrabe
Aldinger

ebenfalls geflüchtet

Fahrenberg, Lagerkommandant von Westhofen

Bunsen, Leutnant in Westhofen

Zillich, Scharführer in Westhofen

Fischer
Overkamp

Polizeikommissare

Ernst, ein Schäfer

Franz Marnet, Georgs früherer Freund, Arbeiter in den Höchster Farbwerken

Leni, Georgs frühere Freundin

Elli, Georgs Frau

Herr Mettenheimer, ihr Vater

Hermann, ein Freund von Franz, arbeitet in den Griesheimer Eisenbahnwerkstätten

Else, seine Frau

Fritz Helwig, Gärtnerlehrling

Dr. Löwenstein, ein jüdischer Arzt

Madame Marelli, Schneiderin für Artistenkostüme

Liesel Röder
Paul Röder

Jugendfreunde von Georg

Katharina Grabber, Röders Tante, Eigentümerin einer Garage

Fiedler, Arbeitskollege von Röder

Grete, seine Frau

Dr. Kreß

Frau Kreß

Reinhardt, Fiedlers Freund

Eine Kellnerin

Ein holländischer Schiffer, der allerlei riskiert

Erstes Kapitel

Vielleicht sind in unserem Land noch nie so merkwürdige Bäume gefällt worden als die sieben Platanen auf der Schmalseite der Baracke III. Ihre Kronen waren schon früher gekuppt worden aus einem Anlass, den man später erfahren wird. In Schulterhöhe waren gegen die Stämme Querbretter genagelt, sodass die Platanen von weitem sieben Kreuzen glichen.

Der neue Lagerkommandant, er hieß Sommerfeld, ließ alles sofort zu Kleinholz zusammenschlagen. Er war eine andre Nummer als sein Vorgänger Fahrenberg, der alte Kämpfer, »der Eroberer von Seeligenstadt«, – wo sein Vater noch heute ein Installationsgeschäft am Marktplatz hat. Der neue Lagerkommandant war Afrikaner gewesen, Kolonialoffizier vor dem Krieg, und nach dem Krieg war er mit seinem alten Major Lettow-Vorbeck auf das rote Hamburg marschiert. Das erfuhren wir alles viel später. War der erste Kommandant ein Narr gewesen, mit furchtbaren, unvoraussehbaren Fällen von Grausamkeit, so war der neue ein nüchterner Mann, bei dem sich alles voraussehen ließ. Fahrenberg war imstande gewesen, uns plötzlich alle zusammenschlagen zu lassen, – Sommerfeld war imstande, uns alle in Reih und Glied antreten und jeden vierten herauszählen und zusammenschlagen zu lassen. Das wussten wir damals auch noch nicht. Und selbst wenn wir es gewusst hätten! Was hätte es ausgemacht gegen das Gefühl, das uns übermannte, als die sechs Bäume alle gefällt wurden und dann auch noch der siebte! Ein kleiner Triumph gewiss, gemessen an unserer Ohnmacht, an unseren Sträflingskleidern. Und doch ein Triumph, der einen die eigene Kraft plötzlich fühlen ließ nach wer weiß wie langer Zeit, jene Kraft, die lang genug taxiert worden war, sogar von uns selbst, als sei sie bloß eine der vielen gewöhnlichen Kräfte der Erde, die man nach Maßen und Zahlen abtaxiert, wo sie doch die einzige Kraft ist, die plötzlich ins Maßlose wachsen kann, ins Unberechenbare.

Zum ersten Mal wurden an diesem Abend auch unsere Baracken geheizt. Das Wetter hatte gerade gedreht. Ich bin heute nicht mehr so sicher, ob die paar Scheite, mit denen man unser gusseisernes Öfchen fütterte, wirklich von diesem Kleinholz waren. Damals waren wir davon überzeugt.

Wir drängten uns um das Öfchen, um unser Zeug zu trocknen und weil der ungewohnte Anblick des offenen Feuers unsere Herzen aufwühlte. Der SA-Posten drehte uns den Rücken zu, er sah unwillkürlich durch das vergitterte Fenster hinaus. Das zarte graue Gefusel, nicht mehr als Nebel, war plötzlich zu einem scharfen Regen geworden, den einzelne heftige Windstöße gegen die Baracke schlugen. Und schließlich hört auch ein SA-Mann, sieht auch ein gargekochter SA-Mann den Einzug des Herbstes nur einmal in jedem Jahr.

Die Scheite knackten. Zwei blaue Flämmchen zeigten uns an, dass auch die Kohlen glühten. Fünf Schaufeln Kohlen waren uns zugebilligt, die nur auf Minuten die zugige Baracke anwärmen konnten, ja nicht einmal unser Zeug fertig trocknen. Wir aber dachten jetzt daran noch nicht. Wir dachten nur an das Holz, das vor unseren Augen verbrannte. Hans sagte leise, mit einem schiefen Blick auf den Posten, ohne den Mund zu bewegen: »Das knackt.« Erwin sagte: »Das siebte.« Auf allen Gesichtern lag jetzt ein schwaches merkwürdiges Lächeln, ein Gemisch von Unvermischbarem, von Hoffnung und Spott, von Ohnmacht und Kühnheit. Wir hielten den Atem an. Der Regen schlug bald gegen die Bretter, bald gegen das Blechdach. Der Jüngste von uns, Erich, sagte mit einem Blick aus den Augenwinkeln, einem knappen Blick, in dem sich sein ganzes Inneres zusammenzog und zugleich unser aller Innerstes: »Wo mag er jetzt sein?«

I

Anfang Oktober fuhr ein gewisser Franz Marnet von dem Gehöft seiner Verwandten, das zu der Gemeinde Schmiedtheim im vorderen Taunus gehörte, ein paar Minuten früher als gewöhnlich auf seinem Fahrrad ab. Franz war ein mittelgroßer stämmiger Mensch, an die dreißig, mit ruhigen, wenn er so unter den Leuten herumging, fast schläfrigen Zügen. Jetzt aber, auf seinem liebsten Wegstück, der steilen Abfahrt zwischen den Feldern bis zur Chaussee, lag auf seinem Gesicht eine starke einfache Lebensfreude.

