Frido Mann
AN DIE MUSIK
Ein autobiographischer Essay
Unter beratender Mitarbeit des Musikwissenschaftlers und Musikredakteurs Andreas Kunz
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© 2014 Diederichs Verlag, München
In der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Weiss | Werkstatt | München
ISBN 978-3-641-15575-9
Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,
Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,
Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden,
Hast mich in eine bess’re Welt entrückt!
Oft hat ein Seufzer, deiner Harf’ entflossen,
Ein süßer, heiliger Akkord von dir
Den Himmel bess’rer Zeiten mir erschlossen,
Du holde Kunst, ich danke dir dafür!
Franz von Schober
Wenn ich an
etwas glaube und eine Religion habe,
dann die, dass Musik
für alle da ist
Sir Simon Rattle
INHALT
VORWORT
INTRODUKTION
»Den Teufel am Hintern geküsst«. Filmische Begegnung mit dem Komponisten Norbert Schultze
Die aufbauende und die verführerische Kraft der Musik
KIRCHLICH-RELIGIÖSE BINDUNG IN MITTELALTER UND BAROCK
Musica colludium aeternitatis
Gregorianischer Choral • »Stile antico« • Das musikalische Pendant Martin Luther
Universum Bach
Bach und die Frage der Religion • Bachs Wirken bis in die Gegenwart
ZENTRIERUNG AUF DEN MENSCHEN IN KLASSIK UND FRÜHROMANTIK
Frühe Säkularisierungsbestrebungen in Italien und Frankreich
Die Venezianische Schule: Claudio Monteverdi (1567–1643) • Der Franko-Italiener Jean Baptiste Lully (1632–1687)
Von der kosmischen Harmonie zum menschlichen Individuum in der Wiener Klassik
Joseph Haydn (1732–1809) • Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) • Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Revolutionäre Vorboten der Tonalitätsauflösung
Frühe Durchbrechungen • Das Phänomen Carlo Gesualdo (1566–1613)
Zunehmende Zentrierung auf Mensch, Natur und Sprache in der deutschen Romantik
Franz Schubert (1797–1828) • Robert Schumann (1810 –1856) • Johannes Brahms (1833–1897)
BEFREIUNG AUS DER ENGE MENSCHLICHER INDIVIDUALITÄT IN SPÄTROMANTIK UND MODERNE
Licht und Schatten im Fin de Siècle
Nationalromantik: Frédéric Chopin, Bedřich Smetana, Giuseppe Verdi • Programmmusik: Camille Saint-Saëns, Hector Berlioz, Franz Liszt • Schrille Zwischentöne. Dämonen, Geister, Hexen • Sehnsucht nach Erlösung bei Richard Wagner (1813–1883) • Symphonik des Glaubens bei Anton Bruckner (1824–1896) • Ausklang der Romantik: Gustav Mahler, Richard Strauss, Claude Debussy
Varianten der Moderne
Archaisches Frühlingsopfer bei Igor Strawinsky (1882–1971) •
Die »Wiener Schule« Arnold Schönbergs • Moderne und Avantgarde als »Glasperlenspiel«? • »Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit« in Thomas Manns »Doktor Faustus«
Zusammenfassender Rückblick
NEUE SINNSUCHE IN DER POSTMODERNE
Zwanzig Jahre nach Darmstadt
Musik als politische Kunst: Hans Werner Henze und Luigi Nono • Aleatorik: Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, John Cage • Neue Einfachheit: Arvo Pärt • Neue geistliche Musik in Ost- und Westeuropa
Zukunft in Sicht?
Beispiel: die fünfsprachige Oper »Der Fliegende Teppich 2013 Odyssee« • » Crossovers«: multikulturell sowie zwischen »Klassik« und Pop, Rock und Jazz
Musik als Metapher
»Es« spielt und nicht man selbst • Meditative und therapeutische Impulse • Gemeinsam sind wir stark
CODA
VORWORT
Von den mehrfachen Anregungen und Impulsen aus meiner Familie ist die Musik die früheste, die stärkste und die nachhaltigste geblieben. Mein erster Berufswunsch im Alter von fünf oder sechs war, Musiker zu werden. Nach einigen Ablenkungen und Umwegen studierte ich schließlich auch Musik, wechselte dann aber nach meinem Studienabschluss zur Theologie und Psychologie und blieb nebenberuflich zeit meines Lebens passionierter Musikhörer und Klavier- sowie zwischendurch Orgelspieler.
Im Zuge meiner späten religionsübergreifenden Auseinandersetzungen mit der Frage nach individueller und gesellschaftlicher Sinnfindung und Werteorientierung spielten die Musik und meine jahrzehntelangen persönlichen Erfahrungen mit ihr eine zentrale Rolle. Deshalb geht es, in Anlehnung an mein letztes Buch »Das Versagen der Religion. Betrachtungen eines Gläubigen«, in der vorliegenden Schrift primär um die Reflexion dieser Sinnorientierung durch die Musik in der abendländischen Geschichte bis heute, mit einem Ausblick in die Zukunft. Bei den zur Sprache kommenden Epochen und Komponisten werden insbesondere auch die zeitgeschichtlichen, psychologischen und z.T. politischen Hintergründe mitreflektiert, die das Wirken der betreffenden, sowohl religiös gebundenen als auch areligiösen Musikschaffenden und deren Zeit mitbestimmt haben.
