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JOHN BRUNNER

 

 

 

SCHAFE BLICKEN AUF

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

 

 

 

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www.diezukunft.de

Vorwort des Herausgebers

 

Die Mainstream-Literatur, so klagte Brian W. Aldiss 1996 in einem Aufsatz im Journal of the Fantastic in the Arts, sei von der Nostalgie befallen wie von der Trockenfäule. Tatsächlich wendet sich die Hochliteratur mehr und mehr der Vergangenheit zu, nicht um sie aufzuarbeiten, sondern um sie zu verklären. Die Gegenwart, immer mehr bestimmt von Technik und Naturwissenschaften und deren zum Teil kaum zu kalkulierenden Folgen, scheint für die meisten Literaten unüberblickbar geworden zu sein, ein unsicheres Gelände, in dem sie sich nicht wohlfühlen und das sie in ihrem Werk lieber aussparen, weil sie von so vielen Dingen nichts verstehen, ja gar nichts verstehen wollen. Welcher Schöngeist interessiert sich schon für Quantenphysik, Cyberspace oder die Rekombination von DNS. Die Folge dieser Haltung ist, dass eine Analyse der Gegenwart, eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit ihren Problemen und Tendenzen, wie es bei Dickens und Zola noch selbstverständlich und bei Fallada und Dos Passos noch gegeben war, in der heutigen sogenannten Hochliteratur nicht mehr stattfinden. Diese Funktion fällt zunehmend der Science Fiction zu.

Tatsächlich ist die Science Fiction für diese Aufgabe hervorragend geeignet. Ihre Autoren sind in Technik und Naturwissenschaften (meist) gut bewandert, und das elementare Stilmittel der Science Fiction, die Projektion in die Zukunft, ist ideal für eine Menetekel-Funktion: »Kinder, wenn wir so weitermachen und die Weichen nicht anders stellen, dann wird unweigerlich das passieren, was ich euch jetzt erzähle …«

 

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John Brunner 24. September 1934–25. August 1995

Copyright © Foto by Wörlham Archiv Wolfgang Jeschke

 

Dieses Stilmittel ist auch immer wieder von Autoren benutzt worden, die nicht vornehmlich Science Fiction schrieben, von Aldous Huxley etwa und George Orwell. Mit ›The Sheep Look Up‹ hat John Brunner 1972 versucht, ein Szenario für die Jahrtausendwende, unsere Zeit also, zu entwerfen. Er hat jahrelang für diesen Roman und das Pendant dazu, ›Stand on Zanzibar‹, 1968 erschienen, recherchiert, die Trends der Sechziger und beginnenden Siebziger studiert und eine Generation weit in die Zukunft verlängert. Die Probe aufs Exempel ergibt, dass er beängstigend hellsichtig war, die Zeichen seiner Zeit richtig deutete und auf eine Weise recht behielt, die ihm selbst Unbehagen bereitete, denn er war, wie er immer wieder betonte, nur im Kopf ein Pessimist, im Herzen jedoch ein Optimist, wie es sich für einen Science Fiction-Autor gehört, der mit seinem Werk ja etwas bewegen, etwas zum Besseren verändern möchte, damit die Zukunft nicht so aussehe, wie er sie schildert: als ein Menetekel.

Hat er etwas bewirken können? Der Roman schildert eine schonungslos ausgepowerte, verwüstete Erde, eine erdrückende Überbevölkerung und den Niedergang der menschlichen Zivilisation, der an einem Punkt angelangt ist, wo Handeln und Gegensteuern nichts mehr nützen. Das Lager ist gespalten: Viele meinen, dass dieser Punkt erreicht ist; andere sehen noch einen Funken Hoffnung in einem veränderten Umweltbewusstsein, in behutsamen, ›sanften‹ Techniken, mit denen die gröbsten Schäden, die wir angerichtet haben, repariert werden könnten. Doch die Skeptiker scheinen mehr und mehr zu überwiegen. Der Roman war ein weltweiter Erfolg. Er kann gar nicht genug Leser finden! Nur – fand und findet er die richtigen? Ich würde es ihm wünschen, denn es wäre in unserer aller Interesse.

 

John Kilian Houston Brunner wurde am 24. September 1934 in Oxfordshire, England, geboren und studierte am Cheltenham College moderne Sprachen. Er begann sehr früh mit dem Schreiben, und 1951, im Alter von 17 Jahren, konnte er bereits seinen ersten Roman, ›Galactic Storm‹, verkaufen. Er diente bei der Royal Air Force und schrieb unter verschiedenen Pseudonymen Erzählungen für englische und amerikanische Magazine und jedes Jahr mehrere Romane. In den Sechzigern war er einer der ersten Autoren, der auf die Gefahren der Umweltzerstörung hinwies und den Datenmissbrauch sowie den modernen Kolonialismus der Industriestaaten und deren rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen der Dritten Welt anprangerte, so in ›The Dreaming Earth‹ (1963; dt. ›Träumende Erde‹), ›The Whole Man‹ (auch: ›Telepathist‹, 1964; dt. ›Der ganze Mensch‹, auch: ›Beherrscher der Träume‹), ›The Squares of the City‹ (1964; dt. ›Die Plätze der Stadt‹), ›The Jagged Orbit‹ (1969; dt. ›Das Gottschalk-Komplott‹, auch ›Morgen geht die Welt aus den Angeln‹), ›The Stone That Never Came down‹ (1973; dt. ›Die dunklen Jahre‹), ›The Shockwave Rider‹ (1975; dt. ›Der Schockwellenreiter‹), und – wie schon erwähnt – ›Stand on Zanzibar‹ (1968; dt. ›Morgenwelt‹); dafür wurde er mit dem begehrten Hugo Award ausgezeichnet. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war er aktiv in der englischen Anti-Atomwaffen-Bewegung tätig, für die er Songtexte schrieb; sein Song ›The H-Bomb's Thunder‹ wurde weltbekannt.

John Brunner gehört zu den besten Science Fiction-Autoren der Gegenwart, auch wenn längst nicht alle seiner etwa sechzig Romane das Niveau von ›Schafe blicken auf‹ erreichten. Er machte nie ein Hehl daraus. »Ich lebe in einem System, das mich zwingt, mein Auskommen durch meine Arbeit zu verdienen. Ich backe sozusagen Brötchen und ich backe Torten. Von den Brötchen lebe ich«, sagte er in einem Interview in Düsseldorf. Er starb am 24. August 1995 in Glasgow, während des Science Fiction Worldcons, an einem Schlaganfall.

