cover

»The greatest gift God could give to man was
the ability to talk and communicate.
And a big part of communication is music.«

 
»Das größte Geschenk, das Gott den Menschen
machen konnte, war die Gabe zu sprechen
und zu kommunizieren. Und ein großer Teil
von Kommunikation ist Musik.«
 

Leonard Bernstein

 

ERWARTEN SIE WUNDER!

 

Prolog

Was ist eigentlich klassische Musik? Sie ist ein Abenteuer, eines, das wir erleben, wenn wir uns auf sie einlassen. Sie nimmt uns mit in eine andere Welt. Sie entfaltet dort eine ungeheure Macht. Und aufgrund dieser Macht kann sie uns ungemein viel geben, gerade heute in diesen unruhigen, so sehr beschleunigten Zeiten. Davon handelt dieses Buch.

Die Frage lässt sich noch anders beantworten. Klassische Musik ist ein Universum, das sich ausdehnt, sobald man sich hineinbegibt. Man findet dort alles, was diese Kunstform seit fast tausend Jahren bis heute hervorgebracht hat: die mittelalterliche Musik, die Musik der Renaissance und des Barock, die Klassik und Romantik, schließlich die Neue Musik, die Oper, sinfonische Werke, Kirchen- und Kammermusik. Wenn ich in diesem Buch immer wieder von klassischer Musik spreche, dann umfasst dieses Universum all diese ästhetischen Ausdrucksformen, die über die Anordnung von Tönen geschaffen wurden und werden. In der klassischen Musik liegen unsere gesamte abendländische Tradition, die große Entwicklungsidee bis hin zur Moderne und der Kanon mit seinen Werken aus den unterschiedlichen Epochen. In ihr liegt nie versiegende menschliche Kreativität, durch die unaufhörlich Werke in dieser Kunstform hervorgebracht werden. In ihr liegen aber auch das Gemeinschaftserlebnis und die Begegnungen in den Opern- und Konzerthäusern. Und nicht zuletzt der Konsens über die Bedeutung und den Wert dieser Kunstform. Das meine ich mit klassischer Musik.

In diesem Buch geht es nicht nur um sie, sondern auch um uns und darum, warum wir es nicht zulassen sollten, dass die klassische Musik in unserer schnelllebigen, hochtechnologisierten und visuell geprägten Welt an gesellschaftlicher Bedeutung verliert. Was würde uns sonst an unsere Traditionen erinnern, die wir in unserer postmodernen Orientierungslosigkeit so dringend brauchen? Was könnte uns umfänglicher inspirieren, unsere Vorstellungen bereichern, was würde uns weitertreiben – weit in die Zukunft hinein, ohne dass wir vergessen, wer wir sind, und uns in ihr verlieren?

 

Kent Nagano, im Juli 2014

KAPITEL 1

Von Rinderzüchtern und Trompeten

»Die gesprochene Sprache hat stets etwas mit Aussagen und Argumenten zu tun, mit Fragen und Antworten. In der Sprache der Musik gibt es das nicht. Es gibt keine Argumente; die Musik ist frei davon und immer bereit, ein Teil von jedermann zu werden.«

 

Wachtang Korisheli

 

DAS KLINGENDE FISCHERDORF   Ich habe einen Traum. Vielleicht ist es irreführend, ein Buch mit diesem Satz zu beginnen, der mich unweigerlich in die Nähe der Träumer rücken könnte. Aber ich bin kein Träumer, sondern Realist. Und deshalb schreibe ich dieses Buch. Für meinen Traum. Dieser Traum zieht mich weit zurück in meine Kindheit, in die fünfziger und sechziger Jahre, die ich – aus europäischer Perspektive – am Ende der Welt verbrachte. Er führt mich an die Westküste der Vereinigten Staaten, irgendwo ins Niemandsland auf der gut vierhundert Meilen langen Strecke zwischen Los Angeles und San Francisco, die man heute, wenn man über den Highway fährt, in sieben Stunden zurücklegen würde.

Direkt an der landschaftlich wilden Küste liegt auf etwa halbem Weg zwischen den beiden Metropolen der unscheinbare Ort Morro Bay, damals nichts weiter als ein kleines Fischerdorf mit vielleicht zweitausend Einwohnern aus aller Herren Länder. Wenn ich an meine Kindheit in diesem Dorf zurückdenke, dann erklingt in meinen Erinnerungen immerfort Musik – Bachs Präludien und Fugen, Beethovens und Mozarts Sinfonien, Choräle für große Chöre, Kantaten. Für einen Dirigenten ist es womöglich nichts Ungewöhnliches, Erinnerungen mit Musik zu verbinden, wo doch Klänge den Lebensalltag bestimmen. Wer kennt nicht die suggestive Kraft von Melodien, die in der Lage ist, Landschaften, Gebäude, Situationen, Menschen und ganze Phasen der Vergangenheit in der eigenen Vorstellung auferstehen zu lassen.

Doch so meine ich das nicht. Ich höre Musik, die von unseren Orchestern damals gespielt und von den Chören tatsächlich gesungen wurde, immerzu, weil die ständige Präsenz klassischer Musik mit großer Selbstverständlichkeit unseren dörflichen Alltag bestimmte. Sie war Teil unseres Lebens, einfach immer da – zum Üben, zum Zeitvertreib, zum Erwerb sozialer Anerkennung, für das Gemeinschaftserlebnis. Ohne Musik war das Leben meiner Geschwister, Freunde, Klassenkameraden und mein eigenes gar nicht vorstellbar. Dabei machten wir Musik um der Musik willen. Keines von uns Bauernkindern dachte damals an eine Karriere als Musiker. In meiner Kindheit und Jugend deutete nichts darauf hin, dass ich irgendwann einmal als Dirigent meinen Lebensunterhalt verdienen würde.

Chor- und Orchesterproben, Klavierunterricht, dazu Musiktheorie – das alles bestimmte die sieben Tage der Woche, ohne dass meine Geschwister und ich da etwas Besonderes gewesen wären. Fast jeder in unserer ländlichen Gemeinde war irgendwie in das Musikleben involviert. Die Kinder der Rinderzüchter genauso wie die der Feldbauern und Fischer, der Handwerker, der Lehrer und Lebensmittelhändler, des Schuldirektors. Morro Bay war ein klingendes Fischerdorf, etwas Merkwürdig-Einmaliges zwischen Felsen, Feldern und dem Pazifik. In der Intensität, mit der sich die Kinder der Musik widmeten und ihre Eltern in die Welt der Klassik hineinzogen, war unser Ort ungewöhnlich, vielleicht sogar ein wenig seltsam. Die Musik verband uns alle, diese Gesellschaft aus Einwanderern völlig unterschiedlicher ethnischer und kultureller Hintergründe. Im Rückblick erscheint mir das fast wie ein Traum.