Dieses Buch ist keine musikwissenschaftliche Abhandlung. Es ist ein persönliches Bekenntnis meiner großen Liebe zur Musik mit dem Charakter eines mit autobiographischen Episoden angereicherten Essays, in dem die Sinn-Thematik im Vordergrund steht. Deshalb konzentriere ich mich, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, auf diejenigen Komponisten und auf deren Werke, mit denen mich besondere eigene Erfahrungen und Gedanken verbinden.
Mein besonderer Dank richtet sich an meine zahlreichen musikalischen Gesprächspartner, insbesondere den Musikwissenschaftler und Musikredakteur Andreas Kunz, der mich während der Abfassung kompetent und maßgeblich beraten hat, sowie den Geiger und Violinpädagogen Vesselin Paraschkevov, der das Ende dieser Schrift mit wesentlichen Gedanken zur Musikwiedergabe und zur Musikpädagogik bereichert hat. Weiterhin viele Hinweise und nachhaltige Anregungen erhielt ich von Klaus Schilde, Claudia Maurer-Zenck, Gudrun und Fritz Borchmeyer und Dirk Heißerer sowie in prägender Weise von meinen früheren Musiklehrern Hans Andreae, Christian Vöchting, Franco Ferrara, Michael Wessel-Therhorn und Arwed Henking. An der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben ferner die vielen geduldigen Hörerinnen und Hörer, denen ich einzelne Kapitel probeweise vorlesen konnte. Eigens danken möchte ich dem Münchner Kösel- und Diederichs-Verlag aus der Verlagsgruppe Random House, der auch diese Schrift sorgfältig und wohlwollend betreut und publiziert hat.
München, im Juli 2014
INTRODUKTION
»Den Teufel am Hintern geküsst«. Filmische Begegnung mit dem Komponisten Norbert Schultze
Goethe-Institut in São Paulo / Brasilien im März 1995 anlässlich einer Einladung zu zwei Buchvorstellungen zur Rolle der Kultur und der Wissenschaft im Dritten Reich. Als ich am Veranstaltungsort eintreffe, hat gerade die Vorführung eines nicht angekündigten Filmdokuments begonnen, welches mich vom ersten Augenblick an fesselt. Wie ich später erfahre, sollte dieser Film anhand eines besonders empörenden Beispiels die mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung der braunen Vergangenheit Deutschlands zeigen.
Der Dokumentarfilm von Arpad Bondy und Margit Knapp von 1992 ist ein biographischer Aufriss des 1911 in Braunschweig geborenen Komponisten Norbert Schultze. Der Film zeigt in chronologischer Abfolge kommentierte Auszüge aus Filmen, zu denen Schultze die Musik geschrieben hat sowie von ihm während des Zweiten Weltkriegs komponierte Musicals, Soldatenlieder und Marschmusik. Häufig eingeblendet werden ausführliche Interviews mit dem Komponisten.
Es beginnt alles völlig harmlos. Schultze komponiert, nach seinem Musikstudium in Köln und München und einigen Engagements als Dirigent und Komponist und einer Anstellung als Aufnahmeleiter bei Telefunken, ab 1936 unter verschiedenen Pseudonymen die Musik zu einer Verfilmung des Hauff-Märchens »Das kalte Herz«. Er erstellt eine Opernfassung ebenfalls eines Märchens: »Schwarzer Peter« und komponiert das Musical »Nimm mich mit, Kapitän«.
Danach erfolgt die Wende. Schultze, seit 1940 NSDAP-Mitglied, nimmt, mit Beginn des Krieges, von »Propagandaminister« Goebbels einen Auftrag nach dem anderen an: einmal die Komposition der Musik zu den beiden Propagandafilmen »Bomben auf Engeland« (mit der Demonstration von aggressivem Kampffliegergeschwader zur Zeit des Polenfeldzuges 1939) sowie »Das Lied der Panzergruppe Kleist« (mit 1942 in Afrika vorwärts rollenden Panzern auf der Leinwand). Er komponiert reihenweise Soldaten- und Propagandalieder und martialische Marschmusik. Beim Anblick dieser Szenen beginnt sich alles in mir zusammenzuziehen. Seine Erstellung der Musik zum Film »Von Finnland bis zum Schwarzen Meer« während des Überfalls auf Russland im Sommer 1941 kommentiert Schultze in einem aus dem Anfang der Neunzigerjahre stammenden Interview am Klavier seine Vertonung der Filmtextzeile »Führer befiehl, wir folgen dir« zu einem Refrain. Er erzählt dabei stolz, er habe die musikalische Erstfassung dieses Refrains Goebbels persönlich vorgespielt. Goebbels habe sich danach sofort neben ihn auf die Klavierbank gesetzt, die aufgeschlagenen Noten betrachtet, ihn zur Wiederholung der Passage aufgefordert und ihn dann unterbrochen, um danach selber die Alternative am Klavier vorzuführen, die dann auch die letztgültige Version wurde: die betreffende Passage jetzt mit einer zwischen »befiehl« und »wir folgen dir« demagogisch eingeschobenen halbtaktigen Kunstpause.
