Die Stimme ist eines der flüchtigsten Dinge überhaupt und erweist sich doch als eines der komplexesten Phänomene. Dem slowenischen Philosophen und Kulturtheoretiker Mladen Dolar gelingt es, die vielfältigen Aspekte dieses Phänomens in einer einheitlichen Theorie zu bündeln, die systematische mit historischen Darstellungen verknüpft. Dabei eröffnet sich ein Feld, das kaum einen Aspekt der modernen Theorie unberücksichtigt lässt: Die Linguistik, Physik und Metaphysik, die Ethik, Politik und Ästhetik der Stimme und nicht zuletzt die besonderen Stimmen bei Freud und bei Kafka kommen zu Wort.
Mladen Dolar war Professor für Philosophie an der Universität Ljubljana und arbeitet dort heute als Senior Research Fellow.
His Master’s Voice
Eine Theorie der Stimme
Aus dem Englischen
von Michael Adrian
und Bettina Engels
Suhrkamp
Die Übersetzung wurde gefördert durch das Ministry of Culture of the Republic of Slovenia
Die slowenische Originalausgabe O glasu erschien 2003 im Verlag Analecta in Ljubljana.
Die englische Ausgabe wurde unter dem Titel A Voice and Nothing More 2006 bei MIT Press, Cambridge/Mass. und London veröffentlicht.
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2007.
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007
© Mladen Dolar
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eISBN 978-3-518-73856-6
www.suhrkamp.de
Einleitung
Che bella voce!
Kapitel 1
Die Linguistik der Stimme
Kapitel 2
Die Metaphysik der Stimme
Kapitel 3
Die »Physik« der Stimme
Kapitel 4
Die Ethik der Stimme
Kapitel 5
Die Politik der Stimme
Kapitel 6
Freuds Stimmen
Kapitel 7
Kafkas Stimmen
Literatur
Namenregister
Ein Mann rupfte eine Nachtigall und sprach, da er nur wenig zu essen fand: »Du bist nur eine Stimme und sonst nichts.«
(Plutarch, Moralia: Sprüche der Spartaner [Apophthegmata Laconica] 233a)
Es gibt eine Geschichte, die geht so: Eine Kompanie italienischer Soldaten kauert mitten in der Schlacht im Schützengraben, und ihr Kommandant befiehlt: »Zum Angriff, Männer!« Um den Schlachtenlärm zu übertönen, ruft er mit lauter und klarer Stimme, aber nichts passiert, niemand rührt sich. Der Kommandant ist verärgert und ruft lauter: »Zum Angriff, Männer!« Immer noch keine Bewegung. Und weil in Witzen alles dreimal geschehen muß, bevor sich etwas tut, brüllt er nun: »Zum Angriff, Männer!« Woraufhin sich eine dünne Stimme aus dem Graben erhebt und genießerisch sagt: »Che bella voce!« – »Was für eine schöne Stimme!«
Diese Anekdote mag uns vorläufig als Einstieg in die Thematik der Stimme dienen. Auf der ersten Ebene handelt sie von einer fehlgeschlagenen Anrufung. Die Soldaten beziehen den Appell, den Ruf des anderen, den Ruf der Pflicht nicht auf sich und befolgen ihn nicht. Gewiß ist es kein Zufall, daß es sich hier um italienische Soldaten handelt; sie bedienen das Klischee, nicht die tapfersten Soldaten der Welt zu sein, und die Geschichte ist politisch bestimmt nicht besonders korrekt – sie frönt einem uneingestandenen Chauvinismus und nationalen Stereotypen. Der Befehl mißlingt also, die Angesprochenen erkennen nicht, daß die Botschaft an sie gerichtet ist; statt dessen konzentrieren sie sich auf das Medium, die Stimme. Die Hellhörigkeit für die 8Stimme verhindert die Anrufung und das Annehmen eines symbolischen Mandats, die Übertragung einer Mission.
Auf einer zweiten Ebene aber funktioniert eine andere Anrufung an Stelle der fehlgeschlagenen: Zwar erkennen sich die Soldaten nicht in ihrer Mission als Soldaten mitten im Kampfgeschehen, sehr wohl aber erkennen sie sich als die Adressaten einer anderen Botschaft. In Reaktion auf einen Ruf bilden sie eine Gemeinschaft, die Gemeinschaft derer, die die ästhetische Qualität einer schönen Stimme zu schätzen wissen – und zwar auch und gerade dann, wenn es kaum der rechte Moment dafür ist. Bedienen sie also einerseits das Klischee des italienischen Soldaten, so führen sie sich auch in dieser anderen Hinsicht wie Klischeeitaliener auf, nämlich wie italienische Opernliebhaber. Indem sie sich in die Gemeinschaft der »Freunde der italienischen Oper« verwandeln (um die unsterbliche Formulierung aus Some Like It Hot aufzugreifen), werden sie ihrem Ruf als Connaisseure gerecht, als Menschen von erlesenem Geschmack, die ihre Ohren ausgiebig am Belcanto geschult haben und eine schöne Stimme erkennen, wenn sie eine hören, und sei es im Geschützfeuer.
Aus meiner voreingenommenen Sicht taten die Soldaten gut daran, für den Anfang zumindest, sich auf die Stimme und nicht auf die Botschaft zu konzentrieren – und hierin möchte ich ihnen gerne folgen. Natürlich taten sie es aus den falschen Gründen: Ein ästhetisches Interesse überkam sie just in dem Moment, als sie hätten angreifen sollen; sie konzentrierten sich auf die Stimme, weil sie die Botschaft nur zu gut verstanden. Stellen wir uns vor, um im stereotypen Bild zu bleiben, der italienische Kommandant hätte gesagt: »Männer, die Stadt ist voller hübscher Mädchen, ihr habt den Nachmittag frei«, dann ist wohl zu bezweifeln, daß sie das Medium der Stimme dem Handlungsaufruf vorgezogen hätten. Ihr selektives ästhetisches Interesse beruhte auf einem »Ich kann Sie nicht richtig hören«,1 freilich mit einer Besonderheit: 9Normalerweise hört man auf die Bedeutung und überhört die Stimme, man »hört [die Stimme] nicht richtig«, weil sie von der Bedeutung überdeckt ist. Doch ganz abgesehen von ihrem vorgeschützten Kunstinteresse sabotierten die Soldaten die Stimme in dem Moment, in dem sie sie isolierten; sie verwandelten sie unversehens in einen Gegenstand der ästhetischen Lust, in einen Gegenstand der Bewunderung und Verehrung, in die Trägerin einer Bedeutung jenseits aller gewöhnlichen Bedeutungen. Der ästhetischen Konzentration auf die Stimme entgeht die Stimme genau deshalb, weil sie sie zu einem Fetischobjekt macht; die ästhetische Lust verdunkelt das Objekt Stimme, dem ich mich im folgenden zuwenden möchte.
