Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wenn Sie auf das Schicksal von Evelyn Tremaine ebenso gespannt sind wie unsere Freunde Mabel Clarence, Victor Daniels und Alan Trengove und erfahren möchten, was an der Geschichte wahr ist und was sich im Laufe der Zeit zur Legende entwickelt hat, dann freuen sie sich auf meinen neuen Roman:

„Das Flüstern der Wände“

Das Buch erscheint im Frühjahr 2015 im Dryas Verlag, Frankfurt, und bringt das lang gehütete Familiengeheimnis der Familie Tremaine ans Licht.

Mit herzlichen Grüßen

Rebecca Michéle


Das Flüstern der Wände


Dryas Verlag, ISBN Taschenbuch 978-3-940855-61-9, ISBN E-Book 978-3-941408-83-8

Cornwall 1940: Um den Bombenangriffen der Deutschen auf London zu entgehen, bringt Robert Carlyon seine Familie nach Cornwall. Dort werden Sie von einer entfernten Verwandten, Helen Tremaine, auf dem Landsitz Higher Barton aufgenommen. Während Roberts Frau und der halbwüchsige Sohn sich zunächst schwer in das Landleben einfügen, ist die siebzehnjährige Eve von dem Herrenhaus sofort begeistert. Doch was sie tagsüber begeistert, ängstigt sie nachts, den sie meint jemanden ihren Namen rufen zu hören. Eve erfährt, dass Mitte des 19. Jahrhunderts die junge Evelyn Tremaine spurlos verschwunden, wahrscheinlich ermordet, worden ist. Seitdem soll der Geist Evelyns in den Mauern umgehen. Welches schreckliche Geheimnis birgt Higher Barton, und welche Rolle spielt der alte Lord Tremaine, der unter allen Umständen das Familiengeheimnis wahren will? Eve, die nicht an Gespenster glauben möchte, beginnt nachzuforschen und stößt auf eine unglaubliche Geschichte aus der Vergangenheit, die auch ihr eigenes Leben nachhaltig verändern wird.

Orte und Personen in Rebecca Michéles Cornwall-Krimis

Orte

Lower Barton: Fiktive kleine Ortschaft nördlich von Polperro.

Higher Barton: Fiktives Herrenhaus, drei Meilen westlich von Lower Barton. Erbaut im 16. Jahrhundert, seitdem ununterbrochen im Besitz der Familie Tremaine.

The Three Feathers: Einziges Hotel in Lower Barton, angeschlossenes Restaurant.

The Sailors’ Rest: Beliebtester Pub in Lower Barton.

Personen

Mabel Clarence: Geboren 1949. Lebte in London und arbeitete dort als Krankenschwester. Als Rentnerin erbt sie den Besitz Higher Barton von ihrer Cousine Abigail Tremaine, die sich nach Südfrankreich zurückzieht. Arbeitet als Haushälterin bei Victor Daniels.

Victor Daniels: Geboren 1948. Einziger Tierarzt in Lower Barton, ewiger Junggeselle, oft mürrisch. Für Tiere tut er alles, während er bei Menschen länger braucht, um Vertrauen zu fassen.

Alan Trengove: Geboren 1971, Staranwalt mit Kanzlei in Truro und Patensohn von Victor Daniels. Steht Mabel und Victor helfend zur Seite, wobei er sich manchmal am Rande des Gesetzes bewegt.

Lady Abigail Tremaine: Geboren 1951. Lebt in Südfrankreich. Cousine von Mabel Clarence und frühere Eigentümerin des Landsitzes Higher Barton. Ist stets auf ihren guten Ruf bedacht.

Emma Penrose: Geboren 1963. Arbeitet seit 1984 auf Higher Barton – zuerst als Hausmädchen, ab Mitte der Neunzigerjahre als Haushälterin, seit Mabel Clarence Eigentümerin von Higher Barton ist, als Verwalterin.

George Penrose: Geboren 1961. Kam 1980 als Stallbursche nach Higher Barton, übernahm schließlich gemeinsam mit seiner Ehefrau die Verwaltung des Hauses und ist für alle Reparaturen zuständig.

Randolph Warden: Geboren 1968. Chefinspektor in Lower Barton seit 2004, war vorher in Manchester tätig. Ist von Mabel Clarence und ihren Ermittlungen genervt.

Christopher Bourke: Geboren 1986. Sergeant und Mitarbeiter von Chefinspektor Warden. Hat eine Schwäche für Mabel Clarence, die ihn an seine früh verstorbene Großmutter erinnert.

Eric Cardell: Geboren 1974. Historiker und Vorsitzender des historischen Vereins Lower Bartons. Regisseur des jährlichen Theaterstückes „Verrat in Lower Barton“.

Diana Scott: Geboren 1980. Arzthelferin in Teilzeit beim Tierarzt Victor Daniels.

Fans von Mabel oder Cornwall (oder auch beidem) können auf den Spuren der Heldin reisen. Der Reiseführer mit den wichtigsten Orten zum Roman kann kostenlos unter www.guidewriters.de heruntergeladen werden. Entweder als App für das Smartphone (Apple und Android) oder für den PC, einfach kostenlos einloggen, nach „Cornwall“ suchen und herunterladen.(http://bit.ly/cornwall-mabel).

Impressum

1. Auflage 2014

© Goldfinch Verlag

Herausgeber: Goldfinch Verlag, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herstellung: Goldfinch Verlag, Frankfurt am Main

Lektorat: Ilse Wagner, München

Korrektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de), Kim Hoang, unter Verwendung von Motiven von Thinkstock

Satz: Goldfinch Verlag, Frankfurt am Main

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN Taschenbuch 978-3-940258-38-0

ISBN E-Book 978-3-940258-41-0

www.goldfinchverlag.de

 

Ein tödlicher Schatz

 

Ein Cornwall-Krimi von


Rebecca Michéle

 

 

Miss Mabels erster Fall: „Die Tote von Higher Barton“


Goldfinch Verlag, E-Book, ISBN 978-3-940258-12-0

Mabel Clarence ist sich sicher: Noch vor ein paar Minuten lag in der Bibliothek des Herrenhauses eine kostümierte tote Frau – erdrosselt mit einem Strick. Doch nun ist sie verschwunden, ohne jede Spur. Und wo keine Leiche, da keine Ermittlungen. Glauben schenkt der älteren Besucherin aus London nur ein kauziger Tierarzt. Also stellt Mabel in bester Miss-Marple-Manier eigene Nachforschungen an und versinkt immer tiefer im undurchsichtigen Sumpf der Vergangenheit – bis sie selbst in die Schusslinie des Mörders gerät.










Miss Mabels zweiter Fall: „Der Tod schreibt mit“


Goldfinch Verlag, E-Book, ISBN 978-3-940258-20-5

Der Schriftsteller Clark Kernick wird brutal erschlagen in seinem Cottage aufgefunden. Für die Polizei ist der Täter schnell gefunden – Harrison Hickery. Dessen Ehefrau hatte eine Affäre mit dem Autor und deswegen ihren Mann verlassen.
Als sich Harrison in der Untersuchungshaft das Leben nimmt, scheint der Fall gelöst. Doch dann entdeckt Mabel Clarence ein Geheimnis – und begibt sich dabei selbst in tödliche Gefahr.










