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Immer wieder werde ich erstaunt gefragt, warum gerade ich eigentlich „nur“ mit zwei Katern zusammenlebe. Viele Menschen erwarten, dass eine große Katzengruppe in meinen vier Wänden herumtollen würde. Gelegenheiten, Katzen aufzunehmen, bieten sich mir täglich; leider werfen so viele Halter die Flinte zu schnell ins Korn, wenn ihre Katzen verhaltensauffällig werden, und wollen sie dann einfach nur noch loswerden. Die Vorstellung, wie in meiner Londoner Zeit mit vielen Katzen leben zu dürfen, ist sehr verlockend, aber meine Kater haben es so entschieden! Sie wollen es genau so: ein Leben zu zweit! Zumindest der eine. Sie sind ein Dream-Team und mit ihren völlig unterschiedlichen Vorgeschichten ist diese Konstellation für beide meiner geliebten Kater optimal. Auch wenn ich es mir anders wünschen würde.
Wie es ausgehen kann, wenn eine Katze den Anforderungen, die ihr das Leben in einem Mehrkatzenhaushalt abverlangt, nicht gewachsen ist, sehe ich jeden Tag.
Von den insgesamt zwölf Millionen Katzen in deutschen Haushalten lebt schätzungsweise ein Viertel mit mindestens einem Artgenossen zusammen; ich spreche in diesem Zusammenhang von einem Mehrkatzenhaushalt.1 Eine nicht bezifferbare Anzahl Katzen, die als Freigänger gehalten werden, treffen draußen regelmäßig auf Artgenossen, mit denen sie fast immer die Reviere teilen müssen. Freigängerkatzen sind gezwungen, ihre Beziehungen zu Nachbarkatzen zu regeln, auch wenn sie selbst als Einzelkatze gehalten werden. Sowohl die Mehrzahl der Halter, die mich in meiner Praxis konsultieren, als auch die überwiegende Zahl der Bewerber für die Fernsehsendungen, bei denen mich ein Kamerateam begleitet – “Katzenjammer“, „Drei Engel für Tiere“ und „hundkatzemaus“– klagen über Probleme im Mehrkatzenhaushalt. Häufig liegt die Ursache des Verhaltensproblems, das es zu therapieren gilt, wie beispielsweise Unsauberkeit oder Harnmarkieren, in dysfunktionalen Katzenbeziehungen. Das Zusammenleben von Katzen – sowohl unter einem Dach als auch in der Nachbarschaft – birgt immer ein gewisses Konfliktpotenzial. Verstehen sich Katzen nicht, können daraus Verhaltensauffälligkeiten und sogar gesundheitliche Probleme entstehen. Oftmals maskieren Verhaltensprobleme die eigentlichen Beziehungsprobleme. Diese sind dann ohne eine Konfliktlösung nicht therapierbar. Katzen wie Menschen leiden in dieser schwierigen Situation enorm. Wenn Katzenbeziehungen gelingen, sei es nun, dass zwei oder mehrere Katzen unter einem Dach harmonisch zusammenleben oder in der Nachbarschaft befreundet sind, ist dies für alle eine wunderschöne Erfahrung – sowohl für die Katzen als auch für ihre Menschen. Ich habe in meinem Leben viele gut funktionierende, aber auch schwierige Katzenkonstellationen kennengelernt. So durfte ich mit einzelnen Katzen, mit Katzenfreunden und mit einer großen Katzengruppe zusammenleben. Dabei habe ich sehr schöne und unerwartete Erfahrungen gemacht, aber auch Konflikte aus erster Hand miterlebt. Meine mit Artgenossen unverträgliche Katze Gina machte jeder anderen Katze das Leben buchstäblich zur Hölle. Sie griff ohne Vorwarnung an und fügte etlichen Artgenossen blutige Wunden zu. Bevor sie zu mir kam, lebte sie in einer Familie mit zahlreichen Katzen unterschiedlichen Alters und Geschlechts mehr schlecht als recht zusammen, und es gab keine in ihrem Umfeld, die nicht sofort das Weite suchte, wenn Gina auf der Bildfläche erschien. Ihre Halter wollten endlich wieder Ruhe und Frieden in ihrem Mehrkatzenhaushalt haben und so durfte ich Gina aufnehmen. In Berlin freundete sie sich jedoch wider Erwarten mit unserem Nachbarskater Joey an. Zusammen wurden sie ein tolles Team, das am liebsten gemeinsam in der Sonne auf unserer Dachterrasse lümmelte. Katzen, die sich verstehen und mögen, profitieren vom Zusammensein mit anderen. Allerdings leben auch viele mit Artgenossen zusammen, die sie entweder gar nicht oder nur widerwillig in ihrer Nähe haben möchten. Eine solche Lebenssituation wird für Katzen und Menschen schnell zur Qual. Auch ich habe dies vor vielen Jahren leidvoll erfahren müssen, als eine Mitbewohnerin die Streunerkatze Minki in unsere Studenten-WG aufnahm und Gina ihr derartig zusetzte, dass ein Zusammenleben unmöglich wurde. Jeder, der mit mehreren Katzen zusammenlebt, wünscht sich, dass die Tiere gut miteinander auskommen. Doch statt von Harmonie, Frieden und Eintracht ist das Zusammenleben der Millionen Katzen in Mehrkatzenhaushalten nicht selten durch schwelende oder offene Konflikte geprägt, die Atmosphäre ist angespannt und führt zu schädigendem Dauerstress. Es ist immer wieder traurig, Zeugin zu sein, wenn Menschen mit ihren Katzen vor dem Scherbenhaufen ihres Zusammenlebens stehen, weil sich die Katzen nicht (oder nicht mehr) vertragen. Viel zu oft fällt dann die Entscheidung, eine Katze ins Tierheim zu geben, und schlimmer noch – und für mich gar nicht verständlich – eine Katze einschläfern zu lassen. Eine schier unerträgliche Realität, denn viele Probleme hätten vermieden werden können, wenn die Gründe für eine weitere Katze vorher gründlicher bedacht und die Auswahl sowie die Zusammenführung der Tiere verantwortungsvoller ausgeführt worden wäre.
Ich möchte niemanden verunsichern oder gar Angst vor einem Mehrkatzenhaushalt machen. Vielmehr ist es mir eine Herzensangelegenheit, mit diesem Buch Wege aufzuzeigen, wie wir unsere Katzenfreunde von Anfang an optimal auf ein Leben mit Artgenossen vorbereiten können.