Wolfgang Jeschke

Inhalt

 

 

Vorwort des Herausgebers

Widmung

DEZEMBER

Verkündigung

Blutbad

Zeichen der Zeit

Nicht in unseren Sternen

Hühnerstange

Zur Sache

Frischluft

Das Gegenteil von Öfen

Das blutende Herz ist eine schwärende Wunde

Die Wurzel des Übels

Defizit

Ein Maul wie eine Blaskapelle, das noch in Güte schwelgt

Der Raum für diese Anzeige wurde vom Verlag als Dienst an der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt

Von Haus zu Haus

Die Moral des zwanzigsten Jahrhunderts

Schlechte Mischung

Beistand

JANUAR

Marschbefehle

Überschall

Wintersport

Laufendes Konto

Ratten

Prexy spricht

Memento Laurae

Den Nachrichten voraus

Zahlenspiele

Sei sauber

Verschneiter Atlas

Die winzigste Spur

Und so weiter

Der Erdbeweger

Showdown

FEBRUAR

In Praise Of Biocide

Lob Des Tötens

Dies trifft mich mehr

Diskussion

Meinungsfreiheit

Die natürliche Erscheinung

Armut ist strafbar

Resistenz

Die unentbehrlichen Helfer

Zerrüttung

Guten Appetit

Body Building

Meine Finger sind grün und fallen manchmal ab

Scheusal in weiß

Das schwarze Schaf

Keine Schlagzeilen

Berufung ins Armenhaus

MÄRZ

Langwierige Vermehrung

Wurmgeschenk

Ein Strohhalm für einen Ertrinkenden

Rückpost

Vorsichtsmaßnahme

Reiß dich zusammen und fang noch einmal an

Laborbericht

Die Wunder der modernen Zivilisation

Verschlungene Pfade

APRIL

Heldensermon

Ein Opfer des I. Weltkriegs

Das ging zu weit

Provisorium

Bevor wir so rüpelhaft unterbrochen werden

Gesegnet, die reinen Herzens sind

Die Plage beginnt

MAI

Greif zu, wenn das Zugreifen lohnt

Spielverderber

Bis jetzt: Kein Vater

Der Teufelskreis

Nebenwirkungen

Aussichten: Bewölkt

Aus den Tiefen der Erde

Hundstage

Plan zur Kartographierung des Planeten

Verbrennt die Brücken, bevor ihr sie erreicht

Die Untergrundbewegung

Am Toten Meer

JUNI

Eine noch außerordentlich weitverbreitete Einstellung

Dampfmaschinenzeit

Schießt auf alles, was sich bewegt

Ein Platz zum Bleiben

Freie Bahn

In diesem Augenblick

Gefährten im Unglück

Kräfteballung

Ein außergewöhnlich ernster Zwischenfall

JULI

Galoppierende Schwindsucht

Zündstoff

Zerschmetterung

Funken

Schmutziger Luft ausgesetzt und obendrein eingesperrt

Erdstoß

Dies ist nicht das Ende der Welt, oder?

Herausforderung

Kreuzfeuer

Zurück im Brennpunkt

AUGUST

Nach dem Einsatz der Explosivharpune

Das Gras wird immer brauner

Kalte Dusche

Haben Sie welche von diesen Würmern gesehen?

Sommerliches Flugwetter

Außerstande, die Berge zu sehen

Speisung

Heimkehr

Von Menschen und Ratten

Das Ende eines langen, dunklen Tunnels

Volltreffer

Aufrichtige Klage

Ernsthafter Untersuchung völlig unverdächtig

SEPTEMBER

Mutterschänder

Stillstand

Dicke Luft

Wertvolle Hilfe

In meine Hände, o Herr, hast Du den Feind gegeben

Um nur ein paar zu nennen

Querschnitt

Memo

Man hat den Eindruck

Zuckungen

Ausbruch

Abstieg in die Hölle

Ein Vulkan von Qual

Aus der Hand geglitten

OKTOBER

Die Ticktack-Männer

Ausrufung des Notstands

Kommentar

Nachwehen

Die harte Tour

Acid Trip

Fleißarbeit

Ein Wiedersehen

Kleider machen Leute

Rechtskurs

Verspätete Neuigkeit

NOVEMBER

Womit soll gesalzen werden?

Alias

Es gibt noch Hoffnung

Aufrüstung

Der Schock des Erkennens

Die vernünftigste Empfehlung

Der Rauch jenes großen Feuers

NÄCHSTES JAHR

Die Schafe blicken auf

 

 

 

 

Für

 

ISOBEL GRACE SAUER (geb. ROSAMOND)

1887–1970

 

IN MEMORIAM

 

 

 

BITTE HELFEN SIE UNS

DEN HAFENDAMM SAUBER ZU HALTEN.

WERFEN SIE ABFÄLLE ÜBER BORD!

 

Hinweistafel, abgebildet in:

God's Own Junkyard,

herausgegeben von Peter Blake

DEZEMBER

 

Verkündigung

 

Der Tag wird kommen, da jedes Kind

Einen sicheren Rasen als Spielplatz find't,

Wo es von Wölfen und ähnlichen Wesen

Wie Löwen wird nur noch im Bilderbuch lesen,

Wo kein morscher Baum, kein stürzender Ast

Es begräbt unter seiner schweren Last.

Wenn saftig und grün alles sprießt in den Wäldern,

Und Wüsten werden zu Auen und Feldern.

Geschichten wird man zum Besten geben

Und viel berichten vom herrlichen Leben:

Im fernen Westen, aus dem ich her,

Da zähmte mein Vater ein wildes Meer.

Im Osten, wo meine Heimat jetzt,

Da hat man ein wildes Tier gehetzt,

Das oft mit blutigen Fängen gewütet,

Nun liegt es im Käfig, wohlbehütet.

Und hoch im Norden, wo einst nichts als Eis,

Gibt's heute, wie überall jedermann weiß,

Nicht nur fette Wiesen und Kinderlachen,

Selbst Straßen, Bahn, Post und solche Sachen!

Ja, auch im Süden, im Meer und am Pol,

Sieht man das menschliche Streben zum Wohl.

Edle Träume beflügeln des Geistes Bahn

Und spornen die forschenden Engländer an …

aus: Weihnachten im Neuen Rom, 1862

 

 

Blutbad

 

Gejagt?

Von wilden Tieren?

Am helllichten Tag auf dem Santa-Monica-Freeway?

Wahnsinn! Wahnsinn!

 

Es war der Archetyp eines Albtraums: gefangen, zu jeder Bewegung unfähig, riesige Bestien, die sich bedrohlich näher schieben. In einem Stau von über einer Meile, mit Gestank und Gebrumm, versuchten drei Fahrzeugschlangen sich im Schritttempo durch eine Ausfahrt zu zwängen, die eigentlich nur zweispurig angelegt war. Dennoch hatte er mehr Furcht vor dem Davonlaufen als davor, zu bleiben, wo er sich befand.

Mit glänzenden Fangzähnen, die den grauen Schimmer der Wolken widerspiegelten: ein Puma.

Mit entblößten Klauen: ein Jaguar.

Zum Zustoßen bereit: eine Kobra.

Im Kreiseziehen: ein Falke. Hungrig: ein Barrakuda.

Doch als er schließlich die Nerven verlor und zu laufen begann, war es keiner von ihnen, der ihn erwischte, sondern ein Stachelrochen.

 

 

Zeichen der Zeit

 

DAS SCHWIMMEN IN DIESEM GEWÄSSER

IST AUS GESUNDHEITSGRÜNDEN VERBOTEN!

 

KEIN TRINKWASSER!

 

SCHALE NICHT ZUM VERZEHR GEEIGNET!

 

BITTE UNBEDINGT HÄNDE WASCHEN!!

 

HAUSTIERE FERNHALTEN!

 

FILTERMASKENSPENDER

Nur zum einmaligen Gebrauch bestimmt

Maximale Benutzungszeit – 1 Stunde

 

SAUERSTOFF

25 Cent

 

SCHLIESSEN SIE DIE WAGENFENSTER

UND FAHREN SIE ZÜGIG WEITER!

 

 

Nicht in unseren Sternen

 

»Ihnen gebührt Sicherheit im Bollwerk-Stil!«, sagte das Radio. Ein Bus, riesengroß, deutsches Fabrikat, Mittelgelenk, elektrisch, dem Passagiere entstiegen, blockierte die Einfahrt zum Parkplatz der Gesellschaft auf der linken Straßenseite. Während er ungeduldig darauf wartete, dass er weiterführe, spitzte Philip Mason die Ohren. Eine Werbesendung für ein Konkurrenzunternehmen?

