Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief«, »Schwelbrand«, »Tod im Koog« sowie die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine«, »Niedersachsen Mafia« und »Das Finale«.
www.hannes-nygaard.de
Handlungen und Personen der Geschichten in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-068-1
Kurzkrimis
Originalausgabe
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Dieses Buch wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel, Lille, Frankreich (www.editio-dialog.com).
Für Christiane und Michael
Ich habe keine Angst vor dem Tod,
ich möchte nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.
Woody Allen
Der Wein der Pharisäer
»Tjä«, quetschte Helgo Dethleffsen zwischen den nikotingelben Zähnen hervor, die das durchgebissene Mundstück seiner Pfeife hielten. Dann schloss er die Lippen, zog an der Pfeife, dass die Glut hell aufglimmte, ließ den Rauch im Mund kreisen, als würde er einen guten Wein verkosten, bis er den blauen Qualm schließlich durch den Mundwinkel ins Freie entließ.
Das wettergegerbte Gesicht mit den buschigen grauen Brauen über den blauen Augen, die breite Knollennase, der Vollbart, der den Mund umschloss, und die kurzen grauen Haare ließen erahnen, dass Dethleffsen über die Erfahrung vieler Lebensjahre verfügte.
»Was meinen Sie damit?«, fragte sein Gegenüber. Der gedrungene Mann mit dem runden Gesicht und dem kahlen Kopf, der nur von einem Haarkranz umsäumt wurde, sah Dethleffsen an. Der nickte nur bedächtig, griff mit seiner schwieligen rechten Hand zur Pfeife, nahm sie aus dem Mund, während die andere Hand zum Bierglas griff. Mit zwei großen Schlucken leerte Dethleffsen das Trinkgefäß, ließ ein erleichtertes »Ahh« hören und hob sein Glas in Richtung des Wirts, der hinterm Tresen stand und die vier Männer am Stammtisch beobachtete.
»Helgo meint, dass man das nicht so eng sehen darf. Wenn wir alles machen würden, was die da drüben beschließen, dann wären wir schon lange abgesoffen.« Jens-Ove Nissen war ebenfalls braun gebrannt, aber gut zwanzig Jahre jünger als Dethleffsen. Seine kräftige Statur, die sich unter dem karierten Hemd abzeichnenden Muskeln und die blonden Haare zeugten davon, dass er im Freien arbeitete.
»Gesetze gelten überall, auch auf einer Insel«, beharrte der Fremde in seinem schwäbischen Dialekt. »Das Rauchen ist in Gaststätten nun einmal verboten.«
»Ich habe gehört, dass das auf dem Festland so ist«, mischte sich der Vierte ein. Fiete Horn hatte die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der über dem offenen Hemdkragen hing und dessen Spitze zwischen den Schulterblättern baumelte. Er war unrasiert, wobei nicht zu erkennen war, ob die Stoppeln einen Dreitagbart darstellten oder nur eine Nachlässigkeit waren.
»Das ist gar keine richtige Insel«, wandte Traugott Beuerle ein. »Schließlich gibt es einen Damm zum Festland.«
Fiete Horn hob sein Schnapsglas bis in Kopfhöhe und sah die Männer in der Runde an. »Prost«, sagte er und stürzte den Aquavit mit einem Schluck hinunter. Die beiden Einheimischen folgten seinem Beispiel. Dann spülten sie mit Bier nach.
Beuerle schüttelte sich. »Wie kann man nur so viel von den scharfen Sachen trinken.« Er griff zu seinem Weinglas und nippte vorsichtig daran.
»Das war jetzt eine ganze Menge, was Sie erzählt haben«, sagte Horn, der während der Saison Touristen durchs Watt führte. »Also. Wenn das Rauchen in Gaststätten auf dem Festland verboten ist, so ist das hier im Krug auf Nordstrand was anderes. Und nur weil wir einen Damm haben, sind wir noch lange kein Festland. Sylt hat auch einen Damm. Und niemand wird behaupten, dass Sylt keine Insel ist.«
»Sie verstehen das nicht«, erwiderte Beuerle. »Das ist doch etwas ganz anderes.«
»Wollen Sie uns die Welt erklären?«, fragte Jens-Ove Nissen, der als Decksmann auf der Fähre arbeitete, die von hier aus die Halligen im Wattenmeer anlief.
»Sylt. Dorthin verkehrt die Eisenbahn. Außerdem können Sie Nordstrand nicht mit Sylt vergleichen.«
»Nee«, erwiderte Fiete Horn. »Hier fühlen wir uns wohler.« Dann zeigte er mit der Spitze seiner Zigarette auf Beuerle. »Und Sie auch. Sonst würden Sie hier nicht Urlaub machen.«
»Das ist doch etwas ganz anderes«, wiederholte der Schwabe seinen Lieblingssatz.
Jens-Ove Nissen sah zum Tresen hinüber. »Noch eine Runde«, rief er dem Wirt zu. »Ach, mach man gleich zwei. Und für unseren Freund hier«, dabei zeigte er auf Beuerle, »auch eine.«
»Um Gottes willen«, protestierte der Schwabe. »Das viele Bier … Da kann ich die ganze Nacht nicht schlafen, weil ich ständig auf die Toilette muss.«
»Das ist gesund«, lachte Fiete Horn. »Was meinen Sie, warum es hier keinen Nierenarzt gibt? Fragen Sie einen Urologen. Der wird Ihnen bestätigen, dass viel trinken fit hält.«
»Aber doch kein Bier.« Beuerle schüttelte missbilligend den Kopf. »Im Bier sind Purine. Davon bekommen Sie Gicht.«
»Ich weiß nicht, was Sie in Ihren Wein mischen, aber unser Bier wird nach dem Reinheitsgebot gebraut. Das steht auf jeder Flasche. Habt ihr schon einmal gelesen, dass da diese Pu-Dingsbums drin sind?« Nissen sah Dethleffsen und Horn an.
Der Wattführer schüttelte den Kopf, während es Dethleffsen bei einem »Tjä« beließ. »Und den Schnaps trinken wir zur Vorsicht. Damit wärmen wir uns den Magen an, damit er sich nicht erschrickt, wenn das kalte Bier folgt.«
Beuerle sah in sein Weinglas, bevor er erneut daran nippte. Dann hielt er es gegen das Licht, kniff die Augen zusammen und betrachtete nachdenklich das Rubinrot, das durch das Glas schimmerte. »Darin liegt die Wahrheit, meine Herren. Das ist Kultur. Schon im Altertum haben die Menschen Wein getrunken. Aber das, was Sie da in sich hineinschütten … Brrrh!«
»Wer sagt denn, dass wir hier keinen Wein konsumieren?«, fragte Horn, nachdem er einen großen Schluck Bier getrunken und den Schaum von den Lippen im Hemdsärmel abgewischt hatte.