Mir bleibt vollends der Mund offen, als ich sehe, mit welchem stumpfem Gleichmut der inzwischen Achtzigjährige diese widerwärtige Episode und seine eigene unrühmliche Rolle darin wiedergibt, so als handelte es sich um die Kommentierung einer niveauvollen Komposition.
Dann folgt der Gipfel: »Lili Marleen«. An sich eine stimmungsvolle Melodie mit gewissem melancholischem Einschlag, die Schultze 1938 zum gleichnamigen sentimentalen Gedicht vom Mädchen Lili unter der Laterne vor dem Kasernentor aus dem Bändchen »Die kleine Hafenorgel« von Hans Leip komponiert hat. Aber selbst dieses Lied lässt Schultze skrupellos zu propagandistischen Zwecken missbrauchen, wie er dies als Nächstes dem Betrachter des Films wieder am Klavier nonchalant bekennt. Er habe sich, so sagt er, 1939 von der Schallplattenfirma Elektrola sagen lassen, dass »die Wehrmacht im Kommen sei« und dass deswegen das betreffende Lied »Lili Marleen« in Soldatensendern ausgestrahlt und zum »Lied eines jungen Wachposten« umbenannt werden solle, und zwar jetzt mit dem vorangestellten preußischen Zapfenstreich. Schultze rechtfertigt jetzt nachträglich sein Einverständnis mit diesem Vorschlag damit, dass diese Art der Wiedergabe seines Liedes im einzelnen Soldaten ein »Heimatgefühl« geweckt hätte sowie »das sittliche Gefühl, das der Mensch braucht, um überhaupt kämpfen zu können; denn das wird auch in der Musik ausgedrückt«. Schließlich müsse auch im Krieg »Unterhaltung und Kunst geboten« werden, sagt er. Tatsächlich zieht sein anfangs nur wenig beachtetes Lied ab 1941 größte Aufmerksamkeit auf sich, als zum ersten Mal der deutsche Soldatensender Belgrad die Aufnahme mit der Sängerin Lale Andersen einige Male zum Programmschluss auflegt. Text und Melodie treffen tatsächlich bald voll die Stimmung von Millionen von Soldaten aller damals kämpfenden Armeen auf beiden Seiten der Fronten. Danach avanciert Lili Marleen in etwa fünfzig Sprachen zu einem weltweiten musikalischen »Leitmotiv« des Zweiten Weltkriegs und zum ersten deutschen Millionenseller. Auch unter den alliierten Soldaten, vor allem den britischen Truppen in Nordafrika 1941, wird das Lied oft in englischer Übersetzung mitgesungen. Vollends zum Mythos wird Lili Marleen, wie Schultze in seinem Kommentar bestätigt, als allabendlich »ohne gegenseitige Vereinbarung« (»um zehn vor zehn«) dessen Ausstrahlung mit Riesenlautsprechern über die Fronten in alle Richtungen für einige Minuten die Waffen zum Schweigen bringt und die Soldaten auf beiden Seiten der Front voller Andacht dem Lied lauschen und erst »nach dem Verklingen des letzten Tons« das MG-Feuer unvermindert weitergeht.
Richtiggehende Wut kocht in mir auf, als ich gegen Ende des Filmdokuments feststellen muss, wie in diesem skandalösen Fall nicht nur der Rattenfänger Schultze, sondern in den frühen Neunzigerjahren auch die deutsche Öffentlichkeit NS-Vergangenheitsbewältigung betreibt. Schultze komponiert nach dem Krieg munter weiter, so als wäre nichts gewesen. Er vertont wieder auf die Bühne gebrachte Märchen und schreibt die Musik zu einer langen Reihe betont ziviler, hausbackener Filme. Schultze wird 1961 Präsident des Verbands deutscher Bühnenschriftsteller und -komponisten und erhält, wie ich nachträglich verschiedentlich bestätigt bekomme, zwischen 1975 und 1996, also noch nach seinem Interview zu diesem Film, mehrere ehrenvolle Auszeichnungen, bevor er 2002 in Deutschland stirbt. Und als besonders pikanten Aspekt seines Kusses am Hintern des Teufels bezeichnet sich Schultze selbst an einer Stelle seines Film-Interviews zu allem auch noch als einen »unpolitischen Menschen«.