Die salbungsvolle Stimme sprach weiter, untermalt durch Non-Musik von Cellos und Violinen. »Sie verdienen ungestörten Schlaf. In Ferien zu gehen, so lange Sie es sich leisten können, ohne sich um das Heim zu sorgen, das Sie zurücklassen. Heißt es nicht, das Heim sei eine Burg? Und sollte das für Sie nicht auch gelten?« Nein. Keine Versicherung. Irgendein schmieriger Grundstücksmakler. Warum, zum Teufel, hielt dieser Bus hier? Er gehörte den Verkehrsbetrieben von Los Angeles, ohne Zweifel – die richtige Farbe, der Name war auf die Seiten gemalt –, aber an der Stelle des Bestimmungsortes trug er nur den Hinweis ZU VERMIETEN, und durch die schmutzigen Fenster vermochte man keine Einzelheiten von den Insassen zu erkennen. Doch das war kaum verwunderlich, denn seine eigene Windschutzscheibe war ebenfalls verschmutzt. Er wollte erst auf die Hupe drücken; doch statt dessen betätigte er die Scheibenwischer, und einen Augenblick später war er froh darum. Er konnte nun ein halbes Dutzend blödgesichtiger Kinder erkennen, drei schwarz, zwei gelb, eines weiß, und den Griff einer Krücke. Oh. Der Sermon aus dem Radio wurde fortgesetzt. »Wir haben diese Burg für Sie erbaut. Bollwerk-Heimschutz beschäftigt die am besten geschulten Männer. Unsere Wächter entstammen den Reihen der Polizei, unsere Scharfschützen sind ausschließlich ehemalige Ledernacken.«

An denen kein Mangel herrscht, seit sie uns aus Asien hinausgeworfen haben. Ah, der Bus fuhr an. Er tastete sich am Heck vorbei und bemerkte im Augenwinkel ein Plakat im Rückfenster, das den Bus als vom Kinderhilfswerk gemietet auswies, gab dem Auto hinterm Bus Lichtzeichen, um davor in die Einfahrt abbiegen zu dürfen. Er durfte und trat aufs Gas – und einen Moment später musste er wieder auf die Bremse treten. Ein Krüppel überquerte die Einfahrt zum Parkplatz, ein asiatischer Knabe von kaum zehn Jahren, höchstwahrscheinlich Vietnamese, ein Bein verschrumpft und unter der Hüfte gekrümmt, seine Arme ausgebreitet, um auf einer Art von Aluminiumgestell mit zahlreichen Gurten das Gleichgewicht zu halten.

Harold ist, Gott sei Dank, nicht so schlimm. Alle bewaffneten Torwächter schwarz. Ein Prickeln von Schweiß bei dem Gedanken, er könnte den Jungen vor den Mündungen ihrer Gewehre angefahren haben. Gelb sein, das bedeutete, die Schwarzen respektieren. Das süße Gefühl, Gefährten im Unglück zu haben. Und der Gedanke an – ach, Schluss damit!

»Es gibt niemals einen Grund zur Furcht um Ihre Kinder«, versprach das Radio. »Täglich holen gepanzerte Busse sie von Ihren Türen ab, bringen sie in die Schule Ihrer Wahl. Nie sind sie auch nur für eine Sekunde ohne die Obhut vertrauenswürdiger, liebevoller Erwachsener.« Der Junge setzte seinen Weg auf dem Bürgersteig fort, und Philip vermochte schließlich mit dem Wagen die Straße zu räumen. Ein Wächter erkannte das Symbol der Gesellschaft auf seiner Windschutzscheibe und betätigte den Hebel der rotweiß gestreiften Schranke, die die Einfahrt versperrte. Er schwitzte stärker denn je, weil er sich fürchterlich verspätet hatte, und obwohl er wusste, dass es nicht seine Schuld war, überkamen ihn abstrakte Schuldgefühle, die ihm suggerierten, heute sei alles sein Verschulden, von den Bombenanschlägen in Baltimore bis hin zu dem kommunistischen Wahlsieg auf Bali.

Er spähte umher. Ach, Scheiße! Der Parkplatz war vollbesetzt. Es gab keine Lücke, in die er sich hätte schieben können, ohne dass ihn jemand einwies, außer er vergeudete noch mehr kostbare Zeit, indem er Zentimeter für Zentimeter rangierte. »Sie werden in klimatisierten Freizeiträumen spielen«, versicherte das Radio. »Und welche Art medizinischer Versorgung sie auch benötigen, es wird am Tag vierundzwanzig Stunden lang zur Verfügung stehen – und das alles gegen langfristige, niedrige Ratenzahlung!«

Ganz nett, wenn jemand hunderttausend Dollar im Jahr verdient. Für die Mehrheit bedeuten schon Ratenzahlungen den Ruin; ich muss es wissen. Hilft mir keiner der Wächter einparken? Teufel, nein, sie kehren alle auf ihre Posten zurück. Wütend kurbelte er das Fenster herunter und winkte heftig. Die Luft ließ ihn aufhusten, und seine Augen begannen zu tränen. Er war ganz einfach nicht an diese Verhältnisse gewöhnt.

»Und nun eine Durchsage der Polizei«, tönte es aus dem Radio. Der nächststehende Wächter seufzte und schlenderte heran, sein Gesicht zeigte einen unverhohlenen Ausdruck von – was? Überraschung? Verachtung? Jedenfalls einen Ausdruck, der diesem Pinsel galt, der nicht einmal normale Luft atmen konnte, ohne zu husten. »Gerüchte, dass über Santa Ynez die Sonne scheint, entbehren jeder Grundlage«, meinte das Radio. »Ich wiederhole.« Und der Sprecher tat es, aber seine Stimme ging in dem Brummen eines unsichtbaren Flugzeugs über den Wolken unter. Philip lehnte sich hinaus, während er eine Fünf-Dollar-Note aus der Tasche klaubte.

»Kümmern Sie sich bitte um den Wagen, ja? Mein Name ist Mason, Bezirksleiter in Denver. Ich komme zu einer Konferenz mit Mr. Chalmers und habe mich verspätet.« Mehr konnte er nicht sagen, bevor er sich in einem Hustenanfall krümmte. Die ätzende Luft brannte in seiner Kehle; er vermochte sich geradezu vorzustellen, wie das zarte Gewebe rau, dick und ledern wurde. Wenn die Arbeit mich zwingt, künftig regelmäßig nach Los Angeles zu fahren, muss ich mir eine Filtermaske kaufen. Zum Teufel mit der Sorge, verweichlicht auszusehen. Schließlich habe ich unterwegs gesehen, dass sie hier beileibe nicht bloß Mädchen tragen. Das Radio murmelte etwas über außergewöhnliche Stauungen, die auf den Straßen in nördlicher Richtung herrschten.

»Gebongt«, sagte der Wächter, nahm den Geldschein und rollte ihn eigenhändig geschickt zusammen, wie einen Joint. »Gehen Sie nur rein. Die haben auf Sie gewartet.« Er deutete über den Parkplatz zum Eingang, wo über einer Drehtür eine Leuchtschrift der Angel City Interstate Mutual der Welt Frohe Weihnachten wünschte.

Haben gewartet? Ich hoffe, das heißt nicht, dass sie es aufgegeben und ohne mich angefangen haben!