»Ich bin seit einer Woche hier«, erklärte Beuerle. »Und jeden Abend habe ich Sie gesehen. Alle drei. Sie sitzen hier, sprechen wenig, er da«, dabei zeigte er auf Dethleffsen, »sagt überhaupt nichts. Und dann trinken Sie. Bier und Schnaps. Bier und Schnaps.«
»Das stimmt nicht«, warf Horn ein. »Wenn es kalt ist, trinken wir Pharisäer.«
Beuerle wurde hellhörig. »Davon habe ich schon gehört.«
»Der ist auf Nordstrand erfunden worden. Nach der Taufe oder bei Beerdigungen saß der Pastor mit am Tisch. Solange der im Hause war, durfte kein Alkohol ausgeschenkt werden. Die Bauern haben deshalb Kaffee angeboten, stark und mit viel Zucker. In den Kaffee haben sie Rum geschüttet, nur nicht in den Becher des Pastors. Damit der Alkohol nicht riecht, gab es einen ordentlichen Klecks Sahne obendrauf. Nun wunderte sich der Pastor, dass seine Nachbarn immer fröhlicher wurden. Misstrauisch griff er sich die Tasse seines Nebenmanns und schmeckte den Rum. ›Oh, ihr Pharisäer‹, hat er da ausgerufen.«
Beuerle winkte ab. »Das glaube ich nicht. Rum! Das klingt wieder rückständig. Ich kenne das als Rüdesheimer Kaffee mit Cognac.«
»Cognac?«, fragte Nissen. »Da ist doch Wein drin.«
»Der wird aus edlen Reben gebrannt«, korrigierte ihn Beuerle und spitzte die Lippen. »Das ist Kultur. Aber Rum …« Dann schüttelte er sich, während die drei Einheimischen erneut ihre Schnapsgläser leerten.
»Also Wein … Den trinken wir auch. Wenn es richtig kalt ist, der Wind aus Nordwest bläst und das Reet auf dem Dach knattert, dann trinken wir Wein.«
Beuerle musterte Fiete Horn aus zusammengekniffenen Augen. »Das habe ich noch nie erlebt. Sie trinken wirklich Wein?«
»Ja«, strahlte Fiete Horn. »Das tut richtig gut und beugt jeder Erkältung vor.«
Der Schwabe schüttelte nachdenklich den Kopf. Dann tippte er sich an die Stirn. »Der viele Schnaps scheint Ihren Verstand zu vernebeln.«
»Nein«, griente Horn. »Ein guter Rotwein, dazu Zimt, Gewürze, Nelken und Zucker. Das Ganze aufgekocht. Haben Sie eine Ahnung, wie das aufheizt. Und wenn das nicht reicht, kommt noch ein ordentlicher Schuss Rum hinein. Das trinken wir hier häufig im Winter.« Er nickte versonnen und schnalzte mit der Zunge. »Ja. So ein schöner Rotwein ist schon ein Genuss.«
»Das ist allerschlimmster Kulturfrevel«, schimpfte Traugott Beuerle. »Sie können doch keinen Wein kochen.«
»Doch«, lachte ihn Nissen an. »Im Herbst gibt es Weißwein.« Er leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich muss Ihnen recht geben. Ohne einen guten Weißwein ist der Herbst nichts.«
»Sie sollten sich ein Beispiel an Ihrem Nachbarn nehmen«, fuhr Beuerle Fiete Horn an. »Der kocht keinen Rotwein.«
»Doch!«, lachte Horn. »Oder wollen Sie die Muscheln im kalten Weißwein essen? Wir kochen sie im Weißweinsud. Eine Delikatesse. Hmh!«
Beuerle war vor Zorn rot angelaufen. Er klopfte sich heftig mit der Faust gegen die Brust. »Das ist ja ekelhaft. Und ausgerechnet mir erzählen Sie so etwas.«
»Wieso, was ist denn mit Ihnen?«, fragte Fiete Horn und legte den Kopf ein wenig schief. Dann schob er sein Schnapsglas über den Tisch in Richtung Beuerle. »Das hilft bei verstimmtem Magen. Echt.«
»Wissen Sie nicht, wen Sie vor sich haben?« Beuerle schnappte nach Luft. »Ich bin der Chef der Buchhaltung einer Winzereigenossenschaft.«
»Donnerwetter«, staunte Horn und zeigte auf den schweigsamen Dethleffsen. »Dann sitzen ja lauter Experten am Tisch. Er da brennt Schnaps. Schwarz.«
»Tjä«, erwiderte Dethleffsen und zog an seiner Pfeife.
Sie wurden durch den Wirt unterbrochen, der die nächste Runde brachte.
»Haben Sie ein Alkoholproblem auf der Insel?«, fragte Beuerle.
Die drei Einheimischen sahen sich an. Dann schüttelten sie einträchtig den Kopf. »Es gibt hier eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker. Aber hier bleibt ja nichts geheim. Da ist nichts mit anonym.«
»Das muss bei Ihnen eine Art Gemeindeversammlung sein«, lästerte Beuerle. »Sie versaufen doch Ihren ganzen Verstand. Das kommt davon, wenn man am Ende der Welt lebt. Sie haben ja nichts anderes als die Trunksucht.«
»So ist das nicht«, sagte Fiete Horn nach einer Weile. »Es gibt hier eine Menge Kultur. Der Shantychor, der Spielmannszug der Freiwilligen Feuerwehr, und manchmal spricht auch unser Bürgermeister. Und zweimal im Jahr stellt Trine Feddersen ihre selbst gemalten Bilder in der Käseabteilung beim Kaufmann aus.«
Beuerle sah abfällig auf Horns schwielige Hände. »Mich wundert gar nichts mehr. Ich habe gelesen, dass es auf den kleinen Inseln Zwergschulen gibt: ein Lehrer und drei Kinder.«
»Was wollen Sie damit sagen?« In Nissens Stimme schwang deutlich Verärgerung mit.
»Leute wie Sie können es nicht besser wissen«, fuhr Beuerle im Zorn fort. Dann zeigte er auf Nissens Hände. »Was arbeiten Sie?«
»Ich bin Decksmann auf der Fähre. Wenn wir anlegen, springe ich mit dem Tau in der Hand an Land und lege es um den Poller. Das kostet viel Kraft, und wenn das Schiff ungünstig aufkommt, dann reißt der Tampen durch die Handfläche. Im Laufe der Jahre werden die Hände so rau wie das Wetter bei uns hinterm Deich. Ist aber immer noch besser als er da.« Nissen zeigte auf Dethleffsen, der an seiner Pfeife nuckelte und »tjä« sagte.
»Helgo Dethleffsen ist Fischer. Der hat den ganzen Tag über toten Fisch in der Hand. Den Gestank wirst du nie mehr los. Der ist ein armer Wicht.« Nissen schüttelte bedauernd den Kopf. »Der kann nicht mal eben mit der Nachbarin fremdgehen. Nee. Das riecht der Ehemann, wenn er nach Hause kommt.«
Beuerle rümpfte die Nase. Instinktiv rückte er ein wenig vom schweigsamen Dethleffsen ab. »Und Sie?«, fragte er Fiete Horn.
