HarperCollins
HarperCollins® Bücher
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2015 HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung
Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Blonde Hair, Blue Eyes
Copyright © 2015 by Karin Slaughter
erschienen bei: Witness Impulse, ein Imprint von
HarperCollins Publishers, LLC.
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Silvia Kuttny-Walser
Titelabbildung: Thinkstock
eBook-Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-95967-978-7
www.harpercollins.de
Morgennebel zog durch die Straßen des Zentrums und legte sich wie Spinnweben in winzigen, verschlungenen Mustern auf die Schlafsäcke entlang des Gehsteigs vor dem Georgia Theater. Die Türen würden sich frühestens in zwölf Stunden öffnen, aber die Fans der Band Phish waren entschlossen, Plätze in der ersten Reihe zu ergattern. Zwei schwergewichtige junge Männer hatten sich in Gartenstühle aus Plastik gezwängt, die neben der mit einer Kette gesicherten Eingangstür standen. Zu ihren Füßen lagen Bierdosen, Zigarettenkippen und eine leere Sandwichtüte, die wahrscheinlich eine größere Menge Gras enthalten hatte.
Als Julia Carroll die Straße entlangging, folgten sie ihr mit den Augen. Julia spürte ihre Blicke so deutlich auf sich haften wie den Nebel. Sie schaute unbeirrt geradeaus und hielt den Rücken gerade, aber sofort überlegte sie, ob sie dadurch kalt und hochnäsig wirkte. Und schon im nächsten Moment fragte sie sich verärgert, welche Rolle es spielte, wie sie für diese beiden vollkommen fremden Typen aussah.
Früher war sie nie so paranoid gewesen.
Athens war eine Universitätsstadt, dominiert von der University of Athens, die dreihundert Hektar Grund in bester Lage einnahm und auf die eine oder andere Weise das halbe County beschäftigte. Julia war hier aufgewachsen. Sie studierte Journalistik und arbeitete für die Collegezeitung. Ihr Vater war Professor an der tiermedizinischen Fakultät. Mit ihren neunzehn Jahren wusste sie bereits, dass Alkohol und die passenden Umstände auch nett wirkende Jungs in Typen verwandeln konnten, denen man sogar an einem Freitagmorgen um halb acht nicht über den Weg laufen wollte.
Oder vielleicht benahm sie sich nur albern. Vielleicht war es wie damals, als sie spätabends am Old College vorbeiging, Schritte hinter sich hörte und einen bedrohlich aufragenden, sich immer schneller bewegenden Schatten sah. Ihr Herz blieb fast stehen blieb, und sie wäre am liebsten gerannt, doch dann hatte die furchterregende Erscheinung ihren Namen gerufen, und es war nur Ezekiel Mann aus dem Biologiekurs gewesen.
Er hatte ihr vom neuen Auto seines Bruders erzählt und dann Monty-Python-Sprüche zitiert, und Julia war immer schneller und schneller gegangen, so dass sie beide praktisch liefen, als sie Julias Unterkunft erreichten. Ezekiel hatte die Hand auf die geschlossene Glastür gepresst, während Julia aufschloss.
„Ich rufe dich an!“, hatte er beinahe gebrüllt.
Sie hatte ihn angelächelt, aber auf dem Weg zur Treppe gedacht: O Gott, bitte zwing mich nicht dazu, deine Gefühle zu verletzen.
Julia war wunderschön. Sie wusste es, seit sie klein war, aber statt es als ein Geschenk anzunehmen, hatte sie es immer als eine Bürde empfunden. Die Leute gingen bei schönen Mädchen von bestimmten Annahmen aus. Sie waren die eiskalten, hinterhältigen Miststücke, die in Filmen von John Hughes am Ende immer die Quittung bekamen. Sie waren die Trophäen, auf die kein Typ Anspruch zu erheben wagte. Ihre Schüchternheit wurde als Arroganz, ihre Ängstlichkeit als Missbilligung verstanden. Dass Julia aufgrund dessen im reifen Alter von neunzehn immer noch Jungfrau war und fast ohne Freunde dastand, blieb weitgehend unbemerkt, nur ihre beiden jüngeren Schwestern registrierten es.
