Über das Buch
Kreativität, Glamour, Versuchungen, Lügen, Schnelligkeit, Geld – die Werbebranche weckt viele Assoziationen. Das Urgestein der deutschen Media-Szene Thomas Koch ist der »Robin Hood im Media-Wood« (Horizont). Er versteht es vortrefflich, sich als Provokateur der Branche in Szene zu setzen und die Big Player das Fürchten zu lehren. Gleichzeitig schätzen ihn viele als »den profiliertesten Vordenker der deutschen Werbung« (Capital). Er ist derjenige, der von der Presse als Erster gefragt wird, wenn sich in der Werbung etwas tut.
In 42 kurzweiligen Episoden verrät der Media-Experte, wie die Branche wirklich tickt, wo gern geschummelt wird, was eine Marke ausmacht, was Sie alles mit Ihrer Visitenkarte anstellen können und warum Agenturen nie für sich selbst Anzeigen schalten.
Über den Autor
Thomas Koch, Jahrgang 1952, ist seit 42 Jahren im Geschäft. Er gründete die Mediaagentur tkm und war CEO von tkmStarcom. Heute berät er mit seiner Firma tk-one Unternehmen, Medienhäuser und Agenturen und ist Partner bei Plural Media Services. Als Mr. Media bloggt er für W&V und schreibt eine viel gelesene Kolumne in der WirtschaftsWoche. 2008 wurde er zur Mediapersönlichkeit des Jahres gewählt.
Thomas Koch
Die Zielgruppe
sind auch nur Menschen
42 Episoden
aus meinem wilden
Leben als Werber
Econ
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ISBN: 978-3-430-20169-8
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014
Umschlaggestaltung: Etwas Neues entsteht, Berlin
Umschlagfoto: © Peter ‚Bulo‘ Böhling
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E-Book: LVD GmbH, Berlin
Für Christiane. Weil sie mich liebt, wie ich bin.
Vorwort
Sie haben sicher schon etliche Management-Ratgeber-Beststeller gelesen. Ich nenne sie »How-To-Do-Everything-Right-Bücher«. Sie strotzen vor Zitaten und Erlebnissen weltberühmter CEOs und vor Untersuchungsergebnissen unbekannter Forscher und Psychologen an irgendwelchen amerikanischen Universitäten. Sie lesen sich gut. Sie sind der perfekte Lesestoff für wissenshungrige und erfolgsdurstige Führungskräfte und So-möchte-ich-es-auch-Macher. Sonst wären es ja keine Beststeller.
Das Eigentümliche an diesen Büchern fand ich immer, dass man sie zwar gern liest, aber die Ratschläge nur äußerst selten befolgen kann. Die beschriebenen Situationen sind für uns meist viel zu weit weg; die Ratschläge bewegen sich zwischen kryptisch (»Lassen Sie sich kein X für ein U vormachen«) und ayurvedisch (»Meist kommt es anders, als man denkt«). Wir geraten eben nur selten in die Situation eines General-Electric-CEOs wie Jack Welch oder schwingen uns auf, ein Computerimperium zu begründen, wie Steve Jobs oder Bill Gates.
Ich habe Dutzende solcher Bücher mit Vergnügen gelesen, habe sie regelrecht inhaliert. Und habe am eigenen Leib gespürt, dass sie einem nicht weiterhelfen – nicht jedenfalls fürs eigene Leben, um das es einem schließlich geht. Deshalb habe ich eine andere Art Buch schreiben wollen. Über wirkliche Begebenheiten eines wirklichen Menschen, aus dem wirklichen Leben.
Aus den hier versammelten Anekdoten kann jeder etwas mitnehmen. Jeder, der Lust hat auf Werbung und Kommunikation. Auch diejenigen, die dieses seltsame Kribbeln in sich spüren und sich selbständig machen wollen. Egal, ob in der Werbebranche oder einer anderen. Die Gefühle sind dieselben. Die Erlebnisse sind dieselben. Das Abenteuer wird immer dasselbe sein.