Als nach der Filmvorführung der eigentliche Teil der Abendveranstaltung beginnen soll, muss ich als Erstes am Rednerpult spontan einige Minuten lang meiner Empörung darüber Luft machen, zu was für ein Verführungsinstrument der in dem Film porträtierte »Musiker« die »holde Kunst« der Musik im kultur- und menschenverachtenden System der NS-Diktatur bewusst und willig hat entarten lassen. Danach endlich beginnen die für diesen Abend eigentlich vorgesehenen Buchpräsentationen zum Thema Kultur und Wissenschaft im Dritten Reich. Erst nach und nach wird mir richtig bewusst, dass das an jenem Abend in dem Film Gesehene beileibe kein Einzelfall ist, sondern, weit über das Beispiel des Nationalsozialismus hinaus, zu einem generellen Problem von Musikkomposition und Musikwiedergabe und zum Problem von Kunst überhaupt auswachsen kann und deshalb später in diesem Buch nochmals eigens angesprochen werden muss.
Die aufbauende und die verführerische Kraft der Musik
Ich bin immer wieder von Neuem verblüfft, wie stark Musik die Seele des Menschen ergreift. Sowohl als »holde Kunst« als auch als verführerisches Gift dringt Musik schneller, tiefer und nachhaltiger als Wort und Bild in unser Leben ein. Sie kann auch in ihrer einfachsten Form eine elementare Wirkung ausüben, beispielsweise als Trommel oder als Solo-Gesang. Aber jede Form von Musik wirkt natürlich nie nur in sich und völlig abgehoben von unseren Lebensverhältnissen. Sie muss immer im Kontext unserer gesamten Existenz gesehen werden. Sie wirkt gewissermaßen auf uns über unseren individuellen, familiären und sozial gesellschaftlichen Lebenskontext.
Ich bin sicher, dass meine Musikerlebnisse von frühester Kindheit an auch schon vor meiner Hinwendung zu christlicher Religiosität als Anfang Zwanzigjähriger immer wieder tiefere Erlebnisschichten in mir angerührt haben, die mehr waren, als nur in einem unreflektiert emotionalen Zustand diffuser Sehnsucht zu verharren und sich in einer Achterbahnfahrt der Gefühle um sich selbst zu kreisen. Sonst hätte ich nicht schon so früh, lange vor meiner Hinwendung zur Religion, Musik sogar als Beruf ausüben wollen. Ein nachhaltiges Bewusstsein darüber, was Musik mir wirklich bedeutet und wieweit sie mein Leben bestimmt, habe ich trotzdem das erste Mal während meiner intensiven Auseinandersetzung mit Richard Wagners Bühnenweihfestspiel »Parsifal« entwickeln können, als dieses während der frühen Sechzigerjahre zu Ostern im Zürcher Opernhaus einstudiert wurde und ich dort als junger Volontär mitwirkte.
Ich befand mich damals in einer tiefgreifenden inneren Sinnkrise, aus der mich natürlich auch andere Impulse und Hilfestellungen wieder herausholten. Aber die Musik wirkte dabei wie eine Art Katalysator. Die Folge meiner Auseinandersetzung (nur) mit diesem einen Werk Wagners war jedenfalls ein als »Erlösung« erlebter Sinnes- oder vielmehr Sinnwandel, der schließlich über lange und vielfältige Wege zu meinem Eintritt in die römisch-katholische Kirche führte und auch ein neu reflektiertes, sinnbezogenes Verhältnis von mir zur Musik erwirkte. Dieses Bewusstsein blieb über alle nachfolgenden Veränderungen meiner weltanschaulichen Position über die Jahrzehnte hinweg in mir präsent und bestimmte wie eine verlässliche Konstante und eine unverzichtbare Stütze in meinem Leben mein Verhältnis zur Musik.
Dies ist ein einzelner, individueller Lebensweg zur Musik. Letztlich dürfte es so viele Wege dazu geben, wie es Individuen gibt. Deshalb will ich weit über mein eigenes autobiographisches Beispiel hinaus der Frage nach einer Sinnfindung und Werteorientierung durch Musik ganz allgemein nachgehen und dabei auch die verschiedenen Epochen der vor allem abendländischen Musik als Ganzes in ihrem überaus spannungsvollen Entwicklungsgang verfolgen.
Wann, wo und in welcher Weise, so würde ich schließlich fragen wollen, hat vor allem die überaus vielgestaltige abendländische Musik in ihren sehr unterschiedlichen Epochen und Entwicklungsphasen dazu beitragen können, den Menschen, über jedes ästhetische Wohlgefallen hinaus, als eine Art geistiger Kompass zu dienen, ihnen einen inneren Halt zu geben und ihre emotionale und kognitive Selbstgewissheit zu festigen? Wann und wie weit war Musik in diesem Sinn eine Quelle für eine menschlich und gesellschaftlich aufbauende Sinnerfahrung und Werteorientierung, wenn nicht sogar eine Art Leitlinie für ethisches Handeln? Gibt es kulturgeschichtliche Phasen, in denen musikalisches Schaffen und die Wiedergabe von Musikwerken bei den Menschen nur wenig oder gar Schlechtes ausrichtete? War sie zu bestimmten Zeiten der besonderen Gefahr eines Missbrauchs oder einer suggestiven Manipulation der Massen ausgesetzt? Sind diese musikgeschichtlichen Schwankungen zufällig oder sind sie abhängig von den jeweiligen Zeitströmungen unserer Geschichte, von gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten und Konstellationen? Und wie wirken sich wiederum diese Unterschiede nicht nur auf das Musikschaffen aus, sondern auch auf die Wiedergabe und die Rezeption von Musik?