Leider sind es immer wieder dieselben hausgemachten Probleme und Kardinalfehler, die das Zusammenleben einiger Katzen so schwierig bis gar unmöglich machen. Wie man diese umschifft beziehungsweise auf ein Minimum reduziert, werde ich in meinem Buch darlegen. Ich möchte Anstöße geben, wie wir partnerschaftlicher und harmonischer mit unseren Katzen leben können. Der Aufwand für das Gelingen eines Mehrkatzenhaushalts ist gering im Vergleich dazu, was es kostet, die Scherben einer zerbrochenen Katzenbeziehung aufzulesen und in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammenzusetzen.
Durch die sorgfältige Auswahl eines passenden Katzenpartners, einer gründlich geplanten und vorsichtig durchgeführten Zusammenführung sowie einer artgemäßen Gestaltung der Lebensumstände erhöht man die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches, dass ein Mehrkatzenhaushalt auf harmonische Weise gelingt. Für diejenigen unter Ihnen, die all das schon getan haben und deren Katzen trotzdem (noch) nicht miteinander leben können oder möchten, zeige ich Wege auf, wie Sie möglicherweise doch noch ein gegenseitiges Tolerieren der Katzenindividuen erreichen können. Eine Katze abzugeben, sollte der letzte Ausweg sein, wenn man nichts unversucht gelassen hat. Auch wenn Katzen nicht zu einer engen Beziehung finden, gelingt es in vielen Fällen durch die therapeutische Unterstützung, dass sie sich tolerieren und die Anwesenheit der anderen dulden. Und das ist die gute Nachricht: Wir können viel dazu beitragen, dass es gelingen könnte. Ich sage bewusst könnte, denn in letzter Konsequenz entscheiden die Katzen jedoch selbst, ob sie sich miteinander arrangieren – oder nicht. Die Fallbeispiele sollen die Mehrkatzenhaushaltsproblematik illustrieren und begreifbar machen.
So können Halter künftig besser einschätzen, ob Verhaltensprobleme ihrer Katzen darin begründet sind, dass der Haussegen zwischen den Katzen schief hängt oder andere Ursachen verantwortlich sind. Die zugrundeliegenden Konflikte zu erkennen und sich einzugestehen, dass der Mehrkatzenhaushalt (noch) nicht funktioniert, sind die ersten beiden Schritte zur Entschärfung und Lösung der Konflikte sowie zur Verbesserung der Lebenssituation für alle. Die in diesem Buch vorgestellten Fälle sind real, lediglich Namen, Orte und Begleitumstände wurden zum Schutz der Privatsphäre der beteiligten Akteure verändert.
Probleme in Mehrkatzenhaushalten kommen sowohl bei reinen Wohnungskatzen als auch bei Freigängern vor. Letztere müssen sich das Revier mit einem oder gar mehreren Artgenossen teilen. Freigänger haben eine nach außen verlagerte oder in einigen Fällen gar eine erweiterte Mehrkatzenhaushaltsproblematik. Dies trifft dann zu, wenn sie Probleme mit Artgenossen draußen als auch mit anderen Katzen im gemeinsamen Haushalt haben. Gibt es draußen viele Konflikte mit Artgenossen, kann das negative Auswirkungen auf ihr Leben in der Wohnung haben, sprich die Katzen tragen den Konflikt ins Haus und das hat wiederum negative Auswirkungen auf ihr seelisches Wohlbefinden oder sogar ihre körperliche Gesundheit. Der Grundstein für Konflikte zwischen Katzen in einem Haushalt kann schon bei der Auswahl gelegt werden. Katzen, die nicht zueinander passen, haben es schwer, gemeinsam unter einem Dach zu leben. Dies ist ähnlich wie bei Menschen. Der nächste mögliche Stolperstein ist eine falsche oder zu schnelle Zusammenführung, die es den Katzen mitunter unmöglich macht, eine freundschaftliche Ebene zu finden. Unter Katzen herrscht eine strenge Etikette. Es gibt feste Regeln und Verhaltenscodes, die Katzenindividuen einzuhalten haben, wenn sie neu in einem Revier sind und dort auf andere Katzen treffen. Bei Hau-Ruck-Vergesellschaftungen kommt es entweder sofort zu handfesten Konflikten, nicht selten aber auch erst nach längerer Zeit. Dann können die Halter oft nicht nachvollziehen, dass die Ursachen in der längst vergangenen Zusammenführung lagen.
Aber auch Katzen, die sich bis dahin gut verstanden haben, können von einem Tag auf den anderen zu Feinden werden. Einst friedlich zusammenlebende Katzen bekriegen sich und ein verzweifelter Halter steht hilflos und überfordert vor dieser Situation.
In einigen Problemszenarien finden wir offene Aggressivität und Feindseligkeit. Andere Szenarien offenbaren erst nach genauem Hinschauen eine subtile Mobbingsituation, die aber nicht weniger bedrohlich für die gemobbte Katze ist. Für Katzenhalter ist es nicht immer ersichtlich, dass ihre Katzen sich nicht vertragen, denn Konflikte werden nicht zwangsläufig offen ausgetragen. Schwelende Konflikte der Katzen untereinander führen zu einer konstanten Anspannung, vom Halter häufig lange übersehen; die Katzen leben jedoch ständig auf der Hut voreinander – Opfer wie Täter.
Katzen sind Meister des Psychoterrors und die kätzischen Opfer reagieren oft ähnlich wie betroffene Menschen. Typische Reaktionen von gemobbten Menschen sind Rückzug und Angst. Viele Katzen, die unter Mobbing leiden, ziehen sich ebenfalls sukzessive zurück und werden zunehmend ängstlicher. Dies kann so weit gehen, dass eine gemobbte Katze nur noch hinter dem Sofa, auf dem Schrank oder im Badezimmer lebt, bis hin zum scheinbar „freiwilligen“ Auszug aus dem heimischen Revier und Einzug in den katzenfreien nachbarlichen Haushalt. Viele betroffene Tiere mit einem übermäßigem Rückzugsverhalten entwickeln auch Angststörungen und weitere Verhaltensauffälligkeiten wie Unsauberkeit, Harnmarkieren, übermäßiges Kratzmarkieren oder Aggressivität. Probleme im Mehrkatzenhaushalt können sich vielfältig äußern, auch äußerst subtil, was dazu führen kann, dass die Schieflage der Beziehungen im Katzenhaushalt oder in der Katzennachbarschaft gar nicht oder nicht früh genug erkannt wird.