Lassen Sie sich von einem, der sich nach all den Jahren »Urgestein der deutschen Mediabranche« nennen lassen darf, berichten
– von der wahren Kunst der Werbung und warum Werbung Spaß macht
– was eine Marke ausmacht und warum auch Menschen Marken sein dürfen
– warum Computer in der Werbung niemals siegen werden
– von den Tücken und Fallstricken der Selbständigkeit
– von persönlichen Katastrophen und großen Siegen
– von hilfreichen Menschen und solchen, die man am liebsten zum Teufel jagen würde
– von Selbstfindung, der Suche nach dem eigenen Talent und der Erfüllung, anderen Menschen eine Perspektive zu geben
– und warum Geld nicht glücklich macht.
Dies ist mein Resümee nach 42 Jahren. Es ist ein Dankeschön an eine Branche, die ich liebe. Es ist aber auch eine Abrechnung mit allem, was mir an dieser Branche nie gefiel. Und es ist ein Aufruf an alle, die wie ich, in jungen Jahren in diese Branche einsteigen, um sie zu verändern: Bleiben Sie Ihren Visionen treu und lassen Sie sich niemals unterkriegen. Gehen Sie Ihren Weg.
Prolog
Auf meiner Couch im Düsseldorfer Büro am Vogelsanger Weg saßen zwei anzugbekleidete, äußerst grimmig dreinblickende Herren vom örtlichen Finanzamt. Der rechts sitzende Herr schaute in seine Unterlagen, warf seinem Kollegen einen kurzen Blick zu und sah dann zu mir auf. »Wir müssen Sie anzeigen. Verdacht auf Steuerhinterziehung in Millionenhöhe. Und eigentlich müssten wir Sie wegen Verdunklungsgefahr auf der Stelle in U-Haft nehmen. Würde hier das Finanzamt Duisburg ermitteln, könnten Sie den heutigen Abend nicht zu Hause verbringen.«
Mir rutschte das Herz in die Hose. Und während die beiden Finanzbeamten redeten und redeten und ich in ihre finsteren Gesichter sah, wurde mir langsam klar, worum es ging. Wir arbeiteten damals bereits seit Jahren für Mannesmann Mobilfunk D2, heute bekannt als Vodafone. D2 war unser mit Abstand größter Kunde, der Kunde, mit dem meine Agentur und ihr Ansehen Jahr um Jahr wuchsen. Für die Abrechnung der immerhin 100 D2-Media-Millionen gab es ein gemeinsam geführtes Unterkonto. Das war nicht ungewöhnlich bei einem so großen Auftrag. Es sorgte schlichtweg dafür, dass sich die D2-Gelder nicht mit denen anderer Kunden vermischten.
Irgendwas musste da schiefgegangen sein. Womöglich hatte sich in der Buchhaltung ein Fehler eingeschlichen, von dem ich nichts wusste. Mit solch banalen Erklärungen gaben sich die Finanzbeamten jedoch nicht zufrieden. Mit diesen beiden Herren war überhaupt nicht zu spaßen. Ich kannte sehr wohl den Spruch, wonach der Geschäftsführer einer GmbH stets mit einem Bein im Gefängnis steht. Mich selbst hatte ich von dieser Regel immer ausgenommen. Doch nun war die Lage ernst.
Wie war ich bloß jemals auf die hirnrissige Idee verfallen, diese Agentur zu gründen?
1
Ach, Kanada!
Als Kind ein schüchterner Unschuldsengel.
Aber schon früh ein Weltenbummler.
Ungeduldig war ich vom ersten Tag an. Und ein Kämpfer. Ja, das könnte tatsächlich die treffendste Beschreibung meiner Person sein. Es begann bereits bei meiner Geburt. Nach nur sieben Monaten wollte ich schon hinaus in die spannende Welt. Mein geheimer Plan war offenbar, um jeden Preis als Wassermann auf die Welt zu kommen. Die Geburt verlief dramatisch, und als ich schließlich auf der Welt war, gingen die Ärzte davon aus, dass nur einer von uns – meine Mutter oder ich – überleben würde. Also kümmerten sie sich um mein Wohlergehen. So war das damals Brauch in katholischen Kreißsälen. Nicht üblich hingegen war, dass werdende Väter der Geburt beiwohnten. Doch da es um Leben und Tod ging, wurde mein Vater dazugerufen. Als er wahrnahm, dass sich die Ärzte um mich kümmerten und seine Frau ihrem Schicksal überließen, schritt er beherzt ein.
