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Copyright deutsche Erstausgabe
© by Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2013
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Umschlagillustration: Tina Schulte
Typografie Umschlag: Gunta Lauck
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92592-0

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Und tschüss, Berlin!

Warum sind die coolsten Lieder eigentlich immer auf Englisch? Nicht dass ich kein Englisch könnte. Was love bedeutet, weiß ich, oder you oder the end. Beim Singen geht es aber nicht darum, dass man jedes Wort versteht, oder? Es geht um … ja, um was eigentlich? Mal nachdenken …

Ich starre aus dem Fenster meines Zimmers in den Hinterhof. Die Junisonne knallt auf die wenigen Bäume mit den schlaff herabhängenden Blättern und spiegelt sich glitzernd in den Balkonen der Wohnblocks.

Von unten dringt das Kreischen kleiner Nackedeis herauf. Ein paar Mütter haben ein Planschbecken nach draußen gestellt und sitzen schwatzend mit Erdbeerkuchen auf Papptellern drum herum.

Das ist nach Meinung vieler Leute das Beste, was man bei dieser Backofenhitze machen kann: sich irgendeine Wasserstelle suchen, um sich abzukühlen.

Ich sehe das anders. Man kann nämlich auch in seinem Zimmer bleiben, die Jalousien herunterlassen und auf die nächste Eiszeit warten.

Oder sie sich mit einer Familienpackung Stracciatella-Eis ein Stück näher holen.

Mama, Papa und mein kleiner Bruder Theo sind beim Großeinkauf.

Meine Schwester Tony, mit der ich mir das Zimmer teile, hat sich zum Telefonieren ins Klo eingeschlossen. Wie immer.

Tony heißt eigentlich Antonia. Aber kein Mensch nennt sie so. Nur Mama, wenn sie sauer auf sie ist.

Tony öffnet nicht einmal, wenn Mama ruft: „Drei Wochen Internetverbot, wenn du nicht sofort rauskommst, Antonia!“ Auch nicht, wenn jemand todesdringend pinkeln muss. So wie ich letzte Woche. Da bin ich die zehn Meter durch den Hausflur zu Pia gelaufen, meiner allerbesten Freundin, die mit ihrer Mutter auf derselben Etage wohnt.

Ein Gutes hat es, wenn Tony stundenlang ins Handy quasselt: Dann kann ich ihr Karaokeprogramm benutzen.

Ich springe auf die Füße und stelle die halb leere Eisschachtel auf meinen Schreibtisch.

Das Rollo ist so weit heruntergelassen, dass das Tageslicht nur noch durch die Ritzen scheint. Mama würde ausflippen und mich Stubenhocker oder Schattenpflanze nennen. Ständig zählt sie mir auf, welche Mädchen aus der Nachbarschaft sie mal wieder beim Radeln zum Freibad gesehen hat. So fröööhlich sahen die alle aus.

Ich verdrehe dann die Augen und versuche schnell aus dem Dunstkreis meiner ebenso fröööhlichen Mama zu kommen, damit ich mich nicht anstecke an ihrer Fröööhlichkeit.

Fast gefällt mir Mama besser, wenn sie wieder mal über das ach so graue Berlin jammert. Sie sagt dann zwar, sie würde am liebsten mit ihren Farbeimern durchs Viertel rennen und es verschönern, aber tatsächlich hockt sie nur im Wohnzimmer und hat nicht einmal Lust, mit mir zu schimpfen oder mir alberne Vorschläge zu machen.

Aber von dieser Stimmung ist Mama zurzeit meilenweit entfernt. Das liegt daran, dass wir seit drei Monaten stinkreich sind.

Echt.

Wir haben so viel Geld wie Dagobert Duck.

Die meisten Leute flunkern nur, wenn sie so was sagen. Aber ich nicht. Ich schwöre.

Alles begann damit, dass wir an einem Freitagabend Papas Lieblingssendung guckten. Sogar Tony war dabei, obwohl sie Quizshows normalerweise spießig findet.

Es geht in der Sendung um einen Batzen Geld, den man bekommt, wenn man 15 Fragen richtig beantwortet. Papa sagt immer „Pst“ und „Ruhe jetzt mal“, weil er sich auf die Fragen konzentriert. Aber es war doch Mama, die bei der 250000-Euro-Frage wusste, dass ein gemeinsames Nachbarland von Norwegen und Nordkorea Russland ist, während der Kandidat danebenlag und leer ausging.

Wir alle starrten Mama an, die nur die Schultern zuckte. „War doch ganz leicht“, sagte sie.