Katzenkonflikte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht immer sofort zu erkennen und identifizieren sind. Katzen, die nicht miteinander klarkommen, zeigen dies nicht notwendigerweise in offenen tätlichen Auseinandersetzungen, sondern tragen ihre Konflikte eher subtil aus. Es ist das stete, aber feine „Nagen“ am Nervenkostüm ihres kätzischen Gegenübers, das diesen mürbe macht und für uns Menschen so schwer zu erkennen ist. Manche Halter bemerken eine spannungsgeladene Atmosphäre, haben dieser aber keine weitere Bedeutung beigemessen.
Dem Mobbinggeschehen auf die Spur zu kommen, bedarf scharfsinniger Detektivarbeit und einer genauen Beobachtung der Kontrahenten. Als Katzentherapeutin ist man in diesen Fällen auf eine Kombination von eigenen Beobachtungen bei Hausbesuchen, Videoanalysen sowie der detaillierten Beschreibung und der täglichen Dokumentation der Ereignisse durch den Tierhalter, beispielsweise in Form eines Tagebuchs, angewiesen.
Mein Tipp
Vermuten Sie Konflikte in Ihrem Mehrkatzenhaushalt, ist es sinnvoll, ein Katzentagebuch zu führen. Notieren Sie Ihre täglichen Beobachtungen: Körpersprache, Lautäußerungen und Aktionen aller Katzen, ohne diese zu werten. Notieren Sie also nicht „Charlie war wieder böse zu Lucy“, sondern stattdessen „Charlie fixierte Lucy bei ihrem Toilettengang“.
Seien Sie ein passiver Beobachter und analysieren Sie möglichst objektiv die Umstände und halten Sie sich an folgende Fragen: Was, Wann, Wo? Gibt es Regelmäßigkeiten? In oder nach welchen Situationen treten bestimmte Verhaltensweisen nur ab und zu oder immer wieder auf? Haben Sie Ihre Kamera oder Ihr Handy mit Videofunktion stets griffbereit zur Hand, um solche Szenen aufzunehmen.
Offen ausgetragene Aggressionen unter Katzen sind für uns Menschen leichter greifbar, da sichtbar und zuweilen auch hörbar. Meistens laufen diese Konflikte ohne Blutvergießen ab, aber zuweilen verletzen sich die Kontrahenten so schwer, dass die Wunden tierärztlich versorgt werden müssen. Viele Halter holen sich hier schneller Hilfe für ihre aus dem Lot geratene Katzenbande. Einfacher zu lösen sind die offen ausgetragenen, sichtbaren Probleme aus therapeutischer Sicht aber leider dennoch nicht. Denn oft ist es nicht so, wie es scheint. Halter identifizieren manchmal den „Täter“ als „Opfer“ und umgekehrt und versuchen den vermeintlichen Katzenaggressor zu bestrafen. Nicht selten wird mir von vermeintlicher Dominanz oder Aggressivität einer bestimmten Katze berichtet, was sich später, im Rahmen meines Hausbesuches oder der Videoanalysen, als falsch erweist. Ich stelle dann genau das Gegenteil fest.
Auch bei Freigängern scheint die Zahl an Verhaltensproblemen zuzunehmen, obwohl diese Katzen einen wichtigen Teil des artgemäßen Repertoires ausleben können, wie z. B. das Jagen. Je mehr natürliche Bedürfnisse eine Katze befriedigen kann, desto weniger anfällig ist sie für Verhaltensauffälligkeiten. Halter von Freigängern scheinen es auf den ersten Blick leichter zu haben, da sie sich weniger Gedanken um die katzengerechte Unterhaltung machen müssen. Bei genauer Betrachtung stellt sich die Situation allerdings anders dar. Die Katzenpopulation in Wohngebieten wird immer dichter und immer mehr Katzen müssen sich somit immer weniger Lebensraum und immer kleiner werdende Reviere teilen. So gut wie jede Freigängerkatze trifft auf viele Artgenossen, mit denen sie ihre Beziehungen regeln muss. Hat eine Katze Probleme mit der einen oder anderen Katze, auf die sie trifft, kann das dazu führen, dass sie nur noch zu bestimmten Zeiten das Haus verlassen will oder ihren Freigang in ständiger Anspannung durchsteht, da sie fürchten muss, auf einen bedrohlichen Artgenossen zu stoßen.
Bei Freigängerkatzen findet die direkte Konfrontation mit unliebsamen Artgenossen auch außerhalb der Wohnung statt. Hier sind die Probleme für den Halter oftmals noch schwieriger zu lösen, denn die Konflikte haben trotzdem auch Auswirkungen auf das kätzische Leben im häuslichen Revier. Zuweilen kommt es sogar vor, dass fremde Katzen versuchen, in die Wohnung des jeweils anderen Freigängers einzudringen, um auch dort ihr Revier zu etablieren. Ein spannender Fall von mir betraf zwei Kater, die wie eine Gang ein überaus großes Revier besetzten. Wie weitläufig ihr Revier war, stellten wir erstaunt fest, als wir die Bilder einer Catcam auswerteten, die wir den beiden umgehängt hatten. Eine Catcam ist eine kleine Video-Fotokamera, die eigenständig Bilder produziert. Sie wird an einem Halsband mit selbstlösenden Verschlüssen, die die Strangulationsgefahr minimieren, befestigt. Zudem kam zutage, dass die beiden regelmäßig in die Nachbarshäuser eindrangen und dort ihren Revieranspruch mit Kotmarken besiegelten. In Gesprächen, die ich mit diversen Nachbarn führte, die ebenfalls Katzen hielten, bestätigten alle einstimmig, dass ihre Katzen sich nicht aus dem Haus trauten, wenn das Bruderpaar unterwegs war. Da die beiden nachts im Haus bleiben mussten, blieb den betroffenen Nachbarskatzen nur die Nacht für ihre Streifzüge. Dies ist ein extremer Fall, in abgemilderter Form betrifft es jedoch nicht wenige Freigänger. Aber auch Wohnungskatzen, die Freigänger- oder Streunerkatzen durchs Fenster beobachten, können durch den bloßen Anblick der fremden Katze derartig in Stress geraten, dass sie mit Unsauberkeit oder Markierverhalten reagieren.
Einige Katzen trifft es besonders hart, nämlich dann, wenn sie sowohl im Haus mit einer Katze Probleme haben als auch im Freien mit einem oder mehreren Artgenossen nicht klarkommen.