Er wusste immer, was er wollte; das sollte sich noch oft genug zeigen. Er forderte die Mediziner auf, umgehend das Leben meiner Mutter zu retten – und das seines neugeborenen Sohnes hintanzustellen, was ich ihm schwerlich verübeln kann. Nachdem meine Mutter das Gröbste überstanden hatte, stellte man wohl eher zufällig und zur Verblüffung aller Anwesenden fest: Ups, der Junge lebt ja noch. Die nächsten zwei Monate verbrachte ich in einem Brutkasten, aber den ersten Kampf hatte ich für mich entschieden. Der turbulente Anfang war ein guter Vorgeschmack auf den Rest meines Lebens.
Meinen Vater habe ich als patriarchalischen Träumer in Erinnerung. Seine Faszination waren fremde und ferne Länder. Er hatte seinen Traum zum Beruf gemacht, war Reisebürokaufmann geworden – ein in den 50er Jahren durchaus noch exotischer Beruf.
1957, ich war fünf, wurde in der jungen Bundesrepublik der Wehrdienst wiedereingeführt. Mein Vater beschloss kurzerhand, dass seine beiden Jungs – meinen jüngeren Bruder und mich trennten eineinhalb Jahre – niemals eine Waffe tragen würden. Er selbst war mit siebzehn in den letzten Kriegswirren noch eingezogen worden und hatte anscheinend Traumatisches erlebt, über das er selten sprach. Seine Kompanie, an der Grenze zu Holland stationiert, erkannte die Ausweglosigkeit der Lage, desertierte und geriet in kanadische Kriegsgefangenschaft. Die Kanadier behandelten ihre deutschen POWs, ihre Kriegsgefangenen, gut, und mein Vater wurde nach Kriegsende wohlbehalten in die Düsseldorfer Heimat entlassen.
Nun stand sein Entschluss fest: Um mich und meinen Bruder vom Wehrdienst fernzuhalten, würden wir nach Kanada auswandern. Dass meine Mutter das ausdrücklich und unter keinen Umständen wollte, hielt ihn nicht von seinem Vorhaben ab. Er ließ sich vom DER-Reisebüro eine Stelle in Sault Ste. Marie im Fadenkreuz der Great Lakes vermitteln, und wir sollten nachkommen. Sechs Monate später bestiegen meine Mutter, mein kleiner Bruder und ich eine Super Constellation der Lufthansa, die uns über Shannon in Irland und St. John, Neufundland, in die neue Heimat Ontario brachte.
Sault Ste. Marie war ein eher verschlafenes Städtchen, keine Metropole wie Toronto, aber doch nicht so gottverlassen wie die zahllosen Städte inmitten der kanadischen Prärie. Plötzlich lebten wir nicht mehr zusammengepfercht in einer winzigen Wohnung, wie im noch lange nicht wiederaufgebauten Düsseldorf, sondern in einem, zumindest in meinen Augen, unvorstellbar großen Domizil. In einem neuen Paradies. Das Glück meines Vaters, der sich seinen Traum erfüllt hatte, übertrug sich auf uns alle.
Doch es gab auch Anlass zur Sorge. Ich war etwa sechs, als ich morgens beim Frühstück von meinen nächtlichen Abenteuern zu erzählen begann. Ich berichtete, dass mein Stofftier, ein Affe mit dem seltsamen Namen Herr Sagensix, mich jede Nacht mit auf seine Reisen durchs Weltall mitnahm. Ich erzählte von unseren aufregenden Expeditionen zu fremden Welten und freute mich jeden Abend schon aufs Zubettgehen. Meine Mutter, das verriet sie mir erst viel später, war entsetzt. Sie konnte sich nicht erklären, woher diese eigentümlichen Phantasien stammten. Sie schleppte mich sogar zu einem Arzt, der an mir jedoch keine Anomalien feststellte. Auch nicht, als ich ihm voll des Ernstes erzählte, dass Herr Sagensix mich auf meine spätere Ausbildung zum Weltraumfahrer vorbereite.
