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Für die Kämpfer –
die mit Schwert und die mit Feder.
Übersetzung aus dem Englischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer
ISBN 978-3-8270-7771-4
September 2015
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2015 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotive: Mark Owen/Trevillion Images, © FinePic®, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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Gottähnliche Mimen murmeln leis
den Text und kommen und gehen
auf großer, formloser Wesen Geheiß
Edgar Allan Poe
TEIL I
STAATSFEIND SEVEN DIALS
Denn sind wir ihnen nicht haushoch überlegen, wir Widernatürlichen? Auch wenn wir die Knochen der Gesellschaft abnagen, auch wenn wir in der Gosse hausen und uns alles erbetteln müssen, sind wir doch lebende Kanäle zur Welt des Jenseitigen. Wir sind der Beweis für eine weiterführende Existenz. Wir sind die Katalysatoren der ultimativen Energie, des ewigen Aethers. Wir legen dem Tod Zügel an. Wir holen den Schnitter von seinem Pferd.
– Über die Vorzüge der Widernatürlichkeit,
Verfasser unbekannt –
1
ANKUNFT
Nur selten beginnt eine Geschichte an ihrem Anfang. Im großen Bild des Ganzen trat ich eigentlich erst am Anfang vom Ende dieser Geschichte auf. Immerhin begann die Geschichte von Scion und den Rephaim fast zweihundert Jahre vor meiner Geburt. Und für die Rephaim hat ein Menschenleben nicht mehr Substanz als ein Herzschlag.
Manche Revolutionen verändern die Welt an nur einem Tag. Andere brauchen dazu Jahrzehnte, Jahrhunderte oder noch länger, und wieder andere schaffen es nie bis zu ihrer Blüte. Meine begann mit einem Moment und einer Entscheidung. Meine begann, als in einer geheimen Stadt an der Grenze zwischen den Welten eine kleine Blume erblühte.
Habt nur Geduld, dann könnt ihr sehen, wie sie endet.
Willkommen zurück in Scion.
*
2. September 2059
Die zehn Waggons des Zuges waren so opulent ausgestattet wie kleine Salons. Dicker roter Teppich, glänzende Tische aus Rosenholz, auf jedem Sitz ein goldener Anker – das Symbol von Scion – eingestickt. Aus einem verborgenen Lautsprecher kam klassische Musik.
Ganz am Ende unseres Wagens saß Jaxon Hall – Denkerfürst von Sektor I-4 und Anführer meiner Bande von Londoner Sehern – auf seinem Platz, stützte die verschränkten Hände auf seinen Spazierstock und starrte ohne zu blinzeln ins Leere.
Auf der anderen Seite des Ganges klammerte sich mein bester Freund Nick Nygård an einem der Metallringe fest, die von der Decke hingen. Nach sechs Monaten Trennung kam mir der Anblick seines sanftmütigen Gesichts vor wie eine Erinnerung. Die Adern an seinem Handrücken traten hervor, während er beobachtete, wie vor dem Fenster immer wieder vereinzelte Sicherheitsleuchten vorbeizogen. Verteilt auf den Sitzen hockten drei weitere Mitglieder unserer Gang: Danica hatte eine Wunde am Kopf, Nadines Hände waren blutverschmiert und ihr Bruder Zeke griff sich krampfhaft an seine verletzte Schulter. Das letzte Mitglied, Eliza, war in London geblieben.
Ich saß ein wenig abseits und sah zu, wie der Tunnel hinter uns im Dunkeln verschwand. An der Stelle, wo Danica den Mikrochip von Scion aus meinem Oberarm entfernt hatte, war meine Haut verbrannt.
Noch immer ging mir der letzte Befehl des Wächters im Kopf herum: Lauf, kleine Träumerin. Aber wohin sollte der Wächter fliehen? Der Eingang zum Bahnhof war von bewaffneten Wachen abgeriegelt worden. Trotz seiner enormen Größe konnte er sich zwar so lautlos bewegen wie ein Schatten, aber selbst der wäre nicht an ihnen vorbeigekommen. Und Nashira Sargas, seine ehemalige Verlobte und Anführerin der Rephaim, würde keine Kosten und Mühen scheuen, um ihn zu erwischen.
Irgendwo im Dunkeln verborgen verknüpfte das Goldene Band mein Bewusstsein mit dem des Wächters. Doch als ich den Aether durch mich hindurchfließen ließ, kam keine Antwort vom anderen Ende.
Scion musste längst von dem Aufstand erfahren haben. Irgendetwas war bestimmt nach außen gedrungen, bevor der Brand die Kommunikationskanäle lahmgelegt hatte. Eine Botschaft, eine Warnung – ein einziges Wort hätte ausgereicht, um sie auf die Krise in ihrer Kolonie aufmerksam zu machen. Bestimmt warteten sie schon mit ihren Fluxpistolen auf uns, um uns direkt zurück ins Lager zu schicken.
Sollten sie es doch versuchen.
»Lasst uns mal schätzen.« Ich stand auf. »Wie lange dauert es noch, bis wir in London ankommen?«
»Zwanzig Minuten vielleicht«, antwortete Nick.