In einem Mehrkatzenhaushalt weisen Verhaltensauffälligkeiten oft auf einen bestehenden Grundkonflikt zwischen den im Haus lebenden Katzen hin. Gerade das zeitweise oder vollständige Meiden der Katzentoilette, das ich häufig in Mehrkatzenhaushalten antreffe, ist meist eine Reaktion auf innerartliche Konflikte. Konzentriert sich der Halter ausschließlich auf die Unsauberkeit, weil er die Probleme, die die Katzen miteinander haben, nicht erkennt, beginnt nicht selten ein langer Leidensweg für Katze und Mensch, da die eigentliche Ursache, nämlich das schwierige Verhältnis innerhalb der Katzengruppe, unangetastet bleibt. In solchen Fällen können noch so optimale Toilettenbedingungen bereitgestellt werden, die Katze schon x-Mal beim Tierarzt – ohne Befund – untersucht worden sein und trotzdem wird die Unsauberkeit unverändert anhalten.
Auch ich habe Unsauberkeit, wie weithin angenommen, lange als Verhaltensproblem Nummer eins bei Katzen angesehen. Diese Einschätzung und Gewichtung zieht sich wie ein roter Faden durch die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Katzenliteratur. Mittlerweile habe ich diese Meinung durch die Erfahrungen mit vielen menschlichen und kätzischen Klienten, die ich über die Jahre begleiten durfte, revidiert. Unsauberkeit in Mehrkatzenhaushalten erweist sich in der täglichen Praxis oft als Konsequenz aus den Konflikten der Katzen untereinander und wäre ohne diese wahrscheinlich nicht aufgetreten. Unsauberkeit ist ein typisches Beispiel dafür, wie Verhaltenssymptome von der eigentlichen Ursache ablenken können. Meistens liegt der Fokus auf der Beseitigung des Symptoms (Katze benutzt das Klo nicht), die eigentliche Ursache (Konflikt im Mehrkatzenhaushalt) wird nicht berücksichtigt. Gerade bei Unsauberkeit im Mehrkatzenhaushalt ist es wichtig, Ursache und Symptom auseinanderzuhalten und zu benennen. Dies ist für den unerfahrenen Katzenhalter oftmals alles andere als einfach. Dafür ist viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl erforderlich. Zuerst muss an einer nachhaltigen Konfliktlösung zwischen den betroffenen Katzen gearbeitet werden. Danach rückt die Unsauberkeit in den Fokus, falls dies dann noch nötig sein sollte. In vielen Fällen sind jedoch Unsauberkeit und andere Verhaltensthemen, wie beispielsweise das Harnmarkieren, wieder verschwunden. Auch im folgenden Fall überdeckt die Unsauberkeit einer der beiden betroffenen Katzen die Spannungen im Mehrkatzenhaushalt.
Die berufstätige Singlefrau Katharina Landau kontaktierte mich wegen eines rätselhaften Unsauberkeitsproblems. Sie lebte mit ihren Katzen, der achtjährigen Bella und dem Neuzugang, der fünfjährigen Lulu, in ihrer 60 Quadratmeter großen Eigentumswohnung im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses in Rheinland-Pfalz. Lulu hatte sie erst vor einem Jahr von ihrer besten Freundin Caro übernommen. Die Wohnung war, da das Haus in unmittelbarer Nachbarschaft eines Friedhofs lag, angenehm ruhig und bot neben einer vorbildlichen katzengerechten Ausstattung mit Kratzmöbeln und Rückzugsmöglichkeiten auch einen gesicherten Südbalkon mit weitem Ausblick ins Grüne, so wie Katzen es mögen.
Bellas Geschichte: Die ältere der beiden, Bella, lebte schon seit fünf Jahren bei Katharina Landau. Ihre Vorgeschichte lag komplett im Dunkeln. Katharina hatte das damals sehr schüchterne Tier aus dem Tierheim geholt. Doch mit sehr viel Liebe und Fürsorge hatte Bella ihr schüchternes Naturell überwunden und Mensch und Tier waren zu einem unzertrennlichen Team zusammengewachsen. Bella genoss das Leben mit ihrer geliebten Menschenfreundin.
Da Frau Lindaus Job es zuließ, dass sie werktags nur sechs Stunden außer Haus war, hatte sich ein ruhiger Tagesablauf mit festen Routinen etabliert, die Bella sehr zu schätzen wusste und die ihr Sicherheit und Stabilität gaben. Kam ihr Frauchen von der Arbeit zurück, forderte Bella erst einmal ausführliche Streicheleinheiten an der Wohnungstür ein, bevor sie Katharina passieren ließ und Frauchen ihren Feierabend einläuten „durfte“. Bella zeigte sich auch Fremden gegenüber aufgeschlossen. Wenn Frau Lindau hin und wieder abends Besuch von Freunden bekam oder es an der Tür klingelte, zeigte Bella keinerlei Anzeichen von Stress oder Angst. Sie tat, was typisch für viele Katzen ist: Sie wartete erst einmal kurz ab, prüfte zunächst vorsichtig, wer gerade ihr Revier betreten hatte und näherte sich den meisten Gästen bald neugierig und freundlich. Das Zusammenleben mit Bella gestaltete sich völlig unproblematisch. Verhaltensprobleme waren ein Fremdwort. Das änderte sich, als Lulu in ihr Leben trat.
Lulu hatte Katharinas bester Freundin Caro gehört, bevor Katharina sie in Pflege nahm. Und das kam so: Eines Tages schaute Caro abends nach der Arbeit aufgeregt bei Katharina und Bella vorbei: Sie hatte ihren absoluten Traumjob in Australien angeboten bekommen. Und auch für ihren Mann gab es ein verlockendes Angebot in Down-Under. Aber was sollte mit Lulu geschehen? Caro war sehr im Zwiespalt und wollte sich mit ihrer Freundin beraten. Schließlich kamen die beiden Freundinnen überein, dass Katharina, die Caros Katze gut kannte, Lulu bei sich aufnehmen würde. Hatte Katharina doch schon oft, während Caros Urlauben, Lulu in der Wohnung ihrer Freundin betreut. Lulu mochte ihre „Katzentante“ und es war für Katharina selbstverständlich, Caro zu helfen und Lulu Obdach zu geben. So kam es, dass die ältere Bella ihr Zuhause mit der jüngeren Lulu teilen sollte.