Vielleicht wird man später nicht verstehen, wieso Franz vergnügt sein konnte in der Haut, in der er steckte. Er war aber gerade vergnügt, er stieß sogar einen leisen glücklichen Schrei aus, als sein Fahrrad über zwei Erdwellen huppelte.

Morgen sollte die Schafherde, die seit gestern bei den Mangolds das Nachbarfeld düngte, auf die große Apfelbaumwiese seiner Verwandten getrieben werden. Deshalb wollten sie heute mit der Apfelernte fertig werden. Fünfunddreißig knorpelige Geäste, kraftvoll hineingewunden in die bläuliche Luft, hingen dick voll Goldparmänen. Sie waren alle so blank und reif, dass sie jetzt im ersten Morgenlicht aufglänzten wie unzählige kleine runde Sonnen.

Franz bedauerte aber nicht, dass er die Apfelernte versäumte. Er hatte lange genug bloß für ein Taschengeld mit den Bauern herumgebuddelt. Dafür hatte er noch froh sein können nach all den Jahren Arbeitslosigkeit, und der Hof seines Onkels – eines ruhigen, ganz ordentlichen Menschen – war immer noch hundertmal besser gewesen als ein Arbeitslager. Seit dem ersten September fuhr er endlich in die Fabrik. Das war ihm aus allen Gründen lieb, auch den Verwandten, weil er den Winter über als zahlender Gast wohnen blieb.

Als Franz an dem Nachbarhof, den Mangolds, vorbeifuhr, richteten die gerade Leiter und Stangen und Körbe an ihrem mächtigen Mollebuschbirnbaum. Sophie, die älteste Tochter, ein starkes, fast dickes, aber nicht plumpes Mädchen, mit ganz feinen Fuß- und Handgelenken, sprang als Erste auf die Leiter, wobei sie Franz etwas zurief. Er verstand sie zwar nicht, drehte sich aber kurz um und lachte. Das Gefühl überwältigte ihn, dazuzugehören. Schwächlich fühlende, schwächlich handelnde Menschen werden ihn schwer verstehen. Ihnen bedeutet Dazugehören eine bestimmte Familie oder Gemeinde oder Liebschaft. Für Franz bedeutete es einfach zu diesem Stück Land gehören, zu seinen Menschen und zu der Frühschicht, die nach Höchst fuhr, und vor allem, überhaupt zu den Lebenden.

Als er um Marnets Gehöft herum war, konnte er über das freie, sacht abfallende Land auf den Nebel hinuntersehn. Etwas tiefer, unterhalb der Landstraße, öffnete gerade der Schäfer seinen Pferch. Die Herde schob sich heraus und schmiegte sich sofort dem Abhang an, still und dicht wie ein Wölkchen, das bald in kleinere Wölkchen zerfällt, bald sich zusammenzieht und aufplustert. Auch der Schäfer, ein Mensch aus Schmiedtheim, rief Marnets Franz etwas zu. Franz lächelte. Ernst der Schäfer, mit seinem knallroten Halstuch, war ein ganz frecher unschäferischer Bursche. In den fröstlichen Herbstnächten kamen aus den Dörfern mitleidige Bauerntöchter in sein fahrbares Hüttchen. Hinter dem Rücken des Schäfers fiel das Land ab in gelassenen weitatmigen Wellen. Wenn man den Rhein auch jetzt von hier aus nicht sieht, da er noch fast eine Eisenbahnstunde weg ist, so ist es doch klar, dass diese weiten ausgeschwungenen Abhänge mit ihren Feldern und Obstbäumen und tiefer unten mit Reben, dass der Fabrikrauch, den man bis hierherauf riecht, dass die südwestliche Krümmung der Eisenbahnlinien und Straßen, dass die glitzernden schimmrigen Stellen im Nebel, dass auch der Schäfer mit seinem knallroten Halstuch, einen Arm in die Hüfte gestemmt, ein Bein vorgestellt, als beobachte er nicht Schafe, sondern eine Armee, – dass das alles schon Rhein bedeutet.

Das ist das Land, von dem es heißt, dass die Geschosse des letzten Krieges jeweils die Geschosse des vorletzten aus der Erde wühlen. Diese Hügel sind keine Gebirge. Jedes Kind kann sonntags zu Kaffee und Streuselkuchen seine Verwandten im jenseitigen Dorf besuchen und zum Abendläuten zurück sein. Doch diese Hügelkette war lange der Rand der Welt – jenseits begann die Wildnis, das unbekannte Land. Diese Hügel entlang zogen die Römer den Limes. So viele Geschlechter waren verblutet, seitdem sie die Sonnenaltäre der Kelten hier auf den Hügeln verbrannt hatten, so viele Kämpfe durchgekämpft, dass sie jetzt glauben konnten, die besitzbare Welt sei endgültig umzäunt und gerodet. Aber nicht den Adler und nicht das Kreuz hat die Stadt dort unten im Wappen behalten, sondern das keltische Sonnenrad, die Sonne, die Marnets Äpfel reift. Hier lagerten die Legionen und mit ihnen alle Götter der Welt, städtische und bäuerliche, Judengott und Christengott, Astarte und Isis, Mithras und Orpheus. Hier riss die Wildnis, da, wo jetzt Ernst aus Schmiedtheim bei den Schafen steht, ein Bein vorgestellt, einen Arm in der Hüfte, und ein Zipfelchen seines Schals steht stracks ab, als wehe beständig ein Wind. In dem Tal in seinem Rücken, in der weichen verdunsteten Sonne, sind die Völker gargekocht worden. Norden und Süden, Osten und Westen haben ineinandergebrodelt, aber das Land wurde nichts von alledem und behielt doch von allem etwas. Reiche wie farbige Blasen sind aus dem Land im Rücken des Schäfers Ernst herausgestiegen und fast sofort zerplatzt. Sie hinterließen keinen Limes und keine Triumphbögen und keine Heerstraßen, nur ein paar zersprungene Goldbänder von den Fußknöcheln ihrer Frauen. Aber sie waren so zäh und unausrottbar wie Träume. Und so stolz steht der Schäfer da, so vollkommen gleichmütig, als wüsste er all das und stünde nur darum so da, und vielleicht, wenn er auch nichts davon weiß, steht er wirklich darum so da. Dort, wo die Chaussee in die Autobahn mündet, wurde das Frankenheer gesammelt, als man den Übergang über den Main suchte. Hier ritt der Mönch herauf zwischen Mangolds und Marnets Gehöft, hinein in vollkommene Wildnis, die von hier aus noch keiner betreten hatte, ein zarter Mann auf einem Eselchen, die Brust geschützt mit dem Panzer des Glaubens, gegürtet mit dem Schwert des Heils, und er brachte die Evangelien und die Kunst, Äpfel zu okulieren.