»Im Sommer bin ich Wattführer. Ich gehe mit den Touristen ins Wattenmeer, erkläre ihnen die wunderbare Natur des einzigartigen Wattenmeeres und genieße es, dort zu leben, wo Sie nur einmal im Jahr im Urlaub sein dürfen.«
»Sind Sie der, der mit dieser verrosteten Grabegabel herumläuft und Würmer aus dem Matsch gräbt?«
Horn nickte. »Das ist kein Matsch, sondern Mudd, in den viele Leute für teures Geld als Schlammpackung hineinschlüpfen. Ich habe mich schon oft gefragt, wie dumm manche Binnenländer sind, dass sie so viel dafür bezahlen, um im Dreck zu liegen.«
»Sie sind von uns abhängig. Sonst gibt es doch nichts in dieser Einöde.« Beuerles Stimme hatte einen belehrenden Tonfall angenommen. Dann tippte er sich gegen die Stirn. »Das ist doch kein Beruf, durch den Matsch zu laufen.«
»Neben dem Wissen um die Geheimnisse der Natur müssen Sie auch das Meer kennen. Das Wasser spaßt nicht. Es kann tückisch sein. Sie müssen wissen, wohin Sie laufen, wenn die Flut kommt.«
»Das ist doch kein Problem. Ich sehe doch den Strand.«
»Wenn Sie Pech haben, sind Sie auf einer Sandbank, und zwischen Ihnen und dem Strand verläuft ein Priel. Dann sind Sie abgeschnitten.« Horns Stimme war der erhebliche Alkoholkonsum inzwischen anzumerken. Er sprach schon lange nicht mehr so deutlich wie zu Anfang.
»Quatsch«, erwiderte Beuerle. »Und selbst wenn die Füße ein wenig nass werden – was macht das.«
»Das ist lebensgefährlich«, mischte sich Nissen ein und sah gemeinsam mit den anderen zu Dethleffsen, dessen Kopf auf die Brust gesunken war und der sich mit gleichmäßigen tiefen Schnarchtönen meldete.
»Maßlose Übertreibung. Sie wollen sich nur wichtigmachen.«
Nissen musterte Beuerle aus glasigen Augen. Dann schwenkte er den Zeigefinger hin und her. »Fiete hat recht. Das Wasser ist gefährlich. An der Küste ist schon mancher umgekommen, der sich zu weit vorgewagt hat.«
»Schauermärchen«, winkte Beuerle ab. »Sie sind nichts weiter als abergläubische Kulturbanausen. Sie werden sehen.« Er griff sein Weinglas und nippte daran. »Wenn ich im Alter einen guten Tropfen genießen werde, hat Sie alle schon lange der Teufel geholt.«
»Darauf würde ich nicht wetten«, lallte Nissen und hatte Mühe, die Augen aufzuhalten.
»Noch eine Runde«, rief Fiete Horn zum Wirt hinüber und schüttelte Dethleffsen, dessen Kopf auf die Tischplatte gesunken war und der inzwischen lauter schnarchte.
Beuerle erhob sich und sah verächtlich auf die drei Zechkumpane. »Was seid ihr nur für Pharisäer. Ich habe es nicht nötig, mit solchen Leuten meinen Urlaub zu verbringen. Nein! Das war mein letzter Tag auf dieser Insel.«
Am blauen Himmel hingen ein paar weiße Schäfchenwolken, die mit dem auffrischenden Wind rasch Richtung Festland trieben. Es roch nach Salz und Meer, nach Tang und Fisch. Helgo Dethleffsen stapelte Fischkisten aufeinander, die er mit aufs Boot nehmen wollte, um sie mit der Beute des neuen Tages zu füllen. Er sah auf und blinzelte unter dem Schirm seiner Prinz-Heinrich-Mütze gegen die Sonne, als Fiete Horn näher kam.
»Moin«, grüßte der Wattführer und stützte sich auf den Stiel seiner Grabegabel.
Dethleffsen nickte und zog an seiner Pfeife. »Hast du eine Führung?«, fragte er und presste jeden Buchstaben einzeln zwischen den geschlossenen Zähnen hervor.
»Ja. Süddeutsche.«
»Woher?«, erkundigte sich Dethleffsen.
»Aus der Gegend um Hannover.«
Dethleffsen angelte nach einer Sandscholle, die vom Vortag in einer der Fischkisten geblieben war. Gedankenverloren betrachtete er den Plattfisch in seiner Hand. »Hast du Jens-Ove schon gesehen?«
»Nee. Was ist mit dem?«
»Der hat Ärger mit seinem Käpt’n. Auf der Fähre fehlt ein Stück Tau«, erklärte Dethleffsen.
»Und?«, fragte Horn. »Hast du die andere Neuigkeit schon gehört?«
»Was?«
»Der von gestern – der Schwabe. Der ist tot geblieben.«
»Wirklich? Wie das? Wir haben ihn doch gewarnt, dass das Watt gefährlich ist.«
»Stimmt.« Fiete Horn nickte abwesend. »Die Sache hat nur einen Haken.«
»Und?«
»Man hat ihn auf der Binnenseite des Deiches gefunden.«
Dethleffsen überlegte eine Weile. »Wir hatten ja kein Hochwasser die Nacht, sodass er nicht rübergespült worden ist.«
»Nee. Er ist auch nicht ertrunken.«
»So. Der war doch gar nicht so alt. In diesen Jahren kommt man doch nur durch Ertrinken ums Leben.«
Horn kratzte sich am Kopf. »Man weiß es noch nicht genau. Vielleicht ist er erstickt. Man hat ihm eine Scholle in den Hals gedrückt, sodass er keine Luft mehr bekommen hat.«
Beide sahen auf die Sandscholle in Dethleffsens Hand. Der Fischer wiegte nachdenklich den Kopf. »Dabei sind die im Augenblick so teuer«, gab er zu bedenken. »Und an der Scholle ist er erstickt?«
»Vielleicht«, erwiderte Horn. »Kann aber auch sein, dass er erwürgt wurde. Mit dem Tau, das um sein Hals gelegt war. Da hat jemand kräftig dran gezogen.«
»Und eins von den beiden war die Todesursache?« Dethleffsen zog ungläubig die Augenbrauen in die Höhe. »Komisch.«
»Vielleicht auch nicht. Das muss der Rechtsmediziner feststellen.«
»Was gibt’s denn sonst noch?«
Horn druckste ein wenig herum. »In seiner Brust steckte eine Grabegabel.«
Dethleffsen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Na ja«, meinte er nach einer Weile. »Er hatte sowieso gesagt, er wollte nicht wiederkommen.«
Versonnen sahen beide den Wolken nach. Es schien eine Ewigkeit vergangen, bis sich Horn zu Wort meldete. »Du?«
»Tjä?«
»Vielleicht hat der Schwabe ja doch recht, und wir sollten ein bisschen weniger saufen.«
»Meinst du?«
»Ja.«
Dethleffsen seufzte. »Vielleicht sollten wir es statt mit Bier und Schnaps doch einmal mit Wein versuchen.«
Husumer Nachrichten vom 21. März 2009
Schleswig-Holstein wird Weinbauland. Schon im April will sich das Kieler Kabinett damit befassen. Werden dann die Reben gesetzt, gibt es in drei Jahren den ersten »Nordwein«.