Miss Mabels dritter Fall: „Schatten über Allerby


Goldfinch Verlag, E-Book, ISBN 978-3-940258-24-3

Die junge und attraktive Lady Michelle Carter-Jones ist tot, angeblich ist es Selbstmord - und das, obwohl sie wenige Tage zuvor zusammen mit Mabel Clarence eine große Geburtstagsparty für ihren älteren, an den Rollstuhl gefesselten Ehemann geplant hat. Für Mabel steht fest: Allen scheinbaren Beweisen zum Trotz - da kann etwas nicht stimmen!Als Pflegerin für Lord Carter-Jones getarnt, schleicht sie sich auf dem Herrensitz Allerby House ein und kommt einem schrecklichen Familiengeheimnis auf die Spur, das sie selbst in größte Gefahr bringt.










Zum Weiterlesen: "Mord am Lord – ein Krimi der feinen englischen Art"


Goldfinch Verlag, E-Book, ISBN 978-3-940258-30-4

„Der Tote in der Bibliothek“. Theo starrte auf den Schriftzug, der in großen Buchstaben über dem Eingang stand.

Dann endlich öffneten sich die Flügeltüren. Drei Dutzend Journalisten drängten hindurch, so weit nach vorn, wie es das Absperrseil erlaubte. Josefine hüpfte hoch, um einen Blick zu erhaschen, doch ein Kameramann der BBC versperrte ihr die Sicht.

„Josie, das Podium ist leer“, flüsterte Theo ihr auf Deutsch ins Ohr. Mit seinen fast zwei Metern Größe ­verfügte er über einen guten Überblick. „Wenn was ­passiert, sag ich Bescheid.“

Die Reporter reckten die Hälse, traten sich auf die Füße, entschuldigten sich halbherzig und tauschten dürftige Informationen aus.

Ein nachtblaues Tuch fiel und enthüllte ein weiteres ­Banner. „Agatha-Christina Sotheby – Queen of Crime“. Wieder sprang Josie hoch, um über die Schulter des ­Vordermannes zu blicken, aber vergeblich.

Theo seufzte. Josie würde nicht auf ihn hören. Das hatte sie noch nie getan. Nicht an ihrem allerersten gemein­samen Schultag, als er ihr versichert hatte, die farbige Kreide gehöre der Lehrerin und sei nicht zum Bemalen der Josies Meinung nach langweiligen weißen Wände gedacht. Und auch nicht heute, fünfundzwanzig Jahre später. Wie hatte er sie angefleht, sie möge ihm ihre Absicht ­hinter ­dieser Englandreise verraten. Aber sie war stur und stumm geblieben!

Regen prasselte laut gegen die Fenster. Eine Frau Mitte vierzig in Pumps und Tweedkostüm betrat den Raum durch eine Seitentür. Sie ignorierte die Blitzlichter und Zurufe der Reporter und stieg auf das Podium.

„Jetzt geht’s los.“ Josie zwirbelte eine Strähne ihrer ­braunen Locken zwischen ihren Fingern. „Ich kann einfach nicht glauben, dass wir wirklich hier sind. Unfassbar!“

„Ich fass es auch nicht.“ Theo hasste Urlaube. Dazu noch der Regen. Seit ihrer Landung nicht eine trockene Minute. Und dann noch der englische Kaffee!

Die Frau auf dem Podium räusperte sich. Dann bat sie in nasalem Englisch die Anwesenden Platz zu nehmen. ­Später bestehe noch ausreichend Zeit für Fotos.

Beeindruckt beobachtete Theo, wie die kleine, ­zierliche Josie sich durch den Einsatz ihrer Ellenbogen vor­drängelte und für sie zwei Klappstühle in der ersten Reihe ­ergatterte. Sie rückte ihr Namensschild zurecht, das sie als ­Journalistin von Wohn & Stil auswies, und schlug ihr knallbuntes Notizbuch von Pip Studio auf. In der Hand hielt sie einen Kuli, der wie eine Margerite geformt und lackiert war.

Bei diesem Anblick ballte Theo die Faust in der Einschubtasche seines Armee-Parkas. Wie hatte er gestern auf sie eingeredet, ihr Geld nicht für einen derart ­miserabel entwickelten Unsinn auszugeben. Selbst ein blinder Nicht-Fachmann musste doch die Fehlkonstruktion erkennen.

Der BBC-Kameramann postierte sich links vom Podium, während sein Kollege von ITV-News zur rechten Seite ging. Die Vertreter der Printmedien besetzten die Stuhl­reihen in der Mitte.

Die Frau begrüßte die Anwesenden herzlich zur Eröffnung des Sotheby-Museums. Josie setzte sich so gerade auf, als sei sie ganz persönlich angesprochen worden. Sie wollte den Namen der Kuratorin notieren, doch ihr Kuli streikte. Süffisant zog Theo eine Braue hoch. „Was kann man auch erwarten von einer Firma, die sich ‚Desaster Design‘ nennt“, flüsterte er ihr zu.

„Das waren die anderen. Die mit den Lederwaren“, sagte Josie.

Seufzend kramte er in der linken unteren Innentasche seines Parkas und fischte ein Schraubenzieher-Set, eine Rolle Kupferdraht, eine Minitube Silikon, ein Päckchen Kabelbinder und schließlich auch einen Bleistift hervor.

Die Kuratorin dankte all den Unterstützern und Sponsoren, die geholfen hatten, das Museum ins Leben zu rufen. Besonders glücklich sei man, dass Sothebys letzte Wohn- und Arbeitsstätte als Heimat für das Museum gestiftet worden sei. Das Projekt habe begonnen, als in Sothebys Nachlass fast zweihundert Notizbücher gefunden worden seien, in denen sie die Ideen für ihre ausgefeilten Krimi­plots entwickelt habe.

Einer der Journalisten hob die Hand, doch die Frau ignorierte ihn.

Die Auswertung und Katalogisierung der Notizbücher habe mehrere Jahre in Anspruch genommen und man sei stolz, ihnen zwei Exponate hier direkt vorstellen zu können. Die Kuratorin wies auf die Schaukästen mit den Unterlagen zu „Tod auf dem Amazonas“ und „Zehn kleine Eingeborene“.

„Der letztgenannte Roman ist aus Rücksichtnahme auf moderne politische Sensibilitäten unter diesem Titel natürlich nicht mehr im Buchhandel erhältlich.“ Sie lächelte dünnlippig.

Richtig. Theo hatte fast vergessen, was für eine reaktionäre Kuh Josies Krimiidol gewesen war. Und dafür schleifte sie ihn nach England. Wieso hatte sie nicht ihren Freund mitgenommen? Sollte der sich doch hier ein­regnen lassen! Josie führte definitiv etwas im Schilde. Warum hatte er auch nur mit ihr gewettet?