Seine Füße traten auf die Symbole der Waage, des Skorpions und des Schützen, als die Drehtür schnurrte und kreiste. Sie bewegte sich schwerfällig; die hermetischen Dichtungen mussten erst kürzlich erneuert worden sein. Dahinter: eine kühle Empfangshalle, Marmorwände, ebenso mit Symbolen des Tierkreises ornamentiert. Die Werbung der Gesellschaft arbeitete mit dem Appell, dem Schicksal zu entfliehen, für das man geboren war, und sowohl jene, die sich der Astrologie ernsthaft ergeben hatten, als auch die Skeptiker, schätzten die halbpoetische Qualität der Anzeigen, die aus dieser Grundlage resultierten. Drinnen war die Luft nicht nur gereinigt, sondern auch mit Wohlgerüchen angereichert. Gelangweilten Gesichts wartete auf einer Bank ein sehr schönes Mädchen mit hellbrauner Haut in engem grünen Kleid mit sittsam langen Ärmeln; der Rocksaum fiel bis auf die modischen Absätze im Kuba-Stil – nein, im Mirands-Stil – herab. Vorn war der Rock bis zum Geschlecht geschlitzt. Sie trug Venushöschen: Ein Pelzbüschel täuschte auf dem Venushügel Behaarung vor.

Gestern Abend in Vegas. Herrgott, ich muss den Verstand verloren haben, ich wusste, dass ich Schlaf brauchte, um heute in Form zu sein. Aber ausgerechnet da fühlte ich mich nicht müde. Ausgerechnet … Gott, wenn ich nur wüsste, warum. Die Herausforderung? Gier nach Abwechslung? Dennie, ich schwöre, dass ich dich liebe, ich riskiere meinen wertvollen Job nicht, ich sehe das Mädchen nicht einmal an! Chalmers' Büro ist im dritten Stockwerk, oder? Wo ist das Hinweisschild? Aha, hinter diesen Filtermaskenautomaten. (Dennoch schlich sich in seine Gefühle Stolz darüber ein, für diese Firma tätig zu sein, deren progressives Image allein die Tatsache klarstellte, dass ihre Sekretärinnen stets die modernste Kleidung trugen. Der Rock bestand weder aus Orlon noch Nylon; es war Wolle!)

Jedenfalls war es unmöglich, nicht hinzuschauen. Sie erhob sich und begrüßte ihn mit breitem Lächeln. »Sie sind Philip Mason!« Die Stimme klang ein wenig rau. Ein kleiner Trost, dass auch andere Leute unter der Luft in Los Angeles zu leiden hatten. Wenn ihr die Heiserkeit bloß nicht soviel Sex in die Stimme legte … »Wir haben uns schon bei Ihrem letzten Besuch gesehen, aber wahrscheinlich entsinnen Sie sich nicht. Ich bin Felice, Bill Chalmers' Sekretärin.«

»Ja, ich erinnere mich an Sie.« Er hatte den Hustenreiz überwunden, aber auf seinen Augenlidern war ein leicht unangenehmes Gefühl verblieben. Die Feststellung war nicht nur eine höfliche Geste, tatsächlich entsann er sich ihrer, doch sein letzter Besuch hatte im Sommer stattgefunden, und damals hatte sie ein kurzes Kleid und eine andere Frisur getragen. »Kann ich mich irgendwo waschen?«, fügte er hinzu, während er seine Handflächen vorwies, um zu beweisen, dass er wirklich waschen meinte. Sie waren nahezu schleimig von dem Schmutz, den der Niederschlag aus der Luft auf dem Wagen abgelagert hatte. Das Auto war für kalifornische Verhältnisse ungeeignet.

»Sicherlich! Gehen Sie dort rechts entlang. Ich warte auf Sie.«

 

Die Herrentoilette trug das Zeichen des Wassermanns, die Tür für die Damen dagegen das Symbol der Jungfrau. Einmal, bei seinem ersten Besuch, hatte er bei einer Gruppe umstehender Kollegen großes Gelächter erregt, als er vorschlug, im Interesse der wahren Gleichberechtigung dürfte es eigentlich nur eine Tür mit der Aufschrift Zwillinge geben. Heute war er nicht zu Späßen aufgelegt.

Unter der verschlossenen Tür einer Kabine: Füße. Vorsichtig, weil man in diesen Tagen immer häufiger vom Auftreten von Toilettenmardern hörte, erleichterte er sich, die Tür im Augenwinkel. Ein feines Sauggeräusch drang an seine Ohren, dann ein Klirren. Herrje, jemand füllte eine Spritze! Doch nicht etwa ein Süchtiger, der sich hier eingeschlichen hatte, um seinem teuren Laster zu frönen? Soll ich die Gaspistole ziehen?

Er war auf dem besten Wege zu Wahnvorstellungen. Die Schuhe glänzten elegant, waren schwerlich die eines Süchtigen, der seine Erscheinung vernachlässigte. Außerdem war es zwei Jahre her, dass man ihn zuletzt ausgeraubt hatte. Die Zustände besserten sich. Er trat vor die Reihe von Wasserbecken, jedoch eines, in dessen Spiegel er die besetzte Kabine sehen konnte. Er wollte die Schmutzflecken auf dem hellen Stoff seiner Hose entfernen und tastete in seiner Tasche nach einer Münze für den Wasserautomaten. Teufel noch mal! Seit seinem letzten Besuch war das Ding ausgetauscht worden. Er besaß Münzen im Wert von fünf und fünfundzwanzig Cent, aber das Schild am Apparat forderte: zehn Cent. Gab es irgendwo einen Hahn, der kostenlos Wasser spendete? Nein. Schon war er entschlossen, zu Felice zurückzukehren und eine Münze zu wechseln, als die Tür der Kabine aufschwang. Ein dunkelgekleideter Mann trat heraus, schlüpfte dabei in eine Jacke, deren rechte Tasche schwer herabhing. Sein Anblick weckte in Philip eine schwache Erinnerung. Er entspannte sich. Weder ein Süchtiger noch ein Fremder. Lediglich ein Diabetiker, wie es schien, oder ein Leberkranker. Trotzdem sah er gesund aus, frische Gesichtsfarbe, feinste Wangen. Aber wer …? »Ach, Sie kommen sicher zu der Konferenz bei Mr. Chalmers.« Als er näher trat, wollte der Mann die Hand ausstrecken, doch dann unterließ er es und kicherte. »Verzeihung, ich wasche mir lieber vorher die Pfoten. Halkin aus San Diego, nebenbei gesagt.«

»Ich bin Mason aus Denver.« Nur immer höflich bleiben. »Äh … Sie haben nicht gerade einen Zehner, wie?«

»Doch, sicher! Ich lade Sie ein.«

»Vielen Dank«, murmelte Philip. Vorsorglich verstöpselte er den Abfluss, bevor er das Wasser laufen ließ. Er wusste nicht, wie viel Wasser ein Zehner erkaufte, aber wenn es die gleiche Menge war, die vor einem Jahr einen Fünfer gekostet hatte, reichte es kaum, um die Hände einzuseifen und abzuspülen. Zweiunddreißig Jahre war er alt, aber heute fühlte er sich wie ein alberner Teenager, unsicher und verwirrt. Seine Haut juckte, als sei sie von Staub bedeckt. Der Spiegel verriet ihm, dass man ihm nichts ansah, und sein zurückgekämmtes braunes Haar war noch ordentlich, so dass alles an ihm stimmte, aber Halkin trug praktische Kleidung, fast schwarz, während er selbst seine neuesten und elegantesten Sachen angezogen hatte – nach Colorado-Standard, natürlich stark beeinflusst durch die modischen Eigenarten des Millionärsklüngels in der Wintersportsaison; jedenfalls waren sie hellblau, weil Denise sagte, das passe zu seinen Augen. Zwar waren sie immerhin knitterfrei, doch er hatte bereits Schmutz am Kragen und an den Manschetten. Dran denken: Wenn ich das nächste Mal nach Los Angeles muss … Das Wasser war scheußlich, den Zehner nicht wert. Die Seife – großzügig hatte die Firma einige Stücke auf den Becken verteilt, statt einen weiteren Zehner für ein imprägniertes Tuch zu verlangen – entwickelte zwischen seinen Handflächen nur wenig Schaum. Als er sein Gesicht abwusch, rann ein Tropfen in seinen Mund. Er schmeckte Meersalz und Chlor.