Ich werde zu zeigen versuchen, daß neben den beiden üblichen Verwendungsweisen der Stimme – der Stimme als Trägerin von Bedeutung und der Stimme als Gegenstand ästhetischer Bewunderung – eine dritte Ebene existiert: ein Objekt Stimme, das sich weder im Zuge des Bedeutungstransfers in Luft auflöst noch zum Monument fetischistischer Verehrung erstarrt, sondern sich vielmehr als blinder Fleck des Rufes und als Störung der ästhetischen Wertschätzung erweist. Der ersten Ebene zollt man Tribut, indem man angreift, der zweiten, indem man in die Oper geht. Um der Stimme auf der dritten Ebene Tribut zu zollen, muß man sich an die Psychoanalyse halten. –
Armee, Oper, Psychoanalyse?
Für den zweiten, paßgenaueren Einstieg in unsere Thematik möchte ich mich einer berühmt-berüchtigten Textstelle bedienen, der ersten von Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff 10der Geschichte«, jenes letzten Textes, den er noch kurz vor seinem Tod im Jahr 1940 fertigstellte.
Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen. (Benjamin 1980, Bd. 2, S. 693)
Fast macht es mich verlegen, diesen legendären und von Interpretationen umstellten Text nochmals zu befragen,2 dennoch möchte ich versuchen, ihn als Prolegomenon zu einer Theorie der Stimme zu nutzen. Ich gebe zu, daß der Zusammenhang alles andere als offensichtlich ist.
Benjamin bezieht sich auf die Geschichte des Automaten, als sei sie allgemein bekannt, und in der Tat war sie spätestens seit Edgar Allan Poes eigentümlichem Aufsatz »Mälzels Schachspieler« von 1836 überaus populär.3 Poes Text ist 11eigentlich eine Mischung aus investigativem Journalismus und detektivischem »Scharfsinn« à la Dupin – als Johann Nepomuk Mälzel in den 1830er Jahren mit dem angeblichen Schachautomaten auf Amerikatour war, ließ Poe es sich nicht nehmen, zahlreiche Vorführungen zu besuchen und sorgsam alle Besonderheiten zu notieren. Mittels empirischer Beobachtung und deduktiver Schlußfolgerung wollte er zeigen, daß es sich auf keinen Fall um eine denkende Maschine handeln konnte, wie den Zuschauern Glauben gemacht wurde, sondern eindeutig um einen Schwindel. In dieser Maschine mußte ein Geist stecken, ein Geist in Gestalt eines zwergenhaften menschlichen Schachspielers.4
Was genau meinte Benjamin mit seiner seltsamen Parabel oder Metapher, wenn es denn eine sein sollte? Selbst wenn wir den historischen Materialismus und die Theologie einmal außer acht lassen, bleibt ja das Rätsel, wie eine Puppe denjenigen in Dienst nehmen kann, der sie bewegt, der ganz wörtlich ihre Fäden zieht. Die Puppe scheint von dem buckligen Zwerg kontrolliert zu werden, wird aber in einem zweiten Schritt selbst mit Intentionalität bedacht; sie selbst soll nun die Fäden ihres Herrn ziehen, ihn für ihre eigenen Zwecke in Dienst nehmen. Wie der Automat scheint auch die Metapher verdoppelt, doch liegt das Geheimnis ihrer Doppelnatur vielleicht in einer ziemlich buchstäblichen Verdopplung.
Der Schachautomat wurde 1769 von dem Hofkammerrat 12Wolfgang von Kempelen5 für Kaiserin Maria Theresia konstruiert (für wen sonst?). Er bestand aus einer türkischen Puppe, die in der einen Hand eine Wasserpfeife hielt, während sie mit der anderen ihre Züge machte, und einem Kasten, der ein raffiniertes System von Schubladen und klappbaren Trennwänden enthielt. Dieses System erlaubte es dem vermeintlichen buckligen Zwerg, sich unsichtbar in ihm zu bewegen, während dem Publikum vor Beginn des Spieles das Innere des Automaten präsentiert wurde. Der Schachautomat war bald in aller Munde; er schlug berühmte Gegner (unter ihnen Napoleon in einem berühmten, aktenkundig gewordenen Spiel, obwohl man den Quellen mißtrauen darf – Napoleon stand im Ruf, ein sehr guter Schachspieler zu sein, diese Partie allerdings gereichte ihm nicht zur Ehre: Soloausflüge mit der Königin, eine vernachlässigte Verteidigung – kein Wunder, daß er auf dem Weg nach Waterloo war). Nach Kempelens Tod 1804 nahm Mälzel den Automaten in Besitz und ging mit ihm schließlich nach Amerika auf eine große Tournee. Historische Bedeutung kann Mälzel im übrigen auch dafür beanspruchen, daß er im Jahr 1816 das erste Metronom konstruierte. Als erster machte Beethoven in seiner 8. Symphonie von 1817 von der Tempoangabe des Metronoms Gebrauch; eine alles andere als zufällige Verbindung, hatte doch Mälzel auch Beethovens Hörgerät konstruiert – hier ist sie, die unmittelbare Beziehung zur Stimme.
Für Kempelen aber, den seine Erfindung berühmt gemacht hatte, stand der Schachtürke gar nicht im Mittelpunkt des Interesses. Er hatte noch ein anderes, weit ehrgeizigeres Ziel, das er beharrlich verfolgte: Er wollte eine Sprechmaschine kon13struieren, eine Maschine, die die menschliche Rede nachahmen könnte. An dieser Herausforderung bestand im 18. Jahrhundert lebhaftes Interesse. 1748 regte La Mettrie an, daß der große Automatenbauer Vaucanson versuchen solle, einen Parleur zu bauen (La Mettrie 1990, S. 120); und Leonhard Euler, der bedeutendste Mathematiker des Jahrhunderts, lenkte die Aufmerksamkeit auf ein schwieriges physikalisches Problem:6 wie sich eine Maschine konstruieren ließe, die in der Lage wäre, die akustischen Hervorbringungen des menschlichen Mundes nachzuahmen. Mund, Zunge, Stimmbänder, Zähne – wie konnte ein so überschaubares Arsenal eine solche Bandbreite spezifischer Laute von so großer Komplexität und Unverwechselbarkeit hervorbringen, daß kein akustischer Apparat sie zu imitieren vermochte? Euler selbst trug sich mit dem Gedanken, ein Klavier oder eine Orgel zu konstruieren, deren einzelne Tasten jeweils einem Sprachlaut entsprächen, so daß man imstande wäre zu sprechen, wenn man wie beim Klavierspielen die Tasten in der richtigen Reihenfolge drückte.