»Will ich wissen, wo der Tunnel endet?«
Mit einem grimmigen Lächeln erklärte er: »Im Archonitat. Direkt darunter befindet sich der Bahnhof S-Whitehall.«
Mir sank das Herz fast in die Hose. »Jetzt sag nicht, ihr wolltet quer durchs Archonitat fliehen.«
»Nein. Wir werden den Zug vorher anhalten und einen anderen Weg nach draußen suchen. In diesem Netz muss es noch mehr Bahnhöfe geben. Dani sagt, durch die Servicetunnel könnte man vielleicht sogar auf direktem Weg in die normale U-Bahn gelangen.«
»Aber in diesen Servicetunneln könnte es auch von verdeckten Wachen wimmeln«, gab ich zu bedenken und wandte mich dann direkt an Danica: »Bist du dir da sicher?«
»Die sind nicht bewacht. Die sind nur für Techniker gedacht«, versicherte sie. »Aber über die älteren Tunnel weiß ich nichts. In die hat SciORE bestimmt noch nie einen Fuß gesetzt.«
SciORE war die Scionabteilung für Ingenieurswesen und Technik. Falls irgendjemand von diesen Tunneln wusste, dann die. »Es muss einen anderen Weg nach draußen geben«, beharrte ich. Selbst wenn wir es bis in das normale U-Bahn-Netz schafften, würden sie uns spätestens am Ausgang verhaften. »Können wir den Zug vielleicht umleiten? Oder gibt es einen Weg nach oben aufs Straßenniveau?«
»Keine manuelle Steuerung möglich. Und so dämlich, dass sie von dieser Linie aus einen Zugang zur Straße schaffen, sind sie nicht.« Danica nahm den Lappen von ihrer Kopfwunde und inspizierte den großen Blutfleck. Inzwischen war es mehr Blut als Lappen. »Der Zug ist darauf programmiert, direkt nach S-Whitehall zurückzufahren. Wir werden den Feueralarm auslösen und durch den ersten Bahnhof abhauen, den wir finden können.«
Mir kam es nicht sonderlich klug vor, eine große Gruppe durch ein verfallenes Tunnelsystem ohne Beleuchtung zu schleusen. Sie waren alle geschwächt, ausgehungert und erschöpft. Wir mussten schnell vorankommen. »Unter dem Tower muss es doch auch eine Haltestelle geben«, überlegte ich. »Die benutzen für die Sehertransporte und die Scionleute doch sicher nicht denselben Bahnhof.«
»Dafür, dass wir das nicht wissen, müssten wir aber ganz schön weit laufen«, warf Nadine ein. »Der Tower liegt meilenweit vom Archonitat entfernt.«
»Sie halten die Seher im Tower gefangen. Da ist es doch nur logisch, da auch eine Haltestelle zu haben.«
»Wenn wir davon ausgehen, müssen wir ganz genau planen, wann wir den Alarm auslösen«, überlegte Nick weiter. »Irgendeine Idee, Dani?«
»Was?«
»Wie können wir feststellen, wo wir sind?«
»Wie gesagt, ich kenne dieses Tunnelsystem nicht.«
»Dann rate doch einfach mal drauflos.«
Es dauerte etwas länger als sonst, bis sie eine Antwort für uns hatte. Dunkle Ringe zeichneten sich rund um ihre Augen ab. »Vielleicht … haben sie Markierungen in den Tunneln, damit die Arbeiter sich nicht verlaufen. In den Sciontunneln gibt es Plaketten, auf denen die Entfernung zum nächsten Bahnhof angegeben ist.«
»Aber um uns die anzusehen, müssten wir aus dem Zug raus.«
»Ganz genau. Und wir haben nur einen einzigen Versuch, um anzuhalten.«
»Denkt euch was aus«, sagte ich. »Ich suche uns solange etwas, womit wir den Alarm auslösen können.«
Während sie weiterdiskutierten, ging ich in den nächsten Wagen. Jaxon wandte das Gesicht ab, als ich an ihm vorbeikam. Trotzdem blieb ich vor ihm stehen.
»Hast du ein Feuerzeug dabei, Jaxon?«
»Nein.«
»Auch gut.«
Die einzelnen Zugabschnitte waren durch Schiebetüren miteinander verbunden, die sich nicht verriegeln ließen. Und die eingelassenen Scheiben waren nicht kugelsicher. Wenn sie uns hier drin erwischten, gab es kein Entkommen.
Ein Haufen Gesichter wandte sich mir zu – die überlebenden Seher, alle dicht zusammengedrängt. Bis jetzt hatte ich noch gehofft, dass Julian vielleicht eingestiegen war, als ich gerade nicht hinsah, aber es gab keine Spur von meinem Mitverschwörer. Tiefe Trauer breitete sich in mir aus. Selbst wenn es ihm und seiner Akrobatentruppe gelang, den Rest der Nacht zu überstehen, würde Nashira sie bis zum Sonnenaufgang unter Garantie aufknüpfen.
»Wo fahren wir hin, Paige?«, fragte Lotte, eine der Akrobatinnen. Sie trug noch immer ihr Kostüm von der Zweihundertjahrfeier, jenem historischen Ereignis, das wir durch unsere Flucht gesprengt hatten. »Nach London?«
»Ja«, bestätigte ich. »Passt auf, wir werden den Zug vorher anhalten und dann zum nächsten Ausgang laufen müssen. Der Zug ist unterwegs Richtung Archonitat.«
Entsetzt sogen sie die Luft ein, und es wurden panische Blicke gewechselt. »Das klingt aber nicht sehr sicher«, sagte Felix dann.