»Wie ich vermute, sind Sie aufgehalten worden, genauso wie ich«, meinte Halkin und wandte sich ab, um seine Hände unter dem Warmluftgebläse zu trocknen, dessen Benutzung nichts kostete. »Worum handelte es sich – diese dreckigen Trainisten, die Wilshire besetzt haben?«

Es war ein Fehler gewesen, sich das Gesicht zu waschen. Handtücher, Papier oder dergleichen gab es nicht. Philip hatte nicht daran gedacht, sich vorher umzusehen. Da war diese große Sache mit den Zellulosefasern im Pazifik; er hatte davon gelesen, aber die Zusammenhänge waren ihm entfallen. Mit einem schlimmeren Gefühl der Jungenhaftigkeit als zuvor beugte er den Kopf unter den Warmluftstrom des Gebläses, während er sich fragte: Was nehmen sie als Klopapier – runde Steine, Moslem-Stil? Erhalte die Fassade um jeden Preis aufrecht. »Nein, ich bin auf dem Santa-Monica-Freeway aufgehalten worden.«

»Ach ja. Ich habe gehört, dass heute sehr starker Verkehr herrschte. Wegen der Gerüchte, dass man irgendwo die Sonne sieht?«

»Darum ging es nicht. Irgendein …« – er unterdrückte die lächerliche Anwandlung, sich zu vergewissern, dass keine dunkelhäutige Person, wie Felice oder die Wächter, in Hörweite war –, »… irgendein verrückter Schwarzer sprang inmitten einer Autoschlange aus seinem Wagen und versuchte über die andere Straßenhälfte zu laufen.«

»Was Sie nicht sagen. War wohl stoned, was?«

»Ich nehme es an. Danke …« Halkin öffnete ihm zuvorkommend die Tür. »Natürlich mussten die Fahrzeuge, die auf den Nachbarspuren noch rollten, ausweichen oder bremsen, und peng, schon hingen über vierzig Autos aufeinander. Wie durch ein Wunder erwischte es ihn nicht, aber er bekam keine Gelegenheit mehr, sich zu freuen. Die Fahrzeuge, die zu der Zeit aus der Stadt kamen, fuhren etwa Siebzig, und als er über die Gegenfahrbahn lief, stürzte er vor einen Sportwagen.«

»Guter Gott.« Während des Gesprächs erreichten sie Felice, die einen Aufzug besorgt hatte; sie geleitete sie hinaus, und Halkin hob seine Hand über die Knöpfe auf dem Schaltbrett. »Drei, oder?«

»Nein, wir tagen nicht in Bills Büro. Die Konferenz findet im Sitzungsraum des Siebenten statt.«

»Wurde Ihr Wagen beschädigt?«, wollte Halkin erfahren.

»Nein, in den Auffahrunfall bin ich glücklicherweise nicht verwickelt worden. Aber wir mussten über eine halbe Stunde warten, bevor die Straße geräumt werden konnte … Sie sagten, dass Trainisten Sie aufgehalten haben?«

»Ja, bei Wilshire.« Halkins gekünsteltes Lächeln wich einer finsteren Miene. »Verlauste Halunken, allesamt. Wenn ich daran denke, dass man für diese Berufsquerulanten geschwitzt hat …! Sie auch, was?«

»Ja, natürlich, in Manila.«

»Ich war in Vietnam und Laos eingesetzt.«

Der Aufzug verlangsamte, und sie blickten die erleuchteten Ziffern an. Aber dies war nicht das Siebte, sondern das Fünfte. Die Türen wichen zurück und gaben den Blick auf eine Frau mit fleckigem Gesicht frei. »Ach, Scheiße!«, murmelte sie und zwängte sich in die Kabine. »Ich fahre mit Ihnen hinauf und anschließend wieder hinunter«, fügte sie lauter hinzu. »In diesem dreckigen Bau kann man bis zum Jüngsten Tag warten, bis ein Aufzug kommt.«

 

Die Fenster des Konferenzzimmers waren in kräftigem Gelb und Grau gehalten. Man hatte die Sitzung begonnen, ohne auf die beiden letzten Ankömmlinge zu warten; Philip war froh, nicht allein eintreten zu müssen. Acht oder neun Personen saßen in bequemen Sesseln mit ausgeklappten Ablageflächen, auf denen Bücher, Notizblocks und Rekorder lagen, ihnen gegenüber, hinter einem Schreibtisch von der Form eines verbogenen Bumerangs: William Chalmers, Vizepräsident und Manager für das Großgeschäft auf Bundesebene, ein schwarzhaariger Mann um die Vierzig, dessen Wanst zu unförmig entwickelt war, um von seiner feschen, taillierten Kleidung verborgen werden zu können. Vorn stand, durch die Störung unterbrochen, Thomas Grey, Chefstatistiker der Gesellschaft, ein hagerer Kahlkopf von fünfzig Jahren mit so dicken Brillengläsern, dass man glauben konnte, ihr Gewicht sei für die gebeugte Haltung seiner Schultern verantwortlich. Er wirkte irritiert. Indem er sich unter dem linken Arm kratzte, gewährte er zum Gruß nicht mehr als ein knappes Nicken. Chalmers allerdings hieß die Verspäteten herzlich willkommen, winkte ab, als sie ihre Entschuldigungen murmelten, und wies auf die verbliebenen leeren Plätze – natürlich direkt vor ihm in der ersten Reihe. Die Wanduhr zeigte zwei Minuten nach elf, statt der tatsächlichen Zeit (zehn Uhr dreißig); Philip versuchte, nicht darauf zu achten. Am zugewiesenen Platz nahm er die Konferenzunterlagen zur Hand und widmete jenen Kollegen, die er von gelegentlichen Begegnungen kannte, ein kurzes krampfhaftes Lächeln.

 

Gelegentlich …

Nicht an Laura denken. Dennie, ich liebe dich! Ich liebe Josie, ich liebe Harold, ich liebe meine Familie! Aber hättet ihr bloß nicht darauf bestanden.

Ach, Quatsch! Wozu aus einer Maus einen Elefanten machen?!

 

Aber er befand sich in einer unsicheren Situation. Seit nahezu sieben Jahren war er der jüngste Bezirks-Oberinspektor der Gesellschaft: Los Angeles, die Bay, die Soo Canals, Oregon, Utah, Arizona, New Mexico, Texas, Colorado. Texas sei im nächsten Jahr reif zur Teilung, munkelte man, aber bisher hatte sich in dieser Hinsicht nichts getan.

Das bedeutete, dass eine Horde raffinierter arbeitsloser Akademiker an seinen Fersen hing. In seinem Bezirk arbeiteten sechs Doktoren der Philosophie als Bestandsbetreuer. Der Kampf um die Position.