Es war keine einfache Entscheidung für Caro, ihre Lulu zurückzulassen. Doch aufgrund der beschwerlichen Flugreise und letztendlich wegen der sehr harten und restriktiven Quarantänebestimmungen – Katzen werden dort, bevor sie endgültig einreisen können, lange in speziellen Stationen isoliert und gehen teilweise unter diesen Bedingungen sogar zugrunde – war es ihr unmöglich, Lulu nach Australien mitzunehmen. Diese Stressfaktoren und gesundheitsbedrohlichen Strapazen wollte sie ihrer Katze keinesfalls zumuten. Eine Entscheidung, die ihr unendlich schwerfiel, hatte sie doch Lulu bereits als kleines Kätzchen von einem Bauernhof zu sich geholt und hing mit ganzem Herzen an ihrem Tier.
Lulus Geschichte: Caro hatte Lulu als junges Kätzchen bei einem Wochenendausflug aufs Land entdeckt, als sie und ihr Mann in einer Straußwirtschaft regionale Weine und kulinarische Köstlichkeiten probierten. Sie hatten Lulu beim Spielen mit ihren vier Geschwisterkätzchen beobachtet. Die Kleine wirkte auf die beiden einfach unwiderstehlich und schon bald hielt Caro das Kätzchen im Arm und wollte es vor Verzückung gar nicht mehr loslassen. Caro verliebte sich Hals über Kopf in das unwiderstehliche Fellknäuel und wollte es behalten. Nach einigen Erkundigungen erfuhren sie, dass die Besitzer des benachbarten Bauernhofs, die ihre Katzen verantwortungsloserweise nie kastrieren ließen, bereits per Inserat nach Käufern für den lästigen Katzennachwuchs suchten, um sich etwas dazuzuverdienen. Was wohl passiert wäre, wenn sie keine Abnehmer für die Katzenwelpen gefunden hätten, möchte ich mir gar nicht ausmalen. Da Lulu zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gesäugt wurde und ungewollte Kätzchen auch auf dem Land meist viel zu früh abgegeben werden – weil man sie schnell loswerden will, da sie sonst Futterkosten verursachen –, muss Lulu damals ungefähr neun Wochen alt gewesen sein. Caro und ihr Mann hatten zu der Zeit so gut wie keine Katzenerfahrung; sie bezeichneten sich eher als Hundemenschen, aber sie wollten Lulu auf keinen Fall bei dem Bauern zurücklassen. So diskutierten sie den ganzen Nachmittag lang, ob es eine gute Idee sei, die Katze mitzunehmen, schließlich waren sie beide beruflich stark eingebunden. Leider teilten sie die noch immer weit verbreitete Meinung, dass eine Katze weniger Arbeit und Verantwortung bedeutet als ein Hund, und entschieden sich, Lulu mit nach Hause zu nehmen. Schnell wurde man sich mit dem Bauern handelseinig und noch am selben Abend trat Lulu in einer Weinkiste mit der glücklichen Caro die Rückreise im Auto an. Lulu war Caros erste Katze und zu ihrem Glück war Lulu ziemlich unkompliziert, wenn auch etwas eigensinnig. Die Kleine entwickelte sich bei ihnen zu einer selbstbewussten Katze, die gern ihr eigenes Ding machte und ihren eigenen Kopf hatte. Streicheln ließ sie sich nur, wenn sie es wollte, sonst zog sie von dannen. Und wagte es jemand, sie am Bauch zu berühren, was sie überhaupt nicht schätzte, so wurde dieser erst einmal gezwickt. Lulu machte deutlich klar, was sie wollte, und wies ihre Menschen selbstbewusst in ihre Grenzen.
Immer wenn Caro und ihr Mann auf Reisen waren, kümmerte sich Katharina um Lulu. Die Katze war es gewohnt, von Katharina versorgt zu werden. Lulu mochte Katharina, weil sie stets höflich die nötige Individualdistanz wahrte und ihr niemals zu eng auf den Katzenpelz rückte. Lulu dankte es Katharina mit Zuneigung und Vertrauen. Katharina dagegen schätzte Lulus eigenständigen Charakter. So war über die Jahre ein eingespieltes und stimmiges Catsitting-Team entstanden.
Zwei Tage vor ihrer endgültigen Abreise nach Australien brachte Caro Lulu samt ihrem stattlichen Katzenhausstand in Katharinas Wohnung und eine unglückliche Zusammenführung nahm ihren Lauf. Lulu saß zusammengekauert in der hintersten Ecke ihres Transportkorbs. Caro stellte diesen auf den Teppich im Wohnzimmer und öffnete die Tür. Bella lag auf dem Sofa und beobachtete die Szene. Lulu kam langsam im Kriechgang aus der Kiste und erkundete geduckt und im Zeitlupentempo erst das Wohnzimmer und dann den Rest der Wohnung. Bella rührte sich derweil nicht vom Fleck und fauchte Katharina an, als diese sie beruhigend streicheln wollte. Caro, der der Abschied sichtlich schwerfiel, weinte, aber wähnte ihre Katze in guten Händen und ging nach Hause. Weder an diesem Abend noch in den kommenden Tagen kam es zu handfesten Streitereien. Die Katzen behielten sich ständig im Auge und schlichen wachsam umeinander herum. Auf beiden Seiten gab es etwas Geknurre und Gefauche, doch es kam zu keinen offensichtlichen Spannungen. Lulu und Bella schienen ganz gut miteinander auszukommen, machten aber auch in der Folgezeit keine Anstalten, eine enge Freundschaft zu entwickeln, wie sie Katharina und Caro seit ihrer Kindheit verband. Katharina und Caro hatten es sich im Traum nicht vorstellen können, dass es zu ernsthaften Problemen zwischen den Tieren kommen würde.
Doch drei Monate nach Lulus Einzug wurde Bella schleichend unsauber. Immer mal wieder, wenn Katharina nach der Arbeit nach Hause kam, entdeckte sie auf dem Sofa einen feuchten Fleck, dies war ihr gemeinsamer Kuschelplatz. Es war ganz offensichtlich Katzenurin, doch von welcher ihrer Katzen wusste sie nicht. Sie entfernte die Flecken ohne sich lange zu ärgern und entschuldigte achselzuckend das Malheur: „So etwas kann ja mal passieren!“ Erst als sich diese Vorfälle häuften und zwei- bis dreimal in der Woche auftraten, wurde sie unruhig. Sie skypte deshalb häufiger mit Caro am anderen Ende der Welt, die jedoch der Meinung war, das Problem müsse mit Bella oder sogar mit Katharina selbst zusammenhängen, denn ihre Lulu wäre nie zuvor unsauber gewesen. Sie zweifelte sogar an ihrer Entscheidung, Lulu bei Katharina zurückgelassen zu haben.