1780 schrieb die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg einen Preis für die Konstruktion einer Maschine aus, die die Fähigkeit besäße, die Vokale nachzuahmen; auch galt es, die physikalischen Eigenschaften der Vokale zu erklären. Viele versuchten sich an dieser mühsamen Aufgabe,7 so 14auch Kempelen, der eine Sprechmaschine baute (die bis heute im Deutschen Museum in München zu sehen ist und immer noch funktioniert). Die Maschine bestand aus einem hölzernen Kasten, der an einer Seite mit einem (an einen Dudelsack erinnernden) Blasebalg verbunden war – der »Lunge« –, während sich auf der anderen Seite ein Trichter aus Kautschuk befand – der »Mund«, der beim »Sprechen« von Hand bedient werden mußte. Der Kasten enthielt ein System von Ventilen und Kammern, das es mit der anderen Hand zu bedienen galt. Mit einiger Übung konnte man erstaunliche Effekte hervorbringen. Ein Beobachter hielt 1784 fest:
Sie können es nicht glauben, L. Freund, was für eine sonderbare Sensation, das erste Hören einer Menschenstimme und Menschensprache, die augenscheinlich nicht aus einem Menschenmunde kam, auf uns alle machte. Wir sahen einander stumm und betroffen an, und gestanden es uns hernach offenherzig, daß uns im ersten Momente ein kleiner heimlicher Schauer überlaufen hätte (zit. n. Felderer 2002, S. 269).
17918 beschrieb Kempelen seine Erfindung akribisch in seinem Buch Mechanismus der menschlichen Sprache nebst Beschreibung einer sprechenden Maschine. Die Schrift enthielt die theoretischen Prinzipien und einen Leitfaden zu ihrer praktischen Umsetzung. Ganz gleich jedoch, wie ausführlich sie zu jedermanns Nachvollzug beschrieben war, verursachte die Maschine immer wieder Effekte, die sich nur mit der Freudschen Vokabel »unheimlich« beschreiben lassen. Die Kluft, die es ei15ner Maschine erlaubt, durch ein rein mechanisches Verfahren etwas so unbedingt Menschliches wie Stimme und Sprache hervorzubringen, hat etwas Unheimliches. Es ist, als könnte sich die Wirkung von ihrem mechanischen Ursprung lösen und als Überschuß fungieren – ja, als Geist in der Maschine; als ob es eine Wirkung ohne richtige Ursache gäbe, eine Wirkung, die ihre erklärbare Ursache übersteigt – dies ist eine der seltsamen Eigenschaften der Stimme, auf die ich noch öfter zurückkommen werde.
Das Nachahmungsvermögen der Maschine war nicht eben grenzenlos. Sie ›sprach‹ kein Deutsch; anscheinend waren Französisch, Italienisch und Latein erheblich leichter. Wir kennen einige Beispiele ihres Wortschatzes: »Vous êtes mon ami – je vous aime de tout mon Cœur – Leopoldus Secundus – Romanorum Imperator – Semper Augustus – papa, maman, ma femme, mon mari, le roi, allons à Paris«, und so weiter.9 Gäbe man uns dies als Liste freier Assoziationen, was würden wir vom Unbewußten der Maschine halten? Offensichtlich hat ihre Rede zwei Grundfunktionen: die Liebeserklärung und das Herrscherlob, die beide um so eindringlicher sind, als der anonyme Sprechmechanismus die in der Anrede formal enthaltene Zuneigung auf mechanische Weise produziert. Dieser Kernwortschatz hat den Zweck, die Haltung der Ergebenheit zu demonstrieren; die Stimme der Maschine dient dazu, ihre Unterwerfung – sei es unter den abstrakten Geliebten, die abstrakte Geliebte oder unter den konkreten Herrscher – zu verkünden. Es ist, als könnte die Stimme die Maschine zum Subjekt machen, als gäbe es einen Effekt des Ausgesetztseins – etwas wird ausgesetzt, eine unergründliche Innerlichkeit der Maschine, die nicht auf ihren Mechanismus zu reduzieren ist, und der erste Gebrauch der Subjektivität besteht darin, sich dem Anderen auszuliefern, was 16man am besten mit der Stimme oder eigentlich nur mit der eigenen Stimme machen kann. Womit die Stimme unmittelbar zu einem Dreh- und Angelpunkt wird – die Stimme als Gelöbnis, Verkündung, Gabe, Appell, die hier jedoch mechanisch, unpersönlich hervorgebracht wird, was bestürzt und die sonderbare Verbindung zwischen Subjektivität und Stimme ans Licht bringt.
Kommen wir zur Pointe des Ganzen. Kempelen unternahm in den 1780er Jahren ausgedehnte Tourneen durch die großen europäischen Städte und präsentierte oftmals eine doppelte Attraktion, ein Doppelprogramm: einerseits die Sprechmaschine, andererseits den Schachautomaten. Die Reihenfolge war entscheidend. Die Sprechmaschine diente als Einführung zu dem anderen Wunderwerk und stellte dessen Gegenstück, gleichsam einen Vorgeschmack darauf dar, so als handelte es sich um einen zweifachen Apparat, um ein in Form platonischer Hälften aus der sprechenden und aus der denkenden Maschine zusammengesetztes Doppelgeschöpf. Zwischen beiden Hälften bestand ein auffälliger und suggestiver Unterschied: Zunächst einmal war der Schachautomat mit der Absicht konstruiert, so menschenähnlich wie möglich zu wirken – er gab vor, in tiefes Grübeln zu versinken, rollte mit den Augen und so weiter –, während die Sprechmaschine so mechanisch wie möglich war: Über ihre mechanische Natur täuschte sie nicht hinweg, im Gegenteil, sie stellte sie unübersehbar zur Schau. Ihre größte Anziehungskraft verdankte sie dem Rätsel, wie etwas so gänzlich Nichtmenschliches menschliche Wirkungen zeitigen konnte. Die nichtanthropomorphe Sprechmaschine bildete das Gegengewicht zur anthropomorphen Denkmaschine.