»Es ist unsere einzige Chance. War irgendjemand bei Bewusstsein, als sie uns in den Zug nach Sheol I gebracht haben?«
»Ich«, meldete sich ein Augur.
»Dann gibt es also eine Haltestelle im Tower?«
»Definitiv. Sie haben uns direkt von den Zellen zur Bahn gebracht. Aber da gehen wir doch nicht hin, oder?«
»Falls wir keine andere Haltestelle finden, schon.«
Während sie diese Neuigkeit leise besprachen, zählte ich durch. Mich und meine Freunde nicht mitgerechnet, waren es zweiundzwanzig Flüchtlinge.
Wie sollten diese Menschen in der richtigen Welt überleben, nachdem sie jahrelang wie Tiere behandelt worden waren? Einige von ihnen konnten sich wahrscheinlich kaum noch an die Zitadelle erinnern, und ihre Gangs hatten sie längst vergessen. Ich verdrängte diese Überlegungen und hockte mich neben Michael, der etwas abseits von den anderen saß. Der liebe, sanftmütige Michael, der einzige andere Mensch, den der Wächter unter seine Fittiche genommen hatte.
»Michael?« Ich berührte ihn sanft an der Schulter. Seine fleckigen Wangen waren nass. »Hör mir zu, Michael. Ich weiß, dass du Angst hast, aber ich konnte dich doch nicht in Magdalen zurücklassen.«
Er nickte. Stumm im eigentlichen Sinne war er nicht, aber er setzte Worte nur sehr bedacht ein.
»Du musst nicht zu deinen Eltern zurück, das verspreche ich dir. Ich werde versuchen, einen Platz für dich zu finden.« Ich konnte ihn nicht länger ansehen. »Falls wir es schaffen.«
Michael wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab.
»Hast du das Feuerzeug des Wächters?«, fragte ich vorsichtig. Er wühlte in der Tasche seiner grauen Jacke herum und holte das rechteckige Feuerzeug hervor. Ich nahm es ihm ab. »Danke.«
Noch jemand saß allein: Ivy, die Handleserin. Mit ihrem rasierten Kopf und den eingefallenen Wangen wirkte sie wie ein lebendes Beweisstück für die Grausamkeit der Rephaim. Ihr Hüter Thuban Sargas hatte sie behandelt wie seinen persönlichen Sandsack. An ihren verkrampften Fingern und dem zitternden Kinn erkannte ich, dass man sie besser nicht zu lange allein ließ. Ich setzte mich ihr gegenüber und musterte die dunklen Blutergüsse in ihrem Gesicht.
»Ivy?«
Ein kaum sichtbares Nicken. Die schmutzige gelbe Tunika hing schlaff von ihren Schultern herab.
»Du weißt, dass wir dich nicht ins Krankenhaus bringen können«, begann ich, »aber ich möchte dafür sorgen, dass du an einen sicheren Ort kommst. Gehörst du einer Gang an, die sich um dich kümmern könnte?«
»Keine Gang«, antwortete sie mit brüchiger Stimme. »Ich war … ein Straßenköter in Camden. Aber da kann ich nicht wieder hin.«
»Warum nicht?«
Stumm schüttelte sie den Kopf. Camden war der Distrikt in II-4, in dem die meisten Seher lebten, ein lebendiger Marktbezirk am Großen Kanal.
Ich legte das Feuerzeug auf den glänzenden Tisch zwischen uns und verschränkte die Hände. Unter meinen Fingernägeln hatte sich uralter Dreck angesammelt.
»Gibt es dort denn wirklich niemanden, dem du vertrauen kannst?«, fragte ich leise. Am liebsten hätte ich ihr angeboten, bei uns zu bleiben, aber Jaxon würde niemals Fremde in seinem Unterschlupf dulden, vor allem, da ich nicht vorhatte, wieder dorthin zurückzukehren. Und auf der Straße würde keiner dieser Seher lange überleben.
Krampfhaft bohrte sie die Finger in ihren Oberarm, ließ locker, packte wieder zu. Nach einer langen Pause sagte sie: »Eine gibt es, Agatha. Sie arbeitet in einem Laden auf dem Markt.«
»Und wie heißt der?«
»Agathas Preziosen.« Ein Tropfen Blut quoll aus ihrer Unterlippe. »Sie hat mich lange nicht mehr gesehen, aber sie wird sich um mich kümmern.«
»Okay.« Ich stand auf. »Einer der anderen wird dich begleiten.«
Ihre tief eingesunkenen Augen waren starr auf das Fenster gerichtet, offenbar war sie innerlich ganz weit weg. Bei dem Gedanken, dass ihr Hüter vermutlich noch am Leben war, wurde mir ganz schlecht.
Die Tür glitt auf, und die anderen fünf kamen herein. Ich schnappte mir das Feuerzeug und ging ihnen entgegen. »Das ist der Weiße Fesselmeister aus I-4«, flüsterte jemand. Jaxon hielt sich ganz hinten und umklammerte weiter seinen Spazierstock, in dem sich eine Klinge verbarg. Sein anhaltendes Schweigen zerrte an meinen Nerven, aber ich hatte jetzt keine Zeit für Spielchen.
»Woher kennt Paige ihn denn?«, hörte ich eine zweite, verängstigte Stimme. »Du meinst doch nicht, sie ist …?«
»Wir wären dann so weit, Träumerin«, sagte Nick.