Bereits im April will sich das Kieler Kabinett mit dem Entwurf einer Landesweinverordnung für Schleswig-Holstein befassen.
»Noch im Frühjahr könnten die ersten Reben gesetzt werden«, sagt Christian Seyfert, Sprecher des Landwirtschaftsministeriums in Kiel. »Mit dem ersten nennenswerten Ertrag wäre dann 2011 oder 2012 zu rechnen.«
Der Entwurf ist bereits sehr konkret: Der Weinkenner darf zu seiner Liste der Weinbaugebiete in Deutschland nun auch »Nordfriesland-Holstein« hinzufügen.
Auf eine Zigarette
»Mmh … nach Oldenburg willst du umziehen … da habe ich schon mal was von gehört …« Ahmet zog an seiner Zigarette mit dem schwarzen Tabak und entließ den Rauch langsam durch die gespitzten Lippen. Gedankenverloren sah er den blauen Schwaden nach, die zur Decke der Teestube waberten. Dann griff er zur kleinen Tasse und nahm schlürfend einen Schluck zu sich. »Da wohnt ein Freund von mir. ›Komische Leute‹, sagt er. ›Die essen so ein grünes Zeug, Grünkohl, dazu Undefinierbares mit dem merkwürdigen Namen Pinkel. Das erinnert mich immer an … na, du weißt schon. Und viel Schweinefleisch‹. Brrrh.« Ahmet schüttelte sich. »Das soll ein besonderes Volk sein, diese Ostfriesen.«
Ozman schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Oldenburg liegt nicht weit von der Ostsee entfernt. Ein kleines Städtchen. Sehr ländlich. Und lauter nette Leute.«
»Nee, das ist eine große Stadt. Die haben sogar eine Universität.«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht verwechselst du etwas«, antwortete Ozman nachdenklich.
»Bestimmt nicht. Ich kenne mich aus in Deutschland«, beharrte Ahmet. »Besser als die Deutschen.«
Es war viele Jahre her, dass Ozman und Ahmet sich in der Teestube gegenübergesessen hatten. Damals, als Ozman seine Arbeit als Schweißer in einem Metallbetrieb verloren hatte. Es war schwer gewesen, eine neue Beschäftigung zu finden. Er war nicht der Einzige, der in Lübeck auf Arbeitssuche gewesen war. Viele Angebote hatte er nicht erhalten. Wenn er ehrlich war, eigentlich gar keine. So war er notgedrungen nach Oldenburg in Holstein umgezogen und hatte die Tätigkeit als Gebäudereiniger angenommen. Ozman, der Putzteufel, der zunächst für die Toiletten zuständig war, später aber auch Klassenräume und Büros reinigen durfte. Ihn hatte es nicht gestört. Hauptsache, er hatte eine Beschäftigung, er war zufrieden.
Damals, als er hoffnungsvoll nach Deutschland aufgebrochen war, um ein paar Jahre lang gutes Geld zu verdienen, hatte er Elayna zurückgelassen. Nach der Sitte seines Landes waren die beiden einander versprochen gewesen. Leider hatte es mit dem Geldverdienen länger gedauert als erhofft. Ozman war nicht oft in die Heimat gefahren, um das mühsam Ersparte nicht für teure Fahrten aufzuwenden. Irgendwann war Elaynas Vater ungeduldig geworden, hatte das Versprechen gelöst und seine Tochter einem anderen Mann zur Frau gegeben.
Ozman war immer seltener in die Heimat gefahren und entfremdete sich immer mehr von der Familie und alten Freunden. Man glaubte ihm nicht, dass es im gelobten Deutschland schwierig war, durch die Arbeit als Schweißer viel Geld zurücklegen zu können. Unterschwellig hörte er immer den Vorwurf, er würde in Lübeck prassen und ein unangemessenes Leben führen. Nach der Insolvenz seines früheren Arbeitgebers war das Einkommen im Reinigungsunternehmen so karg, dass Ozman sich keine Heimfahrt mehr leisten konnte. Schließlich war der Kontakt zur Heimat gänzlich abgebrochen.
Er war dennoch nicht unzufrieden. Er hatte eine kleine Wohnung, die öffentlich gefördert wurde. Man akzeptierte den kleinen Mann mit dem krummen Rücken, dem schwarzen Schnurrbart und den dunklen Augen, der fleißig und klaglos seiner Arbeit nachging und in der Freizeit gern durch Oldenburg bummelte, mit Bekannten ein Schwätzchen hielt oder am Marktplatz auf einer Bank saß, den Leuten hinterhersah und seine geliebte Zigarette genoss. Ozman lebte bescheiden und hatte sich seine kleine Wohnung in einer Mischung aus türkischer Tradition und deutscher Gemütlichkeit eingerichtet. Das wichtigste Möbelstück war der große Fernsehapparat, auf dem er über Satellit sogar heimatliche Sender empfangen konnte. Aber was war Ozmans Heimat? Er war sich nicht sicher, verlor aber keine weiteren Gedanken darüber. Er fühlte sich wohl in Oldenburg. Die Leute waren nett, und mit den Nachbarn kam er gut zurecht.
Selbst mit Ortwin, der auf seiner Etage wohnte und schon lange arbeitslos war. Ortwin war irgendwann die Frau davongelaufen. Seitdem verbrachte der Nachbar die Tage in dumpfer Einsamkeit. Manchmal sah man ihn eine ganze Woche nicht. Nur zum Monatsanfang, wenn es neues Geld gab, erwachten Ortwins Lebensgeister. Dann war er zwei oder drei Abende unterwegs, lärmte, wenn er volltrunken nach Hause kam, und schlief anschließend tagsüber seinen Rausch aus. Es lag sicher an Oldenburgs Beschaulichkeit, dass Ortwin drei Abende benötigte, um seine Sozialhilfe zu vertrinken, da in der kleinen Stadt die Kneipen nicht unendlich lange geöffnet hatten.
Ozman ging seinem Nachbarn an diesen Tagen aus dem Weg. Er wusste, dass Ortwin im Rauschzustand andere Menschen, besonders die mit ausländischen Wurzeln, beschimpfte und für sein persönliches Schicksal verantwortlich machte. Dafür scheute er sich aber nicht, gegen Ende des Monats bei Ozman zu klingeln, um ein Stück Fladenbrot oder etwas Gemüse zu schnorren. Selbst Hamsi Kizartmasi, gebratene Sardellen, verschmähte Ortwin dann nicht. Und als Ozman seinem Nachbarn erklärte, dass Kadin Budu mit »Frauenschenkel« übersetzt werden könnte, hatte Ortwin sogar gelacht.