Eine zweite Hand in der Zuhörermenge hob sich, doch die Kuratorin sprach unbeirrt weiter. Sie erzählte von den Millionen Fans, die „unsere Agatha-Christina“ auf der ganzen Welt habe und die sehnsüchtig auf den heutigen Tag gewartet hätten.

Josies schokoladenbraune Augen leuchteten. Sie hing an den Lippen der Sprecherin und Theos Stift war ihr ­entglitten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Er fragte sich, wie sie ohne Notizen den Artikel für Wohn & Stil ­schreiben wollte. Und das nach all der Mühe, mit der sie ihre ­Chefin bearbeitet hatte, um eine Akkreditierung für diese ­Veranstaltung zu bekommen. Irgendetwas war hier faul.

Wie immer, wenn er nervös war, rezitierte Theo Quadratzahlen still vor sich hin. 1, 4, 9, 16, 25, 36 ... Wenigstens ein paar Dinge blieben beständig und zuverlässig im Chaos des menschlichen Daseins.

Inzwischen hob sich bereits eine dritte Hand, doch die Kuratorin sprach unbeeindruckt weiter. Sie berichtete von einem schweren Autounfall, den Sotheby 1926 erlitten habe. Dadurch sei eine Amnesie ausgelöst worden und die Autorin, die sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnert habe, sei für elf lange Tage verschwunden geblieben.

„Böse Zungen behaupteten damals, sie hätte das alles nur fingiert, um ihren untreuen Ehemann zu bestrafen, der tatsächlich für eine Weile unter Mordverdacht geriet. Manche Zeitungen unterstellten ihr sogar, sie habe mit dieser Aktion nur Publicity gesucht.“

Die Kuratorin blickte die Journalisten an, als mache sie sie persönlich verantwortlich für das Verhalten ihrer ­Kollegen vor über achtzig Jahren.

„Sagen Sie uns doch, ob die Gerüchte stimmen“, verlangte eine ungeduldige Männerstimme.

Theo runzelte die Stirn. Welche Gerüchte? Er stieß Josie an, aber sie wich seinem Blick aus.

Unbeirrt von der Unterbrechung sprach die Frau davon, wie „unsere Agatha-Christina“ ihr restliches Leben unter diesen ungerechtfertigten Anschuldigungen gelitten habe. Darum freue man sich im Museum besonders, dass es nun gelungen sei, den eindeutigen Beweis für ihre Unschuld zu erbringen.

Theo grübelte. Josie hatte ihn reingelegt. Wie hatte er nur so dumm sein und wetten können, dass er ihr Türschloss in weniger als fünf Minuten knacken würde? Er baute ­Tresore, sammelte alte Schlösser, aber er war schließlich kein Einbrecher. Zumal sechs Minuten, dreißig ­Sekunden auch keine schlechte Zeit war. Aber statt dass sie sich nun von ihm ein Sicherheitsschloss einbauen ließ, hatte er ­seinen Wetteinsatz einlösen und mit ihr ins Geburtsland des Regenschirms fahren müssen.

Dabei wusste Josie, wie er es verabscheute, nicht in ­seinem eigenen Bett zu schlafen. Er brauchte kein Ausland, ein Sonntagsausflug in den Bayerischen Wald war ihm Exotik genug.

„Theo, wir fahren nach London!“, hatte sie grinsend gejohlt. Und seit ihrer Ankunft wartete er nun sorgenvoll, dass sie ihm den Rest ihres Planes enthüllte. 49, 64, 81, 100, 121 ...

„Sind die Gerüchte, die man sich über den Fund des Manuskripts erzählt, wahr?“, rief ein Mann mit schottischem Akzent.

Diesmal errötete die Kuratorin, fing sich aber gleich wieder. „Der Tote in der Bibliothek“ sei der Forschung nur von einigen vagen Hinweisen aus den Notizbüchern der frühen zwanziger Jahre bekannt. „Wir wissen, dass ­Agatha-Christina in den Wochen vor ihrem Unfall an ­diesem Projekt arbeitete. Das Manuskript selbst galt bisher als verschollen.“

Fünf Hände schossen gleichzeitig in die Luft. Besorgt beobachte Theo die Reporter. Offenbar ahnten die etwas, das ihm bisher entgangen war.

Die Frau trat einen Schritt vom Pult zurück. Besänftigend hob sie die Hand.

„Bitte. Gleich ist noch ausreichend Zeit für Ihre Fragen.“

Sie räusperte sich. Die Forschung habe zwei ­Theorien entwickelt. Entweder sei Sotheby durch die ganze ­Publi­city, die ihr Unfall nach sich gezogen hatte, so ­traumatisiert gewesen, dass sie das Projekt fallen ließ, weil die Erinnerungen zu schmerzhaft waren. Die ­Kuratorin warf den Journalisten als Stellvertreter ihrer Zunft einen vorwurfsvollen Blick zu. Oder die zeitweise Amnesie habe dazu geführt, dass Sotheby die Lösung ihres eigenen Romans vergaß.

Josie krallte ihre Finger in Theos Oberarm. „Ein Rätsel, so kompliziert, dass sie selbst es nicht mehr lösen konnte.“

„Was für die Forschung ein großes Problem darstellt, ist zugleich für uns eine große Freude ...“ Auch ohne ­Mikrofon hätte man die Stimme der Frau bis in die ­hinterste Ecke des Raumes gehört. „Wir haben tatsächlich das letzte ­bisher unbekannte Werk von Agatha-Christina Sotheby entdeckt.“

Ein Dutzend Hände wurden in die in die Luft gerissen.

„Was ist mit Miss Rutherford? Ist sie Teil der Handlung?“, rief jemand aus der zweiten Reihe.

Die Kuratorin lächelte. „Ja, es ist in der Tat ein Miss-Rutherford-Krimi.“ Stolz strich sie über ihre Tweedjacke. „Und um Ihre nächste Frage vorwegzunehmen: Auch Mr Stringer steht ihr bei dem Fall zur Seite.“

Josie war aufgesprungen und presste vor Aufregung ihre Hände gegen die Brust. Peinlich berührt zog Theo sie zurück auf ihren Sitz.

Die Kuratorin wartete, bis der Lärm abebbte.

„Der Krimi ist vollständig erhalten – jedoch das Ende fehlt.“

Mehr in B.a. Robins „Mord am Lord“

http://www.goldfinchverlag.de/mord-am-lord/

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Weiterlesen

Personen- und Ortsverzeichnis

Impressum

Leseprobe

1. Kapitel

Dunkle Wolken ballten sich bedrohlich am Himmel und ließen den Tag zur Nacht werden. Der Wind verstärkte sich zum Sturm und wirbelte Laub und Zweige über die Straße. Die Rosenbüsche bogen sich bedenklich, Blütenblätter wirbelten umher. Mit angespannt gerunzelter Stirn stand Mabel Clarence am Fenster und beobachtete das Schauspiel.