Ansonsten verlief meine Kindheit unbekümmert. Eineinhalb Jahre später zogen wir nach Montreal, wo mein Vater eine Stelle bei der Lufthansa angeboten bekam. Von der Größe der kanadischen Metropole bekam ich als Siebenjähriger wenig mit, denn wir lebten in einem hübschen Stadtteil, in dem sich alle kannten. In der Nachbarschaft gab es fast nur Immigranten, die sich gerade erst in der neuen Umgebung zurechtfanden. Und jeder half jedem. Ich genoss Fernsehen, Softdrinks und Peanut-butter-and-jelly-Sandwiches, lange bevor Gleichaltrige in Deutschland wussten, dass es das alles überhaupt gab. Noch mehr als das haben mich wahrscheinlich die Weite des Landes und die damit verbundene Freiheit in jungen Jahren entscheidend geprägt. Wie sich diese Freiheit für mich als Kind anfühlte? Im Nachhinein, glaube ich, war es das Gefühl, dass jeder alles im Leben machen kann, wenn er es nur will. Denn das war es, was ich um mich herum wahrnahm. Wie sehr das mein Leben beeinflussen würde, konnte ich als Jugendlicher noch nicht ahnen.
Als die Beatles am 9. Februar 1964 zum ersten Mal in der Ed Sullivan Show, der größten Unterhaltungsshow des nordamerikanischen Kontinents, auftraten, hatte ich – inzwischen zwölf – von älteren Mitschülern mitbekommen, dass ein großes Ereignis bevorstand. Sie hatten recht: Ich saß wie gebannt vor dem Fernseher und war augenblicklich infiziert. Am nächsten Morgen täuschte ich Fieber vor, schwänzte die Schule, wartete, bis meine Mutter einkaufen ging, und rannte hinüber zum nahegelegenen Shopping Center, um mir »She Loves You« zu kaufen. Ich war so hingerissen, dass ich die Single immer wieder abspielte und nicht bemerkte, dass meine Mutter das Zimmer betrat, um sich nach meinem »Fieber« zu erkundigen. Sie sah es mir nach. Denn obwohl sie klassische Musik studiert hatte, musste sie zugeben, dass ihr die Beatlesmelodien recht gut gefielen. Nur die Haare in die Stirn wachsen lassen – das erlaubte sie mir nicht.
Unbekümmert blieb meine Kindheit bis zu dem Tag, an dem mein Vater an Multipler Sklerose erkrankte. Damals wurde diese heimtückische Krankheit meist zu spät diagnostiziert und konnte ohnehin so gut wie nicht behandelt werden. Als mein Vater erfuhr, wie es um ihn stand, traf er einen folgenschweren Entschluss: Er wollte zurück nach Deutschland – um seine vermeintlich letzten Monate in der Heimat zu verbringen. Meine Mutter war entsetzt. Wir alle waren längst eingebürgert und waschechte Kanadier geworden. Sie wollte alles, nur nicht nach Deutschland zurück. Doch mein Vater ließ nicht mit sich reden, und es folgte das Unausweichliche: Im Alter von dreizehn fand ich mich in Nievenheim, einem unsäglichen Kaff zwischen Düsseldorf und Köln, wieder. Nach Jahren in der modernen Metropole Montreal empfand ich das als reinste Kindesmisshandlung. Und so blieb ich in meinem Selbstverständnis immer Kanadier – sehnte mich auch noch Jahre später nach der im Rückblick so makellosen frühen Heimat.
Ausgekocht: Wie sehr einen Dinge prägen, stellt sich oft erst Jahrzehnte später heraus. Stehen Sie dazu, es ist ein Teil von Ihnen. Und vielleicht genau das, was Sie für Ihr Leben brauchen.
2
Macht kaputt, was euch
kaputt macht
Als könnte ich kein Wässerchen trüben. Doch im Inneren brodelte es bereits.
Der Wiedereinstieg in Deutschland erwies sich als hart. In meinen Augen war das Leben in Kanada ein Traum an Unbeschwertheit gewesen – und alles in Deutschland dagegen einfach nur unwirklich. Ein Leben als Sozialhilfeempfänger, zu viert eingepfercht in ein winziges Zweizimmerappartement, nur ein einziger Fernseher in der Dorfkneipe, Getränke, die man erst anmischen musste, und ekelhaft warme Milch vom Bauern, weder pasteurisiert noch homogenisiert. Zurückgelassen hatte ich meine geliebte Comicsammlung wie auch meine Lieblingsfiguren, Mighty Mouse und Road Runner. Keine Frage, dieses rückständige Deutschland war nicht mein Ding.