Im College sollte endlich alles anders werden. Gut, ihr Wohnheim lag nur einen halben Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt, doch es war Julias Chance, sich neu zu erfinden, die Person zu werden, die sie immer hatte sein wollen: stark, selbstbewusst, glücklich, zufrieden (und keine Jungfrau). Sie unterdrückte die Neigung, lesend in ihrem Zimmer zu sitzen, während sich das Leben draußen vor ihrer Tür abspielte. Sie wurde Mitglied im Tennisclub, im Leichtathletikclub und im Wildlife-Club. Sie schloss sich keinen Cliquen an, sondern sie sprach mit allen Leuten. Sie lächelte Fremde an. Sie ging mit Jungs aus, die nett, wenn auch nicht wahnsinnig interessant waren, und die sie mit ihren verzweifelten Küssen immer an Neunaugen erinnerten, wie sie sich an einer Bachforelle festsaugen.
Doch dann geschah die Sache mit Beatrice Oliver.
Julia hatte die Geschichte des Mädchens am Telex im Red & Black, der Campuszeitung der University of Georgia verfolgt. Neunzehn Jahre, genau wie Julia. Blondes Haar und blaue Augen, genau wie Julia. Studentin, genau wie Julia.
Bildhübsch.
Vor fünf Wochen hatte Beatrice Oliver gegen zehn Uhr abends ihr Elternhaus verlassen. Sie ging zu Fuß zum Supermarkt, um Eiskrem für ihren Vater zu holen, der unter Zahnschmerzen litt. Julia wusste nicht, warum ihr dieser Teil der Geschichte so ins Auge sprang. Es wirkte irgendwie verdächtig – warum sollte jemand etwas Eiskaltes auf einem schmerzenden Zahn haben wollen? –, aber so hatten es beide Eltern der Polizei erzählt, also war es Teil der Geschichte.
Und die Geschichte lief über den Fernschreiber, weil Beatrice Oliver nicht mehr nach Hause gekommen war.
Julia war wie besessen vom Verschwinden des Mädchens. Sie sagte sich, dass es wahrscheinlich daran lag, dass sie für Red & Black von der Sache berichten wollte, aber in Wahrheit machte es ihr eine Höllenangst, dass jemand – und nicht irgendwer, sondern ein Mädchen in ihrem Alter – zur Tür hinausging und einfach nicht wieder zurückkehrte. Julia wollte die Einzelheiten wissen. Sie wollte mit den Eltern des Mädchens reden. Sie wollte Beatrice Olivers Freundinnen, eine Verwandte oder einen Nachbarn interviewen, vielleicht einen Kollegen oder einen Typen, mit dem sie ging, oder einfach irgendwen, der ihr eine Erklärung lieferte, wie sich ein neunzehnjähriges Mädchen, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte, in Luft auflösen konnte.
„Wir haben es wahrscheinlich mit einer Entführung zu tun“, war der Detective im ersten Beitrag zitiert worden. Alle persönlichen Gegenstände von Beatrice waren noch da, darunter ihre Handtasche, das Bargeld, das sie in ihrer Sockenschublade aufbewahrte, und ihr Wagen, der noch in der Einfahrt der Familie stand.
Von Beatrice Olivers Mutter stammte die Aussage, die Julia am meisten frösteln ließ: „Meine Tochter ist nur deshalb nicht nach Hause gekommen, weil jemand sie festhält.“
Festhält.
Julia schauderte bei dem Gedanken, festgehalten zu werden – ihrer Familie, ihres Lebens, ihrer Freiheit beraubt. In ihren Kinderbüchern war der Schwarze Mann immer struppig, dunkel und bedrohlich gewesen, ein Wolf im Schafspelz, aber immer noch eindeutig ein Wolf (wenn man genau hinsah). Sie wusste, im richtigen Leben war es nicht wie in diesen Märchen. Man erkannte nicht sofort am verräterischen Bart, dass der Wolf ein böser Mann war.
Wer immer Beatrice Oliver auch festhalten mochte, es konnte ein Freund, ein Kollege, ein Nachbar oder ein Junge sein, mit dem sie ging – genau die Leute, die Julia gern persönlich interviewt hätte. Allein. Mit nichts als einem Notizblock und einem Stift bewaffnet. Im Gespräch mit einem Mann, der das Mädchen in genau diesem Augenblick vielleicht an irgendeinem schrecklichen Ort gefangen hielt.