Katharina war sehr enttäuscht über Caros Reaktion und fühlte sich in ihrer Not alleingelassen. Vor Caros Auswanderung hatten sie immer alle kleinen und großen Probleme des Alltags miteinander besprochen und gemeistert. Beste Freundinnen eben. Und nun? Wie sollte es weitergehen? Was die Unsauberkeit betraf, verstand sie nicht, wie es möglich sein konnte, dass eine Katze an einem Tag ihre Katzentoilette anstandslos benutzte und am nächsten Tag diese verweigerte und stattdessen auf das Sofa machte. Allerdings war danach über Wochen Ruhe, sodass sie jedes Mal Hoffnung schöpfte, dass sich das Problem von allein erledigt hätte. Als Katharina immer häufiger und auch an anderen Orten Urinflecken entdeckte – sogar im Bett auf ihrem Kopfkissen –, musste sie sich traurig und frustriert eingestehen, wie groß ihr Problem tatsächlich war.
Als Katharina Caro das Ausmaß der Unsauberkeit beichtete, rief Caro immer häufiger an und drängte Katharina, endlich etwas zu unternehmen. Caro, ganz der Typ „toughe Businessfrau“, wollte das Problem endlich geregelt wissen. Caros Drängen bedeutete noch mehr Stress für die verzweifelte Katharina und es belastete die langjährige Freundschaft der beiden Frauen zusätzlich.
Ständig hatte Katharina zwischen Hoffnung und Enttäuschung geschwankt, dieses Auf und Ab hatte an ihren Nerven gezerrt, aber nun stand fest, dass sie etwas unternehmen musste. Trotzdem fühlte sie sich wie gelähmt, da sie nicht wusste, wie sie den Katzen helfen sollte. Sie fühlte sich hilflos und allein, und manchmal auch einfach nur wütend. Ihre negativen Gefühle belasteten natürlich auch die Beziehung zu Bella und Lulu, denn die beiden spürten ihre Niedergeschlagenheit und Verzweiflung, und das führte zu noch größeren Unsauberkeitsproblemen. Als dann noch ein Bekannter, in den sie als dauerhaften Partner leise Hoffnung gesetzt hatte, eine frische Urinstelle im Bett entdeckte und äußerst pikiert und angewidert reagierte, wäre Katarina am liebsten vor Scham im Boden versunken.
Die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit waren ein Jahr nach Lulus Einzug schließlich überschritten. Endlich konsultierte Katharina ihre Tierärztin. Beide Katzen wurden ausführlich durchgecheckt, Blut und Urin untersucht, um herauszufinden, ob eine Blasenentzündung oder Ähnliches vorlag. Doch alle Untersuchungen kamen zu dem gleichen Ergebnis: Weder Bella noch Lulu hatten körperliche Beschwerden. Die Katzendamen waren kerngesund.
Die Tierärztin wunderte sich zwar, dass Katharina trotz des enormen Leidensdrucks so lange gewartet hatte, um sich Hilfe zu holen, riet Katharina aber zunächst nur, das Katzenklo häufiger sauber zu machen und ammoniakfreie Reinigungsmittel zu benutzen. Nun radelte Katharina in jeder Mittagspause nach Hause, um das Klöchen so oft wie möglich zu säubern. Sie kaufte auch ein zweites Katzenklo, in der Hoffnung, es würde helfen. Doch keine der Maßnahmen half, das Problem blieb unverändert bestehen. Katharinas Tierärztin vermutete bei einem zweiten Besuch eine psychische Ursache für die Unsauberkeit und riet Katharina eine spezialisierte Katzenverhaltenstherapeutin zur Rate zu ziehen. Dadurch kam ich ins Spiel.
Wir verabredeten sofort einen Hausbesuch. Ich wollte und musste mir die Örtlichkeiten und die Dynamik zwischen den Katzen anschauen – und natürlich auch die Toilettensituation.
Schon früh in unserem Beratungsgespräch stellte sich heraus, dass die Unsauberkeit nur dann auftrat, wenn Katharina außer Haus war. Um herauszufinden, welche Katze den Urin absetzte, installierten wir einen Laptop mit aufzeichnender Kamera in die Nähe der Couch. Katharina erhielt die Hausaufgabe, ganz genau zu beobachten, welche Katze wann auf die Toilette ging und dies nach Möglichkeit mit der Kamera zu filmen. Sie sollte auf alles achten: Wer gestresst reagierte und insbesondere auch darauf, wie sich die zweite Katze währenddessen verhielt. Als erste Maßnahme riet ich Katharina eindringlich, die Hauben von den beiden Katzenklos zu entfernen, da die Abdeckungen für die meisten Katzen eine absolute Zumutung sind. Außerdem empfahl ich ihr, eine weitere Katzentoilette zu besorgen.
Eine Woche später kam bei der Videoanalyse zutage, was ich fast schon vermutet hatte. Es war ohne Zweifel Bella, die auf das Sofa pinkelte. Auf den Aufnahmen war deutlich zu sehen, dass Bella von Lulu verfolgt wurde, wenn sie gerade ihre Notdurft verrichten wollte. Bella konnte ihr nicht entkommen. Lulu hockte auf einer Kommode, direkt dem Klo gegenüber, ungefähr anderthalb Meter von Bella entfernt und starrte Bella, die ihr Geschäft machen wollte, unaufhörlich an. Sobald Lulu auch nur ahnte, dass sich Bella in Richtung Toilette begeben wollte, ließ sie sie nicht mehr aus den Augen und kam ihr hinterher.
Bella zeigte sich von ihrer Verfolgerin sichtlich beeindruckt: Wann immer sie merkte, dass sie bei ihrem Klogang beobachtet oder verfolgt wurde, drehte sie unverrichteter Dinge wieder ab. Sie war deutlich gestresst.
Erst wenn es höchste Eisenbahn war und Bella es gar nicht mehr aushalten konnte, benutzte sie notgedrungen das Katzenklo. Sie schnupperte dabei aber weder an ihrer Hinterlassenschaft, noch verscharrte sie diese, wie es Katzen üblicherweise tun. Stattdessen sprang sie mit einem Satz aus der Toilette und suchte das Weite, um im nächsten Augenblick sofort wieder von Lulu verfolgt zu werden.