Dieser Name würde ihre Vermutungen bestätigen. So gut es ging, konzentrierte ich mich auf den Aether. In meinem Bewusstsein flammten so viele Traumlandschaften auf wie Bienen in einem Stock. Wir befanden uns direkt unter London.
»Hier.« Ich warf Nick das Feuerzeug zu. »Leg los.«
Er hielt es unter den Sensor und öffnete die Kappe. Innerhalb von Sekunden leuchtete der Feueralarm rot auf.
»Achtung«, ertönte die Stimme von Scarlett Burnish. »Feuer im letzten Waggon entdeckt. Türen werden verriegelt.« Die Schiebetür zum letzten Waggon schloss sich mit einem Knall, dann verriet ein gedämpftes Summen, dass der Zug an Fahrt verlor. »Bitte begeben Sie sich an die Spitze des Zuges oder bleiben Sie, wo Sie sind. Es wurde bereits eine Rettungsmannschaft entsandt. Verlassen Sie unter keinen Umständen den Zug. Versuchen Sie nicht, Türen oder Fenster zu öffnen. Bitte betätigen Sie den Schiebemechanismus, falls zusätzliche Luftzufuhr benötigt wird.«
»Das System wird nicht lange darauf reinfallen«, warnte Danica. »Sobald es erkennt, dass es keine Rauchentwicklung gibt, wird der Zug wieder losfahren.«
Am Ende des Zuges gab es eine kleine Plattform mit Geländer. Ich kletterte drüber und bat Zeke: »Gib mir mal eine Taschenlampe.« Sobald ich sie hatte, richtete ich den Strahl auf die Schienen. »Es ist zu eng, um daneben zu laufen. Kann man die Schienen irgendwie lahmlegen, Megäre?« Ganz automatisch wechselte ich zu ihrem Syndikatsnamen. Nur so hatten wir in Scion so lange überleben können.
»Nein.« Danica schüttelte den Kopf. »Und höchstwahrscheinlich werden wir hier unten in absehbarer Zeit ersticken.«
»Großartig, vielen Dank.«
Ohne den dritten Schienenstrang aus den Augen zu lassen, sprang ich herunter und landete vorsichtig auf dem Schotter. Zeke fing bereits an, den anderen Überlebenden beim Abstieg zu helfen.
Im Gänsemarsch gingen wir los und machten einen möglichst weiten Bogen um Schienen und Schwellen. Meine verdreckten weißen Stiefel ließen das Schienenbett hörbar knirschen. Der Tunnel schien sich ewig hinzuziehen, es war kalt und in den langen Abschnitten zwischen den Sicherheitsleuchten auch verdammt dunkel. Insgesamt hatten wir fünf Taschenlampen, aber bei einer waren die Batterien schon schwach. Ich hörte meinen Atem in meinem Kopf. Auf meinen Armen bildete sich Gänsehaut. Immer wieder stützte ich mich mit einer Hand an der Wand ab und konzentrierte mich darauf, meine Füße nur dorthin zu setzen, wo es sicher war.
Nach zehn Minuten fingen die Schienen an zu vibrieren und wir pressten uns gegen die Mauer. Der leere Zug, mit dem wir aus unserem Gefängnis entkommen waren, raste in einem verschwommenen Streifen aus Metall und Lichtern an uns vorbei, weiter Richtung Archonitat.
Als wir schließlich eine Weiche erreichten, an der eine grüne Signallampe brannte, zitterten mir vor Erschöpfung die Knie.
»Megäre«, rief ich, »sagt dir das hier irgendwas?«
»Es bedeutet, dass der Weg vor uns frei ist und dass der Zug an der zweiten Abzweigung rechts gefahren ist«, erklärte Danica.
Der Tunnel links von uns war blockiert. »Sollen wir dann die erste nehmen?«
»Wir haben gar keine andere Wahl.«
Hinter der Biegung wurde der Tunnel breiter. Wir begannen zu laufen. Nick trug Ivy, die so schwach war, dass ich mich wunderte, wie sie es überhaupt in den Zug geschafft hatte.
An der zweiten Abzweigung brannten weiße Laternen. Auf einer Schwelle war eine schmutzige Plakette festgeschraubt, auf der stand: WESTMINSTER, 2500 M. Der erste Tunnel hingegen war ein gähnendes schwarzes Loch und war mit der Plakette TOWER 800 M versehen. Warnend hob ich einen Finger an die Lippen. Falls in Westminster eine Einsatztruppe wartete, hatten sie inzwischen einen unbemannten Zug in Empfang genommen. Vielleicht waren sie auch schon in den Tunneln unterwegs.
Eine dünne braune Ratte huschte zwischen den Schienen vorbei. Michael wich zurück, aber Nadine leuchtete ihr neugierig hinterher. »Wovon die hier wohl leben?«
Bald sollten wir es herausfinden. Je weiter wir gingen, desto mehr Ratten tauchten auf, und bald hörte man überall leises Fiepen und nagende Geräusche. Zekes Hand zitterte, als sein Lichtstrahl den Leichnam erfasste. Die Ratten ließen sich noch die letzten Überreste von seinem Fleisch schmecken. Er war in die traurigen Lumpen eines Clowns gekleidet, und sein Brustkorb war mit Sicherheit mehr als einmal von einem Zug zermalmt worden.