Julia legte die Hand auf den Bauch, um das Grummeln zu beruhigen, und sah sich nervös in alle Richtungen um.
Sie bemühte sich, ihre Angst ein wenig durch vernünftige Überlegung zu mildern. Es konnte durchaus sein, dass sie sich grundlos in solche Anspannung hineinsteigerte, denn die Interviews zum Fall Beatrice Oliver würden vielleicht nie stattfinden. Bevor Julia mit irgendwem sprach, musste sie nämlich einen offiziellen Auftrag für den Artikel erhalten: Nur Nachrichtenjournalisten waren berechtigt, Fragen zu stellen, Feuilletonschreiber wie Julia taten dies lediglich aus Neugier. Ihr größtes Hindernis würde Greg Gianakos sein, der studentische Chefredakteur, der sich für den zukünftigen Walter Cronkite hielt, und bei dem Julia immer daran denken musste, was ihr Vater über Beagles gesagt hatte: Sie lieben den Klang ihrer eigenen Stimme.
Wenn sie Greg auf ihre Seite brachte, würde Lionel Vance, Gregs Lakai, folgen (obwohl er schmollte, weil Julia ihn abgewiesen hatte, als er mit ihr ausgehen wollte). Die letzte Hürde würde dann Mr. Hannah, der Berater der Fakultät, sein. Er war sehr nett, aber er liebte es, wenn Redaktionssitzungen, bei denen Aufträge für Artikel vergeben wurden, wie Wettkämpfe im Klippenspringen auf dem Sportkanal abliefen.
Während Julia in die nächste menschenleere Straße einbog, übte sie lautlos, wie sie die Idee zu ihrem Artikel pitchen wollte.
Beatrice Oliver, ein neunzehnjähriges Mädchen, das bei ihren Eltern wohnt …
Nein. Die anderen würden Schnarchgeräusche machen, ehe sie den Satz zu Ende gebracht hatte.
Ein verschwundenes Mädchen!
Nein. Viele Mädchen verschwanden. Meistens tauchten sie ein paar Tage später wieder auf.
Ein junges Mädchen ging spätabends zum Supermarkt, als plötzlich …
Julia fuhr herum. Sie hatte ein Geräusch hinter sich gehört, ein Scharren wie von schlurfenden Schritten. Sie suchte alles mit den Augen ab, sah Glasscherben, leere Bierflaschen und weggeworfene Zeitungen, aber sonst nichts. Zumindest nichts, wovor sie Angst haben müsste.
Langsam und vorsichtig ging sie weiter, schaute trotzdem noch in Hauseingänge und Seitengassen und wechselte einmal die Straßenseite, um nicht an einem großen Berg Müll vorbeizumüssen.
Paranoid.
Reporter sollten eigentlich alles mit einem kühlen, an den Fakten orientierten Blick betrachten, aber seit Julia von Beatrice Oliver gelesen hatte, waren ihre Träume voller Bilder, die nichts mit Fakten zu tun hatten, sondern ihrer eigenen wilden Fantasie entsprangen. Beatrice lief die Straße entlang. Die Nacht war dunkel, der Mond verhüllt. Kälte lag in der Luft. Sie sah eine brennende Zigarette aufglühen, hörte das leise Trippeln von Schuhen auf dem Asphalt, und dann schmeckte sie eine nikotinfleckige Hand, die sich über ihren Mund schloss, fühlte eine rasiermesserscharfe Klinge an ihrer Kehle und roch den sauren Atem eines Fremden, der sie zu seinem Wagen schleifte, in den Kofferraum sperrte und an einen dunklen, feuchten Ort fuhr, wo er sie festhalten konnte.
Wäre Julias Mutter nicht Bibliothekarin, würde sie wahrscheinlich den Büchern, die Julia las, die Schuld an den düsteren Fantasien ihrer Tochter geben. The Stranger Beside Me. Helter Skelter. Das Schweigen der Lämmer. Hexenstunde. Aber ihre Mutter war nun mal Bibliothekarin, deshalb würde sie wahrscheinlich nur mit den Schultern zucken und ihrer ältesten Tochter raten, besser keine Geschichten zu lesen, die ihr Angst machten.