Katharina hatte dieses Belästigen und Nachsetzen zwar schon bemerkt, es jedoch fälschlicherweise als ein harmloses, gar positives Verhalten gedeutet. Sie war der Meinung, Lulu und Bella spielten Fangen miteinander. Hielt sich Katharina bei diesen angeblichen Spielszenen in der Nähe auf, lief Bella oft zu ihr, um sich in Sicherheit zu bringen. Katharina streichelte dann Bella, in der Annahme, dieses Zusammentreffen sei Zufall. War Katharina nicht zu Hause, kletterte die aufgescheuchte und gestresste Bella auf die oberste Stufe ihres Kratzbaums und suchte dort Zuflucht. Um ein Spiel handelte es sich bei diesem Verhalten nicht, sondern um eine Variante fortgeschrittenen Mobbings. Jetzt war klar, warum Bella immer dann unsauber wurde, wenn Katharina nicht zu Hause war. Der Grund lag eindeutig in der unheilvollen Dynamik zwischen den beiden Katzen.
Ich musste Katharina erklären, dass Bella Schutz bei ihr suchte und äußerst gestresst war. Bella hatte Angst, auf die Toilette zu gehen, wenn Katharina nicht in ihrer Nähe war. Wir mussten nun herausfinden, was sich nach Lulus Einzug in Bellas Leben zum Negativen verändert hatte und warum Bella sich mit Lulu dermaßen schwertat. Und so erzählte mir Katharina von den schleichenden Veränderungen in der Katzenbeziehung.
Katharina hatte Bellas Wesensveränderung nicht mit Lulu in Verbindung gebracht, da es keine offensichtlichen Spannungen zwischen Bella und Lulu gegeben hatte. Die Veränderungen kamen schleichend. Bella war vor Lulus Einzug schon immer sehr schmusig, doch sie wurde deutlich anhänglicher, nachdem Lulu eingezogen war. Sobald Katharina zur Tür hineinkam, war Bella in Katharinas Worten ‚an ihr dran‘, die Katze wollte gar nicht mehr allein sein. Auch spielte Bella, die früher von Katzenangel und Mäuschenwerfen gar nicht genug bekommen konnte, nun fast gar nicht mehr. Da sich Lulu auch noch bei den beliebten Fummelbrettern vordrängelte, hörte Bella mit diesem ihr lieb gewordenem Hobby gänzlich auf.
Katharina schilderte Lulu als die wildere Katze, eine, die schon immer spielfreudiger gewesen sei als Bella. Ihrer Meinung nach hatte sich Lulu gut eingelebt. Sie sei im direkten Vergleich aktiver und selbstbewusster als Bella. Spannungen habe sie, wenn überhaupt, nur auf einer ganz subtilen Ebene mitbekommen. Katharina sollte von nun an detailliert Tagebuch über die Beziehung ihrer beiden Katzen führen. Sie sollte alles, was sie beobachtete, genau protokollieren. Als sie von da an genauer hinsah, wurde ihr nach und nach klar, dass sich ihre Bella nun viel weniger zutraute als vor Lulus Einzug.
Bellas Bewegungsradius war enorm geschrumpft. Durch die Aufzeichnungen und die Videos erkannten wir, dass sich Bella die meiste Zeit des Tages nur noch oben auf ihrem Kratzbaum aufhielt. Dabei wirkte sie alles andere als entspannt. Sobald sie etwas von Lulu mitbekam, schreckte sie sofort aus ihrer Ruheposition hoch und schaute besorgt und gestresst vom Kratzbaum hinunter. Bella konnte sich nur noch tief entspannen, wenn sich Katharina in unmittelbarer Nähe aufhielt.
Für mich war klar, dass das Problem der Unsauberkeit erst einmal in den Hintergrund treten musste, da es lediglich ein Symptom war und nicht die Ursache der vorhandenen Problematik. Das Urinieren erklärte sich als eine direkte Folge dieser Spannungen zwischen den Katzen. Es galt nun, die belastete Beziehung zwischen Bella und Lulu genau zu analysieren, vor allem, um die Frage zu beantworten, ob die beiden überhaupt kompatibel miteinander waren. Konnten wir sie trotz aller Probleme erfolgreich miteinander vergesellschaften?
Um meine Hypothese zu überprüfen, dass der Konflikt zwischen den Katzen die Unsauberkeit bedingte, trennten wir sie tagsüber. Prompt benutzte Bella wieder ihr Klo. Während der Trennung kam es zu keinem einzigen Zwischenfall. Bella wirkte zudem überaus erleichtert, sie befand sich endlich in Sicherheit. Das Problem der Unsauberkeit war also – zumindest isoliert betrachtet – gelöst.
Lulu, die durch die Abtrennung nur die Hälfte ihres gewohnten Lebensraums zur Verfügung hatte, litt jedoch unter der Verkleinerung ihres Reviers und entwickelte einen regelrechten Hüttenkoller. Sie war bei Caro einen lebhaften Haushalt gewohnt, dort war immer etwas los gewesen. Zudem hatten Caro und ihr Mann in einer doppelt so großen Wohnung gelebt. Durch die zusätzliche räumliche Beschränkung auf noch weniger Wohnraum drehte Lulu fast durch. Sie wirkte unruhig und angespannt. Es musste etwas geschehen.
Bei meinen Hausbesuchen hatte ich bemerkt, dass Katharina in einer für Katzen sicheren Umgebung wohnte. Es gab keine größeren Straßen in der Nähe und im Haus lebten keine frei laufenden Hunde. Das brachte mich auf eine Idee und Katharina stimmte zu. Wir konstruierten gemeinsam eine Katzenleiter, mit der die Katzen selbstständig in den Garten klettern konnten. Die hilfsbereite Nachbarschaft wurde informiert und man versprach, auch tagsüber ein wachsames Auge auf die Katzen zu werfen.
Lulu nahm den Freigang begeistert an und blühte auf. Sich draußen aufzuhalten kannte sie bereits aus ihren Kindheitstagen auf dem Bauernhof. Die meiste Zeit verbrachte sie in Gartennähe, ihr Gemüt wurde schnell wieder fröhlich und ihr Temperament ungestüm wie eh und je. Lulu verrichtete ihr Geschäft nun meistens draußen, was Bella mehr Ruhe verschaffte, zudem waren kaum noch „fremde“ und bedrohliche Gerüche im heimischen Klo. Bella hingegen traute der Katzentreppe nicht so recht; sie wollte nur in Katharinas Begleitung in den Garten. Beide gingen dann gemeinsam durchs Treppenhaus nach unten und Bella schnupperte ein wenig herum, beobachtete interessiert die Vögel und legte sich, sobald es warm genug war, nach ihrer kleinen Runde zu Katharina in den Garten-Strandkorb. Nun hatte jede ihr eigenes Leben und ihren eigenen Bereich: Lulu eher draußen und Bella eher in der Wohnung.