Ausgangspunkt meiner Erörterungen wird die kirchlich religiöse Bindung der Musik im christlichen Mittelalter mit ihren fließenden Übergängen zur Neuzeit sein. Diese Neuzeit ist fast bis in die Gegenwart hinein gekennzeichnet von einer stufenweise erfolgenden, emanzipatorischen Loslösung der abendländischen Musik aus dem sakralen Bereich. Ihr Schwerpunkt liegt seit der Wiener Klassik und vor allem der Romantik nicht mehr primär in ihrer Einbettung in eine kosmisch universale, göttliche Ordnung. Hauptmerkmal ist jetzt vielmehr ihre zunehmende Zentrierung auf die individuell emotionale Welt des Menschen und auf die ihn umgebende Natur sowie auf die dichterische Sprache. Im Zuge der zunehmend skeptischen Infragestellung des menschlichen Individuums während der bürgerlichen und industriellen Revolution strebt die Spätromantik, zunehmend zwischen Licht und Schatten oszillierend, eine Loslösung aus einer zu großen Enge menschlicher Individualität an. Dies zeigt sich in den Bewegungen der Nationalromantik, der Programmmusik und der musikalischen Umsetzung von kulturgeschichtlich aus der vor- und frühreligiösen Zeit stammenden Metaphern, Mythen- und Sagenfiguren (Geister, Dämonen und Hexen).
Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die schrittweise Auflösung der Tonalität, des Grundtonbezugs und der großen musikalischen Formen beim Übergang von der Spätromantik zur Moderne an der Schwelle zum 20. Jahrhundert mit den sowohl revolutionär aufbauenden als auch den problematischen Erscheinungen der Moderne besonders nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zuge des zunehmenden Einsatzes der Massenmedien seit dem frühen 20. Jahrhundert gehen mit dieser Entwicklung vermehrt politische und ökonomische Formen des (verführerischen!) Missbrauchs musikalischer Botschaften besonders im Bereich der Kunstmusik einher. Bemerkenswerte hoffnungsvolle Ansätze zu einer Rückkehr in die Tonalität auf einer neuen Ebene finden sich dann in verschiedenen Strömungen der sogenannten »Postmoderne« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, wobei sich – im Gegenzug zu Beispielen eines »Crossover« zwischen der Musik verschiedener Kulturen sowie zwischen Kunstmusik und Pop, Rock und Jazz – immer deutlichere Tendenzen zu einer zunehmenden Individualisierung und Aufsplitterung der Musik in lauter Einzelkonzepte zeigen, die eine Auflösung der Musik als Kunstform befürchten lassen.
Diese durchwachsene Entwicklung der Musik durch die Jahrhunderte wirft die Frage auf, ob, kulturgeschichtlich gesehen, künstlerische Tätigkeit einerseits erst nach ihrer Befreiung von institutionell vorgegebener, manchmal bevormundender religiöser Bindung hochwertige neue Impulse erhält oder ob umgekehrt auf die Dauer nicht doch auch, über rein ästhetische Aspekte hinaus, ein gewisses Ausmaß an stetiger, überzeugter Orientierung an inneren Werten und an einem inneren, religiösen oder auch genauso gut nicht- religiösen Sinn sowie an verantwortungsbewusstem Handeln großes künstlerisches Gelingen garantiert.
Bei all diesen Erörterungen werden in dieser Schrift nicht nur essayistische und autobiographische Aspekte eng miteinander verwoben. Zusätzlich fließen auch exemplarische Erfahrungsberichte und Gedanken ausübender Musiker und Musikpädagogen in die betreffenden Texte ein.
Musik ist schon seit Bestehen der Menschheit bestimmend für unser Leben. Neuere Untersuchungen zeigen uns, dass bereits höhere Säugetiere auf Musik reagieren. Die Wirkung auf Pflanzen oder gar Steine gehört dagegen noch weitgehend in den Bereich der Spekulation. Unbestritten dagegen ist die seelische und magische Kraft musikalischer Botschaften bei allen Naturvölkern, mit einer erheblichen Potenzierung dieser Wirkung, wenn diese Musik von Gebärden und Tanz begleitet wird und aus ihnen die Stimmen der Götter und der Dämonen zu erklingen scheinen.