Oder machte es Julia immun gegen Gefahr, wenn sie sich vor diesen Dingen fürchtete, wenn sie ihre schrecklichen Ängste zum Ausdruck brachte?
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass ihr T-Shirt bei jedem Schlag auf der Haut kitzelte. Sie griff in ihre Handtasche. Der Walkman lag in das gelbe Halstuch geschmiegt, das sie rasch noch zu Hause abliefern musste; sie hatte es ihrer Schwester versprochen. Ihr Finger ruhte auf dem Startknopf, aber sie drückte ihn nicht. Sie wollte nur die Kassette darin spüren, die krakelige Handschrift des Jungen heraufbeschwören, der sie für sie aufgenommen hatte.
Robin Clark.
Julia hatte ihn vor zwei Monaten kennen gelernt. Kurze Nachrichten waren hin und her gegangen, es hatte Telefonate gegeben und einige Verabredungen in der Clique, bei denen sie tiefe Blickte ausgetauscht und Händchen gehalten hatten. Und dann hatten sie sich endlich allein getroffen. Er hatte sie so ausdauernd und so gut geküsst, dass sie dachte, der Schädel würde ihr zerspringen. Sie hatte ihn einmal nach Hause mitgenommen, nicht damit er ihre Eltern kennenlernte, sondern weil sie ihre Wäsche abholen musste. Ihre jüngste Schwester hatte gelacht, weil Robin ein Mädchenname war, bis Julia sie auf den Arm geboxt hatte, damit sie aufhörte. (Ausnahmsweise hatte die kleine Göre mal nicht gepetzt.)
Auf der Kassette waren Songs, von denen Robin glaubte, sie würden Julia gefallen, nicht solche, von denen er wollte, dass sie ihr gefielen. Statt Styx, Chicago und Metallica fanden sich also Belinda Carlisle und Wilson Phillips, die Beatles und James Taylor und viele Songs von Madonna, weil Robin Madonna genauso fantastisch fand, wie Julia es tat.
Mit diesem Musikmix hatte zum ersten Mal in ihrem Leben ein Junge gezeigt, dass er sie so sah, wie sie war, und nicht, wie er sie gern gehabt hätte. Julia hatte jahrelang so getan, als würde sie Schlagezugsoli und kreischende Gitarren lieben und Raubkopien von Künstlern angehört, die tragischerweise verstorben waren, ehe sie der ganzen Welt (und nicht nur dem Jungen, der die Kassette aufgenommen hatte) beweisen konnten, wie cool sie waren.
Robin wollte nicht, dass Julia etwas vorgab. Er wollte einfach nur, dass sie sie selbst war. Ihre Professorin in Frauenforschung hätte wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen bei dem Bekenntnis, dass Julia endlich sie selbst sein wollte – aber nur, weil sie einen Jungen gefunden hatte, der es ebenfalls wollte.
„Robin“, flüsterte Julia in die kühle Morgenluft, denn sie liebte es, wie sich sein Name in ihrem Mund anfühlte.
Er war zweiundzwanzig, groß und schlank, mit sehnigen Oberarmen, weil er in der Bäckerei seines Vaters schwere Bleche voll Brot heben musste. Er trug sein dunkelbraunes Haar in einem wuscheligen Jon-Bon-Jovi-Haarschnitt, hatte blaue Augen wie ein Husky, und wenn er Julia ansah, regte sich tief in ihr an einem Ort etwas, für den sie keinen rechten Namen hatte.
Es hatte ein paar Jungs vor Robin gegeben. Sie waren meist älter, so wie er (wenngleich nie so reif), die Sorte Jungs, die sich von Julias Aussehen nicht übermäßig einschüchtern ließen, weil sie Autos und Geld in der Tasche hatten. Ihr Vater hatte Julia gewarnt, diese Jungen wollten nur das Eine. Er verstand nicht, dass Julia dieses Eine ebenfalls wollte.
Weiter als bis zum Petting war es bisher aber nie gegangen. Brent Lockwood war sechzehn (fast siebzehn) gewesen, Julia fünfzehn (näher an vierzehn). Er hatte ihren Vater um die Erlaubnis gebeten, sie ausführen zu dürfen, und ihr Vater hatte gesagt, er solle erst mal zum Friseur gehen und sich einen Job suchen, dann könne er wiederkommen.