„Da zieht ein heftiges Unwetter auf“, sagte sie.

Victor Daniels, ihr Arbeitgeber und zugleich guter Freund, trat neben sie und erwiderte: „Kein Wunder nach den letzten heißen Tagen. Das wird heute noch gewaltig krachen.“

„Eine Abkühlung können wir und die Natur gut gebrauchen“, antwortete Mabel und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. „Eine solche Hitze habe ich in Cornwall noch nie erlebt. Seit Tagen wässere ich täglich den Garten, trotzdem hat der Rasen braune Stellen. Wir brauchen dringend Regen!“

In Cornwall gab es oft schöne und auch warme Sommertage. In der letzten Augustwoche allerdings hatte das Thermometer die Neunzig-Grad-Fahrenheit-Marke deutlich überschritten. Wie die meisten älteren Leute rechnete Mabel immer noch in den alten Maßeinheiten, wusste aber, dass dies einer Temperatur von gut zweiunddreißig Grad Celsius entsprach. Noch am Vormittag hatte die Sonne erbarmungslos von einem wolkenlosen Himmel herabgebrannt, und durch die Medien wurden die Menschen ständig aufgefordert, die Mittagshitze zu meiden und ausreichend zu trinken. Der Wind, der vom Meer eine frische Brise brachte, war in den vergangenen zwei Tagen vollständig zum Erliegen gekommen, und es war so drückend schwül, dass jede Bewegung zur Qual wurde.

Victor beugte sich aus dem geöffneten Fenster, lauschte, dann sagte er: „Hören Sie das, Mabel?“

„Was sollte ich hören?“ Sie beugte sich ebenfalls hinaus und spitzte die Ohren.

„Na ja, man hört nichts“, antwortete Victor. „Die Vögel haben aufgehört zu singen. Das ist kein gutes Zeichen.“

Nun fiel es auch Mabel auf. Über ganz Lower Barton lag eine Ruhe, die nicht beschaulich, sondern ungewöhnlich, ja, beinahe bedrohlich war. Am Horizont bildete sich am Rand der schwarzen Wolken ein gelblicher Schimmer – ein eindeutiges Zeichen für Hagel. Mabel, die bis vor wenigen Jahren in London gelebt hatte, hatte inzwischen gelernt, die Zeichen der Natur zu deuten.

„Hoffentlich halten meine Rosensträucher dem Unwetter stand. Sir Lancelot hat in diesem Jahr zum ersten Mal geblüht, und Benjamin Britten trägt viele Knospen, die in den nächsten Tagen eigentlich aufgehen sollten.“

Mabel Clarence war auf ihren kleinen, aber feinen Rosengarten, den sie in den letzten Jahren geschaffen hatte, sehr stolz. Als sie das reetgedeckte Cottage in Lower Barton gekauft hatte, war der Garten eine Wildnis voller Dornengestrüpp und Brennnesseln gewesen. Mit viel Arbeit und Liebe zu den Pflanzen war es Mabel gelungen, ein Kleinod zu schaffen, in dem neben Rosen, Hortensien und Rhododendren auch Gemüse- und Kräuterbeete zu finden waren. Im Frühjahr hatte sie bei dem jährlich stattfindenden Wettbewerb Offener Garten sogar den dritten Platz belegt.

„Es wird schon nicht so schlimm werden“, versuchte Victor seine Haushälterin zu beruhigen. „Wenn Sie aber lieber nach Hause fahren möchten …“

Mabel wehrte ab. „Wenn das Unwetter losbricht, kann ich ohnehin nichts ausrichten, außerdem ist es Zeit für den Tee.“ Sie lächelte nun wieder. „Die Scones werden sonst kalt.“

Wie jeden Nachmittag hatte Mabel Scones gebacken, die Victor am liebsten noch lauwarm mit viel Erdbeermarmelade und einer ordentlichen Portion Clotted Cream aß. Dazu tranken sie Darjeeling, den Mabel nicht im Supermarkt kaufte, sondern von einem indischen Teehändler in Plymouth bezog. Es war Freitagnachmittag, und Victor hatte die Tierarztpraxis geschlossen, da keine Patienten mehr angemeldet waren. Bei dieser Hitze blieb jeder lieber zu Hause, außerdem hatte der Wetterdienst vor dem Unwetter gewarnt. Als sie wenig später in der Wohnküche zusammensaßen und sich den kräftigen Tee schmecken ließen, erzählte Victor von dem Orkan, der 1990 in Südwestengland schwere Schäden angerichtet hatte.

„Zwischen Polperro, Looe, Lostwithiel und Bodmin wurden rund siebzig Prozent aller Bäume entwurzelt. Sie kennen ja das Herrenhaus Lanhydrock. Wenn Sie heute über das Gelände gehen, ist es kaum zu glauben, dass damals so gut wie alle Bäume an der langen Einfahrt zerstört worden waren, auch der Park wurde völlig verwüstet. Der National Trust hat mit der Aufforstung gute Arbeit geleistet, an manchen Stellen ist die damalige Verwüstung aber noch zu erkennen.“

Mabel nickte zustimmend. Stürme, die durchaus Orkanstärke erreichen konnten, und leider auch Überschwemmungen waren in der westlichsten Grafschaft Englands keine Seltenheit. Meistens brachen sie im Frühjahr oder Herbst über das Land herein, Hagel war jedoch eher eine Ausnahme. Durch die ungewohnt hohen Temperaturen der letzten zwei Wochen hatte sich die Atmosphäre derart aufgeladen, dass Mabel das Schlimmste befürchtete, denn in der drückenden Luft lag eine Spannung, die schon fast greifbar war.

„Ihr Wagen steht im Carport?“, fragte Victor. „Nicht, dass er beschädigt wird, wenn es wirklich hageln sollte.“

Mabel nickte. „Und Ihr Jeep ist in der Garage.“

Inzwischen war es so dunkel geworden, dass Mabel das Licht einschalten musste. Plötzlich zuckten die ersten Blitze über den Himmel, und binnen weniger Minuten entlud sich das Unwetter mit all seiner Kraft. Blitz und Donner folgten im selben Moment, die Luft flimmerte orangefarben, der Sturm zerrte an den Fensterläden, und die Schieferplatten auf dem Dach klapperten bedrohlich.

„Keine Sorge, Mabel, mein Haus hat schon so manchen Sturm unbeschadet überstanden.“ Beruhigend nickte Victor ihr zu und griff nach einem weiteren Scone. So leicht ließ er sich nicht den Appetit verderben.

Das Dach von Mabels Cottage war reetgedeckt, und auch um ihre Katze machte sie sich keine Sorgen. Durch die Katzenklappe hatte sich Lucky, die Regen mehr als alles andere verabscheute, sicher längst in die Sicherheit des Hauses geflüchtet.