»Seine Hand liegt auf der dritten Schiene«, stellte Nick fest. »Der arme Kerl hatte wohl keine Taschenlampe.«
Kopfschüttelnd fragte einer der Seher: »Wie konnte er ganz allein so weit kommen?«
Jemand schluchzte leise. Fast hätte er es bis nach Hause geschafft, der Clown, der seinem Gefängnis entronnen war.
Endlich zeigten die Taschenlampen uns einen Bahnsteig. Vorsichtig stieg ich über die Schienen hinweg und zog mich hoch. Mit brennenden Muskeln hievte ich die Taschenlampe auf eine Höhe mit der Bahnsteigkante. Ihr Strahl vertrieb die drückende Finsternis und ich sah weiße Steinwände, einen tragbaren Tank mit Desinfektionsmittel und einen Lagerraum voller faltbarer Tragen. Das genaue Ebenbild des Empfangsbahnhofs am anderen Ende der Linie. Der Gestank des Wasserstoffperoxids trieb mir die Tränen in die Augen. Glaubten diese Leute vielleicht, sie könnten sich von uns die Pest holen? Wuschen sie sich die Hände mit Bleiche, nachdem sie uns in den Zug gestopft hatten? Hatten sie solche Angst, dass die Sehergabe auf sie abfärben könnte? Vor meinem inneren Auge sah ich mich selbst, festgebunden auf einer Trage, von Fantasmagorien gepeinigt und von Ärzten in weißen Kitteln herumgeschubst.
Keine Spur von irgendwelchen Wachen. Wir leuchteten jeden Winkel aus. An der Wand hing ein riesiges Schild: ein roter Diamant, der von einem blauen Streifen in zwei Hälften geteilt wurde. Auf dem blauen Untergrund stand in weißen Buchstaben der Name der Haltestelle:
TOWER VON LONDON
Ich brauchte keine Karte, um zu wissen, dass der Tower von London keine offiziell gelistete U-Bahn-Haltestelle war.
Unter dem Schild hing noch eine kleinere Tafel. Nachdem ich den Staub von den eingeprägten Buchstaben gepustet hatte, konnte ich sie lesen: PENTAS LINE. Auf einer Karte waren fünf geheime Haltestellen unter der Zitadelle verzeichnet. Der in winzigen Buchstaben gedruckte Text dazu verriet mir, dass diese Haltestellen während des Baus der Metropolitan Railway angelegt worden waren, was nichts anderes war als der alte Name der Londoner U-Bahn.
Nick tauchte neben mir auf. »Wie konnten wir das zulassen?«, murmelte er.
»Manche von uns stecken jahrelang im Tower, bevor sie hier runtergeschickt werden.«
Er drückte sanft meine Schulter. »Kannst du dich noch daran erinnern, wie du hergebracht wurdest?«
»Nein, ich stand unter Flux.«
Winzige schwarze Punkte flackerten vor meinen Augen auf. Ich massierte mir die Schläfen. Durch das Amaranth, das der Wächter mir verabreicht hatte, war zwar der größte Schaden in meiner Traumlandschaft geheilt worden, aber mein Kopf fühlte sich noch etwas merkwürdig an, und hin und wieder verließ mich meine Seherkraft.
»Wir müssen weiter«, sagte ich, während ich beobachtete, wie die anderen auf den Bahnsteig kletterten.
Es gab zwei Ausgänge: einen geräumigen Aufzug, in dem mehrere Tragen gleichzeitig Platz fanden, und eine schwere Metalltür mit der Aufschrift NOTAUSGANG. Die stieß Nick nun auf.
»Sieht so aus, als müssten wir die Treppe nehmen«, stellte er fest. »Der Aufzug scheint kaputt zu sein. Kennt irgendjemand den ungefähren Grundriss des Towers?«
Mir war nur ein markanter Punkt bekannt, der White Tower, Herzstück und Festung des Gefängniskomplexes, der unter der Leitung einer Elitesicherheitstruppe stand, der sogenannten Spezialwache. Im Syndikat nannten wir sie nur die Raben: grausame, schwarz gekleidete Wachen, die über ungezählte Foltermethoden verfügten.
»Ich.« Nell hob die Hand. »Zumindest teilweise.«
»Wie heißt du?«, wollte Nick wissen.
»9. Ich meine, Nell.« Sie sah meiner Freundin Liss so ähnlich, dass wir mit Maske und Kostüm den Oberaufseher hatten täuschen können: schwarze Locken, zart gebaut. Aber ihr Gesicht wirkte härter, ihre Haut war olivfarben und statt schwarzer Augen wie Liss hatte sie klare blaue.
Mit sanfter Stimme bat Nick: »Sag uns alles, was du weißt.«
»Das ist zehn Jahre her. Vielleicht haben sie was verändert.«
»Alles ist besser als nichts.«
»Bei ein paar von uns haben sie auf das Flux verzichtet«, berichtete Nell. »Ich habe nur so getan, als wäre ich bewusstlos. Falls diese Treppe an der gleichen Stelle rauskommt wie der Aufzug, müssten wir direkt hinter dem Traitor’s Gate landen, aber das ist mit Sicherheit verschlossen.«
»Mit Schlössern komme ich schon klar.« Nadine hob demonstrativ das Ledermäppchen mit ihren Dietrichen. »Und mit Raben auch, wenn sie es auf einen Kampf anlegen.«
»Jetzt werd mal nicht übermütig. Wir werden nicht kämpfen.« Nick hob den Blick zur niedrigen Decke. »Wie viele sind wir, Paige?«
»Achtundzwanzig.«
»Wir gehen in kleinen Gruppen, Nell mit uns zuerst. Fesselmeister, Diamant, könntet ihr –?«
»Ich will doch stark hoffen, dass du nicht gerade dabei bist, mir einen Befehl zu erteilen, Gesicht«, fiel Jaxon ihm ins Wort.