Beide Katzen tolerieren sich und haben genügend Möglichkeiten, um sich aus dem Weg zu gehen.
In diesem Fall hatten wir es mit extrem unterschiedlichen Katzenpersönlichkeiten zu tun. Bella brauchte dringend Ruhe, Geborgenheit und überschaubare Routinen. Lulu dagegen anregende Erlebnisse und eigene Freiräume. Sobald wir ihren teilweise so konträren Bedürfnissen gerecht wurden und für adäquate Rahmenbedingungen gesorgt hatten, kam Ruhe in den Mehrkatzenhaushalt. Die beiden Katzendamen, die wahrlich einen schlechten Start gehabt hatten, lebten weitestgehend stressfrei miteinander. Dadurch war auch das Unsauberkeitsproblem behoben.
Man hätte bei diesem Fall wahrscheinlich ewig erfolglos an einem vermeintlich falschen Toilettenmanagement herumdoktern können, die Vermutung, dass da einiges falsch lief, lag ja nahe. Man hätte so aber niemals das eigentliche, zugrundeliegende Problem – und damit die Unsauberkeit – gelöst.
Die Verstörung des Halters durch die Unsauberkeit der Katze ist verständlich. Eine Urinlache neben dem Katzenklo fällt sofort ins Auge, eine subtile Beziehungsproblematik dagegen nicht unbedingt. Natürlich will der Halter das Unsauberkeitsproblem zuallererst lösen. Wer möchte schon in einer Wohnung leben, die unerträglich nach Katzenurin stinkt?
Mein Tipp
Ein problembelasteter Mehrkatzenhaushalt verlangt, dass Sie sofort handeln. Für eine positive Prognose ist es sehr wichtig, dass die Katzen keine weiteren negativen Erfahrungen miteinander machen – und seien sie noch so gering.
Wenn es zwischen den Katzen einfach nicht „rund“ laufen will, lösen die Konflikte zwangsläufig auch bei ihren Menschen intensive Gefühle aus. Wer kann schon gelassen bleiben, wenn er regelmäßig Zeuge von Mobbingszenen und Leid bei seinen Liebsten wird, wenn tagtäglich die Fetzen und Haarbüschel fliegen oder eine Katze sich verkriecht, weil ihr das Leben schwer und der Bewegungsspielraum zusehends streitig gemacht wird? Man möchte handeln, weiß aber oft nicht wie, denn man möchte allen Tieren gleichermaßen gerecht werden.
Eine derart emotional aufgeladene Situation empfindet jeder Mensch anders. Viele sind hin- und hergerissen und werden mit widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert. Viele empfinden Mitleid mit beiden und schlagen sich mal auf die eine und mal auf die andere Seite der Streithähne. Das Spektrum des Leidensdrucks reicht von Hilflosigkeit, Überforderung und Schuldgefühlen bis hin zu absoluter Verzweiflung. Man kann die Situation nicht mehr ignorieren und klagt: „Meine Katzen sind nicht mehr die Alten! Sie suchen meine Nähe nicht mehr und eine zieht sich immer mehr zurück.“ Spätestens hier schleicht sich die Angst ein, eine Katze zu verlieren – sie abgeben zu müssen.
Zuweilen erhöht das Umfeld der Katzenhalter den Druck und Stress und heizt die Situation mit oft falschen oder nicht hilfreichen Ratschlägen weiter auf. Je nach Persönlichkeit des Halters wird hier mit Frust und Enttäuschung, gegebenenfalls sogar mit Aggression gegenüber dem Tier reagiert. Doch was passiert? Je mehr Stress im Katzenhaushalt auftritt, desto mehr verstärken sich die Verhaltensprobleme. Ein nur schwer zu durchbrechender Teufelskreis.
Ich erlebe es täglich in meiner Praxis, wie massiv Familie, Freunde, Bekannte, Kollegen, aber auch Internetforen Druck auf die eh schon belasteten Katzenhalter ausüben können. Ähnlich wie wir Deutschen bekanntlich ein Volk von achtzig Millionen Fußball-Bundestrainern sind – und ich nehme mich hier ausdrücklich nicht aus – scheint es bei uns nur so vor Katzenprofis zu wimmeln, unerheblich, ob derjenige etwas mit Katzen zu tun hat oder dessen „Wissen“ aus dem Hundebereich stammt. Dem Katzenhalter werden Strafmaßnahmen vorgeschlagen, er wird gedrängt, das Tier ins Tierheim zu geben oder gar einschläfern zu lassen. Dahinter verbirgt sich die Ansicht, dass der Katze nicht oder nicht anders zu helfen und das Problem nicht anders zu lösen sei. Diese Situation ist per se natürlich alles andere als konstruktiv, da sie den Halter lähmt, sodass er vor lauter Angst keinen klaren Gedanken fassen kann. Der einzig positive Aspekt dieser Unkenrufe: Wir sollten sie als Weckruf begreifen.
Der erste Schritt besteht darin, dass der Halter das Problem erkennt und zugeben kann, dass ein akuter Handlungsbedarf besteht. In der Regel lösen sich auch bei Katzen die Probleme nicht von allein. Weder Aussitzen und Ignorieren noch kopfloser Aktionismus sind geeignete Lösungsstrategien. Bitte resignieren Sie nicht! Bleiben Sie bei sich, hören Sie nicht auf zweifelhafte Ratschläge oder pessimistische Prognosen und suchen Sie sich professionelle Hilfe. Aber bedenken Sie bitte, dass Katzenverhaltenstherapeuten den Weg nur vorbereiten können, von Ihnen wird aktives Mitwirken beim Umsetzen der therapeutischen Maßnahmen verlangt. Ein gemeinsamer Neuanfang, wie ich ihn oft vorschlage, bedeutet auch immer eine Chance, sein Tier durch die gemeinsame Arbeit besser kennenzulernen. Der Halter lernt, genauer hinzuschauen und weiß später, wie er Druck und Anspannung weitgehend aus dem gemeinsamen Umfeld heraushalten kann. So kann er präventiv Konflikten entgegensteuern und schafft Bedingungen, die es den Katzen ermöglicht, sich miteinander zu arrangieren.
Ein gegenseitiges Tolerieren der Katzen ist die Grundlage dafür, dass sich Verhaltensprobleme auflösen können. Die Zeit der Therapie ist arbeitsreich, doch als Belohnung winkt dem Halter immer auch eine wunderbare Intensivierung der Beziehung zur Katze. Was gibt es Schöneres?