„Jetzt wird es aber richtig heftig“, sagte Victor und deutete nach draußen. Seine Stimme klang nun doch beunruhigt. „Du meine Güte! Das habe ich ja noch nie erlebt!“

Hagelkörner, so groß wie Golfbälle, einige sogar wie Tennisbälle, verwandelten die Straße in eine Eiswüste. Mabel beobachtete, wie der Hagel an einem schutzlos geparkten Auto nicht nur die Karosserie eindellte, sondern auch die Windschutzscheibe zertrümmerte. Auf das Dach des Hauses trommelte es so laut, dass Mabel dachte, jemand würde mit Hämmern darauf einschlagen. Der Orkan tobte mit einer Heftigkeit, als wären sämtliche Naturgewalten entfesselt worden. Bei jedem Blitz und Donner zuckte Mabel zusammen, doch Angst hatte sie keine. In den letzten Jahren hatte sie Situationen erleben müssen, in denen sie wirklich Todesangst gehabt hatte, ein Unwetter brachte sie daher nicht so leicht aus der Fassung.

Nach einer knappen halben Stunde ließ der Hagel nach, der Sturm tobte jedoch unvermindert weiter, und es regnete, als wären alle Himmelsschleusen gleichzeitig geöffnet worden. Plötzlich ging das Licht aus. Mabel betätigte den Schalter, es blieb dunkel. Die Digitalanzeige der Mikrowelle war – ebenso wie alle Straßenlaternen, die bei der Dunkelheit automatisch angegangen waren – erloschen.

„Stromausfall“, stellte Victor nüchtern fest. „Wahrscheinlich sind Strommasten umgeknickt.“ Er nahm das Telefon, drückte auf eine Taste und lauschte. „Die Leitung ist ebenfalls tot.“

Für die Einwohner Cornwalls waren Stromausfälle nichts Außergewöhnliches, bei starken Stürmen kam das regelmäßig vor. Mabel nahm ihr Mobiltelefon aus der Handtasche.

„Ich rufe mal auf Higher Barton an, ob dort alles in Ordnung ist.“

Sie hatte zwar Empfang, erhielt aber keine Verbindung.

„Das Netz ist wahrscheinlich überlastet“, sagte Victor. „Wenn das Festnetz ausfällt, versuchen natürlich alle, mit dem Handy zu telefonieren.“

Mabel sah auf das Display. „Mein Akku ist auch so gut wie leer“, stellte sie fest. „Ich habe vergessen, das Gerät rechtzeitig aufzuladen.“

„Sie sollten heute Nacht besser hierbleiben“, sagte Victor plötzlich zusammenhangslos.

„Wie bitte?“ Mabel glaubte, sich verhört zu haben.

„Tja, ich meine ja nur …“ Verlegen strich sich Victor über sein gelichtetes Haupthaar. „Es ist mir nicht geheuer, wenn Sie bei dem Sturm nach Hause fahren. Sehen Sie nur, wie das Wasser die Straße hinunterschießt.“

Die schmale, abschüssige Straße, in der Victor wohnte, führte zur Ortsmitte und hatte sich in einen reißenden Bach verwandelt. Mabel sah ein, dass sie nicht würde fahren können, solange der Regen anhielt. Aus den Gullideckeln sprudelte das Wasser, und Schlamm und Dreck drangen bis in Victors Vorgarten. In diesem Moment klirrte Glas. Mabel und Victor sprangen erschrocken auf und liefen ins Wohnzimmer. Ein vom Wind herumwirbelnder Ast hatte die Fensterscheibe eingeschlagen. Verstreute Glassplitter bedeckten den Teppich, und der Regen drang ungehindert herein.

„Ich hole Planen zum Abdecken“, rief Victor und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, zum Dachboden, während Mabel versuchte, die Kommode, die unmittelbar unter dem Fenster stand, zur Seite zu schieben. Es handelte sich um ein Möbel aus dem späten 18. Jahrhundert, ein Erbstück, das sich schon immer im Besitz von Victors Familie befunden hatte. Sie wollte verhindern, dass diese Kostbarkeit durch das eindringende Wasser beschädigt würde.

Binnen weniger Minuten war Mabel durchnässt. Der Wind zerrte an ihren kurzen Haaren, aber sie und Victor arbeiteten Hand in Hand und versuchten, um Schlimmeres zu verhindern, die Plane am Fenster zu befestigen. Worte waren dabei nicht nötig.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden, den einzigen Lichtschimmer erzeugten die Blitze, auch wenn die Stärke des Gewitters nachgelassen hatte. Nachdem es ihnen gelungen war, die Fensteröffnung, so gut es ging, abzudichten, holte Victor einen Leuchter und Kerzen aus dem Schrank. Im flackernden Lichtschein bereitete Mabel frischen Tee zu. Glücklicherweise verfügte Victors Haus über einen Gasanschluss, denn einen starken Tee konnten sie jetzt beide gebrauchen. Victor kramte ein altmodisches Transistorradio hervor, schaltete es ein und suchte nach BBC Radio Cornwall.

„Man sollte nie etwas fortwerfen“, sagte er und grinste. „Das Gerät läuft mit Batterien.“

Gespannt lauschten Mabel und Victor dem Moderator.

„Schwere Unwetter fegen seit dem späten Nachmittag über Cornwall. Besonders betroffen ist der Restormel-Bezirk, die Bereiche zwischen Liskeard, Looe, Polperro und Bodmin. Orkanböen und Hagel rissen zahlreiche Bäume um, viele Straßen sind überflutet und nicht passierbar. Der Wetterdienst meldet, dass sich der Regen in den nächsten Stunden noch verstärken wird. Nach bisherigen Informationen wurden durch herabstürzende Äste und Hagelkörner mehrere Personen leicht verletzt, die Sachschäden werden wohl in die Millionen gehen. Da mit einer Abschwächung des Sturms vor den frühen Morgenstunden nicht zu rechnen ist, wird den Einwohnern dringend geraten, ihre Häuser nicht zu verlassen und auf jeden Fall die Klippen zu meiden. Es besteht eine erhöhte Gefahr von Felsabbrüchen.“

Mabel und Victor tauschten einen vielsagenden Blick, dann schaltete Victor das Radio aus.

„Ihrem Cottage ist bestimmt nichts geschehen.“ Manchmal las er in Mabels Gesicht wie in einem offenen Buch, obwohl Victor Daniels häufig den Eindruck eines wenig sensiblen Mannes machte. „Durch seine Lage in der Lane ist das Haus geschützt, daher lasse ich nicht zu, dass Sie bei dem Wetter nach Hause fahren.“

„Ich fürchte, ich muss Ihnen zustimmen, Victor.“

Mabel gab sich geschlagen. Ihre direkten Nachbarn hatten einen Schlüssel zu ihrem Cottage, und sollte eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen oder sonst ein Schaden entstanden sein, würden Violet und Ben sich bestimmt darum kümmern.