Bei der ganzen Hektik mit dem Zug und der Suche nach einer Haltestelle hatte ich ihn kaum wahrgenommen. Auch jetzt hielt er sich im Schatten, nur sein Spazierstock glänzte wie eine frisch angesteckte Kerze.
Nach einem Moment des Schweigens presste Nick hervor: »Ich wollte dich nur um Hilfe bitten.«
»Ich werde hierbleiben, bis der Weg frei ist«, verkündete Jaxon naserümpfend. »Meinetwegen könnt ihr euch an den Raben die Finger schmutzig machen.«
Ich packte Nick am Arm. »War ja klar«, murmelte er so leise, dass Jaxon es nicht mitbekam.
»Ich werde sie bewachen«, versprach Zeke. Während der Zugfahrt hatte er kein einziges Wort gesagt. Immer noch hielt er sich mit einer Hand die Schulter, während er die andere so fest zur Faust ballte, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Nick schluckte, dann winkte er Nell. »Zeig mir den Weg.«
Während die Flüchtlinge im Bahnhof zurückblieben, folgten wir drei Nell über eine steile Wendeltreppe nach oben. Sie bewegte sich so unbeschwert wie ein Vogel, und irgendwann fiel es mir schwer, noch mit ihr mitzuhalten. Jeder einzelne Muskel in meinen Beinen brannte wie Feuer. Viel zu laut hallten unsere Schritte durch den Treppenschacht. Nick, der hinter mir ging, blieb an einer Stufe hängen. Gerade noch rechtzeitig packte Nadine ihn am Ellbogen.
Oben angekommen, schlich Nell zur Ausgangstür und stieß sie auf. Aus einiger Entfernung drang das Heulen einer Zivilschutzsirene zu uns herein. Wenn sie wussten, dass wir verschwunden waren, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auch herausfanden, wo wir uns gerade befanden.
»Alles klar«, flüsterte Nell.
Ich holte mein Jagdmesser aus meinem Rucksack. Wenn wir Pistolen benutzten, wäre bald jeder Rabe der gesamten Festung hier. Hinter mir zog Nick ein kleines graues Handy hervor und tippte eine Nummer ein.
»Komm schon, Eliza«, murmelte er. »Jävla telefon …«
Mit einem kurzen Seitenblick meinte ich: »Schick ihr doch ein Bild.«
»Habe ich schon. Aber wir müssen wissen, wie lange sie braucht.«
Genau wie Nell vermutet hatte, lag der Zugang zum Treppenhaus gegenüber von dem stillgelegten Aufzug. Rechts sah ich eine massige, mit Mörtel verputzte Wand, und links unter einem sanft geschwungenen Torbogen befand sich Traitor’s Gate: ein bedrohliches schwarzes Gebilde mit vergitterter Lünette. Zur Zeit der Könige war dies der Eingang zur Festung gewesen. Wir standen hier direkt am Fuß der Anlage, zu weit unten, um von den Wachtürmen aus gesehen zu werden. Hinter dem Tor führte eine mit Flechten bewachsene Steintreppe nach oben, direkt daneben gab es eine schmale Rampe für die Rolltragen.
Im fahlen Mondlicht erkannte ich Teile des White Tower. Zwischen Tor und Festung ragte eine hohe Mauer auf – dahinter konnten wir uns verstecken. An einem der Türmchen war ein starker Suchscheinwerfer angebracht. Und noch immer plärrten die Sirenen ihren eintönigen Alarm. In Scion verkündete das einen eklatanten Sicherheitsvorfall.
»Dort leben die Wachen.« Nell zeigte zur Festung hinüber. »Im Bloody Tower sperren sie die Seher ein.«
»Und wo führt diese Treppe hin?«, wollte ich wissen.
»Ins Innere der Festung. Wir müssen uns beeilen.«
Noch während sie das sagte, marschierte direkt gegenüber vom Tor eine Gruppe Raben vorbei. Hastig drückten wir uns gegen die Mauer. An Nicks Schläfe glitzerte ein Schweißtropfen. Wenn sie am Tor nichts Auffälliges bemerkten, sahen sie vielleicht nicht genauer nach.
Wir hatten Glück. Die Raben gingen weiter. Sobald sie außer Sichtweite waren, stieß ich mich mit zitternden Armen von der Mauer ab. Nell rutschte zu Boden und fluchte leise.
Über unserem Versteck stimmten mehrere Sirenen in den Chor der Warnungen mit ein. Ich versuchte, das Tor zu öffnen, aber ohne Erfolg. Es war mit einem Vorhängeschloss an einer Kette gesichert. Sobald Nadine das sah, schubste sie mich beiseite und zog einen winzigen Schraubenzieher aus ihrem Gürtel. Nachdem sie ihn ganz unten in das Schlüsselloch geschoben hatte, griff sie nach einem silbernen Dietrich.