»Können wir dann weitermachen?«, fragte Grey. Philip ordnete seine Gedanken. Als er dem Statistiker das erste Mal begegnet war, hatte er ihn für ein trockenes Anhängsel seiner Computer gehalten, verloren in einer Welt, in der allein Zahlen reale Geltung besaßen. Dann hatte er erfahren, dass es Grey gewesen war, der angeregt hatte, die Tierkreiszeichen für die Reklamefeldzüge der Gesellschaft einzuspannen, und seither hielt die Firma ihren einmaligen Status als einzige nennenswerte Versicherung, deren Geschäft unter Kunden bis dreißig Jahre so rasch expandierte, wie deren Anteil an der Gesamtbevölkerung wuchs. Ein Mann mit solchem Weitblick verdiente Aufmerksamkeit.

»Ich danke Ihnen. Ich war soeben dabei, zu erklären, warum Sie hier sind.«

 

Die Augen rollen nach oben unter die Lider, der Mund halb geöffnet, mit scharfem Zischen saugt die Kehle den Atem ein! Zwecklos, es leugnen zu wollen. Bei keiner Frau hatte ich mich jemals so männlich gefühlt!

Philip berührte mit der Zungenspitze die Innenseite seiner Wange. Sie hatte ihn mit dem Handrücken geohrfeigt und war blitzenden Auges aus dem Motel gerauscht, weil er ihr Geld angeboten hatte. Da war eine kleine Wunde, nahe dem oberen rechten Eckzahn, seit jeher empfindlich und sein Sorgenkind.

 

»Der Grund ist«, setzte Grey seine Einführung fort, »die Erhöhung der Versicherungsbeiträge, die wir mit Wirkung zum Januar vornehmen wollen. Unsere Beitragskalkulation ging bisher stets davon aus, dass die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten auch weiterhin ansteigen würde. Aber innerhalb der vergangenen drei Jahre hat sie statt dessen zu sinken begonnen.«

 

 

Hühnerstange

 

Fast pünktlich um neun Uhr hatten die Trainisten auf der Straße Krähenfüße ausgestreut und eine gewaltige Stockung verursacht. Die Polizei war, wie üblich, anderswo – es gab immer genug Sympathisanten, die irgendwo ein Ablenkungsmanöver vornahmen. Genaue Schätzungen über die Anzahl der Anhänger, welche die Bewegung besaß, waren unmöglich; ein grober Überblick verriet jedoch, dass die Bevölkerung in New York City, Chicago, Detroit, Los Angeles und San Francisco dazu neigte, die Aktionen beifällig aufzunehmen, während die Bewohner der umliegenden Trabantenstädte bei solchen Gelegenheiten gern zu den Waffen griffen. Mit anderen Worten, sie bekamen in jenen Gebieten die geringste Unterstützung, die für Prexy gestimmt hatten.

Zunächst besprühten sie die Fenster der festgesetzten Autos mit einer billigen, handelsüblichen Lösung, wie sie zum Ätzen von Glas diente, und auf die Türen malten sie Parolen. Einige waren lang: DIESES FAHRZEUG IST EINE GEFAHR FÜR LEIB UND LEBEN. Viele waren kurz: ES STINKT! Am meisten wurde das überall bekannte Schlagwort verwendet: HALT, DU BRINGST MICH UM! Jede der Aufschriften wurde mit einem Kreis über einem Kreuz versehen – die vereinfachte ideogrammatische Version des allgegenwärtigen Symbols der Trainisten: ein Schädel über gekreuzten Knochen, reduziert auf das Zeichen o/x. Dann verteilten sie Flugblätter, von denen – Stunden später – viele im Fahrtwind der vorübersausenden Autos die Rinnsteine entlangflatterten, und wandten sich den Fenstern der umliegenden Geschäfte zu, wo sie die angebotenen Waren mit ähnlich treffsicheren Parolen auszeichneten. Obwohl sie nicht vorbereitet waren, fanden sie für jedes Geschäft die angebrachten Worte.

Das war nicht allzu schwer.

 

Erfreut über die Abwechslung, vergnügten sich Kinder auf dem Weg zur Nachmittagsschule damit, die Demonstranten vor erzürnten Fahrern, Verkäufern und anderen Vorwitzigen zu warnen. Einige waren nicht schlau genug, um auf und davon zu sein, als die Polizei erschien – mit in höchster Hast über Funk gerufenen Hubschraubern – und traten ihren ersten Gang vors Jugendgericht an. Doch was machte das schon? In ihrem Alter war ihnen einsichtig, dass eine Vorstrafe eine begehrenswerte Sache war. Konnte die Einberufung verhindern; das Leben retten.

Die Mehrzahl der Fahrer besaß genug Vernunft, um in den Wagen zu bleiben, hinter den getrübten Windschutzscheiben wutentbrannt zu schimpfen, während sie die Kosten für die Reparaturen und die Neulackierung überschlugen. Nahezu alle waren bewaffnet, aber keiner so dumm, um eine Pistole zu ziehen. Im vergangenen Monat hatte es während einer Demonstration in San Francisco jemand versucht. Ein Mädchen war erschossen worden. Die anderen Trainisten, unkenntlich in Masken, die den ganzen Kopf verhüllten, unscheinbar in ihrer selbstgewebten Kleidung, hatten den Täter aus seinem Wagen gezerrt und die säureartige Flüssigkeit benutzt, um das Wort MÖRDER in seine Haut zu ätzen. Auf jeden Fall hatte es wenig Sinn, eine Scheibe herunterzukurbeln und sich mit den Demonstranten anzulegen. Die Kehlen vertrugen die ungesunde Luft ohnehin nicht lang.

 

 

Zur Sache

 

»Es ist leicht genug, den Leuten klarzumachen, dass Autos und Gewehre ihrer Natur nach gefährlich sind. Statistisch betrachtet, hat nahezu jeder Bürger unseres Landes bereits Erfahrungen mit der Bedrohung durch Waffen gesammelt, entweder daheim oder auf der Straße, während die Zusammenhänge zwischen Autos und chaotischen Verkehrsverhältnissen der Öffentlichkeit zunehmend Einblick auch auf andere komplizierte Gefahren eröffnen.«

 

GROSSER AUTOMARKT

Neu- u. Gebrauchtwagen

 

Blei: Verursacht bei Kindern Fehlentwicklungen und andere biologische Störungen. Die Wasserflächen von Kalifornien enthalten mehr als 12 mg je m3. Blei spielte wahrscheinlich eine mitwirkende Rolle beim Untergang der Oberklasse des Römischen Reiches, welche Speisen verzehrte, die man in bleiernen Pfannen briet, und Wein trank, den man in bleiberingten Fässern vergor. Die gewöhnlichen Quellen der Vergiftung sind Farben und Sprays etc. sowie aus Sumpflandschaften stammendes Wildgeflügel, das generationenlang durch den Bleigehalt des Wassers verseucht wurde.

 

»Andererseits ist es weitaus schwieriger, den Menschen begreiflich zu machen, dass ein oberflächlich so harmloser Betrieb wie ein Schönheitssalon gefährlich ist. Und ich meine das nicht etwa, weil einige Frauen gegen die handelsüblichen Kosmetika allergisch sind.«

 

NANETTES SCHÖNHEITS-CENTER

Kosmetik, Parfüm, Perücken

 

Polychlorinierte Biphenyle: Abfallprodukte der Plastik-, Öl- und Kosmetikindustrie. Ihre Verteilung hat ähnliche Ausmaße wie jene des DDT erreicht; sie sind weniger giftig als das DDT, zeigen jedoch stärkere Wirkung auf den Hormonhaushalt. Festgestellt in bereits 1944 ausgestopften Tieren. Wirkt auf Vögel tödlich.