„Sie können natürlich mein Bett haben, Sie müssen es nur frisch beziehen.“

„Wo werden Sie schlafen?“, fragte Mabel und sah sich um. „Das Wohnzimmer scheidet wegen der zerborstenen Fensterscheibe wohl aus.“

Victor zuckte mit den Schultern. „Wenn man wie ich schon viele Nächte in feuchten und zugigen Ställen verbracht hat, ist die Couch bequem genug.“ Er zwinkerte ihr zu. „Irgendwo muss ich auch noch eine neue Zahnbürste für Sie haben.“

Mabel sah ein, dass es vernünftiger war, bei Victor das Ende des Unwetters abzuwarten. Sie war jahrzehntelang Krankenschwester an einer Londoner Klinik gewesen und durch die Nachtdienste daran gewöhnt, auch in einer anderen Umgebung als im eigenen Bett zu schlafen. Wenn sie ehrlich war, war sie sogar froh, bei dem Orkan, der die Wände des Hauses erzittern ließ, nicht allein sein zu müssen.

„Bevor wir zu Bett gehen, trinken wir noch ein Glas Rotwein“, sagte Victor. „Kerzenschein und Rotwein – wenn wir vierzig Jahre jünger wären, könnte das direkt romantisch sein.“

Mabel lachte laut, ihre Anspannung schwand.

„Solche Worte aus Ihrem Mund, Victor? Es gelingt Ihnen immer wieder, mich zu überraschen. Sie haben aber recht, ein Glas Wein wäre jetzt genau das Richtige.“

 

Es war für Mabel dann doch ein ungewohntes Gefühl, mit Victor die Nacht unter einem Dach zu verbringen, was natürlich nichts mit romantischen Gefühlen zu tun hatte. Sie war vierundsechzig Jahre alt, Victor ein Jahr älter. Ihre erste Begegnung war alles andere als harmonisch verlaufen, und es hatte sogar eine Zeit gegeben, in der Mabel den oft mürrischen und wortkargen Tierarzt des Mordes verdächtigt hatte. Victor Daniels machte es anderen Menschen nicht leicht, ihn zu mögen. Als Tierarzt war er jedoch eine Koryphäe. Gleichgültig, ob eine afrikanische Rennmaus, eine ausgewachsene Kuh oder ein Pferd seine Hilfe benötigte – Victor widmete sich allen seinen Patienten mit der gleichen Hingabe. Er konnte es nicht ertragen, ein Tier leiden zu sehen. Wenn er sich um Tiere kümmerte, nahm sein Gesicht mit der vorspringenden Nase und dem kantigen Kinn einen weichen Zug an, und seine grauen Augen blickten so mitfühlend, wie man es bei Victor nur selten sah. In seinem Leben hatte es nie eine ernsthafte Beziehung gegeben. Er war ein Eigenbrötler, der sich nicht auf eine Frau einstellen konnte und auch nicht wollte. Victors Lebensaufgabe war sein Beruf, denn Tiere waren für ihn die besseren Menschen. Da er immer offen seine Meinung äußerte, gleichgültig, ob das seinem Gegenüber gefiel oder nicht, stieß er andere oft vor den Kopf. Mabel wäre nicht so weit gegangen, den Freund als taktlos zu bezeichnen, ein wenig mehr Feingefühl wäre jedoch manchmal nicht schlecht gewesen. Dass Victor dies durchaus besaß, hatte er ihr gegenüber in den letzten Jahren mehrmals bewiesen.

Mabel, die ebenfalls nie verheiratet gewesen war, und Victor waren sich in vielen Dingen ähnlich, denn auch Mabel war offen und ehrlich, und ihr Dickkopf stand dem Victors in mancherlei Hinsicht in nichts nach. Mabel blieb aber stets freundlich. Sie mochte die Menschen und suchte gern deren Gesellschaft. Nachdem sie vor rund vier Jahren in den Ruhestand gegangen war, hatte sie erst nicht gewusst, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Von ein paar Zipperlein abgesehen, war sie gesund und unternehmungslustig und konnte sich nicht damit abfinden, die Hände in den Schoß zu legen. Dank einer Erbschaft war sie finanziell zwar unabhängig, trotzdem führte sie Victor den Haushalt, denn dem Tierarzt war das Wort Ordnung fremd – zumindest, was seine Wohnung betraf –, und vom Kochen oder gar Putzen verstand er rein gar nichts. Bevor sie sich begegnet waren, hatte Victor schon einige Haushälterinnen vergrault. Seine Sprechstundenhilfe, Diana Scott, kümmerte sich nur um die Praxis und würde sich hüten, sich in Victors Haushaltsführung einzumischen. So profitierten sie beide von dem Arrangement: Mabel hatte eine ihr gemäße Aufgabe und Victor eine saubere, aufgeräumte Wohnung und jeden Wochentag ein schmackhaftes Essen auf dem Tisch.

Na ja, dachte Mabel schmunzelnd, als sie im Bett lag und dem mit unverminderter Stärke tobenden Sturm lauschte, sie und Victor verband noch mehr miteinander. Aufgrund diverser Ereignisse hatten sie Gefallen daran gefunden, Verbrechen aufzuklären, denn Mabel besaß das zweifelhafte Talent, immer wieder über Leichen zu stolpern. Allerdings hätte sie darauf gern verzichtet, da sie dadurch schon mehrmals in Lebensgefahr geraten war. Trotzdem waren diese Vorkommnisse wie das Salz in der Suppe gewesen, und Mabel erfüllte es mit Befriedigung, wenn durch ihre Mithilfe der wahre Täter dingfest gemacht und hinter Schloss und Riegel gebracht werden konnte. Nach den dramatischen Geschehnissen im Frühjahr letzten Jahres, bei denen Mabel nur um Haaresbreite dem Tod von der Schippe gesprungen war, hatte sie Victor versprechen müssen, sich niemals wieder bei einem Verbrechen einzumischen. In Lower Barton, dem kleinen Ort ein paar Meilen nordwestlich des Fischerdorfes Polperro, war es seitdem ruhig geblieben, und Mabels Dienste waren nicht mehr vonnöten. Allerdings waren die vergangenen Monate ziemlich langweilig gewesen. Neben ihrer Tätigkeit in Victors Haushalt verwaltete sie das Herrenhaus Higher Barton, engagierte sich als Schneiderin bei der örtlichen Theatergruppe und half bei den Kirchenbasaren. Außerdem las sie gern und viel, und ihr Cottagegarten benötigte regelmäßige Pflege. Mabels Tage waren also mehr als ausgefüllt, dennoch verliefen sie ihr zu eintönig. So ab und zu ein wenig Nervenkitzel wünschte Mabel sich schon, das hielt sie geistig fit, und sie fühlte sich dann gleich ein paar Jahre jünger.

„Nein, einen weiteren Mord brauche ich trotzdem nicht!“, sagte sie laut zu sich selbst, drehte sich auf die Seite und war bald darauf eingeschlafen.