»Das könnte eine Weile dauern.« Bei dem Lärm war sie kaum zu verstehen. »Die Bolzen scheinen verrostet zu sein.«
»Wir haben aber keine Zeit.«
»Holt inzwischen die anderen«, schlug Nadine vor, ohne den Blick von dem Schloss abzuwenden, »wir sollten besser zusammenbleiben.«
Gleichzeitig hob Nick das Telefon ans Ohr und flüsterte: »Muse?« Mit gedämpfter Stimme sprach er mit Eliza, dann sagte er zu mir: »Sie kommt, so schnell sie kann. Bis dahin schickt sie uns ein paar von Spring-heel’d Jacks Strauchdieben.«
»Wie lange?«
»Zehn Minuten, aber die Strauchdiebe müssten früher hier sein.«
Uns blieben keine zehn Minuten.
Über unseren Köpfen glitt das gleißende Licht des Scheinwerfers vorbei und suchte das Innere der Festung ab. Nell wich zurück und kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden. Sie duckte sich in eine Ecke und verschränkte fest die Arme vor dem Körper. Dabei atmete sie stoßweise durch die Nase.
Ich wanderte zwischen den Wänden hin und her und überprüfte jeden einzelnen Ziegelstein. Falls die Raben den Komplex in Runden abgingen, würde es nicht lange dauern, bis sie wieder hier auftauchten. Wir mussten das Tor aufkriegen, die Gefangenen wegschaffen und das Schloss wieder anbringen, bevor das passierte. Mit aller Kraft schob ich die Fingerspitzen in den Spalt zwischen den Aufzugtüren und versuchte, sie aufzustemmen, aber sie rührten sich keinen Millimeter.
Ein paar Meter weiter versuchte Nadine es mit einem anderen Dietrich. Sie musste in einem blöden Winkel arbeiten, weil das Schloss auf der anderen Seite des Tores hing, aber ihre Hände waren vollkommen ruhig. In der Tür zur Treppe tauchte Zeke auf, gefolgt von einer Schar nervöser Flüchtlinge. Mit einem Kopfschütteln signalisierte ich ihm, nicht näher zu kommen.
Endlich hatte Nadine das Schloss geknackt. Wir halfen ihr dabei, die Kette zwischen den Stäben durchzuziehen, schön vorsichtig, damit sie nicht klapperte, dann schoben wir zusammen das Tor auf. Schwer schabte es über den Kies, die seit Ewigkeiten ungenutzten Scharniere quietschten, aber das alles ging im Lärm der Sirenen unter. Nell rannte die Stufen hinauf und winkte uns zu sich.
»Die Ausgänge sind bestimmt alle dicht«, meinte sie, als ich näher kam. »Dieses Schloss war die einzige Schwachstelle hier. Wir werden über die Südmauer klettern müssen.«
Klettern, meine Spezialität. »Gesicht, du holst die anderen«, bestimmte ich. »Haltet euch bereit, es muss schnell gehen.«
Geduckt schlich ich die letzten Stufen hinauf und umklammerte meinen Revolver. Vor mir führte eine weitere Treppe zu einem der Türme neben dem Torbogen. Mit einem Sprung konnten wir die angrenzende Mauer erreichen und uns zwischen zwei Zinnen verstecken; sie war viel niedriger als erwartet. Bestimmt hatte Scion nicht damit gerechnet, dass die wenigen Seher, die es vielleicht aus dem Bloody Tower rausschafften, je so weit kommen würden. Ich signalisierte Nick, die anderen loszuschicken, dann lief ich leichtfüßig die zweite Treppe hoch, immer schön im Schatten. Als ich die Lücke zwischen den beiden Zinnen erreichte, stockte mir kurz der Atem.
Da war es.
London.
Hinter der Mauer führte ein steiler Uferstreifen zur Themse hinunter. Links von mir lag die Tower Bridge. Aber wenn wir nach rechts gingen, konnten wir unbemerkt um den Festungskomplex herumlaufen und es bis zur Hauptstraße schaffen. Nick holte ein Beutelchen aus seiner Tasche und rieb sich die Hände mit Kreide ein.
»Ich gehe als Erster«, sagte er leise. »Du hilfst den anderen beim Abstieg. Eliza wartet an der Straße auf uns.«
Ich suchte die Brücke nach Scharfschützen ab. Zu sehen war niemand, aber ich nahm drei Traumlandschaften wahr.
Nick schob sich zwischen den Zinnen hindurch, hielt sich an ihnen fest und drehte sich mit dem Gesicht zur Mauer. Auf der Suche nach einem Halt für seine Füße trat er kleine Steinchen los. »Vorsicht«, warnte ich ihn, obwohl es eigentlich überflüssig war. Nick konnte besser klettern, als er laufen konnte. Er schenkte mir noch ein kurzes Lächeln, dann ließ er sich ein Stück weit absinken, bevor er ganz losließ und geduckt auf dem Boden aufkam.
Irgendwie bekam ich ein komisches Gefühl, als die Mauer plötzlich zwischen uns war.
Ich streckte dem ersten der Gefangenen die Hand entgegen. Michael und Nell tauchten auf, sie trugen Ivy zwischen sich. Ich stützte sie unter den Armen und führte sie zu den Mauerzinnen.