Vielleicht sollte ich ein bisschen ausholen: Meine Großeltern väter- und mütterlicherseits waren Ende des 19. Jahrhunderts von Japan nach Amerika ausgewandert und hatten sich als Gemüsebauern an der Westküste Amerikas niedergelassen, um sich dort im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« ihr Glück zu erarbeiten. Unsere Familie lebt seit gut 120 Jahren in Amerika – die Hälfte der Zeit seit es die Vereinigten Staaten gibt. Ich bin also ein echter Amerikaner. Meine Großeltern betrieben eine Farm, die später, nachdem mein Großvater schwer erkrankte, mein Vater und seine Brüder übernahmen. Weder mein Vater noch meine Mutter waren als Landwirte ausgebildet. Beide sollten es nach dem Willen ihrer Eltern weiterbringen und Berufe erlernen, die ihnen eine Existenz jenseits der Landwirtschaft ermöglichten. Beruflich verfolgten sie deshalb ganz andere Pläne: Mein Vater hatte an der University of California, Berkeley, Architektur und Mathematik studiert, meine Mutter graduierte dort als Mikrobiologin und Pianistin.

Dann aber wurden sie Bauern – gezwungenermaßen, denn mein Großvater hatte keine Kraft mehr, seine Felder selbst zu bewirtschaften. Erst viel später, im Jahr 1976, bekamen sie die Möglichkeit, sich ihrer akademischen Ausbildung entsprechend beruflich zu engagieren. Damals wurde unser Ackerland im Rahmen eines regionalen Entwicklungsprogramms in Baugrund umgewandelt und von einem Nahrungsmittelkonzern aufgekauft. Auf Teilen unserer ehemaligen Felder stehen heute Gebäude. Meine Mutter arbeitete fortan als Mikrobiologin für die Gesundheitsbehörde, mein Vater plante und baute nicht nur Privathäuser, sondern auch große Handelszentren. Da lebte ich längst nicht mehr in Morro Bay.

Ich bin, wenn man so will, ein Bauernkind, das Kind eines Artischockenzüchters; eines, das seinen Vater wenig sah, er war meistens draußen auf den Feldern. Erst abends, wenn er zurückkam, beschäftigte er sich mit seiner Architektur, er zeichnete Entwürfe, später immer öfter als Auftragsarbeiten. Er hatte schon früh begonnen, neben der Landwirtschaft ein kleines Architekturbüro aufzubauen, und zog sich oft in sein »Studio« zurück, wo er Entwürfe zeichnete und seinen Träumen nachhing. Meine Mutter achtete sehr darauf, dass wir Kinder ihn in seiner Arbeit dort niemals störten. Meine Mutter war nicht nur eine passionierte Wissenschaftlerin, sondern spielte eben auch hervorragend Klavier. Darüber hinaus war sie ungemein belesen und trug ihre Faszination für die Wissenschaft und ihre Liebe zu den Schönen Künsten der Musik und Literatur in unsere Familie hinein.

Die Landschaft, die uns umgab, war rau und weitläufig. Die kalifornischen Metropolen San Francisco im Norden und Los Angeles im Süden lagen von Morro Bay jeweils über zweihundert Meilen entfernt und waren damit in den fünfziger Jahren für uns Kinder nahezu unerreichbar. So selten, wie wir dorthin fuhren, waren das immer ganz besondere Ausflüge. Wir lebten buchstäblich am äußersten Rand Amerikas, da wo die Küste steil hinab in den Pazifik stürzt, wo sich die felsige Landschaft hin und wieder mit langen Stränden abwechselt, auf die in Sturmzeiten gigantische Wellen heranrollen. Am Meer waren meine drei jüngeren Geschwister und ich in unseren frühen Jahren allerdings eher selten, wenn man bedenkt, dass es direkt vor unserer Haustür lag. Unser Leben spielte sich weitgehend in den beiden Mikrokosmen unseres Zuhauses und der Schule ab.

DER ERNST DER MÜTTER   Als ich vier Jahre alt war, setzte mich meine Mutter ans Klavier. Sie tat das mit der ihr eigenen Bestimmtheit, mit der sie auch mit uns Bücher anschaute und uns aus ihnen vorlas oder sonntags mit in die Kirche nahm und keinen Zweifel daran ließ, dass wir auch die langweiligsten Predigten über uns ergehen lassen mussten. Jeder von uns ging von diesem Alter an bei ihr in die Lehre. Die Frage, ob wir das wollten, wurde überhaupt nicht gestellt. Sie stellte sich uns Kindern damit ebenso wenig. Wir übten das, was sie uns zeigte. Wir lernten Notenlesen und Zuhören – uns selbst und anderen, wir verinnerlichten den Unterschied zwischen Krach, Geklimper und ernsthafter Musik.

Musik war eine ernste Angelegenheit, sie war meiner Mutter wichtig, mehr als nur eine Spielerei, so essenziell wie das Lesen, Schreiben und Rechnen. Das Üben war Teil unseres kindlichen Alltags. Es war ein unumstößliches Faktum, das wir nie in Frage stellten. Vielleicht, weil meiner Mutter nicht daran gelegen schien, uns schon im Alter von vier Jahren zu Wunderkindern und später zu Künstlern auszubilden. Musik gehörte für sie zur Erziehung ihrer Kinder, sie war ganz selbstverständlich Teil einer humanistischen Ausbildung und damit unseres Alltags. Niemals war sie Mittel für irgendeinen Zweck. Ich würde nicht behaupten wollen, dass wir als Kinder übermäßig motiviert waren, uns regelmäßig dem Klavier zu widmen. Ob wir gern geübt haben?

Ich zumindest nicht. Aber ich wehrte mich auch nicht dagegen. Es war eine Frage der Folgsamkeit, die sich automatisch einstellt, wenn einem jemand mit unbeirrbarer Bestimmtheit etwas abverlangt, das er selbst täglich vorlebt. Vielleicht ist es das, was man heute als sanfte Gewalt bezeichnen würde, wenn man Kinder in manchen Fragen überhaupt nicht erst vor die Wahl stellt, sondern für sie entscheidet. Musik stand nicht zur Wahl, sie gehörte einfach zum Leben. Wenn ich zurückdenke, kommen meine Geschwister und ich mir heute erstaunlich folgsam vor, verglichen mit anderen Kindern zu dieser Zeit.

Meine Eltern waren für ländliche Verhältnisse ein wenig ungewöhnlich. Das lag nicht nur an der Kunstsinnigkeit meiner Mutter. Auch mein Vater trug seine eigentliche Berufung in unser Familienleben hinein. In unserem Haus fanden sich überall Skizzen, Bauzeichnungen und Architekturmodelle. Als wir etwas älter waren, nahm er uns immer öfter auf seine Baustellen mit. Er erklärte uns nicht nur die Konstruktion der Gebäude, sondern ließ keinen Zweifel daran, dass er Architektur auch als eine Kunstform verstand, die in ästhetischer Hinsicht ihre Zeit widerspiegelte, sie prägte und im besten Fall über sie hinausführte.