»Mensch, alter Türke, ich wusste gar nicht, dass du dich für Frauen interessierst.« Dann hatte er Ozman auf die Schulter geklopft, und sie hatten still vergnügt gemeinsam geraucht.
Ozman schätzte, dass Ortwin etwa so alt wie er selbst war, knapp über fünfzig Jahre. Das reichte, um keine neue Arbeit mehr zu finden. Er war froh, für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen zu können, auch wenn es noch einmal einen Einschnitt gegeben hatte.
Sein Chef zeigte sich mit Ozmans Arbeitseinsatz zufrieden und hatte ihn zum Vorarbeiter gemacht, Objektleiter hieß das. Ozman bekam einen Gehaltsaufschlag von dreißig Cent in der Stunde. Dafür trug er die Verantwortung für die drei Frauen, die zu seiner Kolonne gehörten.
Irgendwann hatte der Chef Ozman zu sich ins Büro gerufen und ihm erklärt, wie mühsam in Deutschland das Unternehmerdasein sei.
»Ich gehe auf Mitte vierzig zu«, hatte der Chef erklärt. »Was habe ich bisher vom Leben gehabt? Freizeit und Gesundheit für den Erhalt der Arbeitsplätze aufgerieben. Das schmale Einkommen frisst die Steuer auf. Ihr alle wisst gar nicht, wie gut ihr es habt. Am Ende des Monats wird euer Gehalt überwiesen, während ich mir Sorgen mache, weil ich nicht weiß, wo ich das Geld für eure Gehälter hernehmen soll. Wenn ich so weitermache, ist meine Gesundheit in ein, zwei Jahren ruiniert. Ich muss die Notbremse ziehen, so leid es mir tut. Aber meine Frau und ich müssen den Be- trieb verkaufen. Wir werden uns nach Spanien zurückziehen, um dort unseren Lebensabend zu verbringen. Spanien, Ozman! Dort ist das Leben billiger. Wir können es uns nicht leisten, im teuren Deutschland zu bleiben, so wie ihr …«
»Das ist schade, Chef. Aber dann werden wir für den neuen Chef arbeiten.«
Der Unternehmer hatte den Kopf gewiegt. »Tja«, hatte er schließlich gesagt. »Das ist eine große Firma. Die haben eine andere Kostenstruktur. Die sind nur konkurrenzfähig, wenn sie künftig nur noch mit Geringverdienern arbeiten.«
»Soll das heißen, Chef, dass man uns den Lohn kürzt?«, hatte Ozman angstvoll gefragt.
Sein Boss hatte sich verlegen den Kopf gekratzt. »Weißt du, Ozman … dich brauchen sie nicht mehr. Ist vielleicht auch ganz gut für dich. Du bist über fünfzig und hast dein Leben hart gearbeitet. Nun gönne dir noch ein paar ruhige Jahre.«
Das war ein bitterer Moment für Ozman gewesen. Vor seinem geistigen Auge tauchte Nachbar Ortwin auf. Was sollte Ozman mit der vielen freien Zeit anfangen? Vor dem Fernseher sitzen? Den Cafébesuch würde er sich nicht mehr leisten können. Und womöglich müsste er auch auf seine geliebten Zigaretten verzichten. Wenn er an einem beliebigen Wochentag auf der Bank vor dem Oldenburger Rathaus sitzen würde, müsste er damit rechnen, dass man hinter seinem Rücken vom faulen Türken spräche, der nur hier sei, um die Sozialsysteme auszunutzen. Ortwin würde ihm bestimmt erklären, dass er, Ortwin, für den Ausländer schuften müsse, damit dieser sich ein bequemes Leben einrichten könne.
Das wollte Ozman nicht. Ihm würde der Staubsauger fehlen, das Wasser, das am Boden perlte, der frische Geruch der Reinigungsmittel und das Strahlen des weißen Porzellans in den Sanitärbereichen, wenn er mit seiner Reinigungsarbeit fertig war.
Am vorletzten Tag hatte ihn der Chef zur Seite genommen.
»Ozman, du weißt, wie zufrieden ich mit dir war. Du warst immer zuverlässig und hast gute Arbeit geleistet. Zum Dank dafür habe ich mich bei einem Freund für dich eingesetzt. Er wird dich übernehmen.«
»Als Putzmann?«, fragte Ozman erfreut.
Der Chef hatte den Kopf geschüttelt. »Nein. Du wirst dort eine verantwortliche Aufgabe übernehmen.«
»Ich?«
»Ja. Ich habe mich für dich verbürgt.« Der Chef hatte eine Pause eingelegt. »Das Ganze ist hier in Oldenburg. Du kannst deine Wohnung behalten. Kennst du die Firma Schmidt?«
Ozman strahlte. Natürlich. Jeder in Oldenburg kannte »Eisen-Schmidt«, ein alteingesessenes Unternehmen. Metallbau. Manches Mal hatte Ozman den Fahrzeugen mit sehnsüchtigen Blicken hinterhergesehen, wenn sie durch die kleine Stadt fuhren, beladen mit Metallteilen und kunstvoll verzierten Zäunen voller Schnörkel und Ornamenten.
Er seufzte. Das hätte er sich nicht träumen lassen. Vielleicht würde er wieder ein Schweißgerät in Händen halten und – mit ein wenig Glück – durfte sogar bei der Fertigung mitwirken.
»Ja, Chef. Wer kennt die nicht, die berühmte Firma Schmidt.« Für Ozman war es der beste Arbeitgeber, den man sich vorstellen konnte. Eisen-Schmidt, die ein großes Schild am Ende der Göhler Straße aufgestellt hatten, im Gewerbegebiet, ganz am Rand der kleinen Stadt. Dahinter lagen Felder und Wiesen, bis nach wenigen Kilometern die Straße in das Nachbardorf Göhl führte.
Vor Ozmans Auge wurde die Göhler Straße, die nach diesem Ort benannt war, zur schönsten Straße der Welt. Er würde sich, ganz gleich wie das Wetter war, morgens auf das Fahrrad setzen und die ganze lange Göhler Straße, die im Stadtzentrum begann, bis zum Ende radeln. Zu seinem neuen Arbeitsplatz bei der Firma Schmidt. Gustav Schmidt. Eisen-Schmidt.
Der Chef schüttelte seinen Kopf und legte die Stirn in Falten.
»Bei aller Begeisterung, Ozman, so weltberühmt ist die Firma Schmidt nicht, auch wenn sie weltweit tätig ist.«
Das wollte Ozman nicht hören. Natürlich war Eisen-Schmidt der Traum eines jeden Schweißers, besonders eines mit türkischen Wurzeln. Was hatte der Chef gesagt? Die sind weltweit tätig? Ozman holte tief Luft. Vielleicht würde man ihn sogar auf Montage ins Ausland schicken.
»Ja, ähm … also …«, begann der Chef und spielte verlegen mit seinem Kugelschreiber. »Die Firma Schmidt, die ich meine, ist ein Großhandel. Die haben ihren Firmensitz gleich am Anfang der Göhler Straße – die ist ja lang, die Göhler Straße …«, schob der Chef verlegen hinterher.