Musik trifft auf ein breites Spektrum von Gefühlsregungen. Sie weckt oder verstärkt intensiv Glücksgefühle, Stolz, Lebenslust, Fröhlichkeit, Begeisterung, das Erleben von Harmonie in einer Welt kosmischer und zentraler Ordnung oder mystischer Spiritualität sowie Hingabe und Demut. Sie eröffnet aber auch den Blick in seelische Abgründe, in Zerrissenheit und inneres Chaos, Traurigkeit, Zerknirschung und Verzweiflung. »Man sagt, die Musik wirke erhebend auf die Seele. Das ist nicht wahr, das ist Unsinn! Sie wirkt, sie wirkt furchtbar – ich rede aus eigner Erfahrung –, aber keineswegs erhebend. Sie erhebt die Seele nicht, sie zerrt sie hinab, sie stachelt sie auf«, lässt Tolstoj in seiner Erzählung »Kreutzersonate« den adligen Grundbesitzer Posdnyschew sagen. So kann Musik beispielsweise auch zu Kampflust oder zu rauschhafter Hybris und triumphierendem Herrscherglück und Machtstreben aufstacheln, wie wir dies eben am Beispiel von Norbert Schultzes Nazi-Märschen und Soldatenliedern gesehen haben. Sie kann aber auch, wenn sie der uns täglich überflutenden verbalen und bildhaften Fata Morgana kommerzieller Fernseh- oder Filmwerbung unterlegt wird, völlig banal eingesetzt werden zur gezielten Steigerung kurzlebiger Konsumbedürfnisse.
Meistens wenn Musik auch sonst gekoppelt mit fixen oder bewegten Bildern erklingt, steuert sie mit unterschwelliger und damit umso wirksamerer suggestiver Kraft die emotionalen Reaktionen auf die Bilder. So kann eine den Bildern und den gesprochenen Worten unterlegte Filmmusik die durch den Filmablauf geweckten Emotionen enorm verstärken oder, je nach Musik, auch abschwächen oder qualitativ verändern. Ich kann beim Ansehen eines Fernsehkrimis schon von vornherein voraussehen, wie massiv dessen raffiniert eingesetzte Begleitmusik mich voller Spannung in die Handlung hineinziehen und mich sehr viel weniger loslassen wird als derselbe Film ohne Musik. Dies zeigt die ungeheure Macht der Musik über unser Empfinden, Erleben und Denken.
Diese sehr unterschiedlichen Wirkungen der Musik sind auch abhängig davon, um welche Art von Musik es sich handelt. Marschmusik, Siegesfanfaren und Nationalhymnen werden eher zu Wettkämpfen, manchmal auch zu gewaltsamen politischen oder kriegerischen Auseinandersetzungen animieren als ein Streichquartett-Adagio, ein Orgelchoral, ein Gospel oder eine Osterpassion, die eher zu meditativer oder religiöser Versenkung aufruft. Hingegen können ein mitreißendes Popkonzert oder innige Volksgesänge einer hochgehaltenen nationalen Tradition ein Gemeinschaftsgefühl und das Bewusstsein friedfertiger Zusammengehörigkeit stärken. Die große Vielfalt und das enge Nebeneinander höchst unterschiedlich, ja gegensätzlich wirkender Musikformen lässt den schmalen Grat zwischen Gut und Böse in besonders scharfem Licht erscheinen. Mit Musik werden Millionen Menschen in den Krieg und in den Tod geschickt. Musik in Konzertsälen, auf Freilichtbühnen oder in Kirchen dagegen kann, besonders bei überregionaler Live-Übertragung, eine zumindest kurzfristige, manchmal sogar religiös getönte Verbrüderung zwischen den Menschen bewirken, wie ich dies in unserer eher von Anonymität und individualistischer Abgrenzung gekennzeichneten Zeit sonst nur selten beobachte. Allerdings können im selben Musikstück deren individuell-psychische und deren gesellschaftlich-kommunikative (und symbolische) Funktion erheblich auseinanderklaffen. Das Abspielen einer das Wir-Gefühl festigenden Nationalhymne oder entsprechende Gesänge im Fußballstadion oder auch Protestsongs erwecken auf der Ebene der individuellen Erbauung oder Unterhaltung oft sehr andersartige Gefühle als auf der gesellschaftlichen Ebene. Es haben mir so einige Freunde in den Neuen Bundesländern versichert, dass sie heute Beethovens Neunte Symphonie noch immer nicht hören mögen, weil diese seit dem Bestehen der DDR zum Ausklang sämtlicher Parteitage der SED gespielt wurde. Auch bezüglich der Hintergrundfunktion einer unterschwellig, »nebenbei« erklingenden Musik kann für den Einzelnen deren Genuss sehr unterschiedlich entweder erhöht oder auch beeinträchtigt werden. Ein Nichtkenner klassischer Musik wird durch das Erklingen der ersten Takte des himmlischen Andante in Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 467 als Hintergrundmusik einer goldprickelnden Fernsehwerbung für eine bestimmte Sektmarke möglicherweise in ein seine Konsumfreude verstärkendes Hochgefühl versetzt werden, wohingegen ein Kenner oder gar ein Musiker dabei Ekelgefühle empfinden wird und sich anstrengen muss, beim nächsten Hören oder Spielen dieses unvergänglichen Satzes den schwachsinnigen Gedanken an diesen Sekt aus seinem Kopf zu verbannen.
Musik wirkt nicht nur. Sie prägt auch, besonders in der frühesten Lebensphase.
Das Erste, was ich, sehr rasch nach meiner Geburt, in unserem kleinen, hellhörigen Häuschen im kalifornischen Carmel an der Pazifikküste über Stunden täglich zu hören bekam, waren die Bratschenklänge meines als Berufsmusiker unermüdlich übenden Vaters. Dies setzte sich zwei Jahre später in Mill Valley bei San Francisco fort, wo das Kinderzimmer meines Bruders und mir in der oberen Etage zwar räumlich etwas weiter weg von dem unten liegenden »Study« meines Vaters lag. Dafür habe ich die Klänge von dort jetzt noch im Ohr. Eher diffus sind meine Erinnerungen an die häufigen Kammermusikzusammenkünfte im selben »Study«, meist Streicher-Ensembles aus dem Kollegen- und Freundeskreis und oft mit so zahlreichen Zuhörern, dass für diese Extra-Stühle aus dem gegenüberliegenden Bestattungsinstitut ausgeliehen werden mussten. Ich war wohl des Öfteren mit dabei gewesen, und mir wurde später berichtet, dass ich als Drei- oder Vierjähriger beim Zuhören gelegentlich in besorgniserregender Weise mit rhythmischem Schaukeln und verdrehten Augen in Trance geraten sein soll. Zu meinem Musik-Bewusstsein gehörte auch, dass mein Vater fast täglich mit dem Auto über die Golden- Gate-Brücke zur Probe oder abends ins Konzert in der San Francisco Symphony unter Pierre Monteux fuhr, wo er als jüngstes Mitglied mitwirkte. Und ich erinnere mich auch an einen Besuch eines dortigen Kinderkonzerts an einem Nachmittag, zu dem mein Vater uns Kinder mitnahm und wo wir ihn im Orchester spielen hören (und sehen!) durften. Dies alles hatte zur Folge, dass mein erster, allerdings nur ein paar Jahre anhaltender Berufswunsch während der ersten Grundschuljahre war, Musiker zu werden.
Zur klanglichen Prägung junger Menschen auch ohne Musik im Elternhaus gehört, jedenfalls in Westeuropa, das häufige Läuten von Kirchenglocken, deren eigenartige Stimmung sich in jedes Herz eingräbt, wenn im selben Glockenton gleichzeitig gnadenhafte Seligkeit und Vergänglichkeit und Tod verkündet werden und dadurch ein anrührendes Gemisch aus Feierlichkeit und Melancholie entsteht. Bis zu meinem neunten Lebensjahr in den USA fehlte mir dieses Klangerleben, weil es in den USA kaum Kirchenglockengeläut gibt. Erst in Europa zogen mich dessen Klänge in ihren Bann. Möglicherweise trugen auch sie zu meinem ersten religiösen Interesse in meinem Leben bei, nachdem ich in den USA nie diesbezügliche Anregungen erhalten hatte, weder seitens meiner Familie noch in der Schule noch aus meinem Freundeskreis. Bei meinen ersten Kirchenbesuchen mit Freunden in Europa lernte ich auch die verschiedenen Varianten abendländischer Kirchenmusik kennen: die in den Gottesdiensten gesungenen Psalmen, Lieder, Lobgesänge, Kantaten und Motetten. Muslimische Gebetsrufe mit dem gesungenen Glaubensbekenntnis zum einen Gott und seinem Propheten bekam ich erst im fortgeschrittenen Alter um die Jahrtausendwende bei meinen kurzen, erstmaligen Besuchen in Marokko und in der Türkei zu hören. Sie sind allerdings nie tief in mein Inneres gedrungen, vielleicht, weil es dafür zu spät war und ich vorher über rein intellektuelles Interesse hinaus nie wirklich mit der Welt des Islam in Berührung gekommen bin und vieles in ihr mir bis heute fremd, ja unheimlich geblieben ist.