Ernst der Schäfer drehte sich nach dem Radfahrer um. Sein Halstuch wird ihm schon zu heiß, er reißt es ab und wirft es auf das Stoppelfeld wie ein Feldzeichen. Man könnte glauben, das sei eine Geste vor tausend Augenpaaren. Aber nur sein Hündchen Nelli sieht ihn an. Er nimmt seine unnachahmbar spöttisch-hochmütige Haltung wieder auf, aber jetzt mit dem Rücken zur Straße, mit dem Gesicht zur Ebene, dahin, wo der Main in den Rhein fließt. Bei der Mündung liegt Mainz. Das stellte dem Heiligen Römischen Reich die Erzkanzler. Und das flache Land zwischen Mainz und Worms, das ganze Ufer war bedeckt von den Zeltlagern der Kaiserwahlen. Jedes Jahr geschah etwas Neues in diesem Land und jedes Jahr dasselbe: dass die Äpfel reiften und der Wein bei einer sanften vernebelten Sonne und den Mühen und Sorgen der Menschen. Denn den Wein brauchten alle für alles, die Bischöfe und Grundbesitzer, um ihren Kaiser zu wählen, die Mönche und Ritter, um ihre Orden zu gründen, die Kreuzfahrer, um Juden zu verbrennen, vierhundert auf einmal auf dem Platz in Mainz, der noch heute der Brand heißt, die geistlichen und weltlichen Kurfürsten, als das Heilige Reich zerfallen war, aber die Feste der Großen lustig wie nie wurden, die Jakobiner, um die Freiheitsbäume zu umtanzen.

Zwanzig Jahre später stand auf der Mainzer Schiffsbrücke ein alter Soldat Posten. Wie sie an ihm vorüberzogen, die Letzten der Großen Armee, zerlumpt und düster, da fiel ihm ein, wie er hier Posten gestanden hatte, als sie eingezogen waren mit den Trikoloren und mit den Menschenrechten, und er weinte laut auf. Auch dieser Posten wurde zurückgezogen. Es wurde stiller, selbst hierzuland. Auch hierher kamen die Jahre 33 und 48, dünn und bitter, zwei Fädchen geronnenes Blut. Dann kam wieder ein Reich, das man heute das Zweite nennt. Bismarck ließ seine inneren Grenzpfähle ziehen, nicht um das Land herum, sondern quer durch, dass die Preußen ein Stück ins Schlepptau bekamen. Denn die Bewohner waren zwar nicht gerade rebellisch, sie waren nur allzu gleichgültig wie Leute, die allerhand erlebt haben und noch erleben werden.

War es wirklich die Schlacht von Verdun, die die Schulbuben hörten, wenn sie sich hinter Zahlbach auf die Erde legten, oder nur das fortwährende Zittern der Erde unter den Eisenbahnzügen und Märschen der Armeen? Manche von diesen Buben standen später vor den Gerichten. Manche, weil sie sich mit den Soldaten der Okkupationsarmee verbrüdert, manche, weil sie ihnen unter die Schienen Lunten gelegt hatten. Auf dem Gerichtsgebäude wehten die Fahnen der Interalliierten Kommission.

Dass man die Fahnen eingeholt hat und gegen die schwarz-rot-goldene vertauscht, die das Reich damals noch hatte, das ist noch längst keine zehn Jahre her. Selbst die Kinder haben sich neulich daran erinnert, als das hundertvierundvierzigste Infanterie-Regiment zum ersten Mal wieder mit klingendem Spiel über die Brücke zog. War das abends ein Feuerwerk! Ernst konnte es hier oben sehen. Brennende, johlende Stadt hinter dem Fluss! Tausende Hakenkreuzelchen, die sich im Wasser kringelten! Wie die Flämmchen darüberhexten! Als der Strom morgens hinter der Eisenbahnbrücke die Stadt zurückließ, war sein stilles bläuliches Grau doch unvermischt. Wie viele Feldzeichen hat er schon durchgespült, wie viele Fahnen. Ernst pfeift seinem Hündchen, das ihm das Halstuch zwischen den Zähnen bringt.

Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns.

II

Wo der Feldweg in die Wiesbadener Chaussee einmündete, stand ein Selterswasserhäuschen. Franz Marnets Verwandte hatten sich jeden Sommerabend geärgert, dass sie das Häuschen nicht rechtzeitig gepachtet hatten, das durch den großen Verkehr eine wahre Goldgrube geworden war.

Franz war früh von zu Hause abgefahren, weil er am liebsten allein fuhr und nicht gern in das dicke Rudel Radfahrer geriet, das aus den Taunusdörfern jeden Morgen nach den Höchster Farbwerken fuhr. Darum verdross es ihn etwas, dass einer seiner Bekannten, Anton Greiner aus Butzbach, an dem Selterswasserhäuschen auf ihn wartete.

Sofort war die starke einfache Lebensfreude aus seinem Gesicht verschwunden. Es wurde gleichsam eng und trocken. Denselben Franz, der vielleicht bereit war, sein ganzes Leben ohne Wenn und Aber herzugeben, verdross es auch, dass Anton Greiner nie an diesem Häuschen vorbeifahren konnte, ohne etwas springen zu lassen, da er ein nettes, treues Mädel in Höchst hatte, dem er nachher das Schokoladetäfelchen oder das Tütchen Drops zustecken würde. Greiner stand schräg, sodass er den Feldweg im Auge hatte. Was ist denn heut mit ihm los?, dachte Franz, der mit der Zeit ein feines Gefühl für den Ausdruck von Gesichtern bekommen hatte. Er merkte jetzt, dass ihn Greiner aus einem bestimmten Grund ungeduldig erwartete. Greiner sprang auf sein Rad und schloss sich Franz an. Sie eilten sich, um nicht in das Rudel hineinzukommen, das immer dichter wurde, je mehr es bergab ging.