Zweitens gab Kempelen letztlich zu, daß der Schachautomat auf einem Trick beruhte, den er freilich nicht verraten wollte (und er nahm das Geheimnis mit ins Grab). Die Sprechmaschine hingegen war kein Schwindel; ihren Mechanismus, dessen Prinzipien sorgfältig in einem Buch erklärt worden waren, konnte jedermann untersuchen und selbst nachbauen. Der Schachtürke war einzigartig und geheimnisumwoben, während die Sprechmaschine zum Nachbau auf der Grundlage allgemeiner wissen17schaftlicher Prinzipien gedacht war. Und so kam es, daß ein gewisser Charles Wheatstone 1838 nach Kempelens Anleitung eine Variante des Apparats baute, die so tiefen Eindruck auf den jungen Alexander Graham Bell machte, daß seine Beschäftigung mit ihr schließlich zu nichts Geringerem als der Erfindung des Telefons führte.10
Drittens gab es ein teleologisches Moment im Verhältnis zwischen den beiden Maschinen – teleologisch in dem schwachen Sinne, daß die Sprechmaschine als Einführung zur denkenden Maschine vorgestellt wurde, erstere also letztere plausibel und akzeptabel machte und mit einem Anschein von Glaubwürdigkeit versah; denn wenn die erste als etwas Reales vorgeführt wurde, dann die zweite als Möglichkeit, obschon zugegebenermaßen mit Hilfe eines Tricks. Es gab jedoch auch ein telelogisches Moment im stärkeren Sinne: Die zweite Maschine erschien als Einlösung dessen, was die erste Maschine versprach.11 Eine Perspektive tat sich auf, in der die denkende Maschine lediglich eine Ergänzung der sprechenden war, so daß die zuerst präsentierte Sprechmaschine ihr Telos in der Denkmaschine fand oder vielmehr zwischen beiden Maschinen ein quasihegelscher Übergang von »an sich« zu »für sich« stattfand. Was die Sprechmaschine »an sich« war, mußte die Denkmaschine »für sich« werden. Der Sinn dieser Abfolge ließe sich so verstehen, daß Sprache und Stimme die verborgenen Mechanismen des Denkens vorführen, die dem Denken rein mechanisch vorausgehen und die das Denken unter dem Schleier des Anthropomorphismus verbergen muß. Das Denken gleicht der anthropomorphen Puppe, die die reale, also die sprechende Puppe verbirgt. Das von der türkischen Puppe mit all ihren Requisiten zu wahrende Geheimnis war also nicht der angebliche menschliche Zwerg in ihrem Schoß, ihr Homunkulusgehirn, sondern die Sprechmaschine, die noch vor dem Schachautomaten für jedermann sichtbar zur 18Schau gestellt wurde. In Wirklichkeit war sie der Homunkulus, der die Fäden der denkenden Maschine zog. Die erste Maschine bildete das Geheimnis der zweiten, und die zweite, die anthropomorphe Puppe, mußte die erste in Dienst nehmen, wenn sie gewinnen wollte.
Ein Paradox: Der Zwerg in der Puppe erweist sich selbst als Puppe, als die mechanische in der anthropomorphen Puppe, und das Geheimnis der denkenden Maschine ist selbst gedankenlos, nichts weiter als ein Mechanismus, der eine Stimme hervorbringt, damit aber den menschlichsten aller Effekte erzielt, einen Effekt namens »Innerlichkeit«. Es verhält sich dabei aber nicht einfach so, daß die Maschine das wahre Geheimnis des Denkens wäre, denn schon in der ersten Maschine gibt es eine gewisse Spaltung: Sie bemüht sich, Sprache hervorzubringen, einige bedeutungsvolle Wörter und minimale Sätze, erzeugt aber zugleich eine über Sprache und Bedeutung hinausgehende Stimme, eine Stimme als Überschuß, und genau hierin lag ihre Faszination: Was genau gesagt wurde, war angesichts der schlechten Tonqualität nicht leicht zu verstehen,12 aber die Stimme packte jeden sofort und verbreitete allgemeine Furcht, gerade weil sie den Eindruck vollkommener Menschlichkeit erweckte. Doch wurde dieser Stimm-Effekt nicht von einer lückenlosen mechanischen Kausalität hervorgerufen, sondern von einem mysteriösen Sprung in der Kausalität, einer Bresche, einer hinkenden Kausalität, einem Überschuß des Stimm-Effekts gegenüber seiner Ursache, bei dem sich die Stimme im Raum einer Bresche, eines fehlenden Glieds, einer Kluft im Kausalnexus einnistete. Mit seinem einzigartigen Talent für Slogans formuliert Lacan: »Ursache ist nur, wo es hapert / Il n’y a de cause que de ce qui 19cloche.« (Lacan 1987, S. 28) Die Ursache erscheint allein an dem Punkt, an dem es einen Ruck in der Kausalität gibt, ein Hinken, eine gestörte Kausalität – und genau an diesem Punkt situierte Lacan das Objekt, die Objekt-Ursache. Vielleicht kann man hierin aber auch den Katalysator des Gedankens im Gegensatz zur anthropomorphen Maskerade des Denkens sehen. Eine geglückte Formulierung Giorgio Agambens besagt: »Die Suche nach der Stimme in der Sprache, das ist, was man Denken nennt« (zit. n. Nancy 2002, S. 45) – die Suche nach dem, was über Sprache und Bedeutung hinausgeht.
Für unsere gegenwärtigen Zwecke könnten wir Benjamins These folgendermaßen gefügig machen oder variieren: Wenn die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt, gewinnen soll, dann sollte sie die Stimme in ihren Dienst nehmen. Wir brauchen also eine Theorie der Stimme, des Objekts Stimme, der Stimme als einer der auffälligsten und folgenreichsten ›Verkörperungen‹ dessen, was bei Lacan objet petit a heißt.