 

In der Morgendämmerung erwachte Mabel frisch und ausgeruht. Sie war eine Frühaufsteherin und mochte es, das Erwachen des Tages mitzuerleben. Die Natur präsentierte sich an diesem Morgen, als wäre nie ein Unwetter über das Land hinweggefegt. Der Himmel war wolkenlos, ein leichter Wind wehte, und die Luft war rein und klar. Mabel öffnete das Fenster und atmete tief durch. Die Schäden, die der Sturm hinterlassen hatte, waren jedoch unübersehbar. In Victors kleinem Garten hinter dem Haus waren viele Büsche und Sträucher zu Boden gedrückt worden, der Rasen war mit Laub und Zweigen übersät, und im Nachbarhaus erkannte sie zwei zerborstene Fensterscheiben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein gläserner Wintergarten nahezu vollständig zerstört worden. Offenbar hatte Victor mit der einen kaputten Scheibe im Wohnzimmer noch großes Glück gehabt.

Leise, um Victor nicht zu wecken, ging Mabel ins Bad, machte sich frisch und putzte sich mit der von Victor bereitgelegten Zahnbürste die Zähne. Ihr kurzes, graues Haar war zerzaust, sie glättete es aber nur mit kaltem Wasser. Eitelkeit war Mabel fremd, sie dachte und handelte eher praktisch. Das rote Licht am Boiler war erloschen, und als Mabel den Schalter betätigte, flammte kein Licht auf.

„Immer noch kein Strom“, murmelte sie und ging in die Küche.

Als sie das Wohnzimmer passierte, warf sie einen Blick durch die geöffnete Tür und lächelte. Victor lag bäuchlings auf der Couch und schlief tief und fest. Obwohl auch der Kühlschrank ohne Strom war, konnte man die Eier und den Speck noch verwenden, und kurze Zeit später brutzelte alles in der Pfanne. Mabel hörte Victor im Nebenzimmer rumoren, dann klappte die Badezimmertür. Sie goss gerade den Tee auf, als es energisch an die Haustür klopfte.

„Hallo!“, hörte Mabel einen Mann rufen. „Doc, sind Sie da? Ist Miss Mabel bei Ihnen?“

Mabel ging die steile Treppe hinunter und öffnete.

„George Penrose!“, rief sie überrascht und mit einem unangenehmen Gefühl im Magen. „Ist etwas geschehen?“

Der Gesichtsausdruck des Verwalters von Higher Barton verhieß nichts Gutes.

„Wir konnten Sie telefonisch nicht erreichen, Miss Mabel, alle Leitungen sind tot. Da bin ich, sobald es möglich war, nach Lower Barton gefahren und hoffte, nachdem Sie nicht in Ihrem Cottage waren, Sie hier zu finden.“

„Ist dort alles in Ordnung?“

„Scheint so, aber …“ George kratzte sich am Kopf und seufzte. „Higher Barton hat es stark getroffen. Es wäre gut, wenn Sie gleich mitkommen würden.“

Mabel nickte. „Natürlich, ich hole nur meine Tasche.“

Victor, der das Gespräch vom Treppenabsatz aus verfolgt hatte, fragte sofort: „Brauchen Sie mich?“

„Nein danke, Victor“, antwortete Mabel. „Das Frühstück ist fertig, stärken Sie sich erst mal, dann sollten Sie sich um die kaputte Fensterscheibe kümmern, falls es wieder regnet.“

Während Mabel George zu seinem Wagen folgte, sagte der Verwalter: „Wir müssen die Straße über Pelynt und die Monrose Farm nehmen. Die Hauptzufahrt nach Higher Barton ist durch entwurzelte Bäume blockiert. Die Feuerwehr habe ich bereits informiert, bei den vielen Schäden wird es aber eine Weile dauern, bis die Straße geräumt werden kann.“

Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Herrenhaus Higher Barton lag drei Meilen westlich von Lower Barton. Als Mabel jetzt an Georges Seite durch die Landschaft fuhr, waren die Ausmaße des Unwetters in erschreckender Deutlichkeit zu erkennen. George lenkte seinen Jeep durch ein Gewirr von schmalen, an beiden Seiten von meterhohen, bewachsenen Trockenmauern gesäumten Wegen, die kaum die Bezeichnung Straße verdienten. Auch nach all den Jahren, die sie in Cornwall lebte, kannte Mabel längst nicht alle Straßen und Pfade, und nur selten fand sich ein Wegweiser. Erst, als die südliche Mauer des Parks von Higher Barton in Sicht kam, kannte sie sich wieder aus. Sie erreichten das Cottage am Rande des Parks, in dem das Verwalterehepaar lebte.

„Ab hier müssen wir laufen“, sagte George.

„Ist es sehr schlimm?“, fragte Mabel beunruhigt.

George runzelte die Stirn und wirkte sehr besorgt.

„Noch schlimmer, Miss Mabel.“

Auf dem Weg durch den weitläufigen Landschaftspark von Higher Barton wurden Mabels Befürchtungen bestätigt. Ähnlich wie damals auf Lanhydrock House waren Dutzende von Bäumen umgeknickt oder entwurzelt, Äste lagen auf den Wegen, die hohen und meterlangen Rhododendren- und Hortensienhecken wiesen große Löcher auf, und gut und gern neunzig Prozent der Rosensträucher hatten ihre Blüten verloren. Angesichts dieser Verwüstungen schluckte Mabel. Sie liebte die Natur, und es tat ihr weh, zu sehen, wie alles binnen weniger Stunden zerstört worden war. Als das Herrenhaus in Sicht kam, blieb Mabel stehen und zog scharf die Luft ein.

„O Gott!“

George nickte und nahm ihren Arm.

„Wir konnten nichts machen, alles ging so schnell. Sobald der Hagel nachgelassen hatte, eilten Emma und ich zum Haus, aber da war das Schlimmste schon geschehen. Der Orkan und der heftige Regen in der Nacht haben dann den Rest erledigt.“

In Mabels Augen traten Tränen, als sie die Zerstörungen sah. Ein Teil des Dachs des Westflügels war abgedeckt, sie zählte neun Fenster, deren Scheiben zerborsten waren, und Teile der Fassade waren abgebrochen, als hätte ein großer Bagger an dem Mauerwerk gewütet.

„Emma hat bereits die Handwerker informiert“, fuhr George Penrose fort. „Die haben jetzt natürlich überall zu tun, versprachen aber trotzdem, so schnell wie möglich jemanden zu schicken, damit wir wenigstens verhindern können, dass bei weiterem Regen noch mehr Wasser ins Haus dringt.“

Mabel nickte geistesabwesend, ihre Beine fühlten sich plötzlich wie Pudding an. Sie liebte Higher Barton, als wäre es ihre Heimat, obwohl sie vierzig Jahre nicht mehr hier gewesen war und ihre Cousine, die inzwischen nicht mehr in Cornwall lebte, ihr das Anwesen erst vor kurzer Zeit übereignet hatte. Für die finanziellen Schäden würde zwar die Versicherung aufgekommen, trotzdem schmerzte es, zu sehen, was das Unwetter hier angerichtet hatte.