Physikalisch besteht Musik aus einer mehr oder weniger komplexen und strukturierten Überlagerung von Schallwellen unterschiedlichster Länge und Amplitude, die über unser Hörorgan als Töne, Klänge, Akkorde und Klangfolgen wahrgenommen werden und sich in der Regel zu kleineren Einheiten, Phrasen, Musiksätzen, kurzen Musikstücken und längeren Musikwerken zusammensetzen. Die akustische Wahrnehmung wird von uns in metaphysische Bedeutungsinhalte übersetzt. Diese wecken in uns Emotionen und Gedanken und versetzen den Hörer in einen besonderen inneren Zustand, der gegebenenfalls seine Einstellungen, seine Gesinnung, ja sein ganzes zukünftiges Leben verändern kann. Dieselben Klänge und Klangfolgen eines Musikstücks können allerdings sehr unterschiedliche Emotionen auslösen, je nach individuell und sozial gesellschaftlich unterschiedlichen Einstellungen oder auch aufgrund der politischen oder religiösen oder nichtreligiös weltanschaulichen Systeme, denen wir angehören. So ist zu erklären, dass dieselbe Musik in einem Kulturkreis hoch geschätzt, in einem anderen hingegen geächtet oder sogar verboten wird. Eines der in meinen Augen unrühmlichsten Beispiele aus jüngster Zeit ist das Verbot jüdischer Musik durch die rassistische Ideologie des deutschen Nationalsozialismus. Als nicht viel besser empfinde ich einige Jahrhunderte vorher die Verbannung jeder, auch geistlicher Musik durch den französischen Reformator Johannes Calvin nicht nur aus der gottesdienstlichen Liturgie, sondern auch aus dem profanen Alltag des Genfer Gottesstaates unter Todesstrafe aufgrund der angeblichen Beleidigung des allmächtigen Gottes durch die schnöde Sinnlichkeit der Musik. Ähnlich, wenngleich etwas weniger drastisch, erscheint mir die Verpönung der Orgelmusik als »des Teufels Sackpfeifen« und deren konsequenter Ausschluss aus dem christlichen Gottesdienst durch die Kirchenväter während des ersten christlichen Jahrtausends, bevor diese erst im späteren Mittelalter in vorsichtigen, kleinen Schritten wieder zugelassen wurde. Im Gegensatz dazu war es für den deutschen Reformator Martin Luther ein großes Anliegen, jedem als geistlich ausgewiesenen Liedgut im Gottesdienst einen besonderen Platz einzuräumen. In beiden Fällen bleibt die Frage interessant, wieweit es bei diesen ideologisch diktierten Verboten zum Konflikt zwischen diesem Verbot und individuellen, biographischen, anerzogenen Vorlieben kommen kann. Wieweit konnte beispielsweise ein in der Weimarer Republik lebender, begeisterter Anhänger der Musik Felix Mendelssohn-Bartholdys nach 1933 Mendelssohn verordnungsgemäß einfach aus seinem Herzen reißen, oder musste er ihn dann weiter heimlich lieben, bis ab 1945, nach dem Ende des Spuks, das Spielen von Mendelssohns Musik wieder erlaubt war? Ich muss bei dieser Frage immer wieder an den Anfang von Jiri Weils wunderbaren Roman »Mendelssohn auf dem Dach« denken. Dort haben während der deutschen Okkupation Prags zwei Funktionäre den Befehl von »Reichsprotektor« Heydrich auszuführen, von den vielen Musikerstatuen auf dem Dach des Rudolfinum diejenige von Mendelssohn aufzusuchen und zu beseitigen. Nachdem sie die Statue nicht ausfindig machen können und die schlimmsten Strafen befürchten, kommt ein Dritter auf die Idee: »Geht noch einmal an den Statuen entlang und guckt euch genau die Nasen an. Wer die größte Nase hat, ist der Jude.« Gesagt, getan. Schließlich finden sie wirklich den mit der größten Nase, legen ihm das Seil um den Hals und ziehen, bis die Statue zu wackeln beginnt. Im letzten Augenblick entdecken die beiden jedoch zu ihrem größten Schrecken, dass es sich um die Statue von Richard Wagner handelt.
Musik weckt oder verstärkt menschliche Emotionen und Erlebnisse in allen Abstufungen und Intensitätsgraden und in allen möglichen Qualitäten. Wenn sie nicht zu inhumanem (z. B. mit Marschmusik zu gewalttätigem oder kriegerischem) oder zu banalem (mittels musikalischen Werbespots zu Konsum-)Verhalten verführt, hat ihre positive Wirkung zumindest den Charakter des Wohllauts (Gefühl musikalischer Wellness). Musik ist dann in erster Linie ein ästhetischer Genuss, der, übersteigert, in einen rauschhaften Zustand führen kann. Je differenzierter und »hochstehender« ein Musikwerk ist, als desto ästhetisch wertvoller wird es aufgenommen werden können. Zu einer eigentlichen inneren Werteorientierung und Sinnfindung an der Grenze zur Transzendenz verhilft Musik erst, wenn in ihr eine ausgeprägt menschliche, außer- oder gar übermenschliche Botschaft enthalten ist, unabhängig davon, ob es sich um »Klassik« oder gehobene Popmusik und Folklore etc. handelt. Von da ist es nicht mehr weit zur »höchsten« Stufe: Musik mit als existenziell erlebten Tiefendimensionen mit gelegentlich geradezu Offenbarungscharakter und starken geistigen Impulsen (z. B. in den Passionen von Johann Sebastian Bach).