Meine drei Jahre jüngere Schwester und ich spielten überwiegend Klavier. Mein Bruder dagegen entwickelte ziemlich bald eine Vorliebe für Blechblasinstrumente und lernte Posaune, meine jüngste Schwester Bratsche. Nie hat einer von uns daran gedacht, ein Instrument aufzugeben. Auf eine solche Idee wären wir einfach nicht gekommen, zumal unser tägliches Leben tatsächlich wenig Ablenkung bot. Wir lebten abgeschieden, trieben schon deshalb keinen organisierten Sport, gingen nur hin und wieder zum Strand und versuchten, uns von den großen Jungen das Wellenreiten abzuschauen. Mitte der fünfziger Jahre kauften meine Eltern einen Fernseher. Viel aber gab es gar nicht zu sehen. Der Empfang in Morro Bay, das im Osten von Bergen und im Westen von Wasser umgeben war, blieb über Jahre dürftig. Meinen Vater interessierte das Fernsehen vor allem wegen des täglichen Wetterberichts, auf den er als Landwirt natürlich angewiesen war, weil die Vorhersage die Planbarkeit erhöhte. Meistens aber verließ er sich dann doch auf das Radio.

Sicher spielte in unserer sechsköpfigen Familie die klassische Musik vergleichsweise früh eine Rolle. Das lag einfach daran, dass meine Mutter Musik liebte. Abgesehen davon aber unterschieden wir uns kaum von unseren Nachbarn und anderen Gemeindemitgliedern im ziemlich konventionellen Amerika der fünfziger und sechziger Jahre, in denen der Kirchgang, die Verwandtenbesuche und das Treffen von Freunden ebenso Bestandteil des Alltags waren wie die Schule und an den Wochenenden manchmal der Strand oder die Berge.

Es gibt die verrücktesten Geschichten über die Kindheit von Künstlern. Nach den Vorstellungen moderner Erziehung sind es vielfach traurige. Sie ähneln denen von exzellenten Sportlern. Da ist der strenge Vater, der von seinem Sohn einen gnadenlosen Einsatz fordert, stundenlanges Üben und Trainieren, tagein, tagaus, ohne Rücksicht auf die physischen und psychischen Folgen einer derart widernatürlichen Quälerei. In der Szene klassischer Künstler finden sich viele solcher Beispiele. Oder es ist die Mutter, die mit unbändigem Ehrgeiz eines ihrer Kinder zum Solisten machen will, weil es bereits in jungen Jahren Talent oder zumindest Interesse gezeigt hat. Kinder wecken schnell elterliche Phantasien. Und dann geht es los: Eine Vorführung jagt die nächste, die Kinder werden zu Wettbewerben geschickt, Musikern und bekannten Lehrern vorgestellt. Ein charakteristisches Phänomen unserer heutigen Zeit ist das nicht, es war schon vor Jahrhunderten so.

Wolfgang Amadeus Mozart wurde als Kind von seinem Vater täglich viele Stunden unterrichtet und in zahllosen Reisen der Welt vorgeführt – bis an die Grenzen der physischen Erschöpfung. Ähnlich erging es dem jungen Ludwig van Beethoven, dessen Alter von seinem überehrgeizigen Vater angeblich sogar um ein paar Jahre heruntergemogelt wurde, damit das Wunderkind am Klavier noch heller strahlte. Über die Leiden der kindlichen Stars spricht man ungern. Manche Autobiografie zeugt davon. Der Perfektionismus lässt das Idyll einer unbeschwerten Kindheit schnell zerfallen. Idyllisch jedenfalls ist es bei so manchem Klassik- oder Sportstar der Vergangenheit und Gegenwart nicht zugegangen. In Morro Bay aber war die Welt eine andere, die mir im Rückblick fast ein wenig unwirklich erscheint.

DAS WUNDER VON MORRO BAY   Das Musikwunder in diesem Fischerdorf begann mit dem Auftauchen eines pädagogischen Ausnahmetalents, das alles veränderte. Es war der gebürtige Georgier Wachtang Korisheli, den wir, seine Schüler, bis heute mit geradezu anhänglicher Verehrung Professor Korisheli nennen. In meiner Erinnerung kam er wie aus dem Nichts, vorbeigefahren mit seinem kleinen, ratternden Volkswagen. Er war einfach plötzlich da und begann, unsere Grundschule in eine Art musikalisches Labor zu verwandeln. Das war 1957, ich war gerade sechs Jahre alt.

Korisheli hatte im Alter von 36 Jahren bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Er kam aus Tiflis, wo er 1921 geboren wurde, just in dem Jahr, in dem die Sowjetunion Georgien gewaltsam annektierte. Seine Eltern waren Schauspieler, sein Vater bald auch in der gesamten Sowjetunion ein bekannter Bühnenheld, der sogar das Interesse des Diktators Stalin auf sich zog und ihm zu Ehren eine Vorstellung in Moskau gab. Dann aber wendete sich das Blatt, er wurde als georgischer Widerständler gegen die sowjetische Übermacht zum Staatsfeind erklärt, vom russischen Geheimdienst KGB verhaftet, interniert und 1936 hingerichtet. Sein Sohn Wachtang war damals gerade 15 Jahre alt. Stalin hatte er noch kennengelernt, als der Vater in der Gunst des Diktators ganz oben stand. Da hatte Stalin sogar einmal seinen Arm um den kleinen Wachtang gelegt und ein paar Worte mit ihm gesprochen. Vor der Exekution seines Vaters blieben dem Sohn und seiner Mutter gerade zwanzig Minuten Zeit, um sich von ihm durch die Gitterstäbe seiner Zelle zu verabschieden.

In der Sowjetunion hatte das Kind eines Staatsfeinds kaum eine Chance. Musiker hätte er in der Sowjetunion nicht werden können. In seinem letzten Schuljahr zeichnete sich das bereits ab. Stalin unterwarf alle Söhne und Töchter politischer Feinde immer neuen Restriktionen. Und Korisheli wusste schon damals, was das heißt: Er würde keine Ausbildung absolvieren und schon gar nicht studieren dürfen, von später einmal interessanten oder gar verantwortlichen Aufgaben in bedeutenden Institutionen ganz zu schweigen. Und auch in die Armee würden diese Kinder selbstredend nicht aufgenommen werden.

Seine Mutter, die als Schauspielerin am Rustaweli-Theater gearbeitet und es zu regionaler Beliebtheit gebracht hatte, verlor ihre Stelle und schloss sich einer fahrenden Theatertruppe an. Der Druck, den Stalin und der KGB auf die Familien deklarierter Staatsfeinde ausübten, war für die ganze Familie deutlich zu spüren. Die Perspektive für den begabten Pianisten, der am liebsten Musik studieren wollte, war düster, derart düster, dass er womöglich irgendwann in einem Arbeitslager gelandet wäre. Nach der Schule wurde er einer Arbeitseinheit zugeordnet und schon bald an die polnische Grenze versetzt. Dort sollten er und seine Kameraden in Erwartung der Invasion der deutschen Wehrmacht Verteidigungsgräben ausheben.

Die Wehrmacht war nicht weit, und die Konfrontation mit den deutschen Soldaten ließ nicht lange auf sich warten. Er wurde in eines ihrer Gefangenenlager verschleppt. Dank seiner guten Deutschkenntnisse und der Tatsache, dass er nicht Russe, sondern Georgier und zudem der Sohn eines Staatsfeinds war, überlebte er den Krieg. Er übersetzte für die Deutschen und musizierte. In den Wirren des Krieges verschlug es ihn über Salzburg und Bad Reichenhall nach München. An der Musikhochschule in München, die nach dem Krieg um junge Studenten warb, konnte er im Alter von Mitte zwanzig endlich ein Klavierstudium beginnen.

Doch blieb er kaum mehr als ein Jahr. Als Flüchtling vor der sowjetischen Armee hatte er den Status einer sogenannten Displaced Person erhalten, einer Person, die durch die Wirren des Krieges aus ihrem Heimatland herauskatapultiert worden war und für die, weil sie nicht repatriiert werden konnte, auf internationaler Ebene Neuansiedlungsprogramme ausgehandelt worden waren. Korisheli sollte nach Los Angeles weiterreisen, die Behörden hatten dort Verwandte von ihm ausgemacht. Mit dem Zuspruch seines Professors kehrte er München den Rücken und bestieg ein Schiff. Das Neuansiedlungsprogramm brachte den Klavierstudenten an die Westküste der Vereinigten Staaten. Nach München sollte er nicht mehr zurückkehren.

Vielleicht waren seine Geschichte und die für uns so fremde und geheimnisvolle Herkunft Teil der Magie, die seiner Person anhaftete. Georgien war nicht nur geografisch unvorstellbar weit weg. Es lag damals ja noch weit hinter dem Eisernen Vorhang. Und er war tatsächlich wie ein Blatt im tosenden Sturm des 20. Jahrhunderts immer weiter von zu Hause fort nach Westen geweht worden in einer Geschichte, die von Zufällen oder dem Schicksal bestimmt wurde und die mit kaum jemandem Mitleid zu haben schien.

Professor Korisheli war ein begnadeter Lehrer, der seine Berufung ziemlich früh gespürt haben muss. Schon während seiner Ausbildung zum Pianisten an der University of California, Los Angeles, an der er sich nach seiner Ankunft an der Westküste eingeschrieben hatte, änderte er seine Pläne und verabschiedete sich von einer Karriere als Pianist. Er wechselte die Universität, immatrikulierte sich in Santa Barbara, lernte auch noch Bratsche, ließ sich in Pädagogik unterweisen und machte dort seinen Abschluss als Musikpädagoge. Danach setzte er sich in seinen Käfer und fuhr an der kalifornischen Küste entlang gen Norden, passierte verschiedene Orte, führte diverse Vorstellungsgespräche an Schulen, die Stellen für Musiklehrer ausgeschrieben hatten, und hielt endgültig in Morro Bay. Ein Glücksfall für uns Kinder, denn in kürzester Zeit gelang es ihm, das Dorf in eine musikalische Oase zu verwandeln.

Der Erfolg dieses Ausnahmepädagogen lässt sich vielfach begründen. Er liegt nicht nur in seiner außergewöhnlichen, fast exotischen Erscheinung; es war vor allem seine authentische und ganz und gar bedingungslose Passion für die Künste, mit der er einem Menschenfänger gleich fast alle Kinder des Dorfs um sich versammelte, getrieben von der Überzeugung, den Kindern die Musik und damit ein wenig Lebensglück zu bringen. Dabei ging er seine Arbeit sehr strategisch an und fragte bereits bei seinem Vorstellungsgespräch in unserer Grundschule danach, ob der Schulvorstand ihm für die jüngeren Schüler zusätzliche Unterrichtszeit für Gehörbildung und das Notenlesen zugestehen würde, ganz abgesehen von den Orchestern und Ensembles, die er weiterzuführen und neu zu gründen gedachte.

Er war überzeugt davon, dass Musik in die Schule gehört, also in ein Lernumfeld, das die Kinder für sich auch als solches definierten. Wie für meine Mutter war Musik für ihn kein Spiel, keine Unterhaltung, kein beliebiger Zeitvertreib, sondern eine sehr ernste Angelegenheit. Wer bei ihm lernen und mit ihm musizieren wollte, musste ihn ernst nehmen. Und das ging am besten dort, wo Kinder so oder so mit einer vorbestimmten Lernhaltung täglich erschienen. Wir alle nahmen ihn sehr ernst. Es ging gar nicht anders. Professor Korisheli wusste genau: Wer die der Musik innewohnende Kraft für sich entdecken wollte, musste sich zunächst ordentlich anstrengen und in handwerkliche und einige kognitive Fähigkeiten investieren. Und die begannen mit dem genauen Hören und dem Notenlesen.

Das war damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Korisheli übernahm an unserer Schule eine Art Kapelle von etwa siebzig Schülern, die durchaus in der Lage waren, Märsche zu spielen. Allerdings musste er sehr bald feststellen, dass sie kaum Noten lesen konnten, sondern darauf angewiesen waren, dass ihnen jemand die Fingersätze über die Noten schrieb. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, diesen Schülern ein Notenblatt vorzusetzen und mit den Proben zu beginnen. Er ließ sich jedoch nicht beirren, krempelte die Ärmel hoch und begann, den Kindern mehr abzuverlangen, als sie gewohnt waren. Sie sollten Noten lesen, vom Blatt spielen, sich gegenseitig zuhören lernen. Zwei Drittel gaben alsbald auf. Sie verließen das Ensemble und brachten den Professor schon einige Monate nach seinem Antritt an unserer Schule an den Rand eines ersten großen Misserfolgs. Der Schulvorstand hatte den Lehrer schließlich nicht eingestellt, damit dieser in kürzester Zeit die Schul-Band dezimierte.

Korisheli stand kurz davor, das Handtuch zu werfen, der Schule zu kündigen, sich wieder in seinen Volkswagen zu setzen und davonzufahren. Dabei liefen ihm die jüngeren Schüler bereits in Scharen zu und machten in seinem Gehörbildungs- und Theorie-Unterricht gute Fortschritte. Das verbleibende Drittel dieses merkwürdigen Ensembles ließ sich nicht entmutigen, sondern auf ihn ein. Sie lernten Notenlesen, gaben nach seinem ersten Jahr an unserer Schule eine höchst eindrückliche Vorstellung ihres neuen Könnens und schienen wie beseelt von der Tatsache, dass Korisheli sie aus ihrem musikalischen Analphabetismus herausholte. Die Eltern und die Schulleitung waren begeistert. Und der Professor blieb. Sein großes Charisma zog bald schon das ganze Dorf in seinen Bann.

Ich glaube, ich wurde in seinem zweiten oder dritten Schuljahr sein Schüler. Meine Mutter entließ uns Kinder eines nach dem anderen in die Hände dieses Magiers. Und das war gut so. Denn alles, was wir vorher zu Hause gelernt hatten, stand plötzlich in einem größeren Zusammenhang. Der Sinn der Stunden am Klavier, die Mühsal des Notenlesens und des Einübens der Stücke erschloss sich im Handumdrehen. Wie die meisten Kinder hatten auch wir ein Ziel: Wir wollten an einem der Ensembles partizipieren, die der neue Lehrer gründete. Unbedingt. Alle wollten das. Korisheli begann, immer mehr Schüler für das Orchester zu rekrutieren. Über die Jahre wurden es so viele, dass sie bald drei Orchester füllten. Ich selbst lernte noch Bratsche und Klarinette, um in den Orchestern spielen zu können. Unterrichtet wurde ich auch in diesen Instrumenten von dem georgischen Professor.

MUSIK – SCHULE – MUSIK   Unser Alltag war – nicht zuletzt aufgrund der Musik – ziemlich straff organisiert. Morgens noch vor acht Uhr begann bei Korisheli der Unterricht für die, die sich in seine Klasse eingeschrieben hatten. Der Schulvorstand hatte ihm für seine musikalischen Ambitionen an der Schule inzwischen ein eigenes Gebäude zugestanden, das er zu einem Konservatorium für uns Grundschüler umbaute. Nach dem regulären Schulunterricht, der üblicherweise von neun bis halb drei Uhr am Nachmittag abgehalten wurde, liefen wir wieder zu ihm hinüber in sein Gebäude. Es folgten die Orchesterproben und zusätzlicher Einzelunterricht. Um 18 Uhr schließlich gingen wir nach Hause.

Die Aufnahme in sein Orchester, für die man sich schon ziemlich anstrengen musste, bedeutete einen Zuwachs an sozialem Prestige als Mitglied einer – vermeintlich – ausgewählten Gemeinschaft von Kindern, mit denen er sich intensiv beschäftigte. So auserwählt waren wir aber gar nicht. Denn es gelang ihm, buchstäblich jeden zu rekrutieren. Dan, den Sohn eines Rinderzüchters, brachte er dazu, Trompete zu spielen. Richtig gut wurde er in der Zeit, die ich im Orchester verbrachte, nie. Aber er war derart begeistert, dass er an allen drei Orchestern partizipierte. Ich kann gar nicht mehr zusammenrechnen, wie viele Stunden er in den Proben gesessen haben musste. Dagegen war mein Freund Noël, Sohn einer sehr katholischen Familie italienisch-schweizerischer Abstammung, ein richtiges Talent auf seiner Tuba. Er hatte einen warmen, weichen Ton. Irgendwann verschwand er aus meinem Blickfeld. Ganz leise. Es hieß, er sei an eine andere Schule gewechselt, auf der er zum Priester ausgebildet werden sollte.

In Erinnerung geblieben sind mir auch die Wochenenden. Dann besuchten wir unseren Lehrer in seinem Haus, und wieder waren immer andere Kinder dabei, um in ganz unterschiedlichen kammermusikalischen Zusammensetzungen zu proben. Das war ein unglaublicher Spaß. Wir vergötterten den Professor. Zu Hause hatten wir nie viel gemeinsam musiziert, jedenfalls nicht in Form von Trios oder Quartetten, an die man gewöhnlich denkt, wenn von Kammermusik die Rede ist. Das taten wir bei Korisheli. In seinem privaten Musikstudio hatte er eine Holztreppe mit zwölf Stufen eingebaut, die zu einer Art Hochebene führte. Jede der Stufen repräsentierte einen Halbton der chromatischen Tonleiter. Ich weiß nicht, wie vielen der Dorfkinder er auf dieser Treppe die Grundzüge der Harmonielehre beibrachte.

In seinem Zuhause beschäftigte er sich zudem mit Bildhauerei. Er hatte auch dafür ein eigenes Studio, in dem er aus Steinblöcken und Holzstämmen Skulpturen schuf. Er malte und sprach viel über Philosophie. Oft waren wir mit ihm unterwegs. Auf den Ausflügen, die er mit seinen Schülern unternahm, lernten wir viel über Malerei und Bildhauerei, über die Bedeutung der Ästhetik und natürlich über die großen Denker des Abendlands. Er teilte sein ganzes Wissen mit uns. An allem ließ er uns teilhaben.

Schule, Musik, die bildende Kunst und das Privatleben gingen auf geradezu organische Weise ineinander über. Für uns Kinder ebenso wie für unseren Lehrer. Wir lernten mit ihm und er mit uns. Sogar die Eltern bezog er mit ein. Seine Unterrichtstüren standen immer offen. Jede Mutter oder jeder Vater, die wollten, konnten den Unterrichtsstunden beiwohnen – und vor allem mitmachen. Er verwandelte die Eltern zu begeisterten Assistenten, damit die Kinder, kaum dass sie sein Konservatorium verließen, mit ihrer Musik nicht alleingelassen waren. Die Eltern, sagte er mir einmal, müssten Teil des kindlichen Erfolgs werden. Es war für ihn geradezu ein Dogma, dass die ganze Familie seine Musikerziehung genießen sollte, sofern Eltern zuvor keinen Zugang zu dieser Welt hatten, ihr Kind aber von ihm für das Orchester rekrutiert und zum Erlernen eines bestimmten Instruments gewonnen worden war.

Für fast alle Kinder an unserer Elementary School war die Musik auf geradezu organische Weise Teil ihres Alltags geworden. Korisheli hatte uns die Tür zu den Schönen Künsten ganz weit aufgestoßen und unseren Zugang zu ihnen geprägt. Aber er prägte nicht nur unsere Kunstsinnigkeit, sondern die einer ganzen Gemeinde, in deren Zentrum die Musik zu stehen schien. Genau das war stets seine Intention gewesen. Er verwandelte Morro Bay in ein klingendes Dorf, in dem die Musik über viele Konflikte hinweghalf, die in einer Gemeinschaft von Einwanderern ganz unterschiedlicher ethnischer Hintergründe immer wieder entbrennen.

Mit dem Ende der 6. Klasse im Alter von zwölf Jahren war die musikalische Idylle fast vorüber. Ich kam auf die weiterführende Schule, Professor Korisheli blieb noch weitere zwei Jahre mein Lehrer. Auf der Highschool aber änderte sich auch das. Und wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, wird mir klar, dass ich dann in eine Art Krise geriet. In dieser Zeit veränderte sich auch in Amerika viel, es setzte ein sozialer Wandel ein, der uns alle nicht unberührt ließ. Es war eine Zeit der Verunsicherung. Die Musik rückte in den Hintergrund. Andere Dinge wurden wichtiger, vor allem die Schule mit ihren Anforderungen. Nur noch sporadisch unterrichtete mich Professor Korisheli auf dem Klavier.

Mit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als ich 15 oder16 Jahre alt war, zogen in Amerika unruhigere Zeiten auf. Das Land hatte die Ermordung John F. Kennedys noch nicht verkraftet, da fiel 1965 der umstrittene Bürgerrechtler Malcom X einem Mordanschlag zum Opfer. Und ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie mich 1968 die Nachrichten, dass zunächst Martin Luther King und zwei Monate später Robert Kennedy erschossen wurde, in eine Art Schockzustand versetzten. Darüber hinaus hatten sich die Vereinigten Staaten bereits tief in den Vietnam-Konflikt verstrickt, der zu einem echten Krieg eskaliert war, ein grausiges Unterfangen, dessen Verlauf die Öffentlichkeit zunächst mit Unverständnis, dann wachsendem Entsetzen und schließlich mit heftigen Protesten verfolgte. Die Hippie- und Flower-Power-Bewegung, in der die Jugend in einer neuen Lebenshaltung ihrem Protest gegenüber der Politik des Establishments Ausdruck verlieh, erreichten auch mich damals.

Überhaupt war die amerikanische Bevölkerung in dieser Zeit stark politisiert, was meine Jugend im Rückblick sicher sehr geprägt hat. Auch mit Professor Korisheli diskutierten wir nach den Proben häufig noch lange und hitzig über die aktuellen Entwicklungen. Der Schwerpunkt meines musikalischen Engagements verlagerte sich in dieser Zeit hin zur Kirche. Damals schien es jedenfalls, als habe mein Umfeld Vordringlicheres zu tun, als sich weiterhin so individuell um meine musikalische Erziehung zu kümmern. Die Samen waren in den ersten Lebensjahren gesät worden, die kleinen Pflanzen, die daraus erwuchsen, wurden ein paar Jahre gepflegt. Dann aber wurden sie von einem Tag auf den anderen Wind und Wetter überlassen. Dafür, dass diese Pflanzen schließlich Früchte tragen würden, musste ich selbst sorgen.

Ob ich das tun würde, war lange nicht ausgemacht. Und so deutete in meiner Jugend wenig darauf hin, dass ich irgendwann einmal Musiker werden würde. Ich war ein aus Laiensicht wahrscheinlich recht guter, aber sicher kein hervorragender Pianist. Mit meinem Highschool-Diplom schrieb ich mich 1969 an der University of California für Soziologie ein – und für Musik. Ganz darauf verzichten wollte ich nicht.

Die Tage am College waren lang. Ich besuchte nicht nur gesellschaftswissenschaftliche Vorlesungen und Seminare, sondern auch viele Kurse in Musik, darunter in den Fächern Analyse, Theorie, Komposition. Auch regelmäßiger Klavierunterricht war Bestandteil des Musikstudiums. Ich übte viel – diesmal aus ganz eigenem Antrieb. Die Musik blieb ein wichtiger Teil meines Lebens. Dass sie schon bald eine derart dominierende Rolle spielen würde, dass also binnen kürzester Zeit kein Tag mehr vergehen würde, an dem ich nicht musizieren, über Musik nachdenken oder sprechen würde, war für mich persönlich damals überhaupt nicht absehbar. Daran hatten vor allem die Professoren im Fach Musik einen großen Anteil. Aber die Welt stand mir offen. Sie hatte, so erschien es mir im Alter von etwa 19 Jahren, unendlich viel zu bieten.

VON LEHRERN UND STRUKTUR   Warum erzähle ich das alles? Es sind jedenfalls keine nostalgischen oder gar sentimentalen Anwandlungen, die mich dazu bewegen. Ich schreibe das auf, weil mir im Rückblick auf meine eigene Geschichte so klar wird, was nötig ist, damit eine Gesellschaft über Generationen hinweg die Verbindung zur Musik und den Schönen Künsten nicht verliert. Und weil es kaum ein besseres Beispiel dafür gibt als uns Kinder aus Morro Bay.

Die Künste sind nur dann gesellschaftlich lebendig, wenn Menschen an ihnen teilhaben können, passiv oder auch aktiv, am besten schon von Kindesalter an. Voraussetzung dafür ist eine gute Infrastruktur, der sich nicht nur gesellschaftliche Eliten bedienen, die das Interesse an der klassischen Musik nicht verloren haben und privat über hinreichende finanzielle Mittel verfügen, diese Kunst an ihre Kinder weiterzugeben.

Mit Infrastruktur meine ich nicht die philharmonischen Tempel, die unter Scheinwerferlicht unsere Musik in die Welt hinaustragen. San Francisco und Los Angeles, die beiden kalifornischen Städte, die musikalisch an der Westküste überhaupt von Bedeutung waren, befanden sich viel zu weit weg, als dass wir als Kinder immerzu Konzerte hätten besuchen können. Ich spreche auch nicht von den zum Teil sehr aufwendigen Vermittlungsprogrammen, die inzwischen fast jedes philharmonische Orchester für junge Menschen aufgelegt hat, um sich die Zuschauer von morgen gewogen zu halten. Das alles haben wir Kinder aus Morro Bay nie erlebt.

Ich meine vielmehr eine Infrastruktur, die die dauerhafte Präsenz der Künste wie der klassischen Musik im Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen sicherstellt. Und das funktioniert am besten dort, wo alle erreicht werden können, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Hintergrund, dem Bildungsstand ihrer Eltern oder der finanziellen Ausstattung, in die sie hineingeboren wurden.

Das Konservatorium von Professor Korisheli war Teil unserer Schule. Das Musikangebot war dauerhaft präsent, unaufhörlich ging jemand zu ihm, ließ sich unterrichten oder probte in einem seiner Ensembles.

Dem Gebäude entwichen immerzu Töne, Stimmen und fröhliches Lachen. Es war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, sich nicht dort hingezogen zu fühlen. Und das betraf fast alle Schüler, nicht nur jene, deren Hintergrund man in Deutschland einen »bildungsbürgerlichen« nennen würde, so wie es meiner war. Wahrscheinlich kamen meine Geschwister und ich mit etwas mehr Vorbildung in die Kurse von Wachtang Korisheli als manch ein Nachbarskind. Aber spielte das wirklich eine Rolle? In Morro Bay brauchte die Kunst das Bildungsbürgertum überhaupt nicht. Sie brauchte nur einen einzigen Menschen, der andere für sie begeistern konnte.

Die Infrastruktur ist das eine, das andere ist die Lehre. Das Interesse an einer Musik, die mehr ist als bloße Unterhaltung, wird von Menschen an Menschen weitergegeben, von älteren an jüngere, von Lehrern an Schüler. Die Kunst des Zuhörens und das Bewusstsein dafür, dass es sich lohnt, mehr über Musik zu lernen, um in ihren Tiefen nach neuen Erfahrungen schöpfen zu können, kann man sich im Selbststudium unmöglich erschließen. Genauso wenig wie das aktive Musizieren selbst.