Außerdem gab es ein kleines Problem. Ich konnte Deutsch zwar verstehen, weil meine Eltern – wie alle Einwanderer in Kanada – zu Hause ihre Muttersprache gesprochen hatten. Aber sprechen konnte ich diese seltsame Sprache nicht. Während mein Bruder in die Grundschule kam und die Umgangssprache in den ersten Monaten dort ganz von selbst aufschnappte, musste ich als künftiger Gymnasiast Deutsch erst einmal mühsam lernen. Und glauben Sie mir, Deutsch ist eine Sprache, die Sie nicht lernen möchten. Wenn Sie als Artikel nur the kennen, machen Sie sich keine Vorstellung davon, wie schwierig es ist, der, die, das zu pauken. Mein Vater, längst bettlägrig, fand hierin eine neue Aufgabe und wurde während der Schulzeiten von einem hingebungsvollen Pater des nahen Kloster Knechtsteden unterstützt. Ich lernte zornig und mit einer gehörigen Portion Widerstand, aber ich lernte.
Ich lernte auch, dass Fußball zum absoluten Lebensmittelpunkt meiner gleichaltrigen Schulkameraden zählte. Um mich herum gab es nur FC-Fans. An jedem zweiten Samstag fuhren wir gemeinsam mit unseren Fahrrädern nach Müngersdorf, um die Heimspiele des 1. FC Köln zu erleben. Mir war sofort klar, dass ich einen anderen Fanclub brauchte, keinesfalls den, den alle verehrten. Schon in frühester Jugend verspürte ich offenbar den Drang, anders zu sein als die anderen.
So schrieb ich also Manfred Manglitz an, den Torhüter des Meidericher SV und zugleich Nationaltorhüter, und bat ihn um ein Autogramm. Ein cooler Typ. Als er nicht nur ein Autogramm zurückschickte, sondern auch die seiner Vereinskollegen und mir in einem Brief schrieb, dass er sich über mein Interesse freue und gern auf einen Kaffee bei mir vorbeikäme, war ich der King auf dem Pausenhof. Keiner außer mir besaß einen echten Brief dieses großen Fußballers. Von dem Tag an war ich leidenschaftlicher Fan des MSV – und bin ihm bis heute treu geblieben.
Wir wohnten in unmittelbarer Nähe eines Pflegeheims, in dem meine Mutter stundenweise als Sekretärin arbeitete, um die Sozialhilfe aufzubessern. Es nahm meinen Vater einmal im Jahr für ein paar Wochen auf, damit sich meine doch recht zierliche Mutter von der schweren Pflegearbeit erholen konnte. Irgendwann erzählten die Schwestern meiner Mutter, dass sie dringend für die Sonntagsmesse in ihrer kleinen Kapelle einen Ministranten suchten. Und sie, die mich am liebsten in einer Priesterlaufbahn gesehen hätte, hatte nichts Besseres zu tun, als zu erzählen, dass ich in Kanada jahrelang Messe gedient hätte. Damals hatte ich vor der Wahl gestanden: Messdiener oder Chor – und entschied mich für die Laufbahn des Messdieners, um nicht die versammelte Kirchengemeinde in die Flucht zu schlagen. Als der Priester mich jedoch bat, auch die Lesung zu halten, erstarrte ich vor Angst. Aber ein Nein duldete der gute Mann nicht als Antwort. Fortan hielt der kleine Thomas jeden Sonntag die Lesung in einer Sprache, die er noch nicht beherrschte. Die alten Leute und Schwestern des Pflegeheims waren gerührt über meine anfänglich noch holprigen Bemühungen, ich ermutigt und stolz. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dies nicht meine letzten Vorträge vor Publikum sein würden.
Am Dormagener Gymnasium, eher einer Tagesstätte für die Kinder der Führungskräfte des ortsansässigen Bayer-Konzerns, war ich als Sozialhilfeempfänger, quasi ohne Vater und dann noch als einziger Ausländer der Exot schlechthin. Es können unmöglich meine schulischen Leistungen gewesen sein, mit denen ich auf mich aufmerksam machte, trotz meiner Eins in Englisch. Ich verfasste stattdessen englische Songtexte für die örtlichen Rockbands. Das war etwas, was die anderen nicht konnten.