Greiner sagte: »Du, Marnet, heut früh ist was passiert.«

»Wo? Was?«, sagte Franz. Immer, wenn man bei ihm Überraschung vermutete, bekam sein Gesicht einen Ausdruck schläfriger Gleichgültigkeit.

»Marnet«, sagte Greiner. »Heut früh muss was passiert sein.«

»Was schon?«

»Weiß ich doch nicht«, sagte Greiner, »aber passiert ist sicher was.«

Franz sagte: »Ach, du spinnst. Was soll denn schon passiert sein, so früh am Tag.«

»Weiß ich doch nicht, was. Aber wenn ich’s dir sag, kannst du Gift darauf nehmen. Etwas ganz Verrücktes muss passiert sein. So was wie am 30. Juni.«

»Ach, du spinnst ja …«

Franz starrte geradeaus. Wie der Nebel da unten noch dick war! Rasch kam ihnen die Ebene entgegen mit Fabriken und Straßen. Um sie herum ein Gefluch und Geklingel. – Einmal wurden sie in zwei Rudel auseinandergerissen, motorisierte SS, Heinrich und Friedrich Messer aus Butzbach, Greiners Vettern, die auch zur Schicht fuhren.

»Nehmen die dich nicht mit?«, fragte Franz, als sei er auf Antons Bericht nicht weiter neugierig.

»Dürfen die gar nicht, die haben nachher Dienst. Also, du meinst, ich spinne …«

»Aber wieso kommst du denn drauf …«

»Weil ich spinne. Also: Meine Mutter, die muss doch heut wegen der Erbschaft nach Frankfurt zum Rechtsanwalt. Und da ist sie mit ihrer Milch zur Kobisch rüber, weil sie zur Milchablieferung nicht da sein kann. Und der junge Kobisch, der war gestern in Mainz, da bestellt er selbst seinen Wein für die Wirtschaft. Da haben sie gesoffen, und es ist spät geworden, und er hat erst heut ganz früh heimgemacht, da ist er nicht durchgelassen worden bei Gustavsburg.«

»Ach, Anton.«

»Was? Ach? …«

»Da ist doch längst gesperrt, bei Gustavsburg.«

»Franz, der Kobisch ist doch nicht auf den Kopf gefallen. Da wär eine scharfe Kontrolle gewesen, hat der Kobisch gesagt, und Posten auf den Brückenköpfen und dabei ein Nebel. Bevor ich da einen anremple, hat der Kobisch gesagt, und man macht mir die Blutprobe und ich hab Alkohol und adjö mein Führerschein, da setz ich mich lieber zurück ins Goldne Lämmchen in Waisenau und trink noch einen Schoppen.«

Marnet lachte.

»Franz, lach nur. Meinst du, sie hätten ihn zurückgelassen nach Waisenau? Die Brücke war gesperrt. Wenn ichs dir sag, Franz, etwas liegt in der Luft.«

Sie hatten die Abfahrt hinter sich. Rechts und links war die Ebene kahl bis auf die Rübenfelder. Was sollte in der Luft liegen? Nichts als der goldne Sonnenstaub, der über den Häusern von Höchst ergraute und zu Asche wurde. Franz kam es trotzdem vor, ja, er wusste plötzlich, dass Anton Greiner recht hatte. Etwas lag in der Luft.

Sie klingelten sich durch die engen vollen Straßen. Die Mädchen kreischten und schimpften. An den Straßenkreuzungen, an den Werkeingängen gab es einzelne Karbidlampen, die man zufällig heut, vielleicht wegen des Nebels, zum ersten Mal ausprobierte. Ihr hartes und weißes Licht vergipste alle Gesichter. Franz streifte ein Mädchen, das wütend knurrte und den Kopf nach ihm drehte. Es hatte über das linke, dünne, durch einen Unfall entstellte Auge ein Haarbüschel gezogen, sehr in Eile, denn wie ein Fähnchen bezeichnete dieses Haarbüschel die Wunde, anstatt sie zu verdecken. Ihr gesundes, fast schwarzes Auge traf eine Sekunde lang Marnets Gesicht und wurde ein wenig starr. Ihm war es, sie hätte mit einem Blick tief in ihn hineingesehen, bis zu der Stelle, die er sogar vor sich selber verschloss. Und das Gehupe der Feuerwehr auf der Mainseite, das verrückte grelle Karbidlicht, das Geschimpfe der Menschen, die ein Lastauto gegen die Mauer quetschte, war er an all das noch immer nicht gewöhnt, oder war es heut anders als sonst? Er suchte nach einem Wort oder einem Blick, den er danach auslegen konnte. Er war vom Fahrrad abgestiegen und schob es. Er hatte im Gedränge längst beide verloren, Greiner und das Mädchen.

Greiner stieß noch einmal zu ihm. Drüben bei Oppenheim, sagte ihm Greiner über die Schulter; er musste sich dabei so stark seitlich beugen, dass ihm das Rad fast weggerissen wurde. Sie hatten weit auseinanderliegende Eingänge. War die erste Kontrollstelle passiert, dann konnten sie sich auf Stunden nicht wiedersehen.

Marnet witterte und lauerte, aber weder im Umkleideraum noch im Hof noch auf der Treppe konnte er irgendeine Spur, irgendein noch so geringes Zeichen einer anderen Erregung finden als der gewöhnlichen alltäglichen, zwischen dem zweiten und dritten Sirenenzeichen, nur dass es etwas unordentlicher herging, etwas mehr krakeelt wurde – wie jeden Montagmorgen. Franz selbst, während er ganz verzweifelt nach einem noch so geringen Anzeichen einer noch so verschütteten Unruhe suchte, zwischen den Worten und selbst in den Augen, schimpfte genauso wie alle andern, stellte dieselben Fragen nach dem vergangenen Sonntag, machte dieselben Witze, dieselben zornigen harten Griffe beim Umkleiden. Wenn ihn jetzt jemand belauert hätte mit der gleichen Beharrlichkeit wie er die anderen, dieser andere wäre genauso enttäuscht über Franz gewesen. Franz bekam sogar einen Stich von Hass gegen alle diese Menschen, die überhaupt nicht merkten, dass irgendetwas in der Luft lag, oder es gar nicht merken wollten. War überhaupt etwas geschehen? Greiners Erzählungen waren meistens das reine Getratsche. Falls ihn sein Vetter Messer nicht anhielt, bei ihm, Franz, herumzuschnüffeln. Hat er mir denn was anmerken können, dachte Franz. Was hat er denn überhaupt erzählt? Tratsch und nochmals Tratsch. Dass dieser Kobisch sich beim Weinhandel angesoffen hat.

Mit dem letzten Sirenenzeichen rissen seine Gedanken ab. Da er erst kurz im Betrieb war, empfand er immer noch vor dem Arbeitsbeginn eine große Gespanntheit, fast Angst. Und das Anschnurren der Riemen zitterte ihm bis in die Haarwurzeln. Jetzt hatte der Riemen schon sein helles endgültiges Surren. Franz hatte seinen ersten, zweiten, fünfzigsten Griff längst hinter sich, sein Hemd war durchgeschwitzt. Er atmete leicht auf. Seine Gedanken verknüpften sich wieder, wenn auch nur locker, weil er haargenau ausstanzte. Franz hätte nie anders gekonnt als genau arbeiten, mochte auch der Teufel sein Arbeitgeber sein.

Sie waren hier oben fünfundzwanzig. Wartete Franz auch hier in der Stanzerei gequält auf ein Zeichen von Erregung, es hätte ihn seiner Natur gemäß doch auch heute verdrossen, wenn von seinen Schablonen eine ungenau ausgefallen wäre. Nicht nur wegen der Beanstandung, die ihm schaden konnte, sondern einfach wegen der Schablonen selbst, die genau sein mussten, selbst heute. Dabei dachte er: Oppenheim, hat der Anton gesagt, das ist doch das Städtchen zwischen Mainz und Worms. Was soll denn ausgerechnet dort Besonderes passieren?

Fritz Messer, der Vetter Anton Greiners, zugleich hier oben sein Vorarbeiter, trat kurz neben ihn, trat zum Nächsten. Wenn er sein Motorrad eingestellt, seine Tracht im Spind hatte, war er ein Stanzer unter Stanzern. Bis auf den vielleicht auch nur für Franz spürbaren Beiklang in seiner Stimme, als er Weigand rief. Weigand war ein älteres haariges Männchen, mit dem Spitznamen Holzklötzchen. Jetzt war es gut, dass sein Stimmchen so hell und dünn schnurrte wie der Riemen. Wie es den Abfallstaub aufsaugte, sagte es, ohne den Mund zu bewegen: »Weißt du schon, im KZ? In Westhofen.« Franz sah von oben herunter in den klaren, fast reinen Augen des Holzklötzchens jene winzigen hellen Pünktchen, auf die er so furchtbar gewartet hatte: als brenne tief innen im Menschen ein Feuer und als sprühten nur die letzten Fünkchen aus den Augen heraus. Franz dachte: endlich. Das Holzklötzchen war schon beim Nächsten.

Franz verschob behutsam sein Stück, setzte auf den markierten Strichen an, drückte den Hebel herunter, noch mal, noch mal und noch mal, endlich, endlich und noch mal endlich. Wenn er nur jetzt einfach weglaufen könnte zu seinem Freund Hermann. Plötzlich setzten seine Gedanken wieder ab. Irgendetwas an dieser Nachricht ging ihn noch ganz besonders an. Irgendetwas, was in der Nachricht enthalten war, wühlte ihn ganz besonders auf, hatte sich in ihm festgehakt und nagte, ohne dass er noch wusste, warum und was. Also ein Lageraufstand, sagte er sich, vielleicht ein ganz großer Ausbruch. Da fiel ihm ein, was ihn daran besonders betraf: Georg … Was für ein Unsinn, dachte er fast sofort, bei einer solchen Nachricht an Georg zu denken. Georg war vielleicht nicht mehr dort. Oder, was ebenso möglich war, er war tot. Aber in seine eigne Stimme mischte sich Georgs Stimme, von fern und spöttisch: Nein, Franz, wenn was passiert in Westhofen, dann bin ich nicht tot.

Er hatte wirklich die letzten Jahre geglaubt, an Georg zu denken wie an alle übrigen Gefangenen! Wie an irgendeinen von tausend, an die man mit Wut und Trauer denkt. Er hatte wirklich geglaubt, ihn und Georg verknüpfe längst schon nichts anderes mehr als das feste Band einer gemeinsamen Sache, einer unter den Sternen der gleichen Hoffnung verbrachten Jugend. Nicht mehr das andre, schmerzhafte, tief ins Fleisch einschneidende Band, an dem sie beide damals gezerrt hatten. Diese alten Geschichten seien vergessen, hatte er sich fest eingebildet. Georg war doch ein anderer geworden, wie auch er, Franz, ein anderer geworden war … Er erwischte auf eine Sekunde das Gesicht seines Nebenmanns. Hatte das Holzklötzchen dem auch etwas gesagt? War es denn möglich, dass der dann noch weiterstanzte, behutsam Stück für Stück einlegte? Wenn dort wirklich etwas geschehen ist, dachte Franz, dann ist der Georg dabei. Und dann dachte er wieder: wahrscheinlich ist überhaupt nichts geschehen, und auch das Holzklötzchen hat nur gequatscht.

Als er in der Mittagspause in die Kantine kam und sich sein Helles bestellte (denn er aß nur abends mit seinen Verwandten warm, von denen er Brot und Wurst und Schmalz für den Mittag bezog, weil er sich einen Anzug zusammensparen wollte nach der langen Arbeitslosigkeit; aber auf wie lange mochte ihm denn vergönnt sein, diesen Anzug überhaupt zu tragen, und wenn es langte, eine Jacke mit Reißverschluss), da hieß es an der Theke: Das Holzklötzchen ist verhaftet. Einer sagte: Wegen gestern. Da war es stark besoffen und hat allerhand zum Besten gegeben … Nein deshalb nicht, hieß es, es muss etwas andres sein … Was andres? Franz zahlte und lehnte sich gegen die Theke. Weil plötzlich alle ein wenig leiser sprachen, gab es ein sonderbares Gezisch: Holzklötzchen, Holzklötzchen … Hat sich die Zunge verbrannt, sagte jemand zu Franz, sein Nebenmann Felix, ein Freund Messers. Er sah Franz scharf an. Auf seinem regelmäßigen, beinahe schönen Gesicht lag ein Ausdruck von Belustigung. Seine starken blauen Augen waren für ein junges Gesicht zu kalt. »Woran verbrannt?«, fragte Franz. Felix zuckte mit Schultern und Brauen, er sah aus, als unterdrücke er ein Lachen. »Wenn ich nur jetzt sofort zu Hermann könnte«, dachte Franz wieder. Aber es gab keine Möglichkeit, Hermann vor Abend zu sprechen. Plötzlich entdeckte er Anton Greiner, der sich zur Theke durchzwängte. Anton musste sich unter irgendeinem Vorwand eine Passagiergenehmigung verschafft haben, weil er sonst gar nicht in diesen Bau, nicht einmal in die Kantine hereinkam. Warum sucht er immer gerade mich, dachte Franz, warum will er immer gerade bei mir erzählen?

Anton fasste ihn am Arm, ließ aber sofort wieder los, als ob in dieser Bewegung etwas Auffälliges liege, stellte sich wieder zu Felix und goß sein Helles herunter. Dann kam er zu Franz zurück. Er hat doch brave Augen, dachte Franz. Vielleicht ist er ein bisschen beschränkt, aber doch aufrichtig. Und zu mir zieht es ihn, wie es mich zum Hermann zieht … Anton fasste Franz untern Arm und erzählte, wobei ihm der Schluss der Mittagspause, der allgemeine Aufbruch zustattenkam: »Drüben am Rhein in Westhofen sind welche durchgegangen, eine Art Strafkolonne. Mein Vetter erfährt das doch. Und sie sollen die meisten schon wieder geschnappt haben. Das ist alles.«

III

Wie lange er auch über die Flucht gegrübelt hatte, allein und mit Wallau, wie viele winzige Einzelheiten er auch erwogen hatte und auch den gewaltigen Ablauf eines neuen Daseins, in den ersten Minuten nach der Flucht war er nur ein Tier, das in die Wildnis ausbricht, die sein Leben ist, und Blut und Haare kleben noch an der Falle. Das Geheul der Sirenen drang seit der Entdeckung der Flucht kilometerweit über das Land und weckte ringsum die kleinen Dörfer, die der dicke Herbstnebel einwickelte. Dieser Nebel dämpfte alles, sogar die mächtigen Scheinwerfer, die sonst die schwärzeste Nacht aufgeblendet hatten. Jetzt gegen sechs Uhr früh erstickten sie in dem watteartigen Nebel, den sie kaum gelblich färbten.

Georg duckte sich tiefer, obwohl der Boden unter ihm nachgab. Er konnte versinken, bevor er von dieser Stelle wegdurfte. Das dürre Gestrüpp sträubte sich ihm in den Fingern, die blutlos geworden waren und glitschig und eiskalt. Ihm schien es, als sänke er rascher und tiefer, er hätte nach seinem Gefühl bereits verschluckt sein müssen. Obwohl er geflohen war, um dem sichern Tod zu entrinnen – kein Zweifel, dass sie ihn und die andern sechs in den nächsten Tagen zugrunde gerichtet hätten – erschien ihm der Tod im Sumpf ganz einfach und ohne Schrecken. Als sei er ein andrer Tod als der, vor dem er geflohen sei, ein Tod in der Wildnis, ganz frei, nicht von Menschenhand.

Zwei Meter über ihm auf dem Weidendamm rannten die Posten mit den Hunden. Hunde und Posten waren besessen von dem Sirenengeheul und dem dicken nassen Nebel. Georgs Haare sträubten sich und die Härchen auf seiner Haut. Er hörte jemand so nahe fluchen, dass er sogar die Stimme erkannte: Mannsfeld. Der Schlag mit dem Spaten, den ihm vorhin Wallau über den Kopf gegeben hatte, tat ihm also schon nicht mehr weh. Georg ließ das Gestrüpp los. Er rutschte noch tiefer. Jetzt kam er überhaupt erst mit beiden Füßen auf den Vorsprung, der einem an dieser Stelle Halt gab. Das hatte er damals auch gewusst, als er noch die Kraft gehabt hatte, alles mit Wallau vorauszuberechnen.

Plötzlich fing etwas Neues an. Erst einen Augenblick später merkte er, dass gar nichts angefangen hatte, sondern etwas aufgehört: die Sirene. Das war das Neue, die Stille, in der man die scharf voneinander abgesetzten Pfiffe hörte und die Kommandos vom Lager her und von der Außenbaracke. Die Posten über ihm liefen hinter den Hunden zum äußersten Ende des Weidendamms. Von der Außenbaracke laufen die Hunde gegen den Weidendamm, ein dünner Knall und dann noch einer, ein Aufklatschen, und das harte Gebell der Hunde schlägt über einem anderen dünnen Gebell zusammen, das gar nicht dagegen aufkam und gar kein Hund sein kann, aber auch keine menschliche Stimme, und wahrscheinlich hat der Mensch, den sie jetzt abschleppen, auch nichts Menschliches mehr an sich. Sicher Albert, dachte Georg. Es gibt einen Grad von Wirklichkeit, der einen glauben macht, dass man träume, obwohl man nie weniger geträumt hat. Den hätten sie, dachte Georg, wie man im Traum denkt, den hätten sie. Wirklich konnte das ja nicht sein, dass sie schon jetzt nur noch sechs waren.

Der Nebel war noch immer zum Schneiden dick. Zwei Lichtchen glänzten auf, weit jenseits der Landstraße – gleich hinter den Binsen, hätte man meinen können. Diese einzelnen scharfen Pünktchen drangen leichter durch den Nebel als die flächigen Scheinwerfer. Nach und nach gingen die Lichter an in den Bauernstuben, die Dörfer wachten auf. Bald war der Kreis aus Lichtchen geschlossen. So was kann es ja gar nicht geben, dachte Georg, das ist zusammengeträumt. Er hatte jetzt die größte Lust, in die Knie zu gehn. Wozu sich in die ganze Jagd einlassen? Eine Kniebeuge, und es gluckst, und alles ist fertig … Werd mal zuerst ruhig, hatte Wallau immer gesagt. Wahrscheinlich hockte Wallau gar nicht weit weg in irgendeinem Weidenbusch. Wenn das der Wallau einem gesagt hatte: werd mal zuerst ruhig – war man immer schon ruhig geworden.

Georg griff ins Gestrüpp. Er kroch langsam seitlich. Er war jetzt vielleicht noch sechs Meter von dem letzten Strunk weg. Plötzlich, in einer grellen, in nichts mehr traumhaften Einsicht, schüttelte ihn ein solcher Anfall von Angst, dass er einfach hängen blieb auf dem Außenabhang, den Bauch platt auf der Erde. Ebenso plötzlich war es vorbei, wie es gekommen war.

Er kroch bis zum Strunk. Die Sirene heulte zum zweiten Mal los. Sie drang gewiss weit über das rechte Rheinufer. Georg drückte sein Gesicht in die Erde. Ruhig, ruhig, sagte ihm Wallau über die Schulter. Georg schnaufte mal, drehte den Kopf. Die Lichter waren schon alle ausgegangen. Der Nebel war zart geworden und durchsichtig, das reine Goldgespinst. Über die Landstraße sausten drei Motorradlampen, raketenartig. Das Geheul der Sirene schien anzuschwellen, obwohl es nur ständig ab- und zunahm, ein wildes Einbohren in alle Gehirne, stundenweit. Georg drückte sein Gesicht wieder in die Erde, weil sie über ihm auf dem Damm zurückliefen. Er schielte bloß aus den Augenwinkeln. Die Scheinwerfer hatten nichts mehr zum Greifen, sie wurden ganz matt im Tagesgrauen. Wenn nur jetzt nicht der Nebel gleich stieg. Auf einmal kletterten drei den äußern Abhang herunter. Sie waren keine zehn Meter weit. Georg erkannte wieder Mannsfelds Stimme. Er erkannte Ibst, an seinen Flüchen, nicht an der Stimme, die war vor Wut ganz dünn, eine Weiberstimme. Die dritte Stimme, erschreckend dicht – man konnte ihm, Georg, auf den Kopf treten – war Meißners Stimme, die immer nachts in die Baracke kam, die Einzelnen aufrief, ihn, Georg, zuletzt vor zwei Nächten. Auch jetzt schlug Meißner nach jedem Wort die Luft mit etwas Scharfem. Georg spürte das feine Windchen. Hier unten rum – gradaus – wirds bald – dalli.

Ein zweiter Anfall von Angst, die Faust, die einem das Herz zusammendrückt. Jetzt nur kein Mensch sein, jetzt Wurzel schlagen, ein Weidenstamm unter Weidenstämmen, jetzt Rinde bekommen und Zweige statt Arme. Meißner stieg in das Gelände hinunter und fing wie verrückt zu brüllen an. Plötzlich brach er ab. Jetzt sieht er mich, dachte Georg. Er war auf einmal vollständig ruhig, keine Spur von Angst mehr, das ist das Ende, lebt alle wohl.

Meißner stieg tiefer hinunter zu den anderen. Sie wateten jetzt in dem Gelände herum zwischen Damm und Straße. Georg war für den Augenblick dadurch gerettet, dass er viel näher war, als sie glaubten. Wäre er einfach auf und davon, sie hätten ihn jetzt im Gelände geschnappt. Sonderbar genug, dass er sich also doch, wild und besinnungslos, eisern an seinen eigenen Plan gehalten hatte! Eigene Pläne, die man sich aufstellt in den schlaflosen Nächten, was sie für eine Macht behalten über die Stunde, wenn alles Planen zunichte wird; dass einem dann der Gedanke kommt, ein andrer hätte für einen geplant. Aber auch dieser andre war ich.

Die Sirene stockte zum zweiten Mal. Georg kroch seitlich, rutschte mit einem Fuß aus. Eine Sumpfschwalbe erschrak so heftig, dass Georg vor Schreck das Gestrüpp losließ. Die Sumpfschwalbe zuckte in die Binsen hinein, das gab ein hartes Rascheln. Georg horchte, gewiss horchten jetzt alle. Warum muss man gerade ein Mensch sein, und wenn schon einer, warum gerade ich, Georg. Alle Binsen hatten sich wieder aufgestellt, niemand kam, schließlich war ja auch nichts geschehen, als dass ein Vogel im Sumpf herumgezuckt hatte. Georg kam trotzdem nicht weiter, wund die Knie, ausgeleiert die Arme. Plötzlich erblickte er im Gestrüpp Wallaus kleines bleiches spitznasiges Gesicht … Plötzlich war das Gestrüpp übersät mit Wallaugesichtern.

Das ging vorbei. Er wurde fast ruhig. Er dachte kalt: »Wallau und Füllgrabe und ich kommen durch. Wir drei sind die Besten. Beutler haben sie. Belloni kommt vielleicht auch durch. Aldinger ist zu alt. Pelzer ist zu weich.« Als er sich jetzt auf den Rücken drehte, war es schon Tag. Der Nebel war gestiegen. Goldnes kühles Herbstlicht lag über dem Land, das man hätte friedlich nennen können. Georg erkannte jetzt etwa zwanzig Meter weg die zwei großen flachen, an den Rändern weißen Steine. Vor dem Krieg war der Damm einmal der Fahrweg für ein entlegenes Gehöft gewesen, das längst abgerissen war oder abgebrannt. Damals hatte man vielleicht das Gelände angestochen, das inzwischen längst versoffen war, samt den Abkürzungswegen zwischen Damm und Landstraße. Damals hatte man wohl auch die Steine vom Rhein heraufgeschleppt. Zwischen den Steinen gab es noch feste Krumen, längst hatten sich die Binsen darübergestellt. Eine Art Hohlweg war entstanden, den man auf dem Bauch durchkriechen konnte.

Die paar Meter bis zu dem ersten grauen weißgeränderten Stein waren das böseste Stück, fast ungedeckt. Georg biss sich in dem Gestrüpp fest, ließ erst mit einer Hand los, dann mit der andern. Wie die Zweige zurückschnellten, gab es ein feines Schürfen, ein Vogel zuckte auf, vielleicht schon wieder derselbe.

Wie er dann in den Binsen hockte auf dem zweiten Stein, wars ihm zumut, als sei er plötzlich dorthin geraten und ungeheuer rasch, wie mit Engelsflügeln. Hätte er nur jetzt nicht so gefroren.

IV

Dass diese unerträgliche Wirklichkeit ein Traum sein müsse, aus dem man alsbald erwache, ja, dass dieser ganze Spuk nicht einmal ein schlechter Traum sei, sondern nur die Erinnerung an einen schlechten Traum, dieses Gefühl beherrschte Fahrenberg, den Lagerkommandanten, lange nachdem ihm die Meldung schon erstattet war. Fahrenberg hatte zwar scheinbar kaltblütig alle Maßnahmen getroffen, die eine solche Meldung erforderte. Aber eigentlich war es nicht Fahrenberg gewesen, denn auch der furchtbarste Traum erfordert keine Maßnahmen, sondern irgendein andrer hatte sie für ihn ausgeknobelt, für einen Fall, der nie eintreten durfte.

Als die Sirene eine Sekunde nach seinem Befehl losheulte, trat er vorsichtig über eine elektrische Verlängerungsschnur – ein Traumhindernis – weg ans Fenster. Warum heulte die Sirene? Draußen vor dem Fenster war nichts: die rechte Aussicht für eine nicht vorhandene Zeit.

Kein Gedanke daran, dass dieses Nichts immerhin etwas war: dicker Nebel. Fahrenberg wachte dadurch auf, dass Bunsen an einer der Schnüre hängen blieb, die aus dem Büroraum in den Schlafraum gezogen waren. Er fing plötzlich zu brüllen an, selbstverständlich nicht gegen Bunsen, sondern gegen Zillich, der gerade Meldung erstattet hatte. Aber noch brüllte Fahrenberg nicht, weil er die Meldung verstand, die Flucht von sieben Schutzhäftlingen auf einmal, sondern um einen Alpdruck loszuwerden. Bunsen, ein ein Meter fünfundachtzig hoher, an Gesicht und Wuchs auffällig schöner Mensch, drehte sich nochmals um, sagte: »Entschuldigen«, und bückte sich, um den Stöpsel wieder in die Kontaktbüchse zu stecken. Fahrenberg hatte eine gewisse Vorliebe für elektrische Leitungen und Telefonanlagen. In diesen beiden Räumen gab es eine Menge Drähte und auswechselbare Kontakte und auch häufig Reparaturen und Montagen. Zufällig war die letzte Woche ein Schutzhäftling namens Dietrich aus Fulda entlassen worden, Elektrotechniker von Beruf, gerade nach Fertigstellung der neuen Anlage, die sich nachher als ziemlich vertrackt erwies. Bunsen wartete, nur in den Augen unverkennbare, aber in keinerlei Mienenspiel nachweisbare Belustigung, bis sich Fahrenberg ausgebrüllt hatte. Dann ging er. Fahrenberg und Zillich blieben allein …

Bunsen zündete sich auf der äußeren Schwelle eine Zigarette an, machte aber bloß einen einzigen Zug, dann schmiss er sie weg. Er hatte Nachturlaub gehabt, eigentlich ging sein Urlaub erst in einer halben Stunde zu Ende, sein zukünftiger Schwager hatte ihn mit dem Auto aus Wiesbaden herübergebracht.

Zwischen der Kommandantenbaracke, einem festen Gebäude aus Ziegelsteinen, und der Baracke III, auf deren Längsseite ein paar Platanen gepflanzt waren, lag eine Art Platz, den sie unter sich den Tanzplatz nannten. Hier im Freien bohrte sich einem die Sirene erst richtig ins Hirn. Blöder Nebel, dachte Bunsen.

Seine Leute waren angetreten. »Braunewell! Nageln Sie die Karte an den Baum da. Also: Beitreten! Herhören!« Bunsen schlug die Zirkelspitze in den roten Punkt »Lager Westhofen«. Er beschrieb drei konzentrische Kreise. »Jetzt ist es sechs Uhr fünf. Fünf Uhr fünfundvierzig war der Ausbruch. Bis sechs Uhr zwanzig kann ein Mensch bei äußerster Geschwindigkeit bis zu diesem Punkt kommen. Steckt also jetzt vermutlich zwischen diesem und diesem Kreis. Also – Braunewell! Abriegeln die Straße zwischen den Dörfern Botzenbach und Oberreichenbach. Meiling! Abriegeln zwischen Unterreichenbach und Kalheim. Nichts durchlassen! Untereinander Verbindung halten und mit mir. Durchkämmen können wir nicht. Verstärkung wird erst in fünfzehn Minuten da sein. – Willich! Unser äußerster Kreis berührt an dieser Stelle das rechte Rheinufer. Also: abriegeln das Stück zwischen Fähre und Liebacher Au. Diesen Schnittpunkt besetzen! Fähre besetzen! Posten auf die Liebacher Au!«

Noch war der Nebel so dick, dass die Ziffern auf seiner Armbanduhr leuchteten. Er hörte schon das Hupen der motorisierten SS, die das Lager verlassen hatte. Jetzt war die Reichenbacher Straße gesperrt. Er trat dicht vor die Karte. Jetzt stand der Posten schon auf der Liebacher Au. Was man tun konnte für die ersten Minuten, war getan. Fahrenberg hatte inzwischen die Meldung an die Zentrale durchgegeben. Unbequem musste dem Alten jetzt die Haut sitzen, dem Eroberer von Seeligenstadt. Seine eigne dagegen – Bunsen spürte, wie gut sie ihm saß, seine Haut, wie auf Maß gemacht vom Schneidermeister Herrgott! Und das Glück wieder! Die Schweinerei passiert während seiner Abwesenheit, aber er kommt ein klein wenig zu früh, gerade recht, um mitzumachen. Er horchte durch das Sirenengejaul nach der Kommandantenbaracke, ob der Alte seine zweite Portion Wut ausgetobt hatte.

Zillich war mit seinem Herrn allein. Er behielt ihn im Auge, während er am Telefon herumstöpselte – direkter Anschluss an