Nichts erscheint uns so vertraut wie die Stimme. Wenn ich ›Stimme‹ sage, wenn ich dieses Wort ohne nähere Erläuterung verwende, dann denkt man zunächst an den gewöhnlichen, den allgegenwärtigen Gebrauch der Stimme in der alltäglichen Kommunikation. Unaufhörlich gebrauchen wir unsere Stimmen und hören wir Stimmen zu; unser ganzes Sozialleben ist durch Stimmen vermittelt, und trotz Internet sind die Situationen, in denen Lesen und Schreiben wirklich zum Medium unserer Geselligkeit werden, alles in allem selten und begrenzt, auch wenn, in einem anderen und weniger greifbaren Sinn, unser soziales Sein in sehr hohem Maße vom Buchstaben abhängt, vom Buchstaben des Gesetzes – doch davon später. Fortwährend leben wir in einem Universum voller Stimmen, ununterbrochen werden wir mit Stimmen bombardiert, Tag für Tag müssen wir uns unseren Weg durch einen Dschungel von Stimmen bahnen, und wir müssen alle möglichen Macheten und Kompasse benutzen, um nicht darin steckenzubleiben. Da sind die Stimmen anderer Menschen, die Stimmen der Musik, die Stimmen der Medien1 und mittendrin unsere eigene Stimme. All diese Stimmen rufen, flüstern, jammern, schmeicheln, flehen, verführen, befehlen, bitten, beten, bannen, bekennen, terrorisieren, verkünden … – unübersehbar taucht schon hier eine Schwierigkeit auf, mit der sich jede Thematisierung der Stimme konfrontiert sieht: daß nämlich unser Wortschatz ganz unzureichend ist. Natürlich können wir mit ihm Bedeutungsnuancen erfassen, doch angesichts der stufenlosen Abstufungen der Stimme, die jede Bedeutung unendlich übersteigen, versagen die Worte. Nicht, daß unser Wortschatz zu 22dürftig wäre und wir dieses Defizit ausgleichen müßten: Angesichts der Stimme versagen Wörter strukturell.
All diese Stimmen erheben sich über der Vielzahl von Lauten und Geräuschen eines noch wilderen und größeren Dschungels: den Naturlauten und den Geräuschen, die Maschinen und Technologie produzieren. Lärmend verkündet die Zivilisation ihren Fortschritt, und je weiter sie voranschreitet, desto lauter wird sie. Der Grenzverlauf zwischen beidem – Stimme und Lärm sowie Natur und Kultur – entzieht sich uns oft, ist selten eindeutig. In der Einleitung haben wir gesehen, daß die Stimme von Maschinen hervorgebracht werden kann, womit sich ein Bereich der Unentscheidbarkeit öffnet, des Zwischen-beidem, ein Dazwischenliegen, das sich, wie wir noch sehen werden, als eine der vorrangigen Eigenschaften der Stimme erweist.
Eine weitere Grenze trennt die Stimme von der Stille. Die Abwesenheit von Stimmen und Geräuschen ist schwer zu ertragen; vollkommene Stille ist sofort unheimlich, ist totengleich, während die Stimme das erste Lebenszeichen ist. Auch diese, die Unterscheidung zwischen Stimme und Stille, ist vielleicht trügerischer, als sie scheint – nicht alle Stimmen sind hörbar, und vielleicht sind die eindringlichsten und unwiderstehlichsten gerade die unhörbaren Stimmen, und manchmal ist nichts so ohrenbetäubend wie Stille. Isoliert, abgeschieden, in völliger Einsamkeit, fern dem Treiben der Menge, sind wir nicht einfach von der Stimme befreit – vielmehr kann in diesem Moment eine andere Art von Stimme auftauchen, die eindringlicher und unwiderstehlicher ist als das übliche Kauderwelsch: die innere Stimme, eine Stimme, die nicht zum Schweigen gebracht werden kann. Als ob die Stimme geradezu der Inbegriff einer Gesellschaft wäre, die wir in uns tragen und der wir nicht entgehen können. Wir sind soziale Wesen dank der Stimme und durch die Stimme; es scheint so zu sein, daß unsere sozialen Bindungen um die Achse der Stimme kreisen und daß Stimmen schlechthin das Gewebe des Sozialen sind – und zugleich der intime Kern der Subjektivität.
Beginnen wir also mit der Stimme in ihrem ganz gewöhnlichen Gebrauch und ihrer ganz alltäglichen Gegenwart: der Stimme, die als Übermittlerin einer Äußerung dient, der Stimme, die ein Wort, einen Satz, einen Diskurs, jede Form sprachlichen Ausdrucks trägt. Wir wollen uns unserem Gegenstand zunächst über die Linguistik der Stimme nähern, falls es so etwas überhaupt gibt.
Sobald wir ihn näher betrachten, zeigt sich, daß auch dieser ganz allgemeine und gewöhnliche Gebrauch der Stimme voller Tücken und Paradoxien ist. Was die Stimme aus dem Meer von Lauten und Geräuschen hervorhebt, was sie in der unendlichen Reihe akustischer Phänomene zu etwas Besonderem macht, ist ihr innerer Bezug zur Bedeutung. Die Stimme ist etwas auf Bedeutung Zielendes, sie gleicht einem Pfeil, der die Bedeutungserwartung steigen läßt, die Stimme ist eine Öffnung auf Bedeutung hin. Zweifellos können wir allen möglichen Lauten Bedeutung zuschreiben, doch scheinen sie »an sich«, unabhängig von unserer Zuschreibung, bedeutungslos zu sein, während die Stimme intim mit Bedeutung verbunden ist; sie ist ein Laut, der an sich mit dem Willen, »etwas zu sagen«, versehen zu sein scheint, mit einer inneren Intentionalität. Wir können diverse andere Geräusche in der Absicht hervorbringen, damit etwas zu bedeuten, aber in diesem Fall ist die Absicht den Geräuschen äußerlich, oder diese fungieren als Stellvertreter, als metaphorischer Ersatz für die Stimme. Allein die Stimme impliziert eine Subjektivität, die »sich selbst ausdrückt« und selbst den Ausdrucksmitteln innewohnt.2 Wenn die Stimme somit aber gleichsam die natürliche Plattform der Bedeutungsproduktion ist, so erweist sie sich der Bedeutung gegenüber doch auch als seltsam widerspenstig. Wenn 24wir sprechen, um »Sinn zu machen«, etwas zu bedeuten, etwas zu übermitteln, dann ist die Stimme die materielle Grundlage, auf der Bedeutung hervorgebracht wird, und doch trägt sie zu dieser selbst nichts bei. Sie gleicht eher dem verschwindenden Vermittler (um den von Frederic Jameson in einem anderen Zusammenhang einschlägig gemachten Begriff zu gebrauchen) – sie ermöglicht die Äußerung, verschwindet jedoch in ihr; sie löst sich bei der Bedeutungsproduktion in Luft auf. Selbst auf dem banalsten Niveau alltäglichen Austauschs mögen wir, wenn wir jemandem zuhören, zunächst sehr stark auf seine oder ihre Stimme und deren Besonderheiten wie Farbe und Akzent achten, sehr bald aber gewöhnen wir uns an sie und konzentrieren uns allein auf die übermittelte Bedeutung. Die Stimme selbst gleicht der Wittgensteinschen Leiter, die wir wegwerfen müssen, nachdem wir auf ihr hinaufgestiegen sind – sobald wir, mit anderen Worten, den Aufstieg auf den Gipfel der Bedeutung geschafft haben. Die Stimme ist das Instrument, das Vehikel, das Medium, und die Bedeutung das Ziel. Spontan kommen wir so auf den Gegensatz, daß die Stimme als Materialität der Idealität der Bedeutung gegenübersteht. Die Idealität der Bedeutung kann nur durch die Materialität des Mittels entstehen, doch das Mittel scheint nichts zur Bedeutung beizutragen.