Nun ja, ich könnte ehrlich gesagt kaum eines der drei Länder ohne längere Suche auf dem Globus zeigen.

Papa sicher schon. Trotzdem machte er große Augen, genau wie Theo.

„Bewirb dich, Silke“, sagte Papa und Theo hüpfte auf dem Sofa herum und schrie: „Wir werden Millionär!“

Tony und ich hielten uns zurück.

Erstens glaubten wir nicht, dass Mama eine Chance hatte, überhaupt ins Fernsehen zu kommen.

Zweitens hielten wir es für oberpeinlich, falls es ihr doch gelingen sollte. Alle unsere Freunde und Bekannten würden das mitkriegen. Bestimmt blamierte Mama sich zu Tode. Und uns gleich mit.

Tja, was soll ich sagen … Mama bewarb sich nicht nur, sie wurde auch genommen und saß schon drei Wochen später auf dem Kandidatenstuhl.

Als bekannt wurde, dass sie zur Aufzeichnung der Sendung reisen würde, hockten Tony und ich uns vor den PC und gaben Adoption ein. Wir hielten es für das Beste, wenn wir mit dieser Familie nicht mehr in Verbindung gebracht wurden.

Aber das klappte nicht und wir mussten da durch.

Theo und Papa klebten mit den Nasen am Bildschirm, als die Sendung ausgestrahlt wurde.

Tony und ich saßen auf dem Sofa, jede ein Kissen in den Armen, hinter denen wir uns verstecken wollten, wenn es mit dem Fremdschämen gar nicht mehr auszuhalten sein sollte.

Aber Mama kam ziemlich cool rüber und lachte mit dem Moderator, als säße sie mit Papa am Frühstückstisch und nicht in einem Fernsehstudio mit lauter Kameras und Scheinwerfern. Sie war vorher extra beim Friseur und hatte sich neue Strähnen machen lassen, die im Studiolicht wie Sonnenreflexe schimmerten. Und sie trug ihr Lieblingsoutfit für „feine Anlässe“: Jeans, Stiefel und weiße Longbluse mit kurzer hellblauer Weste. So weit ganz in Ordnung für ihr Alter. Toll war, wie die Visagistin sie geschminkt hatte: Ihre Haut – morgens sonst verknittert – wirkte glatt und rosig wie ein Babypopo und ihre blauen Augen strahlten wie Sterne.

Aber das Beste war natürlich, dass sie am Ende 125000 Euro mit nach Hause brachte.

Tony überlegt seitdem, ob für sie jetzt vielleicht ein USA-Aufenthalt möglich ist.

Ich fantasiere von einem neuen Computer. Mit Tonys alter Kiste, die sie mir vor einem Jahr vererbt hat, ist nichts mehr anzufangen. Wenn ich online gehen will, muss ich sie eine Stunde vorher einschalten, damit sie genügend Zeit hat, hochzufahren.

Als wir Mama feierlich unsere Wunschlisten überreichten, lächelte sie nur geheimnisvoll.

Nun, wenn das bedeutet, dass sie uns überraschen will – wir sind bereit.

Theo ist sich bis heute sicher, dass wir von dem vielen Geld eine Mondrakete kaufen. Oder ein U-Boot, um gegen gefährliche Killerkraken zu kämpfen.

Typisch Theo. Ständig hat er die verrücktesten Ideen und kein Mensch kann sie ihm ausreden.

Letzte Woche hat er mir sämtliche Eierkartons gemopst, die ich unter meinem Bett gehortet hatte. Damit wollte ich mir einen Schallschutz für die Zimmertür machen, damit keiner mitbekommt, wenn ich singe. Ich habe mal gelesen, dass manche Musiker ihre Proberäume damit vollkleben.

Aber als ich loslegen wollte, waren die Kartons weg. Ich konnte das gar nicht fassen. Wer klaut schon so was?

Ich fand sie schließlich in Theos Zimmer. Er hat damit die Alpen nachgebaut. In die ließ er mit Krawumm seinen ferngesteuerten Hubschrauber krachen.

Natürlich war Papa stinksauer, weil dabei die Rotorblätter kaputtgegangen sind, aber irgendwie ist man von Theo ja nichts anderes gewohnt.

Einmal hat er seine Carrera-Bahn vom Schrank bis unter das Hochbett aufgestellt, nur mit Besenstielen und Kisten abgestützt. Dann hat er seinen großen Muldenkipper runtergejagt.

Papa hat geflucht, weil er den Kühlergrill nicht mit Heißkleber reparieren konnte. Aber danach hat er sich von Theo den halben Nachmittag die Konstruktion zeigen lassen.

Klar, dass Papa irgendwie stolz auf ihn ist. In seinem Architektenbüro macht er selbst ständig Pläne für Treppen, Balkone und Häuser. Keine Frage also, von wem Theo seinen Tüftel-Tick hat.

Wenn ich keinen PC bekommen sollte, hätte ich am allerliebsten einen Hund. Den wünsche ich mir schon lange. Einen Labrador oder Golden Retriever – die finde ich so niedlich. Ich würde ihm Kunststücke beibringen und vielleicht hätten wir bald einen Wunderhund?

„Die Wohnung ist zu klein. So ein Tier braucht viel Auslauf“, sagt Mama immer. „Außerdem hast du Rex.“

Na toll.

Familienkater Rex kauert seit einer halben Stunde auf meinem Herzkissen aus lila Samt und guckt mich angriffslustig an. Sein buschiger Schwanz wedelt hin und her, sein Mäulchen ähnelt dem Mund einer alten Dame mit Runzelfalten an der Oberlippe. Die Fellzeichnung über seinen gelben Augen erinnert an Brauen, die hochgezogen sind.

Ich kenne kein Tier, das so eingebildet aussieht wie Rex. Dummerweise passt das zu seinem Charakter.

Süß ist anders.

Wie soll ich singen, wenn er mich die ganze Zeit anstarrt?

„Komm, Rex. Leckerli.“ Ich reibe Zeigefinger und Daumen aneinander.

Rex streckt sich und wirft einen gierigen Blick auf mein Stracciatella-Eis.

Nichts da. Das gehört mir.

Ich schnalze mit der Zunge. Rex folgt mir gemächlich zur Tür. Da soll einer sagen, dass Katzen intelligente Tiere sind. Ein Hund hätte den Trick durchschaut, hundertpro.

Ich muss erst die Matratze wegschieben, die ich statt der Eierkartons als Schallschutz benutze, bevor ich die Tür öffnen kann. Mit dem Fuß schiebe ich Rex nach draußen – schwups.

In der Küche raschelt es, in Theos Zimmer klappert was und aus dem Klo höre ich, wie jemand sagt: „Wunderbar. Ich freue mich.“

Nanu? Das ist gar nicht Tonys Stimme, sondern die von Mama. Seit wann sind die denn zurück? Und warum schließt sie sich auch beim Telefonieren ein? Wird das jetzt ein Familienritual?

„Wir kommen morgen vorbei. Auf Wiederhören.“

Die Klotür fliegt auf und Mama stolpert fast über Rex, der zu seiner Futterschüssel stolziert.

„Aus und sitz“, sagt Mama. Ihr Lieblingswitz, wenn es um den Kater geht. Als würde eine Katze darauf hören.

Rex dreht beleidigt ab und starrt die weiße Wand an.

Mama läuft in die Küche, juchzt und freut sich wie ein Schnitzel. Ich höre, wie sie lachend mit Papa Jimi einen Tanz aufführt.

Als ich noch im Kindergarten war, habe ich mich irgendwann darüber gewundert, warum andere Väter Andreas oder Markus, Frank oder Stefan heißen und nur meiner so einen komischen Vornamen hat. Mama hat mir erklärt, dass das an meinen Großeltern liegt. „Die waren früher ganz wilde Leutchen. Echte Hippies.“ Als Papa geboren wurde, standen sie beide auf einen abgedrehten Gitarristen namens Jimi. So kam Papa nach einem gigantischen Open-Air-Konzert mit Blumen und Friedensgesängen und bunten Wallekleidern zu seinem Namen.

Lustigerweise passt das kein bisschen zu seinem Temperament. Wenn mein Vater sich freut, räuspert er sich vielleicht und sagt: „Hui.“ Aber das ist schon ein wahrer Gefühlsausbruch. Deshalb kann ich mir seinen Gesichtsausdruck gerade sehr gut vorstellen.

Keine Ahnung, wie meine Eltern es so lange miteinander ausgehalten haben.

Mir ist das natürlich recht.

Pias Eltern beispielsweise haben sich vor ein paar Jahren scheiden lassen. Seitdem wohnt sie nur noch mit ihrer Mama zusammen. Pia hat damals lange ganz bedröppelt geguckt.

Worüber freut sich Mama bloß?

Sie strahlt mich an, als ich in die Küche komme.

Hilfe, wo ist meine Sonnenbrille?

„Familienkonferenz“, sagt Mama. „Holst du bitte deine Geschwister, Frida? Wir müssen etwas Wichtiges besprechen.“

Na, da bin ich aber gespannt.

Wo ist Tony abgeblieben?

Ich finde sie im Wohnzimmer auf dem Sofa mit einem Modeprospekt aus der Tageszeitung. Tony schlägt die Seiten um, dass es knallt.

„In so was passt doch kein Mensch rein“, zischt sie.

Auweia. Vor einer Woche hat Tony sich wieder einmal auf Diät gesetzt. Weil sie angeblich nie etwas zum Anziehen findet. Dabei kriegt sie ihren vollgestopften Schrank kaum noch zu.

Sie knüllt den Prospekt zusammen, wirft ihn hinter sich und fixiert mich mit Mörderblick.

Kann ich etwas dafür, dass sie sich zu fett findet?

Ich richte ihr aus, dass Mama und Papa warten, und gehe zu Theo. Der bastelt mit rot glühenden Ohren in seinem Zimmer herum.

Gemeinsam spazieren wir in die Küche. Ich setze mich auf meinen Stammplatz zwischen Tony und Theo. Alles schön geordnet bei uns. Tony ist mit 15 die Älteste, ich hänge mit zwölf in der Mitte und Theo ist das Küken mit gerade mal sechs Jahren.

Mama und Papa wechseln Blicke, Mama kichert und gluckst vor sich hin.

„Ihr wisst“, fängt Papa an, „dass wir uns schon länger mit dem Gedanken tragen, unsere Wohnsituation zu optimieren. Aber bisher scheiterte es an den finanziellen Ressourcen.“

Hä? War das deutsch? Oder ein englischer Songtext? Strophe oder Refrain?

So gestelzt spricht Papa nur, wenn er total angespannt ist. Das muss aber wichtig sein, was Papa und Mama uns sagen wollen. Doof nur, dass ich kein Wort verstehe.

„Nicht genug Kohle für eine größere Wohnung“, übersetzt Tony hilfreich. Wenigstens hat sie ihren Diätfrust für den Moment vergessen. Tonys Launen wechseln zurzeit blitzartig.

„Wir haben in den letzten Jahren ein bisschen was auf die Seite gelegt“, übernimmt Mama das Ruder, „und zusammen mit meinem Gewinn aus dem Quiz kaufen wir …“ Jetzt schaut sie wieder Papa an.

„… ein Haus“, beenden die beiden den Satz gemeinsam.

Stille.

Ach, du Schreck … Mir wird so schwummerig, als hätte ich mit einem Haufen fröööhlicher Mädchen fünf Stunden in der prallen Sonne gelegen. Gut möglich, dass ich gleich vom Stuhl kippe. Aber das wäre blöd. Weil die dann mit Sicherheit alles eintüten, ohne dass ich widersprechen kann.

„Ein schönes großes Haus“, sagt Mama. „Rund eine Stunde mit dem Zug von hier.“

Eine Stunde entfernt. Warum kaufen sie nicht gleich ein Grundstück auf dem Mond? Oder ein schwarzes Loch hinter der Milchstraße?

„Genauer gesagt ist es eine Villa“, ergänzt Papa. „Fast schon ein Schloss.“

„Ein Schloss?“ Theo macht Augen wie Untertassen und zappelt hin und her. Dabei rempelt er mich an. Ich trete ihm gegen das Schienbein. Das merkt er aber gar nicht vor Aufregung.

„Falltüren!“, flüstert er.

Na, super. Theo ist hin und weg. Bleibt mir nur Tony als Verbündete.

Doch die strahlt plötzlich wie Mama vorhin. Noch eine Sonne in unserer Wohnung. Ihre mit schwarzem Kajal angemalten Augen funkeln. So schlimm steht es um Mama und Papa wegen der Villa, dass sie nicht einmal über Tonys Aufmachung motzen. Sie können das gar nicht leiden, wenn sie ihre Augen tuscht und bemalt, aber Tony ist das keksegal. „Habt ihr die Nachbarn schon gesehen? Haben die Kinder?“

Warum flötet sie so? Und warum interessiert es sie, ob die Nachbarn Kinder haben? Freut die sich auf einen Babysitterjob, oder was? Hier hat sie nicht einmal einen Monat lang die Zeitung ausgetragen, weil ihr die eine Stunde in der Woche zu viel war.

Dann fällt es mir ein: Tony meint Jungs in ihrem Alter. Seit sie vor zwei Wochen mit Felix Schluss gemacht hat, behauptet sie ständig, dass es in Berlin nur Vollpfosten gibt.