 

»Gleichfalls ist es nur ein kleiner geistiger Schritt von der Absicht, Pflanzen oder Insekten umzubringen, bis zu dem Entschluss, Tiere und Menschen zu töten. Es hätte nicht all das Unheil in Vietnam gebraucht, um das herauszufinden – man konnte es in jedermanns Kopf ablesen.«

 

HOF & GARTEN GMBH

Experten f. Landwirtschaft, Gartenbau u.

Schädlingsbekämpfung

 

Pelikan (brauner): vormals in Kalifornien weitverbreitet, seit 1969 brutunfähig infolge durch DDT verursachter Hormonstörungen, die sich auf die Zellstruktur der Eierschalen auswirkten. Die Eier zerbrachen, wenn die Hennen sie auszubrüten versuchten.

 

»Im Gegensatz dazu nehmen die Leute anscheinend an, dass die regelmäßige Einnahme aller Arten von Medikamenten positiv ist, weil jene Substanzen, die schon am Namen als giftig erkennbar sind, wie Arsen, Strychnin, Quecksilber usw., nur selten und ausschließlich in geringen Mengen Verwendung finden. In meinem Leben habe ich mehr Zeit damit verschwendet, als ich mich noch erinnern kann, um von Farm zu Farm zu laufen und Schweine- und Geflügelzüchter dazu überreden zu wollen, keine Tiernahrung zu kaufen, die Antibiotika enthält, und sie wollten nicht einmal zuhören. Sie glaubten, je mehr von dem Zeug in der Gegend verteilt ist, um so besser sei es um die Gesundheit bestellt. So hat die Entwicklung neuer Drogen zum Ersatz für jene, die man im Futter verschwendet, in Kuchen für Kühe, Pillen für Poularden und Suppen für Säue, ähnliche Formen angenommen wie das Rennen zwischen Geschützen und Panzerung.«

 

Stacy & Schwartz Inc.

FEINKOSTIMPORTE

 

Train, Austin P. (Proudfoot): geb. 1938 in Los Angeles; grad. nat. UCLA 1957, Ph. D. Univ. Coll. London 1961; 1960 Hochzeit m. Clara Alice geb. Shoolman, geschieden 1963; Veröffentlichungen: ›Metabolic Degradation of Complex Organophosphates‹ (Univ. of London Press 1962); ›The Great Epidemics‹ (Potter & Vasarely 1965), Neuauflage unt. d. Titel ›Death In the Wind‹ b. Common Sense Books 1972; ›Studies in Refractive Ecology‹ (P & V 1968, Neuauflage unt. d. Titel ›The Resistance in Nature‹ b. CBS 1972); ›Preservatives and Additives in the American Diet‹, (P & V 1971, Neuauflage unt. d. Titel ›You Are What You Have To Eat‹ b. CBS 1972); ›Guide to the Survival of Mankind‹ (International Information Inc., Lein. 1972, Pb 1973); ›A Handbook for 3000 A. D.‹ (III, Lein. 1973, Pb 1975); versch. Beiträge in Zeitschriften, wie Envrmt. (London), Der Spiegel (Hamburg), Blitz (Indien), Manchete (Rio) etc.

 

 

Frischluft

 

Pete Goddard ließ die halbe Mahlzeit zurück, woran er allein und lustlos gemümmelt hatte (die Imbisshalle, in der er jetzt fast ein Jahr lang regelmäßig zu essen pflegte, war reichlich voll von Gästen, und das Gedränge machte ihn nervös); nun wartete er auf sein Wechselgeld. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf die Flächen der Bauzäune, die das ehemalige Gelände der Firma Harrigan's Harness and Feed umschlossen – unter diesem Namen hatte sie noch jahrelang Motorschlitten, Ersatzteile für Motorräder und Sportartikel geführt – und das nunmehr für den Zweck bestimmt war, darauf zweiundvierzig Komfort-Apartments sowie die Verwaltungsstellen der American Express und der Colorado Chemical Bank zu errichten, auf diese Zäune hatte jemand mehr als ein Dutzend Totenschädel mit jeweils einem Paar gekreuzter Knochen gepinselt.

Nun, so ähnlich fühlte er sich selbst ein wenig. Gestern Nacht war eine Party gewesen: erster Hochzeitstag. In seinem Mund war ein fauliger Geschmack, sein Kopf schmerzte, und überdies hatte Jeannie zur üblichen Zeit aufstehen müssen, da sie ebenfalls berufstätig war; sie arbeitete bei den Bamberley Hydroponischen Werken. Außerdem hatte er sein Versprechen gebrochen, die Schweinerei in der Wohnung aufzuräumen, und sie würde den Schmutz an diesem Abend noch vorfinden. Und dieser Fleck auf ihrem Bein, auch wenn er nicht schmerzte … Aber in der Fabrik hatten sie gute Ärzte. Dazu waren sie verpflichtet.

Die neue Kassiererin, nicht geneigt, Mitgefühl für ihn zu hegen, zählte ihm das Wechselgeld in die Hand und nahm die Unterhaltung mit ihrem Freund wieder auf.

Die Wanduhr stimmte mit seiner Armbanduhr überein; ihm blieben noch acht Minuten für die vier Minuten dauernde Fahrt zur Wache. Draußen war es bitter kalt, weit unter null Grad, und ein kräftiger Wind wehte. Schön für die Touristen auf den Hängen des Mount Hawes, nicht gut für die Polizei, welche den Thermometerstand an den Quoten zertrümmerter Fahrzeuge und der Frostschäden maß; ferner an der Zunahme der einfachen Diebstähle, begangen von Saisonarbeitern, die bei diesem Wetter ihren Job verloren. Und von Frauen, nicht zu vergessen.

Vielleicht, bevor er ging … Neben der Tür: ein großes, rotes Ding mit einem Spiegel auf dem Oberteil der Vorderseite. Installiert im letzten Herbst. Japanischer Herkunft. Auf einem Schild an der Seite: Mitsuyama Corp., Osaka. Geformt wie eine Personenwaage. Hinstellen und 25 Cent einwerfen. Bei Gebrauch nicht rauchen. Legen Sie Mund und Nase in die weiche schwarze flexible Maske. Wie der obszöne Kuss eines Tieres.

Gewöhnlich lachte er darüber, weil hier in den Bergen die Luft nie so schlecht war, dass man eine Sauerstoffdusche brauchte, um noch um den nächsten Häuserblock zu gelangen. Andererseits behaupteten manche Leute, dass sie eine ausgezeichnete Hilfe gegen einen Kater sei … Weitere Details drangen in sein Bewusstsein. Auf seinen Blick fürs Detail war er stolz; wenn seine Probezeit vorüber war, wollte er alles daransetzen, um Kriminalbeamter zu werden. Eine gute Ehefrau vermochte in jedem Mann Ehrgeiz zu wecken.