Dass Brent ein paar Tage später mit einem Kurzhaarschnitt und einer Schürze von McDonald’s wieder vor der Tür stand, hatte ihren Vater überrascht, ihre Mutter amüsiert und ihre Schwestern vor Lachen brüllen lassen. Julia war entsetzt, denn Brents Haare waren das Beste an ihm gewesen. Fortan haftete hartnäckig der Geruch von gegrillten Burgern an ihm, und Julia war Vegetarierin. In Brents Nähe zu sein, war eine deprimierend humorlose Variante des Pawlow’schen Experiments.
Und dennoch hatte sie es versucht (auf dem Rücksitz seines Wagens, auf der Couch im Wohnzimmer), denn Brent sah gut aus, und alle wussten, er war schon mit vielen Mädchen zusammen gewesen, und das war Julias Chance, es hinter sich zu bringen. Sie wünschte sich so verzweifelt, das reife, anspruchsvolle Mädchen zu sein, für das alle sie hielten; das Mädchen, das sich mit Jungs auskannte, das Erfahrung hatte, das verwöhnte, wunderschöne Mädchen, das jeden Mann um den Finger wickeln konnte.
Aber Brent war in sie verliebt gewesen, und er hatte sanft sein und sich Zeit lassen wollen, was in Kombination mit der Frittenfett-Ausdünstung seiner Haut quälend langweilig war.
Robin war in keiner Hinsicht langweilig. Er roch wirklich gut, nach Kiefer mit einem nicht unangenehmen Hauch Brot von der Bäckerei. Seine Haut war schön gebräunt, weil er das ganze Jahr wanderte und Rad fuhr. Er sah Julia in die Augen, wenn er mit ihr sprach. Er versuchte nicht, ihre Probleme zu lösen, er hörte nur zu. Er lachte über ihre Witze, selbst über die schlechten (vor allem über die schlechten). Er konnte auch verträumt sein. Er wollte Künstler werden, besser gesagt: er war bereits ein Künstler (der Job in der Bäckerei war nur vorübergehend). Julia hatte Arbeiten von ihm gesehen. Der sanft geschwungene Hals eines Rehs, das sich zu einer Quelle neigt, um zu trinken. Die irren Rot- und Orangetöne eines Sonnenaufgangs. Seine Hand, die sich um die Rundung von Julias Hüfte legte.
Er hatte dieses Bild auf eine Serviette skizziert, bevor er aktiv wurde, hatte es Julia bei einer Tasse Tee im Student Center gezeigt und erklärt, die Zeichnung zeige, was er gern tun würde. Ihre Knie zitterten, als es Zeit war aufzustehen. Ihre Handflächen waren verschwitzt. Als er dann seine Hand wirklich auf ihre Taille legte, war Julia so aufgeladen von Vorfreude, dass es sich anfühlte, als fließe Strom aus seinen Fingern,
„Ich werde dich jetzt küssen“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, bevor er es tat.
Julia nahm die Hand von dem Walkman. Der Lieferwagen des Obdachlosenzentrums, in dem sie ehrenamtlich arbeitete, stand an der Kreuzung von Hull und Washington, einem Bereich der Stadt, der aus unerfindlichen Gründen Hot Corner genannt wurde. Vor der Frühstücksausgabe hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Es waren mindestens dreißig Leute da, zumeist Männer, doch auch ein paar Frauen. Sie schlurften mit gesenkten Köpfen und den Händen in den Taschen vorwärts. Ihre ganze Haltung brachte zum Ausdruck, dass sie es hassten, milde Gaben anzunehmen, aber keine andere Wahl hatten, und so standen sie im Morgengrauen resigniert Schlange, um wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit zu haben.
„Guten Morgen“, rief Candice Bender. Sie verteilte Alubehälter mit Rührei, Schinken, Maisgrütze und Toast. Von dem großen Kaffeespender in der offenen Heckklappe des Lieferwagens durfte man sich selbst bedienen.