Großhandel? Ozman glaubte, sich verhört zu haben. Eisen-Schmidt. Das war ein großer Betrieb. Sicher, Handel würden die auch betreiben. Aber die hatten ihren Sitz am Ende der Göhler Straße, nicht am Anfang.
Der Chef hatte recht gehabt. Es gab in der Göhler Straße noch eine zweite Firma Schmidt, die in einem schäbigen Haus am Anfang der Straße residierte. Als Ozman dort vorbeigefahren war, hatte er gedacht, es wäre ein Abbruchhaus. Es sah noch baufälliger aus als die Ruine der ehemaligen städtischen Schwimmhalle. Und das verrostete Schild »Schmidt internationaler Großhandel« verriet auch nichts von den weltumspannenden geschäftlichen Aktivitäten des Unternehmens.
Arno Schmidt erwies sich als schwergewichtiger Mann mit einem ungesund roten Kopf, der den Hochdruckkranken verriet. Das Doppelkinn lag auf dem Kragen seines Hemdes auf, die schlaffen Wangen fielen links und rechts der fleischigen Nase herab. Schmidt betrachtete Ozman aus seinen kleinen wasserblauen Schweinsäuglein.
»Warum soll ich einen Ausländer beschäftigen?«, fragte er und zog an seiner dicken Zigarre, die er in der Pranke mit den stark behaarten Fingern hielt. Wuchtig glänzte der protzige Goldring am Finger, während der Ring mit dem Brillanten, den er am kleinen Finger trug, von der Größe her für einen Damenringfinger immer noch zu weit gewesen wäre.
Dann lachte er und erklärte, dass er kein Zutrauen zu Ozman habe. Sicher würde ein Türke, und er betonte Ozmans Herkunft so deutlich, dass dabei ein leichter Sprühregen von Speichel aus seinem Mund mit den wulstigen Lippen auf die Schreibtischplatte niederregnete, den Anforderungen eines modernen Unternehmens nicht gewachsen sein.
»Mit euch hat man nur Ärger«, stellte Schmidt fest. »Ich bin aber nicht einer von denen, die was gegen Ausländer haben.« Er stellte Ozman vor die Wahl, zu einem noch niedrigeren Lohn als bei der Reinigungsfirma anzufangen oder es sein zu lassen.
Resigniert nickte Ozman, ihm blieb keine Alternative.
So begann er im »internationalen Großhandel Arno Schmidt« als zweiter Mitarbeiter neben der blassen Hulda Rindfleisch, einem ältlichen Fräulein – ja, so hatte Schmidt sie vorgestellt –, das als Halbtagskraft die Buchhaltung und anfallende Büroarbeiten erledigte. Fräulein Rindfleisch saß in ihrem grauen Wollrock und der beigefarbenen Bluse an einem zerkratzten Schreibtisch und arbeitete von früh bis spät, auch wenn sie die Stunden ab Mittag nicht vergütet bekam. Nervös schob sie ihre Hornbrille auf der Nase hin und her, wenn Schmidt auftauchte und sie anschrie, weil er mit ihrer Arbeit nicht zufrieden war.
»Beefsteak«, so nannte er Fräulein Rindfleisch geringschätzig, »man müsste Mitleid mit Ihnen haben und sollte Sie ins Altersheim stecken. Wie lange dulde ich Sie schon als Kostgänger dieses Unternehmens, hä?« Solche Wutausbrüche kamen regelmäßig und bewirkten, dass Hulda Rindfleisch klaglos täglich mehr als neun Stunden an ihrem Schreibtisch hockte und versuchte, das Wirrwarr zu entknoten, das der chaotische Schmidt anrichtete.
Sie war in einer ähnlichen Situation wie Ozman, lebte allein und hatte weder Familie noch Freunde. Ihre ganze Freude waren die beiden Katzen, mit denen sie sich ihr bescheidenes Zuhause teilte.
Fräulein Rindfleisch lebte immer dann auf, wenn Schmidt auf Geschäftsreise war. Mehrfach im Jahr reiste er nach Asien, um in Thailand, Taiwan, Vietnam und China neue Produkte aufzuspüren. Diese Zeit genossen Ozman und die Buchhalterin. Fräulein Rindfleisch störte es nicht, wenn Ozman seine geliebten Zigaretten rauchte, was Schmidt während der Arbeitszeit streng untersagt hatte. Mit einem breiten Grinsen hatte er Ozman das strikte Rauchverbot vorgetragen und ihm dabei den Rauch der stinkenden Zigarre ins Gesicht geblasen. Überhaupt war der Gestank der dunklen Brasil überall gegenwärtig: in den Räumen, den Gardinen, im Teppich. Die Wände waren dunkel vom Nikotin, und jedes Stück Papier roch nach Tabak.
Zunächst nur zögerlich, dann aber regelmäßig tauchte Maria auf, eine zartgliedrige Philippinin, die Schmidt aus ihrer Heimat mitgebracht und geheiratet hatte und die er jetzt in Oldenburg wie eine Sklavin hielt. Sie durfte das Haus nicht verlassen, bekam kein Taschengeld, und Ozman war sich nicht sicher, ob die Frau nicht auch Schläge erdulden musste.
Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis Ozman Maria das erste Mal lächeln sah. Es war ein schönes, ein strahlendes Lächeln, das sich auf den feinen Gesichtszügen der schüchternen Frau abzeichnete. Nach einem weiteren Jahr wagte Ozman es, Maria an einem Sommersonntag zu einem Spaziergang um den See am Oldenburger Wallmuseum einzuladen. Seitdem träumte er davon, einmal die Hand der jungen Frau halten zu dürfen, einmal mit ihr zu tanzen. Ach, es gab so wunderbare Märchen in Deutschland, in denen ein Prinz die Prinzessin wachküsste … Wie gern wäre Ozman einmal in seinem Leben ein Prinz gewesen.
Die schönen Augenblicke endeten regelmäßig, wenn Schmidt zurückkehrte und von seinen neuen Einkäufen erzählte. Ozman würde später damit konfrontiert werden, wenn die Ware containerweise in Oldenburg eintraf. Dann musste er die Ladung auspacken, zählen, ins Lager sortieren, Fehler reklamieren und die Transportschäden auflisten.
»Das passiert nicht unterwegs, Ali. Die Sachen gehen kaputt, weil du nicht sorgfältig genug bist«, fluchte Schmidt regelmäßig.
»Ich heiße Ozman und nicht Ali«, hatte Ozman früher protestiert. Aber Schmidt hatte seinen Einwand abgetan.