So können wir eine vorläufige Definition der Stimme (in linguistischer Hinsicht) formulieren: Sie ist das, was nichts zur Sinngebung beiträgt.3 Sie ist das materielle, bedeutungsresistente Element, und sofern wir sprechen, um etwas zu sagen, ist die Stimme genau das, was nicht gesagt werden kann. Sie ist da, just im Akt des Sprechens, läßt sich aber so wenig festmachen, daß wir sie auch als das nichtlinguistische, das außerlinguistische Element bezeichnen könnten, das die Phänomene der Rede ermöglicht, sich aber linguistisch nicht erfassen läßt.
Wenn es eine implizite Teleologie der Stimme gibt, dann 25scheint diese Teleologie den Zwerg der Theologie in ihrem Schoß zu verbergen, ganz wie in Benjamins Parabel. Bei Augustinus findet sich eine ziemlich erstaunliche theologische Interpretation dieses Zusammenhangs. In einer seiner berühmten Predigten (Nr. 288) stellt er die folgende Behauptung auf: Johannes der Täufer ist die Stimme und Christus das Wort, logos. Dies scheint auch tatsächlich aus dem Anfang des Johannes-Evangeliums zu folgen: Im Anfang war das Wort, damit das Wort sich aber offenbaren kann, bedarf es eines Vermittlers, eines Vorreiters in Gestalt Johannes des Täufers, der sich nicht umsonst als vox clamantis in deserto4 versteht, als die Stimme in der Wüste, während Christus in dieser paradigmatischen Opposition dem Wort, verbum, logos, gleichgesetzt wird.
Die Stimme geht dem WORT voraus und ermöglicht, daß es verstanden wird. […] Was ist die Stimme, was ist das Wort? Geht in euch und überlegt eure eigenen Fragen und Antworten. Diese Stimme, die nur ein Hall ist ohne Sinn, diesen Klang, der aus dem Mund von einem kommt, der schreit und nicht spricht, nennen wir Stimme und nicht Wort. […] Das Wort muß aber, wenn es seinen Namen zu Recht tragen soll, mit Sinn versehen sein, und während es dem Ohr den Klang darbietet, bietet es dem Intellekt etwas anderes dar. […] Und nun überlegt euch genau den Sinn des folgenden Satzes: Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen. [Joh 3, 30] Wie, aus welchem Grund, mit welcher Absicht, warum könnte die Stimme, also Johannes der Täufer – in Anbetracht des Unterschieds, den wir uns gerade klargemacht haben –, sagen: Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen? Warum? Weil die Stimmen ausgelöscht werden, so wie das WORT wächst. So wie die Seele zu Christus voranschreitet, verliert die Stimme nach und nach ihre Funktion. Also muß Christus wachsen, und Johannes der 26Täufer muß ausgelöscht werden. (Augustinus, zit. n. Poizat 2001, S. 130)5
Folglich ist das Vorausschreiten von der Stimme zur Bedeutung das Vorausschreiten von einem bloßen – gleichwohl notwendigen – Vermittler zum wahren WORT: ein kleiner Schritt nur trennt die Linguistik von der Theologie. Wenn wir also die Stimme als Objekt, als Entität eigenen Rechts isolieren wollen, dann müssen wir sie von dieser spontanen Teleologie befreien, die mit einer bestimmten Theologie der Stimme als Bedingung der Offenbarung des WORTES einhergeht.6 Wir müssen gleichsam in die entgegengesetzte Richtung gehen: von den Höhen der Bedeutung wieder herabsteigen und zu dem zurückkehren, was ein bloßes Mittel zu sein schien; der Stimme als dem blinden Fleck der Sinngebung oder dem Verworfenen des Sinns habhaft werden. Wir brauchen einen anderen Rahmen als den, der sich durch die Verbindung zwischen einer bestimmten Linguistik, Teleologie und Theologie spontan aufdrängt.
Wenn die Stimme das ist, was nichts zur Bedeutung beiträgt, folgt daraus eine entscheidende Antinomie, eine Dichotomie zwischen der Stimme und dem Signifikanten. Der Signifikant besitzt eine Logik, er kann analysiert, lokalisiert und fixiert werden – fixiert mit Blick auf seine Wiederholung, denn jeder Signifikant ist Signifikant aufgrund seiner Wiederholbarkeit, seiner Iterabilität. Der Signifikant ist ein Wesen, das nur existieren kann, sofern es sich klonen läßt, doch läßt sich sein Genom nicht mittels positiver Elemente bestimmen, sondern allein durch ein 27Gewebe von Differenzen, durch differentielle Oppositionen, die ihm Bedeutung hervorzubringen erlauben. Diese seltsame Entität verfügt über keine eigenständige Identität, sie ist bloß ein Bündel, eine Kreuzung von Differenzen im Verhältnis zu anderen Signifikanten – und nichts sonst. Ihre materielle Grundlage und ihre besonderen Eigenschaften sind unerheblich – nötig ist nur, daß sie sich von anderen Signifikanten unterscheidet (womit wir uns an das berühmte Diktum Saussures halten, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder gibt, sowie an das nicht minder berühmte, daß Sprache Form ist und nicht Substanz).7 Der Signifikant verfügt nicht über die geringste Positivität oder selbständig definierbare Eigenschaft; seine Existenz ist eine rein negative – nämlich die, sich von anderen Signifikanten zu unterscheiden; seine Funktionsweise aber kann gerade in dieser Negativität, die positive Bedeutungseffekte hervorbringt, sehr wohl entwirrt und erklärt werden.
Wenn wir – trotz der fragwürdigen Doxa unserer Tage: »am Anfang war Saussure« (und damit eine ziemlich spezielle Art von logos) – Saussure vorläufig zum Ausgangspunkt nehmen, dann zeigt sich sofort, daß die Saussuresche Wende eng mit der Stimme verbunden ist. Wenn wir den negativen Charakter des sprachlichen Zeichens, seinen rein differentiellen und oppositionalen Wert, ernst nehmen sollen, dann muß die Stimme – als der angeblich natürliche Untergrund der Rede, ihre scheinbar positive Substanz – in Frage gestellt werden. Man muß sie sorgfältig ad acta legen, weil sie als Quelle imaginärer Blendung die Linguistik bislang daran gehindert hat, jene Strukturgesetze zu entdecken, welche die verzwickte Verwandlung von Stimmen in sprachliche Zeichen ermöglichen. Die Stimme wird zu dem 28Stolperstein, den wir aus dem Weg zu räumen haben, wenn wir eine neue Wissenschaft von der Sprache einläuten wollen. Jenseits der Sprachlaute, wie sie die traditionelle Phonetik akribisch beschrieben hat – wobei sie sich sehr bei der Technik ihrer Hervorbringung aufhielt und sich hoffnungslos in ihren physikalischen und physiologischen Eigenschaften verfing –, wartet eine ganz andere Entität, die es von der neuen Linguistik freizulegen gilt: das Phonem. Jenseits der Stimme »aus Fleisch und Knochen« (wie Jakobson einige Jahrzehnte später sagen wird) befindet sich die fleisch- und knochenlose Entität, die sich ausschließlich durch ihre Funktion definiert – der stumme Laut, die lautlose Stimme.
Der neue Gegenstand verlangt nach einer neuen Wissenschaft: Nicht mehr die traditionelle Phonetik, sondern die Phonologie ist nun der neue Hoffnungsträger. Die Frage, wie verschiedene Laute hervorgebracht werden, scheint veraltet; was zählt, sind die differentiellen Oppositionen zwischen den Phonemen, ihre rein relationale Natur, ihre Reduktion auf bedeutungsunterscheidende (distinktive) Merkmale. Man identifiziert sie über ihr Vermögen, bedeutungstragende Elemente auf eine Weise zu unterscheiden, bei der die Besonderheit der bedeutungstragenden Unterschiede irrelevant ist, bei der es also nur darauf ankommt, daß es diese Unterschiede gibt, und nicht, worin sie bestehen könnten. Phoneme haben keine Substanz, sie lassen sich vollständig auf ihre Form reduzieren, und sie haben keine eigene Bedeutung. Sie sind lediglich sinnfreie quasi-algebraische Elemente in einer formalen Matrix von Kombinationen.
Es stimmt, daß Saussures Grundfragen einige Verwirrung gestiftet haben, weil sich deren Neuerung gerade nicht in dem explizit der Phonologie gewidmeten Teil findet. Wir müssen sie woanders suchen:
Übrigens ist es unmöglich, daß der Laut an sich, der nur ein materielles Element ist, der Sprache angehören könnte. Er ist für sie nur etwas Sekundäres, ein Stoff, mit dem sie umgeht. […] Seinem Wesen nach ist es [das bezeichnende Element in der Sprache] keineswegs lautlich, es ist unkörperlich, es ist 29gebildet nicht durch seine stoffliche Substanz, sondern einzig durch die Verschiedenheiten, welche sein Lautbild von allen andern trennen. […] Was diese [Lautelemente] charakterisiert, ist also nicht, wie man glauben könnte, die ihnen eigentümliche positive Qualität, sondern schlechthin die Tatsache, daß sie unter sich nicht zusammenfließen. Die Phoneme sind in erster Linie Dinge, die einander entgegengesetzt, relativ und negativ sind. (Saussure 1967, S. 141f.)
Wenn wir uns an Saussures strikte Definition halten, zeigt sich, daß sie letztlich nur für Phoneme uneingeschränkt gilt (wie Jakobson später kritisieren wird): Phoneme bilden die einzige Sprachschicht, die sich zur Gänze aus rein negativen Quantitäten zusammensetzt; ihre Identität ist »eine reine Alterität« (Jakobson 1963). Sie sind die sinnfreien Atome, die, miteinander kombiniert, »Sinn machen«.
Die so verstandene Phonologie sollte eine herausragende Stellung in der strukturalen Linguistik einnehmen und sich rasch in deren Paradedisziplin verwandeln, in den überragenden Nachweis ihrer Leistungsfähigkeit und Erklärungskraft. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis sie mit Trubetzkoys Grundzüge der Phonologie von 1939 und Jakobsons/Halles Fundamentals of Language von 1956 zu voller Entfaltung kam. Die eine oder andere Saussuresche Voraussetzung mußte in Frage gestellt werden (so kritisierte Jakobson Saussures Dogma vom linearen Charakter des Signifikanten), weiteren Vorläufern wie Baudouin de Courtenay, Henry Sweet und anderen war Tribut zu zollen, doch sonst befand sich die Phonologie auf sicherem Kurs. Alle Laute einer Sprache ließen sich auf rein logische Weise beschreiben; sie konnten einzig aufgrund des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins minimaler distinktiver Merkmale in einer logischen Tabelle angeordnet werden, die allein dem elementaren Gesetz des binären Codes unterlag. Auf diese Weise ließen sich die meisten Oppositionen der traditionellen Phonetik (stimmhaft/stimmlos, nasal/oral, kompakt/diffus, Gravis/Akut, labial/dental und so weiter) nach und nach neu fassen, nun allerdings als Funktionen logischer Gegensatzpaare, als begriff30liche Deduktion des Empirischen und nicht mehr als empirische Beschreibungen vorgefundener Laute. Den letzten Beweis brachte das phonologische Dreieck (Jakobson 1963, S. 138) als simple deduktive Matrix aller Phoneme und ihrer »elementaren Strukturen der Verwandtschaft«, ein Hilfsmittel, das es in der Glanzzeit des Strukturalismus zu einiger Bekanntheit bringen sollte. Nachdem sie die Laute in bloße Bündel differentieller Gegensätze zerlegt hatte, konnte die Phonologie dann jenes Mehr berücksichtigen, das zu den rein phonematischen distinktiven Merkmalen notwendig hinzutritt – Prosodie, Intonation und Akzent, Melodie, redundante Elemente, Varianten und so weiter. Knochen, Fleisch und Blut der Stimme waren restlos in ein Gewebe struktureller Züge aufgelöst, in eine Checkliste von An- und Abwesenheiten.
Der Gründungsakt der Phonologie bestand also in der vollständigen Ausklammerung der Stimme als Substanz der Sprache. Ganz im Sinne einer apokryphen Etymologie war die Phonologie darauf aus, die Stimme zu töten – ihr Name leitet sich natürlich vom griechischen phone her, doch kann man in ihm genauso passend auch phonos hören, den Mörder. Die Phonologie ersticht die Stimme mit dem Dolch der Signifikanz; sie beseitigt ihre lebendige Präsenz, ihr Fleisch und Blut. Dies führt uns zu dem vorläufigen Fazit: Es gibt keine Linguistik der Stimme. Es gibt nur die Phonologie, das Paradigma der Linguistik des Signifikanten.