Wer Musik verstehen oder musizieren möchte, braucht Lehrer. Die oft zitierte Bedeutung des Einflusses von Lehrern ist in der klassischen Musik gar nicht hoch genug einzuschätzen. Dabei sind keinesfalls die bedeutendsten Stars die besten Lehrer. Wachtang Korisheli trat als Künstler selbst vollkommen in den Hintergrund. Er musizierte nicht für sein eigenes Renommee, er unterrichtete aus wahrer Berufung, weil er gar nicht anders konnte, als die Musik, die ihm so viel gegeben hatte im Leben und immer noch gab, mit anderen zu teilen. Er war regelrecht beseelt davon, dass Musik Teil des Lebens eines jeden werden sollte, damit er ein erfüllteres, glücklicheres, inspirierteres Dasein auf der Basis eines erweiterten Empfindungsvermögens führen konnte.

»Was haben Lehrer mit Musik zu tun?«, fragte Leonard Bernstein reichlich provokativ im November 1963 sein junges Publikum in der Philharmonic Hall im Lincoln Center bei einem seiner heute legendären Konzerte für junge Leute, die regelmäßig im Fernsehen übertragen wurden. Es war eine rhetorische Frage wie eigentlich meistens bei Bernstein. »Alles«, rief er den Kindern und ihren Eltern zu. »Nur machen wir uns selten bewusst, wie wichtig Lehrer sind.« Unterrichten sei wahrscheinlich die großherzigste Profession, die freigiebigste, die schwierigste und die ehrenhafteste. »Aber es ist auch die am meisten unterschätzte, die am schlechtesten bezahlte und am wenigsten gelobte.«

Wir alle wissen, wovon er spricht. Und wir wissen auch, was für ein außergewöhnlicher Lehrer Leonard Bernstein war. Er hatte es bis an die Spitze des internationalen Klassik-Business gebracht und redete doch in Worten über die Musik, die jeder verstand. Durch sein häufiges Auftreten in Fernsehsendungen verfügte er über eine enorme Präsenz in den Vereinigten Staaten und war ein Gast in vielen Wohnzimmern musikbegeisterter Familien.

Nur konnte er allein die Musik natürlich nicht in den Alltag von Millionen Kindern und Jugendlichen tragen, schon gar nicht zu solchen, deren Eltern gar keinen Sinn dafür hatten, den Fernseher ausgerechnet für Sendungen über klassische Musik einzuschalten. Dafür sind andere Lehrer viel wichtiger als er, nämlich die, die sich in die Niederungen des Alltags begeben und den Kindern täglich aufs Neue vorleben, dass die Künste als Teil des Lebens unverzichtbar sind. Klassische Musik ist eine Sache, die zwischen den Generationen verhandelt wird: Sie muss vom Lehrer an den Schüler weitergegeben werden, von den Eltern an ihre Kinder. Wachtang Korisheli stand Bernstein in nichts nach. Auch er war ein begnadeter Lehrer, sicher viel eher im Sinne der Worte Bernsteins als dieser selbst.

An der Universität haben mich zwei weitere Lehrer stark beeinflusst: Der eine, Grosvenor Cooper, unterrichtete mich vor allem in Komposition und Musiktheorie. Im Fach Klavier nahm ich bei Goodwin Sammel Stunden, der mir unter anderem zeigte, wie wichtig und lohnend es sein kann, sich intensiv mit den Quellen eines Musikstücks auseinanderzusetzen. Mit dem Ende der Ausbildung am Konservatorium und dem Abschluss am College hört das Lernen natürlich nicht auf – schon gar nicht in der Musik. Später, in San Francisco, wurde der berühmte Cellist und Dirigent Laszlo Varga mein Lehrer. Er war von unerbittlicher Strenge. Fehlern gegenüber zeigte er sich stets unnachsichtig. Nachlässigkeiten verzieh er nie. Dass der Zugang zur Musik ein Leben lang Mühsal und Anstrengung bedeutet, man dann aber reichlich belohnt wird, lernte ich bei ihm.

DAS GOLDEN AGE DER KLASSIK   Ein großes Glück war in meinem Fall natürlich nicht nur die Begegnung mit diesen Lehrern; es war auch die Zeit, in die ich zufälligerweise hineingeboren wurde. Der Zweite Weltkrieg war vorüber. Die tiefe Rezession, in die er die Vereinigten Staaten gestürzt hatte, mündete mit ihrem Abklingen in einem Wirtschaftsboom. Das Wirtschaftswunder blieb ja nicht auf das zerstörte Deutschland und Europa beschränkt. Auch die Vereinigten Staaten gerieten in diesen positiven Sog. Die Wirtschaft wuchs – ungeachtet der neuen politischen Krisen, die Amerika im Zuge des Kalten Krieges überzogen. Wir Kinder der fünfziger und frühen sechziger Jahre lebten zwar in der heilen Welt des Wirtschaftswunders und der Bildungsexpansion – allerdings mit einem gewissen Kontrapunkt. Die Zeit brachte für uns eine deutlich spürbare, ganz eigenartige Bedrohung hervor. Die Angst vor der Ausweitung des Kommunismus gen Westen war äußerst dominant. Die Nachwirkungen der McCarthy-Ära mit ihrem lautstarken Antikommunismus verfehlten ihren Einfluss auf uns Kinder nicht. Die Vereinigten Staaten hatten einen Feind. Vor Russland und dem Kommunismus musste man Angst haben.

Doch die Wirtschaft boomte. Es wurde produziert und unglaublich viel gebaut. Die Menschen kauften Häuser, Autos, Fernseher. Kennzeichnend für diese Zeit war ein deutliches Anwachsen der Mittelklasse. Kalifornien stand an der Spitze dieser Entwicklung. Die Wirtschaftsdynamik war kräftiger als in allen anderen Bundesstaaten. Die wirtschaftliche Prosperität brachte auch das Bildungssystem zum Erblühen. Die öffentliche Hand investierte. Die sich stetig vergrößernden und neu gegründeten Universitäten strahlten in ihrer hervorragenden Reputation schon bald auch über die Grenzen der Vereinigten Staaten.

Mit der stark wachsenden Mittelklasse bekam Bildung ein besonderes Gewicht. Die kalifornischen Schulen zogen mit und galten seinerzeit in den Vereinigten Staaten als nicht minder vorbildlich. Musik- und Kunstpädagogik spielten eine bedeutende Rolle, ebenso wie Tanz, Literatur und Theater. Geld war jedenfalls reichlich vorhanden, und Kalifornien wurde zum Sehnsuchtsort nicht nur vieler Amerikaner, die in diesen Jahren ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlegten. Großartige europäische Musiker trieben die Entwicklung der klassischen Musik voran und verhalfen ihr zur Blüte, darunter Komponisten von der Größe Arnold Schönbergs, Igor Strawinskys oder Ernst Kreneks sowie die Dirigenten Bruno Walter und Otto Klemperer.