»Jeder Schwarzbärtige, der jenseits des Bosporus wohnt, ist ein Ali. Also, Ali! Den Mist hast du doch verursacht, weil du beim Auspacken nicht aufgepasst hast. Sei vorsichtig, klar? Das ist kein Kameldung, sondern kostbare Ware, die du in Händen hältst. Oder soll ich den Bruch von deinem Lohn abziehen?«
Schmidt wurde immer unausstehlicher. Er lief nur noch missgelaunt herum, rauchte, beschimpfte Fräulein Rindfleisch, trank schwarzen Kaffee und genehmigte sich dazu mehrere Gläser Cognac im Laufe des Tages. Nur mittags herrschte ein wenig Ruhe im Betrieb, wenn Schmidt zum Essen fuhr.
Endlich war es wieder so weit. Der Despot war zu einer neuen Reise nach Asien aufgebrochen. Zwei Wochen lebten Hulda Rindfleisch und Ozman auf, und Maria kam fast täglich ins Büro und begann, von ihrer Heimat zu erzählen. Sie war eine wunderbare Frau. Mit zarter Stimme berichtete sie von dem Dorf, in dem sie groß geworden war, von der Natur, den vielen Tieren, die Teil des Lebens gewesen waren, von der Fröhlichkeit der Menschen, aber auch von der Armut, in der sie leben mussten. Alle hatten sie beneidet, als der reiche Europäer auftauchte und sie mit ins gelobte Land nahm. Sie würde im Paradies leben, hatten die Freunde gemeint. Stand es nicht irgendwo im Koran, überlegte Ozman, dass man zuvor durch das Fegefeuer musste, um ins Paradies zu gelangen? Bei Maria war es augenscheinlich so.
Angstvoll sah Ozman auf den Kalender. Morgen sollte Schmidt zurückkehren. Dann würden sie wieder gepeinigt werden, alle drei. Und es gab keine Möglichkeit, dem zu entfliehen. Auf dem Weg zur Arbeit war er Ortwin, seinem Nachbarn, begegnet, der vor der Haustür auf ihn wartete. Es war Mitte des Monats, und Ortwin war pleite. Er schnorrte Ozman unfreundlich um Zigaretten an, zeigte sich enttäuscht darüber, dass er nur drei Stück bekam, und machte sich fluchend auf den Weg zum Bahnhof, um dort den Tag über herumzulungern. So wollte Ozman nicht enden. Deshalb schluckte er alle Schikanen.
Zu dritt saßen sie an Fräulein Rindfleischs Schreibtisch und tranken Kaffee, als das Taxi vorfuhr und kurz darauf Schmidt ins Büro hereingewalzt kam.
Er schnaufte und keuchte. Das puterrote Gesicht lief noch mehr an, soweit das möglich war. Die Adern an den Schläfen schwollen an. Deutlich war der Pulsschlag zu erkennen.
»Was soll das bedeuten?«, schrie er wutschnaubend. »Hab ich euch Gesindel erwischt. Wenn ich nicht da bin, hockt das faule Pack hier herum und faulenzt. Das ist wohl die Höhe. Ich arbeite wie ein Tier, um das Geld zu verdienen, das hier dann sinnlos verprasst wird.«
Schmidt keuchte wie ein Langstreckenläufer. Er fasste sich ans Herz. »Kaputt arbeite ich mich, ja. Und was ist der Dank?«
Er wankte auf Maria zu, und bevor jemand reagieren konnte, holte er aus und schlug zu. Wie vom Blitz getroffen fiel die zarte Frau vom Stuhl. Er trat noch einmal nach.
»Beefsteak«, brüllte er die verängstigte Buchhalterin mit sich überschlagender Stimme an. »Von Ihnen hätte ich mehr Dankbarkeit erwartet. Ohne mich wären Sie ein Nichts. Sie haben mein ganzes Vertrauen gehabt und es schamlos ausgenutzt.«
Dass Schmidt cholerisch war, wussten alle. Einen solchen Anfall hatten sie aber noch nie erlebt. Der Mann bebte vor Zorn. Dicke Schweißperlen rannen ihm von der Stirn.
Ozman hatte nur davon gehört, dass es einen Jetlag gab. Das war irgendetwas, das sich einstellte, wenn man lange im Flugzeug saß. Schmidt war über dreizehn Stunden geflogen. Er war übermüdet.
Sicher hatte er seinen Ausflug nach Asien auch genutzt, um die Nächte mit käuflichen Frauen zu verbringen. Ozman hätte nicht beschwören mögen, dass die alle volljährig waren.
Jetzt roch der Mann nach Schweiß und Alkohol. Mit Sicherheit hatte Schmidt sich die Flugzeit durch übermäßigen Alkoholgenuss zu verkürzen versucht.
Unsicher wankte der Mann auf den Schreibtisch zu. Mit einer einzigen Bewegung wischte er die gefüllten Kaffeetassen in Richtung der Buchhalterin. Fräulein Rindfleisch versuchte auszuweichen, stieß aber gegen die Wand des Aktenregals in ihrem Rücken. Sie schrie auf, als sich der heiße Kaffee über ihre Bluse und den Rock ergoss.
»Raus«, schrie Schmidt und zeigte unsicher auf die Bürotür. Er griff zum schweren Eisenlocher, der auf dem Schreibtisch stand, und deutete eine Bewegung an, als würde er das Gerät der Buchhalterin an den Kopf schleudern wollen.
Mit angstgeweiteten Augen sprang sie auf und hastete zur Tür. Dabei stolperte sie über Maria, die auf allen Vieren ebenfalls zum Ausgang robbte.
»Hurenpack«, schrie Schmidt wie von Sinnen, bevor er sich Ozman zuwandte. »Du bist gefeuert, du verdammter Kameltreiber. Ich mach dich fertig. Dich wird jede Mülltonne verachten, die du nach Essbarem durchwühlen wirst.«
Das war der Dank, dachte Ozman. Er hatte sich um die Ware gekümmert, sich in die Lagerhaltung eingearbeitet, Eingangsrechnungen kontrolliert und die Pakete mit den Bestellungen fertig gemacht. Schmidt hatte schon lange den Überblick verloren. Und wenn der Boss auf Reisen war, hatte Ozman mit den Kunden telefoniert. Besonders stolz war er, als eines Tages ein freundlicher Brief eingetroffen war, der an »Herrn Ostmann« gerichtet war. Das war ein deutscher Name. Ozman sprach mittlerweile so gut Deutsch, dass man seinen türkischen Akzent kaum noch bemerkte.
Nur widerwillig fasste er die Ware an, die das »internationale Importunternehmen Schmidt« aus Asien bezog und an Geschenkartikelläden und Souvenirbuden weiterverkaufte. Aschenbecher, bei denen die Zigarette zwischen zwei weiblichen Brüsten abgelegt wurde, Kondome mit Comicfiguren, eine Spardose, bei der man an einem Plastikslip ziehen musste, um an den Einwurfschlitz zu gelangen, und die sich mit einem Stöhnen für den Einwurf bedankte, und die hässliche Figur, der man ein kleines Paket in den After schob und es anzündete. Daraus quoll eine widerliche braune Masse hervor. Ozman hatte sich immer wieder gewundert, dass es Leute gab, die für solche Artikel Geld ausgaben.