Der Spiegel, halbkreisförmig um das Mundstück befestigt: zerbrochen. Ein Schlitz für Fünfundzwanziger. Darunter eine Zeile, die den Münzeinwurf erläuterte. Ringsum Kratzer. Als ob jemand versucht hätte, den Kasten mit einem Messer aufzubrechen. Pete dachte an die Busfahrer, die man für den Inhalt eines Wechselautomaten ermordet hatte. Er wandte sich wieder zur Kasse. »Miss!«

»Was?«

»Ihr Sauerstoffapparat dort …«

»Ach, Scheiße!«, stieß das Mädchen hervor und tippte Nullen in ihre Registriermaschine. »Sagen Sie bloß nicht, das Mistding ist schon wieder im Eimer! Hier haben Sie Ihr Geld zurück. Versuchen Sie es in der Drogerie in Tremont – da gibt es drei davon.«

 

 

Das Gegenteil von Öfen

 

Weiße Fliesen, weißes Emaille, rostfreier Stahl … Hier sprach man in gedämpftem Ton, wie in einer Kirche. Aber es war wegen der Echos, die von den strengen Wänden, dem harten Boden und der eintönigen Decke zurückgeworfen wurden, nicht aus Respekt vor dem, was hinter den rechteckigen Türen verborgen lag, eine über der anderen, von der Fußhöhe bis zur Höhe des Kopfes einer großen Person, eine hinter der anderen, so weit das Auge blicken konnte. Wie eine endlose Reihe von Öfen, nur waren sie nicht zum Backen, sondern zum Einfrieren bestimmt. Der Mann, der ihr vorausging, war ebenfalls weiß – weißer Kittel, weiße Hose, eine weiße Maske baumelte unterm Kinn, eine seltsame weiße Kappe über dem Haar. Bis auf das matte Braun, das sie selbst in diese Räume mitbrachte, gab es hier nur eine einzige andere Farbe. Blutrot.

Ein Mann kam ihnen entgegen, rollte einen mit (weißen) Kästen beladenen Karren vor sich her; die Wachspapierbogen darin waren (rot) beschriftet und für die Laboratorien des Leichenschauhauses bestimmt. Während er und ihr Begleiter kurze Grußworte austauschten, las Peg Mankiewicz einige der Aufschriften: 108 562 TYPHUSKULTUREN MILZ, 108 563 DEGENERAT. VERÄND. LEBER, 108 565 MARSH-TEST.

»Was ist ein Marsh-Test?«, fragte sie.

»Untersuchung auf Arsen«, antwortete Dr. Stanway, während er sich seitwärts an dem Karren vorbeidrückte und weiter die langen Reihen von Fächern hinabschritt. Er war ein blasser Mann, als hätte die Umgebung jede kräftige Farbe aus ihm herausgebleicht; seine Wangen hatten die Schattierung und die Straffheit von Organbehältern. Was man von seinem Haar sah, war aschblond, und seine Augen waren so wässrig blau wie ein flacher Teich. Peg fand ihn annehmbarer als die restlichen Mitarbeiter des Schauhauses. Er schien wenig Gefühl zu besitzen – entweder das, oder er war gänzlich homosexuell – und belästigte sie nicht mit den albernen Bemerkungen, welche die meisten seiner Kollegen sich leisteten.

Scheiße. Vielleicht sollte ich eine Dusche unter Vitriol nehmen!

 

Sie war schön: schlank, samtene Haut, große dunkle Augen, ein Mund, frischer als Pfirsiche. Besonders als die heutigen Pfirsiche. Doch sie hasste ihre Schönheit, weil sie verhieß, auf ewig von Männern gehetzt zu werden, die Schamhaarskalps sammelten. Kühles Auftreten half nicht; sehr viel eher bedeutete es für Männer eine Herausforderung und lockte obendrein verschiedenartige Schwulen-Typen auf ihre Fährte. Ohne Make-up, Parfüm oder Schmuck, in ihrem schlichten engen Mantel von brauner Farbe und abgelaufenen Schuhen, fühlte sie sich dennoch wie ein Topf voll Honig, umkreist von ekelhaften Fliegen.

Immer in Bereitschaft, um sich die Hose aufzumachen, sobald sie auch bloß lächelte.

»Ein Mordfall?«, meinte sie, um ihre Gedanken abzulenken.

»Nein, es geht um diesen Prozess im Orange County. Ein Obstpflanzer steht im Verdacht, verbotene Schädlingsbekämpfungsmittel verwendet zu haben.« Sein Blick wanderte über die nummerierten Türen. »Aha, hier sind wir.« Aber er öffnete das Fach nicht sofort. »Er sieht nicht gerade schön aus, müssen Sie wissen«, sagte er nach kurzem Schweigen. »Das Auto hat ihn böse erwischt. Vom Kopf ist nicht mehr viel da. Das Gehirn … Na ja, nur noch Spritzer überall.«

Peg vergrub die Hände in den Manteltaschen, damit er nicht das Weiß an ihren Knöcheln sah. Es konnte, war immerhin denkbar, ein Dieb sein, der seine Papiere gestohlen hatte …

»Öffnen Sie nur«, sagte sie.

Aber es war kein Dieb.

 

Die ganze rechte Seite des dunklen Schädels war – nun, zermalmt. Das untere Augenlid war abgerissen und nur nachlässig an den Platz gelegt worden, an den es gehörte, so dass die untere Hälfte des Augapfels entblößt war. Eine Schramme, bedeckt von geronnenem Blut, erstreckte sich vom Mund bis weit unter das Kinn. Und die Schädeldecke war so arg zerschmettert, dass man ein Stück von einem Jutesack darum gewickelt hatte, um die Bruchstücke zusammenzuhalten. Aber es war nutzlos, abstreiten zu wollen, dass es Decimus war.

»Also?«, sagte nach einer Weile Stanway.

»Ja Sie können wieder schließen.«

Er tat es. Dann wandte er sich ab, um sie zum Ausgang zu führen. »Wie haben Sie davon erfahren? Und was macht den Burschen so wichtig?«

»Ach … wissen Sie, es rufen Leute bei den Zeitungen an. Fahrer von Ambulanzwagen, zum Beispiel. Sie bekommen ein kleines Honorar für den Hinweis.« Als ob es über ihr schwebte wie ein makabrer Luftballon an einem Draht: das zermalmte Antlitz. Sie schluckte schwer und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an.

»Und er ist – er war, meine ich – einer von Austin Trains führenden Anhängern.«

Stanway drehte ihr scharf den Kopf zu. »Kein Wunder, dass Sie an ihm interessiert sind! Er war in dieser Gegend tätig, oder? Ich habe gehört, dass die Trainisten heute wieder in der Stadt demonstriert haben.«

»Nein, er kommt aus Colorado. Betreibt … betrieb diese Landkommune in der Nähe von Denver.«

Sie waren an das Ende des Korridors zwischen den Fächern mit den Ofenklappen angelangt. Mit der formellen Höflichkeit, die ihrem Geschlecht gebührte, die sie normalerweise verabscheute, von diesem Mann jedoch akzeptierte, auf einer Basis, die dem Verhältnis zwischen einem Hausherrn und seinem Gast entsprach, hielt Stanway die Tür, um sie vor sich hinauszulassen, und schenkte ihr in diesem Augenblick eigentlich das erste Mal, seit sie angekommen war, etwas Aufmerksamkeit. »Sagen Sie, möchten Sie vielleicht …?« Ein armseliger Unterhalter, dieser Stanway, vor allem im Umgang mit Frauen. »Möchten Sie sich setzen? Sie sind ein bisschen … äh … grün im Gesicht.«

»Nein, vielen Dank!« Sehr nachdrücklich. Peg hasste es, Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen, weil sie befürchtete, es könne ihr als ›feminin‹ ausgelegt werden. Schon eine Sekunde später gab sie ihrer Schwäche teilweise nach. Von allen Männern, die sie kannte, verdächtigte sie diesen am allerwenigsten, Risse in ihrer Fassade ausnutzen zu wollen. »Wissen Sie«, gestand sie ein, »ich kannte ihn.«

»Aha.« Befriedigt. »Ein guter Freund?«