Wir schrieben das später so berühmt gewordene Jahr 1968. In den Partykellern diskutierten wir über Che Guevara, bevor wir uns mit China-Martini und Kölsch abfüllten. Wir brachten eine Schülerzeitung heraus, und ich gehörte selbstverständlich zu den regelmäßigen Redakteuren. Wir waren sehr politisch. Und sehr aggressiv. Meine Beiträge brachten das Lehrerkollegium zum Kochen. Besondere Aufruhr verursachte ein Artikel mit der Überschrift »Sind Lehrer Menschen?«, in dem ich in aller Ernsthaftigkeit die Frage diskutierte, ob Lehrer angesichts ihres Verhaltens überhaupt zu den menschlichen Wesen zu zählen seien.
Ich führte fast jeden Aufstand in der Klasse mit an: offene Opposition, Sitzstreiks, Fernbleiben von Klassenarbeiten. So lange, bis man mich kurzerhand mit der Mittleren Reife von der Schule warf. Es war einer dieser schlichten »blauen Briefe«, die die Eltern bekamen, wenn die Schulnoten zu wünschen übrig ließen. Doch dieser enthielt nicht den Hinweis darauf, doch bitte auf die schulische Leistung des Nachwuchses zu achten, sondern gleich einen Verweis von der Schule. Meine arme Mutter fiel aus allen Wolken. Man bat uns zum Gespräch und erklärte ihr, dass man von einem Klassensprecher, wie ich schließlich einer war, eine Vorbildfunktion zu erwarten hatte. Darin stimmte ich grundsätzlich zu, nur stellte ich mir unter »Vorbild« etwas ganz anderes vor als das Lehrerkollegium. Meine Schulkarriere war damit beendet. Aber nur sie. Es war die Einstimmung auf ein Leben, in dem ich noch sehr häufig meine Meinung sagen würde.
Ausgekocht: Stehen Sie zu Ihren Ecken und Kanten, auch wenn Sie sich damit unbeliebt machen. Zeigen Sie Rückgrat, selbst wenn man Sie dafür abstraft. Was heute wie eine Niederlage aussieht, ist morgen vielleicht schon etwas, worauf Sie stolz sind.
3
Wer bin ich – und wenn ja,
in welcher Abteilung?
Nach meiner unsanften Entfernung vom Gymnasium hatte ich keine Lust auf nichts. Mein Vater war schon lange nicht mehr in der Lage, sich um mein Wohlergehen zu kümmern, daher war es meine Mutter, die Ausschau nach einem geeigneten Ausbildungsplatz für mich hielt – und mir nach einigen Wochen eine Einladung zum Bewerbungsgespräch unter die Nase. Eine kaufmännische Ausbildung in einem Büro? Wie sterbenslangweilig. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was Menschen den ganzen lieben Tag in einem Büro trieben, geschweige denn, wozu. Und wer war überhaupt Rank Xerox? Wie sich herausstellte, nahmen sie nur fünf Lehrlinge pro Jahr und legten stolz Wert auf die Feststellung, dass ein Wirtschaftsmagazin sie zu den drei besten Ausbildungsplätzen in Deutschland gewählt hatte.
Sie hatten tatsächlich Interesse an mir. Weniger an den unzähligen Fünfen in meinem Zeugnis als an meinem Lebenslauf und meinem perfekten Englisch. Ok, dachte ich mir, dann mach ich das mal. Wird so schlimm nicht werden. Und je mehr ich über dieses Büroleben und die seltsamen Abteilungen erfuhr (»Wir von der Poststelle sind die wichtigste Abteilung in der Firma, weil ohne uns die Aufträge nicht bearbeitet würden«), desto mehr faszinierte es mich. Beim Weltkonzern Xerox – amerikanischer hätte es nicht zugehen können – verstand man es, Leistung anzuerkennen. Aber auch Milde walten zu lassen, wenn einer der jungen Mitarbeiter über die Stränge schlug, die Berufsschule schwänzte oder in einem Altstadtlokal Hausverbot wegen Kiffens bekam. Mit anderen Worten: Es machte Spaß. Ich wurde erfolgreich zum Groß- und Außenhandelskaufmann ausgebildet.