Das Phonem ist die vom Signifikanten in Besitz genommene und in Form gepreßte Stimme. Wohl gehorcht es selbst einer ziemlich verwickelten Logik und ist voller Tücken und Abgründe; so ganz läßt es sich nie zu der simplen transparenten Matrix differentieller Oppositionen zähmen, von der Saussure (und Lévi-Strauss und so viele andere) träumten, ja, die der größte Traum der frühen Strukturalisten war. Und doch ist es eine Logik, deren Mechanismen erforscht und festgehalten werden können, eine Logik, mit der wir Sinn hervorbringen oder, bescheidener gesagt, mit der wir auskommen können, wenn wir Sinn (oder doch wenigstens Unsinn) hervorbringen. Um zu sprechen, muß man 31die Laute einer Sprache so erzeugen, daß sie deren differentieller Matrix genügen; das Phonem ist die in der Matrix gefangene Stimme – die sich gar nicht so viel anders verhält als die Matrix des gleichnamigen Films. Der Signifikant ist auf die Stimme als Grundlage angewiesen, so wie die Matrix des Films auf die unseligen Opfer und ihre Phantasien angewiesen ist, aber er verfügt über keine eigene Materialität, sondern nutzt die Stimme nur, um unsere gemeinsame »virtuelle Realität« zu erzeugen. Das Problem ist allerdings, daß bei dieser Operation immer ein Rest bleibt, der sich nicht in einen Signifikanten verwandeln oder in Bedeutung auflösen kann; ein Rest, der keinen Sinn ergibt, ein Überbleibsel, etwas Verworfenes – sollen wir sagen, ein Exkrement des Signifikanten? Die Matrix bringt die Stimme zum Verstummen – beinah.
Wie können wir dieser Dimension der Stimme nachgehen? Betrachten wir zunächst drei verschiedene Modi, in denen wir in der ganz alltäglichen Erfahrung auf die scheinbar dem Signifikanten gegenüber resistente Stimme stoßen: Akzent, Intonation und Klangfarbe. Wir werden uns der Stimme bewußt, wenn wir einem Menschen mit Akzent zuhören.8 Der Akzent – ad cantum – bringt die Stimme in die Nähe des Gesangs, und ein starker Akzent läßt uns plötzlich der materiellen Grundlage der Stimme gewahr werden, die wir eigentlich sofort aussondern wollen. Der Akzent scheint vom gleichmäßigen Fluß der Signifikanten und der Hermeneutik des Verstehens abzulenken oder diese gar zu behindern. Freilich stellt der regionale Akzent keine wirkliche Herausforderung dar, er läßt sich beschreiben und einordnen. Schließlich ist er eine Norm, die von einer herrschenden Norm abweicht – dies macht ihn zum Akzent, dies macht ihn resistent, dies läßt ihn singen –, und man kann ihn auf die gleiche Weise beschreiben wie die herrschende Norm. 32Die herrschende Norm ist nichts anderes als ein Akzent, der mit einer Geste voll schwerwiegender sozialer und politischer Konnotationen zum Nichtakzent erklärt worden ist. Die offizielle Sprache ist tief von Klassenunterschieden geprägt; ihre Beschaffenheit verdankt sich einem permanenten »sprachlichen Klassenkampf«, und wir müssen uns nur an Shaws Pygmalion erinnern, wenn wir eine unerhörte Darstellung dieses Umstands suchen.
Auch die Intonation kann uns die Stimme bewußt machen, denn der Klang einer Stimme, ihre besondere Melodie und Modulation, ihr Rhythmus und ihr Tonfall können die Bedeutung entscheidend beeinflussen. Die Betonung kann die Bedeutung eines Satzes in ihr Gegenteil verkehren. Ein leicht ironischer Ton – und eine ernsthafte Botschaft fällt in sich zusammen; ein leicht gequälter Ton – und der Witz geht nach hinten los. Zum Kern der Sprachkompetenz gehört nicht nur die Phonologie, sondern auch die Fähigkeit, mit der Betonung und ihren mannigfaltigen Verwendungsweisen zurechtzukommen. Doch auch die Intonation ist nicht so flüchtig, wie sie vielleicht erscheint; sie kann linguistisch beschrieben und empirisch verifiziert werden. Jakobson erzählt die folgende Geschichte:
Ein ehemaliger Schauspieler von Stanislavskijs Theater in Moskau erzählte mir, wie der berühmte Regisseur beim Vorsprechen von ihm verlangte, aus dem Ausdruck Segodnja večerom (heute abend) durch verschiedene Lautschattierungen vierzig verschiedene Mitteilungen zu machen. Er stellte also eine Liste von etwa vierzig emotionalen Situationen zusammen und sprach dann diesen Ausdruck gemäß jeder dieser Situationen, die sein Publikum nur aufgrund des Wechsels im Tonfall der beiden Wörter identifizieren mußte. Wir baten diesen Schauspieler im Zusammenhang mit unserer Darstellung und Analyse des heutigen Standardrussischen (unterstützt von der Rockefeller Foundation), Stanislavskijs Test zu wiederholen. Er notierte sich wiederum etwa fünfzig Situationen für den gleichen elliptischen Satz und sprach etwa fünfzig dazu passende Mitteilungen für eine Tonbandaufzeichnung. Die 33meisten Mitteilungen wurden von den Moskauern korrekt und situationsgerecht entschlüsselt. Ich möchte hinzufügen, daß all diese emotionalen Ziffern sich ohne weiteres linguistisch analysieren lassen. (Jakobson 1979, S. 90)
So stellen also all die Nuancen der Betonung, die entscheidend zur Bedeutung beitragen und alles andere als ein unaussprechlicher Abgrund sind, die linguistische Analyse vor keine größeren Probleme; die Intonation kann derselben Behandlung unterzogen werden wie alle anderen sprachlichen Phänomene. Sie erfordert einige zusätzliche Notationen, was aber nur einen komplexeren und verzweigteren Code bedeutet, eine Ausweitung der phonologischen Analyse. Die Betonung läßt sich – mit Rockefellers Hilfe (ein Detail, das mir gut gefällt) – empirisch, also objektiv und vorurteilsfrei testen.9 Es ist kein Zufall, daß bei diesem Experiment ein Schauspieler als ›Versuchsobjekt‹ diente, ist doch das Theater das praktische Labor par excellence, in dem ein und derselbe Text mit Betonungsnuancen versehen, dadurch zum Leben erweckt und Abend für Abend vor Publikum empirisch auf die Probe gestellt werden kann.