Das Kiesrondell vor dem Haupteingang war mit zersprungenen Dachziegeln übersät, und an einer Statue aus Serpentine – einem Stein, der auf der Lizard-Halbinsel abgebaut wurde – fehlte der Kopf. In diesem Moment trat Emma Penrose aus dem Haus. Sie ging gebückt und wirkte vollkommenen erschöpft. Die schlaflose Nacht stand der Mittvierzigerin deutlich ins Gesicht geschrieben.

„Ein paar Leute aus dem Ort helfen, das Wasser aus den Zimmern zu bekommen“, rief Emma anstelle einer Begrüßung. „Zum Glück konnte ich alle über Handy erreichen, denn wir haben keinen Strom, und die Telefonleitung ist tot.“

„In Lower Barton ebenfalls“, antwortete Mabel automatisch. „Welche Räume hat es denn am schlimmsten getroffen?“

Emma Penrose, die mit dieser Frage gerechnet hatte, gab einen kurzen Überblick über die Schäden.

„Im grünen Salon, dem Billardzimmer und dem angrenzenden Raucherzimmer sind alle Fensterscheiben eingeschlagen, das Parkett und die Teppiche sind durchnässt – das bekommen wir aber wieder trocken. Schlimmer hat es Lady Abigails Zimmer“, sie räusperte sich, „ich meine, die ehemaligen Räume von Mylady getroffen. Ein Teil des Daches ist eingestürzt, und die westliche Fassade wurde vom Sturm regelrecht weggerissen. Ich fürchte, die Möbel werden nicht mehr zu retten sein.“

Obwohl Abigail Tremaine die Räume seit drei Jahren nicht mehr bewohnte und diese nun als Gästezimmer dienten, war die Einrichtung unverändert geblieben. Die meisten Möbel stammten noch aus der Tudor-Zeit, als Higher Barton erbaut worden war. Nicht der materielle Schaden stimmte Mabel traurig, sondern vor allem ging es ihr um den ideellen Wert der Möbel, die eine bewegte Geschichte hinter sich hatten. Sie atmete tief ein und straffte die Schultern. Mit Jammern war niemandem geholfen, sie musste jetzt in die Hände spucken und sich an die Arbeit machen.

„Das ist furchtbar. Zuerst müssen wir so schnell wie möglich die Fenster abdichten.“ Besorgt sah sie zum Himmel, an dem erneut graue Wolken aufzogen. „Ich fürchte, es wird bald wieder regnen.“

In diesem Moment bog ein untersetzter, kräftiger Mann in Begleitung eines jüngeren Mannes, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war, um die Ecke. Sie trugen eine Leiter und zwei Handwerkskoffer.

„William!“ Emma eilte den Männern entgegen. „Wie schön, dass du so schnell gekommen bist.“

„Wir haben alle Hände voll zu tun, das Telefon steht nicht mehr still“, sagte William Brown. „Aber schauen wir mal, was wir fürs Erste machen können. Das ist übrigens mein Sohn Frank.“

Mabel Clarence stellte sich ebenfalls vor. Die Browns führten ein Dachdecker- und Maurergeschäft in Lower Barton, und Mabel erfuhr, dass Emma und William Brown zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Sie folgte den Handwerkern ins Haus. Im ersten Stock wies William Brown Mabel jedoch an, Abigails ehemaliges Zimmer nicht zu betreten.

„Frank und ich müssen erst prüfen, ob Einsturzgefahr besteht“, sagte er bestimmt, sah dann zu Emma und zwinkerte ihr zu. „Eine Tasse Tee oder ein starker Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.“

„Ich helfe Ihnen“, bot Mabel an. „Tee und vielleicht auch eine warme Suppe für die Helfer wären wirklich angebracht.“

Der Herd in der großen Küche von Higher Barton wurde mit Gas betrieben, auch sonst war der Raum mit modernen technischen Geräten ausgestattet. Seit das Herrenhaus nicht mehr dauerhaft bewohnt wurde, wurden die Räumlichkeiten für Feste, Tagungen und Veranstaltungen vermietet, wobei einige Räume als Gästezimmer zur Verfügung standen. Besonders bei Brautpaaren war Abigails Zimmer im Westflügel äußerst beliebt und wurde gern gebucht.

Während Emma mit dem Wasserkessel hantierte und Mabel in der angrenzenden Speisekammer nachsah, aus welchen Zutaten sie auf die Schnelle ein Suppe zubereiten konnten, schien Emma ihre Gedanken zu erraten, denn sie sagte: „Die Hochzeit am übernächsten Wochenende werden wir wohl absagen müssen.“

„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben“, stimmte Mabel zu. „Das erste Stockwerk ist nicht nutzbar, und solange die Handwerker hier ein- und ausgehen, machen Veranstaltungen keinen Sinn.“

„Ich kümmere mich darum“, versprach Emma.

Sie richtete gerade das Tablett mit dem Kaffee für die Handwerker her, als Frank Brown in die Küche trat. Sein Gesicht war wachsbleich, und er klammerte sich Halt suchend an den Türrahmen.

„Miss Clarence … Mrs Penrose …“ Sein Blick irrte flackernd zwischen den beiden Frauen hin und her. „Mein Vater meint, Sie sollten mal kommen.“

„Was gibt es denn?“, fragte Mabel erstaunt. Der junge Mann sah aus, als wäre er einem Geist begegnet. Frank gab keine Erklärung, also folgte Mabel ihm in den ersten Stock hinauf, wo sie von William Brown an der Tür erwartet wurde. Auch er war blass, und seine Augen waren unnatürlich geweitet.

„Ich glaube, wir brauchen die Polizei.“

„Die Polizei?“ Mabels Herz flatterte. „Was ist denn geschehen?“

William Brown winkte Mabel, ihm zu folgen. Vorsichtig stieg sie über die Trümmer. In der Nordwand klaffte ein etwa mannshohes Loch, und Mabel erkannte, dass sich dahinter eine Art Hohlraum befand. William Brown schaltete seine Taschenlampe an und leuchtete in das Loch. Als Mabel neben ihn trat und ihr Blick dem Lichtstrahl folgte, atmete sie scharf aus, denn in dem Hohlraum lagen die sterblichen Überreste eines Menschen. Die leeren Augenhöhlen des skelettierten Schädels schienen Mabel direkt anzustarren.

 

2. Kapitel

Chefinspektor Randolph Warden, Leiter des Polizeireviers Lower Barton, machte nicht den Fehler, Mabels Anruf auf die leichte Schulter zu nehmen oder gar zu ignorieren. Da für die Beseitigung der Sturmschäden die Feuerwehr und die Streifenpolizei zuständig waren, hatte er sich auf ein geruhsames Wochenende mit seiner Frau gefreut. Mabel Clarence hatte ihm am Telefon aber kurz und bestimmt erklärt: