
Personenverzeichnis
Sonja Morhardt, 35, Archäologin aus Hamburg
Claus Bronnbach, ihr Lebensgefährte, Ägyptologe am
Archäologischen Institut in Hamburg
Ulrich Störcke, Sonjas Freund und ehemaliger Studienkollege,
arbeitet für die Generaldirektion Archäologie in Speyer
Amelie, Sonjas Freundin
Naoko, Archäologiestudentin aus Japan
In Kairo:
Dr. Hazim Mohy el-Din, Generalsekretär des Supreme Council of Antiquities, der ägyptische Altertümerverwaltung in Kairo Ahmed Ghassab, sein Mitarbeiter
Marik Habib, Fahrer des Supreme Council of Antiquities
In Tell el-Amarna:
Paul Lehmann, verschwundener Grabungsleiter
Hans Peters, Ausgrabungsingenieur
Carola Wilke, Grabungszeichnerin
Hassan Mahmud, Schnittleiter
Victoria Moor, Grabungshelferin
Jonas Steffens, 34, Tourist und Physiker, der am Max-Planck-Institut in München arbeitet
In Achetaton:
Nofretete*, die Große Königliche Gemahlin
Echnaton*, Pharao
Kija*, seine Nebenfrau
Meritaton*, älteste Tochter von Noftretete und Echnaton
Maketaton* zweitälteste Tochter von Nofretete und Echnaton
Anchesenpaaton*, drittälteste Tochter des Königspaares
Tutenchaton*, Sohn von Echnaton und Kija
Nachtpaaten*, Wesir
Pentju*, Leibarzt des Pharaos
Karem, 15, Gehilfe des Leibarztes
Mahu*, Polizeichef
Huya*, Aufseher des Harems
Inet, eine junge Ägypterin
Inarus, ihr Gatte, arbeitet in der Bildhauerwerkstatt von
Thutmosis*
Mayati, beider Tochter
Bakt, beider Sohn
Djedi, beider Sohn
Die Sieben Skorpione
Setep, 18, ehemaliger Priester des Iun-Mutef
Ankhu, alter Osiris-Priester
Haremsat
Nebamun, Amun-Priester aus Waset
Paser, Anführer der Verschwörer
Bata
Rahotep
Die mit * bezeichneten Personen sind historisch belegt.
Prolog
Der Falke beobachtete ihn seit Tagen. Jeden Morgen saß er auf seinem Stammplatz, dem Zeltpfosten, und schien auf Lehmann zu warten. Der Wüstenwind zauste sein rostrotes Nackengefieder, ruckartig bewegte er den Kopf, und die schwarzen Augen folgten dem Mann, wenn dieser aus seinem Zelt schlüpfte und zum Container ging, um zu duschen. Wenn Lehmann zurückkam, war der Vogel verschwunden, und er sah ihn den ganzen Tag nicht mehr.
Lehmann hatte recherchiert und herausgefunden, dass es sich um einen Rothalsfalken handelte, eine Falkenart, die in der Dämmerung zu jagen pflegte. Hatte der Vogel schon im Morgengrauen seinen Hunger gestillt und saß jetzt satt auf seinem Pfosten, um die Beute zu verdauen? Oder wartete er aus einem anderen Grund jeden Morgen an dieser Stelle auf Lehmann?
Lehmann fing an, ihn als Freund zu betrachten. Wenn er an ihm vorüberging, pfiff er ihm zu oder begrüßte ihn mit einem kurzen Ruf. Vor einer Woche hatte er ihm einen Namen gegeben – Horus.
Der Falke antwortete nie. Aber er flog auch nicht weg. Mit stoischer Ruhe saß er auf seinem Pfosten, so als sei es seine Pflicht zu warten, bis der Ausgrabungsleiter an ihm vorbeigegangen war.
Lehmann fragte sich, ob es sich vielleicht um einen zahmen Vogel handelte, der irgendwo entflogen war. Oder war es ein wilder Falke, der hoffte, dass hier im Camp etwas für ihn abfiel? Ein paar Mal versuchte er, ihn mit einem Fleischstück anzulocken. Doch der Vogel blieb auf seinem Pfosten sitzen und blinzelte in die Sonne.
Horus, dachte Lehmann am letzten Morgen. Der Sohn von Isis und Osiris. Immer wieder stieß er auf den Namen Isis. Es war fast wie ein Fluch. Er wollte nichts mehr von diesem alten Götterglauben wissen. Es ärgerte ihn, dass er schon so viel Zeit damit verbracht hatte, anstatt sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren – auf die Suche nach dem Grab der Nofretete, die zusammen mit ihrem Gatten Echnaton die alten Götter Ägyptens gestürzt hatte.
Hatte sich Isis vielleicht gar nicht stürzen lassen?
Wenn er nachts auf seinem Feldbett lag, raunten die Zeltbahnen ihren Namen. Der Wüstenwind flüsterte ihn leise und beständig.
Isis … Isis …
Er glaubte nicht an die Gerüchte. Aber je mehr er sie verdrängte, desto hartnäckiger erschienen sie in seinen Träumen.
Jeden Morgen wachte er schweißgebadet auf.
Er würde erst Ruhe finden, wenn er das Tor entdeckt und sich überzeugt hätte, dass an der Sache nichts dran war.
An diesem Tag verhielt sich der Falke anders als sonst. Als Lehmann an ihm vorbeiging, stieß sich der Vogel von seinem Pfosten ab und flatterte kreischend über seinem Kopf. Dann flog er weiter, nach Osten, der Sonne entgegen, bis er nur noch als winziger Punkt am Himmel zu sehen war.
Nach Osten. Dort sollte es sein, das Isis-Tor.
Lehmann sah dem Falken nach und war entschlossen, sich endlich auf den Weg zu machen.


Sonja spürte sofort, dass es diesmal die richtige Wohnung war, hell, freundlich und großzügig geschnitten.
»Erstbezug nach Renovierung«, erklärte die Maklerin, die Sonja durch die Räume führte. »Echtholzparkett, kein Laminat. Ahorn.«
Der Balkon war ein Traum. Ebenso der Blick. Man sah bis zur Elbe. Fast wie im Urlaub.
Sie würde die Wohnung nehmen. Claus hatte gemeint, sie solle sofort zusagen; er verlasse sich völlig auf ihr Urteil.
Sie wusste, dass er allmählich ungeduldig wurde. Sie suchten jetzt schon ein Vierteljahr nach einer größeren Wohnung.
Sonja lächelte und sah in Gedanken, wie ein Baby über den Fußboden krabbelte. Louis. Oder Marielle. Die Namen standen bereits fest.
»Gefällt Ihnen die Wohnung?«, fragte die Maklerin.
»Sie ist wunderbar«, antwortete Sonja. In diesem Moment klingelte ihr Handy. »Entschuldigung.« Sie holte es aus ihrer Handtasche.
»Kein Problem.«
Sonja trat auf den Balkon, um zu telefonieren. Auf dem Display sah sie, dass Uli anrief. Sie kannte Ulrich Störcke seit dem ersten Semester. Er war ihr bester Freund und arbeitete mittlerweile für die Generaldirektion Archäologie in Speyer. Sonja bedauerte, dass sie sich so selten sahen, aber sie telefonierten oft und schickten sich Mails.
»Hallo, Uli! Du, es ist jetzt leider ziemlich ungünstig.«
»Ich wollte dich auch nicht stören.« Seine Stimme klang munter wie immer. »Aber ich finde, du solltest es unbedingt wissen. Lehmann ist verschwunden, keiner weiß, wo er steckt.«
»Paul Lehmann?«, fragte Sonja verdutzt.
»Genau der.«
Paul Lehmann hatte mit ihnen studiert, einen glänzenden Abschluss gemacht und war nach dem Studium ziemlich rasch die Karriereleiter hinaufgestiegen. Er hatte einige bedeutende Ausgrabungen erst in Deutschland, dann in verschiedenen europäischen Ländern geleitet und war zuletzt bei internationalen Projekten in Syrien und China tätig gewesen. Im Frühjahr hatte unter seiner Leitung eine neue Ausgrabung in Ägypten begonnen. Der Presse gegenüber hatte Lehmann behauptet, es bestünden gute Aussichten, noch in diesem Jahr das Grab der Nofretete zu finden. Sonja wusste es aus der Antiken Welt, die sie noch immer abonniert hatte, obwohl in ihrer Wohnung allmählich kein Platz mehr für alle diese archäologischen Zeitschriften war.
»Jedenfalls ist er seit vierzehn Tagen spurlos verschwunden, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er einen Unfall hatte«, fuhr Ulrich fort. »Jetzt suchen die Leute von der Ägyptischen Altertümerverwaltung in Kairo händeringend nach einem Ersatz. Die Sekretärin hat bei mir angerufen, und ich habe ihr deine Festnetznummer gegeben. Ich schätze, sie wird sich heute noch bei dir melden. Nofretete – das ist doch dein Spezialgebiet.«
»Aber …« Sonja fühlte einen kleinen Stich in der Brust. Aber ich bin doch völlig raus, wollte sie sagen. Vor fünf Jahren hätte sie eine Grabung in der Felsenstadt Perperikon in Bulgarien leiten sollen, doch dann war unerwartet ihre Mutter gestorben. Sonja hatte sich um die Beerdigung und den Nachlass kümmern müssen und hatte die Stelle nicht antreten können. Seither hatte sie kein einziges Angebot mehr bekommen. Sie hatte sich eine Zeit lang mit Taxifahren über Wasser gehalten. Seit zwei Jahren jobbte sie als Aufsicht im Museum für Kunst und Gewerbe und hielt neugierige Besucher davon ab, die Exponate anzufassen.
»Aber was?«, hakte Ulrich nach. »Du hast doch über Nofretete promoviert. Sag nicht, dass dich die Sache nicht interessiert. Ich habe dich wärmstens empfohlen.«
Ich traue es mir nicht zu. Doch sie biss sich auf die Unterlippe. Damit konnte sie Uli nicht kommen. Aber ihr Selbstbewusstsein war nicht mehr so groß wie zu ihrer Studienzeit, sie war inzwischen eine arbeitslose Akademikerin, schwer vermittelbar. Das hatte man ihr bei der Arbeitsagentur oft genug klargemacht.
»Mann, Sonja!«, sagte Uli, weil sie schwieg. »Das schaffst du. Bestimmt. Überleg mal – Nofretete! Und lass dir die Sache bloß nicht von Claus ausreden.«
»Nein«, sagte sie. Ihr Mund war trocken. Wie gut er sie kannte. »Danke. Du bist wirklich ein Schatz. Ich halte dich auf dem Laufenden. Ich sage dir Bescheid, wenn es geklappt hat.«
»Es klappt, Sonja. Du bist die Richtige dafür.«
Uli war schon immer ein Optimist gewesen. Es tat ihr gut.
»Danke«, flüsterte sie. »Ciao, bis später.« Sie drückte auf den roten Knopf, wie benommen von der Nachricht, von den Möglichkeiten, die sich auf einmal eröffneten. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihre Träume verdrängt hatte. Unter sengender Sonne auf einen sensationellen Fund stoßen … Etwas entdecken, das der Forschung neue Impulse gäbe. Warum war Nofretete so plötzlich aus der Geschichte verschwunden? Warum hatten ihre Nachfahren versucht, ihren Namen auszulöschen? Was war mit ihr passiert, und wo hatte man sie begraben?
Nachdenklich kehrte Sonja in die Wohnung zurück, wo die Maklerin auf sie wartete und geschäftsmäßig lächelte.
»Und was meinen Sie?«
»Die Wohnung ist sehr schön«, sagte Sonja, aber sie spürte, dass sich an der Atmosphäre etwas verändert hatte. Die Räume waren noch immer licht und geräumig, doch sie kam sich plötzlich wie gefangen darin vor.
Claus und sie wollten eine größere Wohnung, damit sie ein Kind bekommen und eine Familie gründen konnten. Claus Bronnbach arbeitete als Ägyptologe am Archäologischen Institut und verdiente gut. Er wünschte sich ein Kind, und auch Sonja wollte mit einer Schwangerschaft nicht noch ewig warten; schließlich war sie bereits fünfunddreißig. Ihr war klar, dass ein kleines Kind sie – zumindest in den ersten Jahren – ziemlich einschränken würde und dass Expeditionen in dieser Zeit undenkbar wären. Sie war bereit gewesen, sich darauf einzulassen. Doch jetzt hatten sich die Vorzeichen geändert. Ihr Herz pochte schneller. Sie war entschlossen, diese Chance unbedingt zu nutzen. Alle anderen Pläne mussten eben um ein halbes Jahr oder ein Jahr verschoben werden.
»Ich muss erst mit meinem Lebensgefährten reden«, sagte Sonja, weil die Maklerin sie erwartungsvoll ansah. Wenn sie tatsächlich nach Ägypten ging, dann brauchten sie noch nicht umzuziehen.
»Ich kann Ihnen die Wohnung höchstens für vierundzwanzig Stunden reservieren«, sagte die Maklerin. »Es gibt noch andere Interessenten.«
Sonja sah statt der weißen Wände den gelben Wüstensand vor sich, die flatternden Leinwände der Zelte. Als sie sich zum Balkon umwandte, wurde die Elbe zum Nil, auf dem Feluken segelten.
»Wunderbare Aussicht«, meinte die Maklerin.
»Wunderbar«, bestätigte Sonja und spürte den Impuls, dieser Frau von der plötzlichen Wende in ihrem Leben zu erzählen, von dem Wiederaufleben alter Träume, die jetzt vielleicht Wirklichkeit würden. Doch sie schwieg. Die Maklerin interessierte sich wahrscheinlich nicht für Ägypten, sondern nur dafür, die Wohnung zu vermieten und ihre Provision zu kassieren. Und es war gar nicht sicher, dass Sonja den Job tatsächlich bekommen würde.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie mit Ihrem Freund gesprochen haben. Meine Nummer haben Sie ja.«
Sonja nickte. »Ich gebe Ihnen so bald wie möglich Bescheid.«
Wenig später wartete Sonja in der kühlen Hamburger Septembersonne auf den Bus. Sie war voller Unruhe, dass sie den wichtigen Anruf vielleicht schon verpasst haben könnte. Hoffentlich hinterließ man wenigstens eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter.
Vor Nervosität hatte sie feuchte Hände bekommen. In die erste Euphorie mischten sich inzwischen Zweifel. Wie würde Claus die Sache sehen? Sie war sich nicht sicher, ob er sich für sie freuen würde. In der Vergangenheit hatte sie oft mit ihrem Schicksal gehadert. Er hatte sie getröstet und ihr immer wieder versichert, dass sie durch ihn über alles, was sich in der Szene abspielte, auf dem Laufenden bliebe. Und es sei ja nicht so schlimm, wenn sie keine Ausgrabung leiten könne, dann müsse sie auch keine Verantwortung tragen, und es werde sowieso immer schwieriger, das Budget werde knapper und die Bürokratie größer. Schließlich hatte sie ihm geglaubt.
Der Bus kam. Zischend öffneten sich die Türen. Sonja sah zu, wie sich der Einstieg absenkte, damit eine Frau mit Kinderwagen aussteigen konnte. Sonja setzte sich auf einen Fensterplatz. Die Wohnung lag wirklich günstig, ruhig mit viel Grün ringsum, und trotzdem war man per Bus schnell in der Innenstadt. Es war falsch, dass sie nicht gleich zugesagt hatte. Die Wohnung entsprach in jeder Hinsicht ihren Wünschen.
Sonja starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Sie musste immer wieder an das Gespräch mit Uli denken und grübelte darüber nach, was wohl mit Lehmann geschehen war. Er war alles andere als ein Abenteurertyp. Im Studium hatte er die Angewohnheit gehabt, geradezu pedantisch den Dingen auf den Grund zu gehen. Ein richtiger Korinthenkacker. Sonderlich beliebt war er bei seinen Kommilitonen nicht gewesen; sie fanden, dass er sich bei den Professoren allzu sehr einschleimte. Paul war fleißig, zielstrebig, ein Einzelgänger, der abends selten auf ein Glas Bier in die Studentenkneipe mitkam. Bereits mit Mitte zwanzig hatte er eine Stirnglatze entwickelt, und Sonja konnte sich nicht erinnern, ihn je mit einer Freundin gesehen zu haben. Ein paar Studenten hatten gemunkelt, Paul Lehmann sei schwul, aber auch dafür gab es keinen Beweis. Sonja hatte ihn eher für einen Stubenhocker gehalten, angetrieben von unersättlicher wissenschaftlicher Neugier; er war jemand, der sich lieber mit Büchern umgab anstatt mit Menschen. Inzwischen musste er wohl Führungsqualitäten entwickelt haben, sonst hätte er nicht so viele Ausgrabungen geleitet. Sonja konnte sich Lehmann auf dem Ausgrabungsgelände gut als kleinen Diktator vorstellen, der exakte Anweisungen gab und darüber wachte, dass sie minutiös erfüllt wurden. Wahrscheinlich duldete er weder Fehler noch Schlampereien, er würde die Betroffenen zur Verantwortung ziehen. Vermutlich hatte er jetzt noch weniger Freunde als im Studium.
Das waren nicht gerade freundliche Gedanken, und Sonja fragte sich, ob in ihrer Einschätzung nicht unterschwellig Neid mitschwang. Schließlich hatte Lehmann das erreicht, was ihr verwehrt geblieben war. Allerdings war er ihr nie sympathisch gewesen. Vielleicht hatte er Feinde, die für sein Verschwinden gesorgt hatten, oder er hatte Ungereimtheiten aufgedeckt und war deswegen aus dem Weg geschafft worden …
Stopp!, ermahnte sich Sonja. Jetzt ging die Phantasie eindeutig mit ihr durch. Es gab immer wieder Fälle, dass Menschen verschwanden und Suchaktionen erfolglos blieben, ohne dass gleich ein Verbrechen dahinterstecken musste. Lehmann konnte in eine Felsspalte gerutscht sein, oder ein Stollen war über ihm zusammengebrochen und hatte ihn verschüttet. Vielleicht hatte er auch einen Ausflug in die Wüste gemacht und war dabei von einem Skorpion gebissen worden; diese Viecher gab es in Ägypten überall.
Der Bus hielt am Rathausmarkt, Sonja stieg aus, überquerte den Platz und erwischte gerade noch die U-Bahn. Als sie sich hingesetzt hatte, ertönte aus ihrer Handtasche das SMS-Signal. Sonja fischte ihr Handy heraus. Die Nachricht war von Claus und sehr kurz.
Wohnung o.k.?
Sonja betrachtete das Display. Eigentlich hätte sie zurückschreiben müssen: Optimal, aber ich will nicht mehr umziehen. Das ging nicht. Die Erklärung, warum sie ihre Meinung geändert hatte, wäre zu lang für eine SMS. Anrufen wollte sie Claus auch nicht. Sie wollte erst sicher sein, dass man ihr das Jobangebot auch tatsächlich machte.
Sie entschied sich, die SMS einfach zu ignorieren. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen steckte sie das Handy in die Handtasche zurück.
Die U-Bahn war nur halb besetzt. Schräg gegenüber saß ein glatzköpfiger Mann mit wattierter blauer Weste und hatte einen schwarzen Hund an der Leine. Der Hund lag auf dem Boden, die Ohren aufmerksam gespitzt, und seine Haltung erinnerte Sonja an die Statue des Totengottes Anubis, die man im Grab des Tutenchamun gefunden hatte.
Sie spürte ein nervöses Kribbeln im Bauch und schloss die Augen. Es war verrückt, sie konnte an nichts anderes mehr denken als an den Anruf. Das war die Chance ihres Lebens. Sie musste die Leute von der Altertümerverwaltung überzeugen, dass sie die Richtige für den Job war. Schließlich hatte sie sich jahrelang mit Nofretete beschäftigt. Keine andere Persönlichkeit aus der Vergangenheit hatte sie so fasziniert wie diese ägyptische Königin.
Vor ein paar Jahren hatte die britische Forscherin Joann Fletcher geglaubt, die Mumie der Nofretete im Tal der Könige entdeckt zu haben. Die Nachricht von dem sensationellen Fund war durch alle Zeitungen gegangen, und der Discovery Channel hatte eine Dokumentation darüber ausgestrahlt. Doch bald hatte sich das Ganze als Irrtum erwiesen. Man hatte die Tote untersucht und herausgefunden, dass sie mit etwa fünfundzwanzig Jahren gestorben war. Nofretete, die immerhin sechs Töchter zur Welt gebracht hatte, hätte älter sein müssen. In späteren Untersuchungen wurde außerdem behauptet, die Mumie sei männlich …
Das deutsch-ägyptische Ausgrabungsteam unter der Leitung von Paul Lehmann grub jetzt dagegen in Tell el-Amarna, in jenem Gebiet, in dem Echnaton die Stadt Achetaton hatte bauen lassen. Es galt als wahrscheinlicher, Nofretetes Mumie dort zu finden, obwohl die Pharaonen oft mehrere Gräber hatten und ihre Mumien – aus Angst vor Grabplünderungen – von ihren Anhängern manchmal mehrfach »umgebettet« worden waren.
Sonja war so in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als ihre Haltestelle angesagt wurde. Schnell stand sie auf und ging zur Tür. Der Mann mit dem schwarzen Hund stieg ebenfalls aus. Sonja sah den beiden kurz nach, dann spurtete sie im Eilschritt zur Rolltreppe und fuhr nach oben. Bis zu ihrer Wohnung brauchte sie sonst zu Fuß gut fünf Minuten. Diesmal schaffte sie es in vier. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Atemlos steckte Sonja den Schlüssel ins Schloss. Sie hörte, wie drinnen das Telefon läutete. Als sie aufgeschlossen hatte und zum Telefon stürzte, hörte das Läuten auf. Sonja fluchte. Das rote Lämpchen ihres Anrufbeantworters blinkte. Hastig drückte sie auf den Wiedergabeknopf.
»Sie haben keine neuen Nachrichten.«
»Mist«, zischte Sonja. Sie löschte die vier alten Nachrichten, die noch auf dem Gerät gewesen waren, und griff zum Telefon, um festzustellen, wer zuletzt angerufen hatte. Es war Claus gewesen. Sonja stöhnte, zog dann langsam ihren Mantel aus, streifte die Schuhe ab und ging ins Bad. Sie ließ sich kühles Wasser über die Hände laufen, und allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag.
Lange betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Wangen waren gerötet, was ihr jedoch gut stand – sie war meistens sehr blass. Ihr Haar hatte ein schönes Naturblond und war noch genauso hell wie in ihrer Kindheit. Sonjas Freundin Amelie hatte ihr prophezeit, nach einer Schwangerschaft werde das Haar garantiert dunkler werden. Aber jetzt leuchtete es noch wie Gold. Kleine Schwedin hatte ihre Mutter sie als Kind oft liebevoll genannt, auch wegen ihrer dunkelblauen Augen.
Die Augen waren jetzt etwas blasser, aber noch immer sehr auffallend, vor allem wenn Sonja sie mit blauem Kajalstift und blauer Wimperntusche betonte – wie heute.
Sonja war mit ihrem Spiegelbild zufrieden. Sie sah sehr gut aus. Die meisten Leute schätzten sie höchstens auf Ende zwanzig.
Das Telefon läutete erneut. Sonja zögerte. Es war sicher wieder Claus, der wissen wollte, wie es mit der Wohnung gelaufen war. Als sie zum Apparat ging, setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Auf dem Display stand eine lange ausländische Nummer.
»Sonja Morhardt.«
Der Anruf kam aus Kairo. Es war das Supreme Council of Antiquities, die ägyptische Altertümerverwaltung. Eine weibliche Stimme teilte Sonja auf Englisch mit, dass sie gleich mit dem Generalsekretär Dr. Hazim Mohy el-Din verbunden werden würde.
Sonja merkte, wie ihre Knie weich wurden. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte schon oft von ihm gelesen oder ihn im Fernsehen gesehen. Zum Glück war ihr Englisch sicher; fremde Sprachen zu lernen hatte ihr immer Spaß gemacht und war ihr leichtgefallen.
Es knackte in der Leitung, dann war Dr. Mohy el-Din am Apparat. Zu Sonjas Verwunderung sprach er ein gut verständliches Deutsch. Er erkundigte sich nur kurz nach ihrer Ausbildung und fragte, ob sie interessiert sei, Paul Lehmann zu vertreten. Sonja hatte das Gefühl, dass ihm bereits Informationen über sie vorlagen. Er wollte auch gar keine Einzelheiten über sie wissen, sondern fragte nur, ob sie sofort anfangen könne.
Sonja überlegte blitzschnell. Den Job beim Museum konnte sie problemlos kündigen. Ihr stand ohnehin noch Urlaub zu.
»Ja, das geht«, sagte sie.
»Sehr schön«, erwiderte Dr. Mohy el-Din. »Dann mailen Sie mir bitte Ihre Bewerbungsunterlagen und auch ein möglichst aktuelles Foto.« Er nannte die Adresse, die Sonja notierte.
»Ich werde noch zwei, drei andere Leute fragen«, teilte Dr. Mohy el-Din ihr dann mit. »Aber ich gebe Ihnen so bald wie möglich Bescheid. Sie hören auf alle Fälle noch in dieser Woche von mir.«
Er verabschiedete sich. Als Sonja aufgelegt hatte, war sie wie betäubt. Das Gespräch hatte kaum länger als fünf Minuten gedauert.
Sie setzte sich sofort an den Computer und stellte die Dateien zusammen. Noch zwei oder drei andere Bewerber. Sie schnitt eine Grimasse. Zwar hatte sie einen hervorragenden Abschluss, aber ihr fehlte eben die Praxis. Seit ihrem Studium hatte sie an keiner Ausgrabung mehr teilgenommen. In Ägypten war sie ein paar Mal gewesen, hauptsächlich privat, die letzten drei Reisen hatte sie mit Claus gemacht.
Sie ergänzte ihren Lebenslauf und starrte auf die Tabelle. Ziemlich mager. Zum Glück war Nofretete ihr Spezialgebiet. Vielleicht würde das den Ausschlag geben … Immerhin hatte Dr. Mohy el-Din am Telefon durchaus interessiert geklungen. Sie verfasste ein kurzes Anschreiben, suchte ein hübsches Foto heraus und schickte die Mail dann mit den Dateianhängen nach Kairo.
Jetzt konnte sie nur noch warten. Wie schön wäre es, dachte sie, wenn dieser Traum in Erfüllung ginge und ich den Job bekäme …
Wieder läutete das Telefon. Sonja sah sich um und konnte das Gerät zuerst nicht entdecken. Sie hatte es zuvor in der Aufregung einfach irgendwo abgelegt. Nach dem vierten Klingeln fand sie es auf dem Bücherregal.
»Hallo, Claus«, meldete sie sich.
»Du bist ja doch da«,sagte Claus.»Gerade wollte ich wieder auflegen. Ich hab dir eine SMS geschickt. Wie war die Wohnung?«
»Es gibt eine Riesenneuigkeit«, sprudelte Sonja heraus und berichtete von Dr. Mohy el-Dins Anruf. »Stell dir vor, ich könnte wirklich diese Ausgrabung leiten! Das wäre der Wahnsinn, eine einmalige Chance für mich. Und wenn ich dann das Grab der Nofretete tatsächlich entdecken würde …« Es kribbelte in ihr vor Freude und Erwartung.
Claus schwieg zunächst, offenbar völlig überrumpelt von der Nachricht.
»Sag doch was!«, drängte Sonja. »Ist das nicht toll?«
»Mich interessiert in erster Linie, was mit diesem Lehmann passiert ist. Möglicherweise steckt ein Verbrechen dahinter. Man hört ja immer wieder von Anschlägen in Ägypten.« Claus machte eine kurze Pause. »Und außerdem diese vielen Grabräuber. Die Geschichte ist voll damit. Der illegale Handel mit Antiquitäten. Möglicherweise war Lehmann ja in so was verwickelt.«
»Das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen.« Sonja schüttelte den Kopf. »Lehmann gilt als überaus korrekt. Er war schon im Studium ungeheuer penibel.«
»Du weißt nicht, was inzwischen geschehen ist. Menschen verändern sich.«
Sie glaubte trotzdem nicht daran, dass Lehmann irgendwelche Funde an Kunstliebhaber verscherbelt hatte. »Vielleicht hat er sich in der Wüste verlaufen«, überlegte sie laut. »Oder er ist irgendwo abgestürzt …«
»Solange man ihn nicht gefunden hat, kann man gar nichts sagen«, meinte Claus.
»Du scheinst dich ja überhaupt nicht darüber zu freuen, dass ich so ein Angebot bekommen habe«, stellte Sonja enttäuscht fest.
»Ich möchte nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst, Sonja. Klar, ich verstehe schon, dass du im Moment völlig aus dem Häuschen bist. Aber du musst es realistisch sehen. Du bist nur eine von vier Experten, die Mohy el-Din fragt. Und deine Mitbewerber sind höchstwahrscheinlich höher qualifiziert, mach dir da nichts vor.«
»Aber vielleicht haben sie keine Zeit«, murmelte Sonja und hoffte, dass ihre unbekannten Konkurrenten gerade mit superwichtigen Projekten beschäftigt waren.
»Ach, Sonja …« Sie hörte, dass er lächelte. »Wann will er sich denn wieder melden?«
»Noch diese Woche.«
»Dann musst du wenigstens nicht so lange warten.« Damit schien das Thema für Claus vorerst erledigt zu sein. »Und was ist nun mit der Wohnung?«
Sonja spielte mit einem Bleistift, während sie ihm die Räume beschrieb. Sie spürte seine Begeisterung.
»Und?«, fragte er dann. »Hast du zugesagt?«
»Noch nicht …«
»Ich bitte dich! Was hält dich davon ab? Die Wohnung ist ideal. Ruf die Maklerin sofort an, bevor uns jemand das Objekt vor der Nase wegschnappt!«
»Aber wenn ich den Job doch bekommen sollte?«, fragte Sonja. »Dann will ich vorläufig nicht schwanger werden … und wir müssten auch nicht sofort in eine größere Wohnung ziehen.«
»Wenn, wenn, wenn«, wiederholte Claus ungeduldig. »Die Wohnung hätten wir dann wenigstens. Wer weiß, wann sich wieder eine solche Chance bietet.«
Sonja presste die Lippen zusammen. »Falls ich weg bin, müsstest du dich allein um den Umzug kümmern«, sagte sie. »Von Ägypten aus kann ich das nicht regeln.«
»Ach, Schatz, das kriege ich notfalls auch hin, oder traust du mir das nicht zu?« Er lachte. »Ruf die Maklerin an, dass wir die Wohnung nehmen! Und ich bestelle gleich einen Tisch im Restaurant für heute Abend. Ich glaube, wir haben etwas zu feiern.«
»Die Wohnung«, sagte Sonja und schluckte. Dann fügte sie trotzig hinzu: »Und vielleicht meinen Job.«
»Richtig«, meinte Claus. »Vielleicht. Ciao, bis später, mein Liebling.«
In den nächsten Tagen kam kein Anruf vom Supreme Council of Antiquities, und gegen Ende der Woche war Sonja überzeugt, dass sie die Sache abhaken konnte. Ihre Enttäuschung war groß, aber sie ließ sich nichts anmerken, wenn sie mit Claus zusammen war. Sie versuchte, sich auf die neue Wohnung zu konzentrieren. Gemeinsam machten sie anhand des Grundrisses Pläne, wie sie am besten einzurichten war.
Wenn Sonja allein war, wurde sie manchmal wütend. Warum hatte sie nicht ein einziges Mal Glück und bekam einen so verantwortungsvollen Posten? Und warum meldete sich Dr. Mohy el-Din nicht, um ihr abzusagen? Wenigstens eine Mail hätte er schicken können!
Um sich abzulenken, begann Sonja auszumisten. Das war keine Arbeit, die sie sonderlich liebte, aber früher oder später musste sie damit anfangen, wenn sie nicht mit dem ganzen Krempel umziehen wollte. Schweren Herzens packte sie ihre Sammlung von alten Archäologie-Zeitschriften und trug sie zum Altpapier-Container. Als sie den Stapel hineinstopfte, hatte sie das Gefühl, dass das Kapitel Archäologie für sie beendet war. Aber sie spürte keine Erleichterung, eher eine große Leere. Claus dagegen meinte, dass der Job sie ohnehin überfordert hätte. Das tröstete sie kaum.
Nach wie vor zuckte sie zusammen, wenn das Telefon klingelte. Aber entweder war es ihre Freundin Amelie oder die Maklerin, die anrief, um noch ein paar Einzelheiten zu klären, oder ein Vermögensberater, der einen Termin vereinbaren wollte.
Uli hatte ihr eine Mail geschrieben und sich nach dem Stand der Dinge erkundigt. Sie hatte ihm kurz geantwortet, dass Dr. Mohy el-Din sie zwar angerufen, aber sich dann nicht mehr gemeldet hatte.
Sei nicht traurig!, mailte ihr Uli zurück. Du bist trotzdem einzigartig!
Als sie seine Antwort las, bekam sie feuchte Augen. Sie überlegte, woran es lag, dass sie und Uli immer nur gute Freunde gewesen waren. Im Studium hatte jeder von ihnen in einer Beziehung gesteckt. Uli war zuerst wieder Single gewesen. Sonja hatte es mit ihrem damaligen Freund etwas länger ausgehalten. Und als es zwischen ihnen dann zu Ende gewesen war, hatte sie sich bereits in ihren Professor Claus Bronnbach verliebt. Zuerst war es kaum mehr als Schwärmerei gewesen, sie hatte sich nur zaghaft getraut, mit ihm zu flirten. Er war zu jenem Zeitpunkt verheiratet gewesen, und sie hatte damals den Grundsatz gehabt, nicht in fremden Revieren zu wildern, obwohl etliche ihrer Kommilitoninnen in dieser Hinsicht keine Skrupel gehabt hatten. Amelie hatte ihr geraten, ihre Doktorarbeit bei Claus zu schreiben, aber Sonja hatte sich dagegen entschieden. Als es sich herumgesprochen hatte, dass Claus frisch getrennt war, hatte Sonja die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Auf einer Exkursion waren sie sich nähergekommen, und seitdem waren sie zusammen, erst heimlich, dann nach Sonjas Abschluss offiziell. Uli hatte das Auf und Ab ihrer Gefühle immer verfolgt, sie getröstet, wenn sie traurig war, und bei Krisen ihr Selbstbewusstsein wieder aufgebaut.
Sie lächelte. Uli war für sie so etwas wie ein Bruder, den sie leider nie gehabt hatte. Sie überlegte, ob er Pate für ihr Kind werden sollte, strich sich über den Bauch und spürte wieder ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung. Der Lockruf Ägyptens war noch so stark …
Ärgerlich über sich selbst, trat sie an das Regal, fuhr an den Bildbänden und an den Büchern über Nofretete entlang und überlegte, ob sie die Bücher nicht doch in ein Antiquariat bringen sollte. Es wurde Zeit, endlich ihren Traum zu begraben; sie würde sonst nie zufrieden werden.
Sie zog die Bücher aus dem Regal und stapelte sie in einen Karton, den sie dann unentschlossen in einen Abstellraum schob. Nein, sie schaffte es nicht, diese Bände wegzugeben. Noch nicht.
Am Freitagnachmittag machte sie sich fertig, um noch für ein paar Stunden ins Museum für Kunst und Gewerbe zu gehen. Ironischerweise hatte in dieser Woche gerade eine Ausstellung über ägyptische Mumien begonnen. Sonja war schon an der Tür, aber weil sie noch etwas Zeit hatte, folgte sie einem inneren Impuls und schaltete ihren Computer ein, um nachzuschauen, ob sie neue Mails bekommen hatte. Das akustische Signal ertönte. Es waren vier ungelesene Nachrichten. Sonjas Herz schlug schneller, als sie als Absender einer Mail das Supreme Council of Antiquities erkannte.
»Die Absage«, murmelte sie und öffnete zögernd die Mail, die den Betreff Tell el-Amarna hatte.
Das Schreiben stammte von Dr. Hazim Mohy el-Din.
Liebe Frau Dr. Morhardt,
sind Sie bereit? Ich erwarte Sie in zehn Tagen. Teilen Sie mir
Ihre Ankunft mit, einer meiner Mitarbeiter wird Sie vom
Flughafen abholen.
Mit besten Grüßen
Dr. Hazim Mohy el-Din