»Hier rauf, Ivy.« Schnell streifte ich Nicks Mantel ab, hängte ihn ihr um und machte die Knöpfe zu. Jetzt blieben mir nur noch die kümmerlichen Überreste meines weißen Kleides. »Gib mir deine Hände.«
Mit Michaels Hilfe bugsierte ich Ivy über die Mauer. Nick packte sie um die schmalen Hüften und trug sie zum Ufer hinunter. »Hol die Verletzten hier rauf, Michael, schnell.« Meine Stimme klang härter als beabsichtigt. Er ging und half Felix, der stark humpelte.
Einer nach dem anderen kletterte über die Mauer: Ella, Lotte, dann ein völlig aufgelöster Kristallomant, danach ein Augur mit gebrochenem Handgelenk. Sie blieben alle dicht bei der Stelle, an der sie landeten, wo Nick sie mit gezogener Pistole bewachte. Als ich Michael die Hand hinstreckte, um ihm zu helfen, wurde er von Jaxon beiseitegeschubst. Mühelos erklomm er die Zinnen, warf seinen Spazierstock voraus und beugte sich dann zu mir runter, um mir ins Ohr zu flüstern: »Eine Chance hast du noch, mein Liebchen. Komm zurück nach Seven Dials, dann werde ich vergessen, was du in Sheol I gesagt hast.«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte ich: »Danke, Jaxon.«
Er sprang so elegant von der Mauer, dass es fast aussah, als würde er schweben. Ich drehte mich zu Michael um. Aus der Schnittwunde in seinem Gesicht lief Blut über seinen Hals und durchnässte sein Hemd.
»Los.« Ich packte seine Handgelenke. »Einfach nicht runterschauen.«
Mit Mühe gelang es Michael, ein Bein über die Mauer zu schieben. Seine Finger krallten sich in meine Unterarme.
Ein ersticktes Keuchen drang aus Nells Kehle. Auf ihrem Hosenbein breitete sich ein Blutfleck aus. Mit ängstlich aufgerissenen Augen starrte sie mich an. Ein starker Sog lief durch meinen Körper.
»Runter!«, brüllte ich so laut, dass ich die Sirenen übertönte. »Runter, sofort!«
Aber es blieb ihnen keine Zeit mehr, zu gehorchen. Die wartenden Flüchtlinge auf der Treppe wurden von einem Kugelhagel erfasst.
Zuckende, sich windende Körper. Ein schriller Schrei. Michaels Handgelenke glitten mir durch die Finger. Ich duckte mich hinter die Balustrade und hielt schützend die Arme über den Kopf.
Ihr oberstes Ziel würde sein, uns aufzuhalten: töten, ohne zu zögern.
Unten brüllte Nick meinen Namen, schrie mir zu, dass ich springen sollte, aber ich war starr vor Angst. Meine Wahrnehmung schrumpfte zusammen, bis ich nur noch meinen Herzschlag, meinen flachen Atem und das gedämpfte Dröhnen der Waffen hörte. Dann packte mich jemand, schob mich über die Mauer und ich fiel.
Meine Sohlen kamen so hart auf dem Boden auf, dass ich es bis in die Hüften spürte und noch ein paar Meter vorwärts katapultiert wurde. Mit einem dumpfen Knall und einem schmerzerfüllten Stöhnen landete jemand neben mir – Nell, die krampfhaft die Zähne zusammenbiss. Sie kroch mühsam über den Boden, dann rappelte sie sich auf und humpelte so schnell sie konnte davon. Ich krabbelte in dieselbe Richtung, bis ich Nick erreichte, der sich sofort meinen Arm um den Hals schlang. Mit einer ruckartigen Bewegung wollte ich mich losreißen.
»Wir müssen die anderen … –«
»Paige, komm!«
Auch Nadine hatte es über die Mauer geschafft, aber die beiden anderen kletterten gerade erst auf die Zinnen. Eine neue Salve vom White Tower ließ die Überlebenden in alle Richtungen flüchten. Danica und Zeke sprangen und wurden zu zwei Silhouetten im viel zu hellen Mondlicht.
Da spürte ich den Scharfschützen über uns. Ein amaurotisches Mädchen fiel, ihr Schädel explodierte wie eine weiche Frucht. Fast wäre Michael über sie gestolpert. Jetzt konzentrierte sich der Scharfschütze – eine Frau – auf ihn.
Die Nerven in meinem Körper verwandelten sich in Feuerzungen. Mit einem Ruck löste ich mich aus Nicks Griff. Kaum mehr als ein Tropfen Kraft war mir geblieben, aber mit ihm schleuderte ich mein Bewusstsein durch die Traumlandschaft der Schützin, schickte ihren Geist in den Aether und ihren Körper über die Mauer. Als ihr leerer Leichnam auf dem Gras aufschlug, rannte Michael weiter zum Fluss. Ich brüllte seinen Namen, aber er war schon fort.
Meine Füße waren schneller als meine Gedanken. Die Risse in meiner Traumlandschaft klafften auf wie frische Wunden. Wir waren jetzt dicht an der Straße, ganz nah, fast hatten wir es geschafft. Ich konnte schon die Straßenlaternen sehen. In der Festung dröhnten die Waffen. Dann heulte ein Motor auf und bläuliche Scheinwerfer tauchten auf. Leder unter meinen Fingern. Motor. Schüsse. Ein einzelner, schriller Ton. Um die Kurve, über die Brücke. Und dann verschwanden wir in der Zitadelle wie Staub im Schatten, nur die Sirenen heulten uns noch hinterher.