„Hey, Tony …“ Ich umfasse mit beiden Händen ihren Oberarm. Es ist so wichtig, sie an meiner Seite zu haben, im Kampf gegen Mamas und Papas beknackte Idee. „Denk doch mal an Vicky. Ihr könnt euch dann gar nicht mehr täglich sehen und wart bestimmt die längste Zeit allerbeste Freundinnen. Stell dir das mal vor!“

In Wahrheit ist es so, dass ICH mir vorstelle, wie es ist, die allerbeste Freundin zu verlieren. Meine wohnt, wie gesagt, nur zehn Meter entfernt, auf derselben Etage. In Knuddelnähe.

Noch.

Pia, liebe, allerliebste Pia.

Tony macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, Quatsch“, sagt sie. „Wofür gibt es Handys und Mails und Skype? Mach dich mal locker.“

„Verlies!“, sagt Theo. Er starrt auf die Tischplatte. „Haben wir ein Verlies?“

„Das Haus ist so riesig“, sagt Mama und schaut Tony und mich an, „dass jede von euch ein eigenes Zimmer bekommt.“

„Yesssss!“ Tony springt auf und umarmt Mama.

Große Klasse. Ich seufze so tief, dass ich am Tisch zusammensacke wie ein schlapper Luftballon.

Leute, tut mir das nicht an. Bitte, bitte sagt, dass das alles nur ein Witz ist. Oder klingelt gleich der Wecker und ich wache aus dem übelsten aller Albträume auf?

„Ich will nicht weg aus Berlin“, quetsche ich hervor, aber weil sich alle gerade freuen wie doof, hört mich noch nicht mal jemand.

Klar, es ist schon nervig, dass ich immer ins Wohnzimmer umsiedeln muss, wenn Tony ihre Freunde mitbringt, denn natürlich ist sie als Größere die Bestimmerin. Aber trotzdem …

Mit wem soll ich kuscheln, wenn ich mies drauf bin? Mein Schmuse-Elefant liegt zwar noch bei mir im Bett, aber nur für den Notfall. Außerdem ist es viel gemütlicher, zu Tony zu krabbeln und mich an sie zu schmiegen.

In der Villa wird sie bestimmt ihr Zimmer abschließen. So wie hier das Klo. Und ich stehe dumm davor.

Rex stolziert in die Küche und hüpft Mama auf die Beine. An seinen Barthaaren hängen Tropfen von geschmolzenem Stracciatella-Eis.

Mama krault ihn. „Na, kleiner König? Bald bist du kein armer Stubentiger mehr, sondern kannst in einem herrlichen Garten auf Mäusejagd gehen.“

Rex schnurrt. So viel zum Thema Verbündete. Hat der schon vergessen, dass ich vorhin kurz davor war, ihm ein Leckerli zu geben? Elender Verräter.

Kriegt denn tatsächlich niemand mit, was hier passiert? Mama und Papa wollen fortziehen. F-O-R-T. Weg. Bye-bye. Und tschüss, Berlin.

Kein Bäcker an der Straßenecke, bei dem ich jeden Samstag die Frühstücksbrötchen hole.

Kein Hinterhof, der öde, aber vielleicht doch nicht sooo öde ist.

Keine Schule, die ich seit der ersten Klasse kenne.

Und vor allem: keine beste Freundin Pia.

„Ketten!“, ruft Theo. „Rasselnde Ketten. Für die Gefangenen.“

Alle lachen und quatschen durcheinander.

Nur ich sitze da und kann es nicht fassen.

Keiner beachtet mich.

So ist das, wenn man Geschwister hat.

Manchmal ist es praktisch, wenn die eigenen Eltern nicht alles von einem mitkriegen. Bei Einzelkindern ist das anders. Das weiß ich von Pia. Ihrer Mutter entgeht nichts. Wenn Pia niest, fühlt ihre Mama gleich ihre Stirn.

Das fände ich auch nicht so toll, aber manchmal wäre es doch nett, wenn mich jemand wenigstens mal nach meiner Meinung fragen würde.

Mir schießen die Tränen in die Augen, aber weinen wie ein Baby will ich auch nicht.

Pia. Ich muss mit Pia reden. Die kommt oft auf die verrücktesten Ideen – deswegen ist sie ja meine beste Freundin. Vielleicht fällt ihr etwas ein, womit wir die Katastrophe verhindern können?

„Ich bin dann mal weg“, sage ich.

Mama ruft mir hinterher und will mich zurückpfeifen, als ich aufspringe und zur Haustür düse, aber mir reicht es für heute.

Ich brauche Ruhe.

Und ich brauche einen Plan.