„Tut mir leid, dass ich zu spät komme.“ Julia war nicht verspätet, aber sie hatte die nervöse Angewohnheit, Unterhaltungen mit einer Entschuldigung zu beginnen. Sie holte einen Stapel Decken aus dem Fahrzeug und musterte die Schlange der Wartenden. Jemand fehlte. „Wo ist Mona Namenlos?“
Candice zuckte mit den Achseln.
Julia inspizierte die Schlange eingehender. Bei jedem Gesicht, in das sie prüfend schaute, wuchs ihre Beunruhigung.
„Siehst du sie nicht?“, fragte Candice.
Julia schüttelte den Kopf. Sie machte diesen Job schon lange genug, um zu wissen, dass die Leute irgendwann einfach weiterzogen, aber sie konnte die düsteren Gedanken nicht unterdrücken, die sich ihrer bemächtigten.
Mona war jung, nur wenige Monate älter als Julia. Sie achtete mehr auf sich als die anderen, badete öfter und trug hübschere Sachen, denn sie verpulverte ihr Geld nicht für Drogen. Sie war an ihrem achtzehnten Geburtstag bei ihren Pflegeltern rausgeflogen und hatte irgendwann die Dinge getan, die manche Mädchen eben tun mussten, um zu überleben. Als Julia sie nach ihrem Nachnamen fragte, hatte Mona trotzig erklärt: „Ich hab kein’ Namen, du Kuh.“
„Dann also Mona Namenlos“, hatte Julia erwidert, denn sie war schlecht gelaunt und leicht verkatert von einem spontanen Besäufnis am Vorabend gewesen. (Zu ihrer Beschämung war der Spitzname hängen geblieben.)
„Mona war letzte Nacht nicht hier“, sagte eine andere Obdachlose, als sie sich eine saubere Decke abholte.
„Wann haben Sie sie denn zuletzt gesehen?“, fragte Julia.
„Woher zum Teufel soll ich das wissen?“
Sie passten nicht aufeinander auf, diese Frauen. Es gab Rivalität. Klatsch. Das gesellschaftliche System, wenn man es so nennen wollte, erinnerte Julia an die Highschool, denn es brachte die gleichen Rollen hervor: die Hure, der Liebling des Lehrers, das brave Mädchen, das Miststück, die Streberin. Mona war das Miststück, denn sie war hübsch. Sie hatte noch alle Zähne, sie trug Make-up, sie sah nicht obdachlos aus. Delilah war die Hure, denn sie war älter und erfahrener. Und sie war tatsächlich eine.
Gegenwärtig gab es acht Frauen in der Gruppe, und anders als bei Beatrice Oliver, die entführt worden war, als sie Eiskrem für ihren Vater holen ging, trafen die düsteren Vorstellungen, die sich Julia über das Leben dieser obdachlosen Frauen machte, sehr wahrscheinlich zu. Prostitution. Drogen. Hunger. Krankheit. Angst. Einsamkeit. Denn die meisten obdachlosen Menschen waren unfassbar und herzzerreißend einsam.
„Ich hab Mona in den Wald gehen sehen“, sagte Delilah. „So um zehn, elf gestern Abend, kurz bevor der Regen kam.“
Julia nickte, um ihr zu zeigen, dass sie zugehört hatte.
Delilah war unheimlich, denn sie war unberechenbar. Sie hatte die Neigung zu schreien, zu weinen, pausenlos zu summen oder so laut zu lachen, dass einem die Ohren klangen. Sie war süchtig und schon länger auf der Straße als Julia ehrenamtlich in der Unterkunft tätig war. Delilah hatte Bilder ihrer erwachsenen Kinder in der Tasche und führte ein Spritzbesteck mit sich, das nur sie selbst benutzte.
In den letzten vier Jahren hatte Julia die Highschool abgeschlossen, einen Collegeplatz bekommen und ihr erstes Studienjahr mit Auszeichnung beendet, und sie war zur Feuilletonredakteurin bei Red & Black befördert worden.
Im selben Zeitraum war Delilah wiederholt ausgeraubt worden. Sie hatte sämtliche Schneidezähne bei einer Schlägerei verloren, das Haar fiel ihr aufgrund der Mangelernährung büschelweise aus, und auf ihrer Haut bildeten sich seltsame, bläulich-braune Male.