Spannend war die Abwechslung. Wir durchliefen alle Abteilungen des Unternehmens. Da gab es Abteilungen wie die ausschließlich aus Männern bestehende »Gerätedisposition und -kontrolle«, wo wir männlichen Auszubildenden auch in die Kunst der dänischen Pornoheftchen eingewiesen wurden. Abteilungen wie die Buchhaltung, wo wir uns gemeinsam mit den Angestellten über die studentischen Praktikanten lustig machten, die nicht einmal den Dreisatz beherrschten. Oder die Gehaltsbuchhaltung, wo wir erfuhren, dass Extrakonten für jeden Vertriebsmitarbeiter angelegt wurden. Denn manche Verkäufer besaßen die Unverfrorenheit, Belege von Bars einzureichen, die mehr als nur Getränke anboten, und glaubten, die Buchhalter in der Zentrale damit linken zu können. Doch die kannten jede Rotlichtbar der Republik, ließen die Belege durchgehen, wenn es sich um einen verdienten Verkäufer handelte, und legten sie im Extrakonto ab. Für alle Fälle. Wann immer einer dieser Porsche fahrenden Verkäufer sehr plötzlich entlassen wurde, waren es wir Auszubildenden, die das Geheimnis kannten. Spaß machte auch die EDV. Vor allem die Datenerfassung. Da saßen in einem riesigen Raum Dutzende sogenannter Datatypistinnen. Jede von ihnen hatte lange Haare, lange Fingernägel, die viel Pflege bedurften – und große Brüste. In jeder Abteilung tat sich mir eine neue Welt auf, von der ich nicht geahnt hatte, dass sie existierte. Ich begann plötzlich zu verstehen, warum Menschen sich den ganzen Tag lang in Büros einsperren ließen.
Richtig aufregend wurde es für mich in der Werbeabteilung. Mein Faible für die Werbung hatte sich bereits entwickelt und drückte sich darin aus, dass ich sogar eine Werbefachzeitschrift privat abonnierte. Aber die Branche endlich hautnah zu erleben, war etwas völlig anderes. Die Werbeabteilung von Rank Xerox umgab ein besonderer Nimbus. Das waren die Kreativen. Nebenan in der Marketingplanung brüteten Menschen über endlosen Tabellen. Hier in der Werbeabteilung spielte die Musik. Man arbeitete damals mit Young & Rubicam zusammen, und jedes Mal, wenn die Agentur ihre langhaarigen Kreativen zu uns schickte, stand die ganze Firma Kopf. Das waren die Verrückten, die die wilden Kampagnen entwickelten. Zu dieser Welt wollte ich auch gehören. Nach dem Durchlaufen von sechzehn verschiedenen Abteilungen und nach nur vier Wochen in der Werbeabteilung stand mein Entschluss fest: Ich will in die Werbung.
Kaum war meine Ausbildung beendet, bewarb ich mich also in der Werbeabteilung. Der Werbechef willigte ein und beantragte für mich eine Planstelle. Doch das europäische Headquarter in Großbritannien winkte ab. Es sollte nicht sein.
Daraufhin bewarb ich mich bei allen Werbeagenturen in Düsseldorf, Köln und Umgebung. Ich schrieb fünfzig – im Nachhinein betrachtet unvorstellbar naive – Briefe, in denen ich schilderte, dass ich Kanadier sei, erfolgreich meine Lehre bei Rank Xerox, der Marketing-Nummer-Eins in Deutschland, absolviert hätte und nun in die Werbung wolle. Es hagelte Absagen. Unter anderem von GGK in Düsseldorf, von der später noch die Rede sein wird. Doch eine Agentur namens Gramm & Grey suchte gerade einen Junior-Planer und lud mich zum Gespräch.
An das Bewerbungsgespräch erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen. Zwei erfahrene Mediamanager schilderten mir die Aufgaben eines Mediaplaners. Ich verstand nur Bahnhof. Bei Rank Xerox gab es zwar einen Mediamann, der mich in die Geheimnisse der Mediaplanung eingeweiht hatte, aber hier bei Gramm & Grey ging es um für mich unverständliche Begriffe wie GRPs und TKPs. Aber mir war ohnehin völlig egal, worüber die Herren redeten, nur eins war mir klar: Wenn ich vortäusche, mich für den Job als Junior-Mediaplaner zu interessieren, werden sie mich nehmen. Und ich habe den begehrten Job in der Werbung. Bingo!
Ausgekocht: Die Welt ist bunt und erschreckend vielfältig. Ganz egal, wohin es Sie verschlägt: Es gibt überall etwas zu lernen. Alles ist interessant. Halten Sie Augen und Ohren offen.