In den siebziger Jahren veränderten sich die Verhältnisse. Die Ölkrisen 1973 und 1979/80 verfehlten ihre Wirkung auf Amerikas Wirtschaft nicht. Die Steuerreformen, die zur Entlastung der Bürger beschlossen worden waren, schlugen sich auf das Bildungssystem deutlich spürbar nieder. Den sinkenden staatlichen Einnahmen fielen an den Schulen sukzessive die Schönen Künste zum Opfer. Sie waren plötzlich nicht mehr so wichtig. Anfang der achtziger Jahre hatte sogar unser Lehrer einen schweren Stand. Als die Mittel-Zuweisungen für Musik nicht mehr ausreichten, um die Stellung dieses Fachs als gleichwertigen Teil des Curriculums zu garantieren, verabschiedete sich Korisheli 1984 aus dem öffentlichen Schulsystem und kehrte auch unserer Grundschule den Rücken. Er verlegte seine Aktivitäten an eine private Schule in dem größeren Nachbarort San Luis Obispo. Für die, die sich privaten Musikunterricht oder gar eine Privatschule nicht leisten konnten, waren die Künste und die klassische Musik weitgehend aus ihrem Leben verschwunden.

In Morro Bay konnte man nicht nur sehen, welche Bedingungen notwendig sind, damit ein jeder seinen Weg zu den Künsten finden kann. Es war auch gut erkennbar, welche Wirkung klassische Musik entfaltet. Sie stiftete Gemeinsinn in einer kleinen Gesellschaft, die heterogener gar nicht hätte sein können. Die Eltern und Großeltern der musizierenden Kinder waren ja aus aller Herren Länder gekommen, um im Westen der Vereinigten Staaten ihr Glück zu finden. Viele Familien waren im späten 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts aus Europa in die Vereinigten Staaten eingewandert. Sie hatten sich eine neue Existenz aufgebaut wie meine Großeltern und Eltern und doch die Lebensgewohnheiten und Kultur ihrer Herkunftsländer gepflegt und beibehalten.

Meinen Heimatort, der zum County San Luis Obispo gehört, gibt es offiziell erst seit 1870. Als Siedlung ist er natürlich älter. Die Landschaft war fruchtbar, das Meer voller Fische. Die Menschen kamen aus England, Frankreich, der Schweiz, Deutschland, aus Lateinamerika und Asien. Es wurden viele Sprachen gesprochen und viele verschiedene Feste gefeiert. Natürlich kam es zwischen den Einwohnern so unterschiedlicher ethnischer Herkunft immer wieder zu Auseinandersetzungen, nicht nur unter den Eltern, auch zwischen uns Kindern und Jugendlichen. Aber wenn wir bei Professor Korisheli im Klassenzimmer etwas über Musik lernten, wenn wir im Orchester saßen oder am Wochenende in ganz unterschiedlichen Formationen bei ihm zu Hause Kammermusik machten, verflogen die Konflikte, und die gesellschaftlichen Unterschiede verloren an Bedeutung.

Die Musik hielt uns zusammen, gab uns ein Gemeinschaftsgefühl, war ein Ort der Begegnung. Und sie gab uns ein gemeinsames Ziel: das nächste Konzert, an dem wir alle gemeinsam arbeiteten, um dem Publikum, das ja zum größten Teil aus unseren Eltern und Verwandten bestand, ein einmaliges Erlebnis zu bescheren. Konzerte gab es unglaublich viele. Die brachten auch die Eltern immer wieder zusammen, die zumindest eines einte: die Freude an der Musik und der Stolz auf ihren Nachwuchs, der da mal besser, mal schlechter musizierte.

Vor einigen Jahren meldete sich ein mir vermeintlich Unbekannter in meiner Loge mit der Behauptung, mich aus früheren Tagen noch gut in Erinnerung zu haben. Es dauerte eine Weile, bis ich in der Lage war, seinen Namen zuzuordnen – schließlich hatten wir uns fast ein halbes Jahrhundert nicht mehr gesehen. Es war Noël, der Tubist aus meinen Kindertagen, der sich gerade in München aufhielt und mich unbedingt wiedersehen wollte. Ich war damals noch Generalmusikdirektor der Münchener Staatsoper.

Es wurde ein verblüffendes Treffen – für mich mehr als für ihn, denn er hatte meine Karriere in der Öffentlichkeit ja stets verfolgen können. Was war aus dem begabten Tuba-Spieler geworden? Noël war kein Priester, sondern ein hochrangiger FBI-Agent geworden, der sich im Dienste der Zollfahndungsbehörde auf die Bekämpfung des illegalen Tabak-, Alkohol- und Waffenhandels spezialisiert hatte. Als ich ihn traf, befand er sich bereits im Ruhestand, hatte seine Waffe an den Nagel gehängt und sich umgehend eine neue Tuba gekauft. Er musizierte wieder, Tag und Nacht, engagierte sich in verschiedenen Bands und tourte mit seiner Tuba um die Welt. Vielleicht sogar mit größerer Leidenschaft als in Kinderzeiten und mit der ganzen Inbrunst eines Pensionisten, der sich um seine Schule, Karriere, Lebensplanung und sein Auskommen keine Sorgen mehr machen muss. Die Musik, sagte er, sei immer ein Teil seiner selbst gewesen, auch wenn er über Jahre kein Notenblatt vor Augen gehabt hätte. Die Jahre in Korishelis Labor hatten ihn fürs Leben geprägt. Wir waren uns einig: Wer schon als Kind in die Welt der Schönen Künste hineingezogen wird, verliert sie nicht mehr. Sie wird ein fester Bestandteil seines Lebens – auf welche Weise auch immer.

Was haben mir meine Kindheitserfahrungen in diesem musikalischen Wunderland am Ende der Welt in Morro Bay gebracht? Oberflächlich alles: Mein Leben als Musiker, als Künstler, das alles wurzelt in meiner Kindheit; eine internationale Karriere als Dirigent – natürlich; der Mut, beruflich irgendwann alles auf eine Karte, auf die Musik zu setzen – wahrscheinlich, weil mich die Töne so sehr in ihren Bann gezogen hatten, dass ich gar nicht anders konnte; meine Akribie, mich tief in die Welt der Musik hineinzustürzen und mich nie zufriedenzugeben mit dem, was ich in ihr und mit ihr erfahre – auch das habe ich sicher in meiner Kindheit schon verinnerlicht. Aber das alles ist bloß Teil einer Rezeptur, auf die man als Berufsmusiker wahrscheinlich ebenso wenig wird verzichten können wie auf das Glück zufälliger Begegnungen, die einen prägen und auch in schwierigen Momenten weitertragen.