Jetzt stand ihm Schmidt gegenüber. Der Mann keuchte und japste nach Luft. Er griff zum unsichtbaren Hemdkragen und versuchte mit seinen Wurstfingern, ihn zu weiten.
»Das ist zu viel«, stöhnte Schmidt und wankte um den Schreibtisch, um sich krachend auf Fräulein Rindfleischs Bürostuhl zu werfen.
»Al…i…«, kam es keuchend über seine Lippen. Die kleinen Schweinsäuglein hatten sich geweitet. Zitternd tastete sich die fleischige Hand über das schweißnasse Hemd in Richtung der linken Brustseite.
»Ali … Mein Herz … Ich brauche den Notarzt.«
Ozman nickte. »Ja, ja«, sagte er. »Manchmal erweist sich erst in einer schweren Stunde, was ein gutes Herz wert ist.« Seelenruhig ließ sich Ozman auf der anderen Schreibtischseite nieder, fischte eine Zigarette aus der zerknitterten Packung und zündete sie sich an. Dann blies er den Rauch über das Büromöbel in Schmidts Gesicht.
Dem Mann rann der Schweiß in Bächen herab und tropfte über das Doppelkinn auf sein Hemd.
»Schnell … ein Arzt«, stöhnte Schmidt kaum vernehmbar.
»Gleich«, sagte Ozman. »Habe ich von Ihnen gelernt, Chef. Man muss erst in aller Ruhe aufrauchen und dann überlegen, wie es weitergeht.«
»Du … Hurensohn … mach … die Zigarette aus …«, keuchte Schmidt und hustete. Dabei bekam er noch weniger Luft.
Nachdem Ozman die Zigarette zu Ende geraucht und die Kippe sorgfältig im Aschenbecher ausgedrückt hatte, griff er zum Telefon und wählte die eins-eins-zwei.
»Notrufzentrale«, meldete sich eine ruhig klingende Männerstimme.
»Hier Ali. Mann Luft«, radebrechte Ozman.
»Können Sie deutlicher sprechen«, forderte ihn der Mann von der Leitstelle auf.
»Du schnell machen. Er krank.«
»Wer ist krank?«
»Mann.«
»Welcher Mann?«
»Dicker Mann.«
»Was hat er?«
»Nicht wissen.«
»Ein Unfall?«, fragte der Rettungsassistent.
»Nix umgefallen. Hat so hingesetzt.«
»Können Sie die Umstände etwas genauer beschreiben?«
»Was Umstände? Du kommen fix. Mann nicht gut.«
Der Rettungsassistent seufzte vernehmlich. »Daraus soll man klug werden«, sagte er resigniert. »Also. Wo ist das?«
»Hier.«
»Wo ist hier?«
»Arbeit.«
»Hören Sie, Herr …«.
»Ali. Ich sein Ali.«
»Gut, Ali. Wo ist der Kranke?«
»Bei Arbeit.«
Ozman hörte, wie der andere Teilnehmer tief Luft holte. »Okay, Ali. Wo arbeiten Sie?«
»In Oldenburg.«
»Geht es ein wenig genauer? Wir brauchen die exakte Anschrift.«
»Bekannte Weltfirma.«
»Hat die auch einen Namen?«, fragte der Rettungsassistent, dem anzuhören war, dass es ihm schwerfiel, weiterhin geduldig zu bleiben.
»Ja, Mann kriegt kein Luft mehr. Du kommen schnell zu Firma Schmidt in Göhler Straße in Oldenburg. Chef immer sagen, jeder kennt große Firma Schmidt.«
»In Ordnung«, stöhnte der Rettungsassistent. »Firma Schmidt in der Göhler Straße in Oldenburg.«
»Ja«, sagte Ozman. »Machen schnell. Mann sonst tot.« Dann legte er auf und grinste Schmidt an.
Das Gesicht des Kranken war jetzt weiß wie eine gekalkte Wand. Die Lippen waren blau angelaufen. Stoßweise kam der Atem. Dann ging er in ein leises Röcheln über.
Ozman stellte sich ans Fenster und zündete sich eine weitere Zigarette an. Es war erstaunlich, wie gut der Rettungsdienst in Deutschland funktionierte. Nur wenige Augenblicke, nachdem Ozman den Notruf beendet hatte, hörte er das auf- und abschwellende Martinshorn des Rettungswagens. Kurz darauf bog der rot-weiße Wagen um die Ecke in die Göhler Straße ein. Ozman beobachtete vom Fenster aus, wie die Autos auf der Straße an die Seite fuhren und dem Einsatzfahrzeug Platz machten. Das galt auch dem Notarzteinsatzfahrzeug, das nur wenig später folgte.
Man unternahm in diesem Land wirklich alles, um Menschenleben zu retten. Mit hoher Geschwindigkeit rasten die Rettungskräfte an Ozmans Fenster vorbei die lange Göhler Straße entlang zur Firma Eisen-Schmidt, die wirklich jeder in Oldenburg kannte.
Das Begräbnis
Die Sturmbö heulte um das Gebäude und ließ die Fenster vibrieren. Sie verfing sich in der Traufschalung, rüttelte am Turm und schlug gegen die Tür. Das wütende Tosen war noch deutlicher zu vernehmen, nachdem die letzten Töne der Orgel verklungen waren.
Nur wenige Besucher der St.-Vinzenz-Kirche schauderten bei diesem Geräusch. Sturm und widrige Witterungsverhältnisse waren den Bewohnern Nordstrands vertraut. Seit Menschengedenken trotzten die Nordfriesen Meer und Wind. Sie hatten gelernt, den Naturgewalten zu widerstehen, auch wenn sich das Wasser immer wieder seine Opfer holte, mal zu Tausenden wie bei der großen Manndränke, ein anderes Mal einzeln.
Momme Thießen war nicht auf See geblieben. Plötzlich und unerwartet war er verstorben, dood bleeven, wie man hier zu sagen pflegte. Er war in der Blüte seines Lebens gewesen, gesund, kräftig, lebenserfahren, ein Bild von einem Mann. Die große Trauergemeinde, die sich in der altehrwürdigen Kirche versammelt hatte, erinnerte sich an den hochgewachsenen Mann mit den blauen Augen, der tiefen Stimme und dem vollen blonden Haar, das in den letzten Jahren unmerklich einem Weiß gewichen war. Die Männer schätzten seine offene und zupackende Art, seine Hilfsbereitschaft und sein kameradschaftliches Wesen.
Die Frauen hingegen waren der stattlichen Erscheinung mit verklärtem Blick gefolgt, manche hatten ihm verstohlen nachgesehen, andere mehr oder minder offen bekundet, dass ihnen ein kleines Abenteuer mit Momme Thießen durchaus willkommen gewesen wäre.
Es war nicht sicher, ob die offen gezeigten Tränen der Anwesenden allein der Rührung geschuldet waren, welche Menschen beim Ableben eines Nachbarn befällt, oder dem Kummer, dass Erinnerungen an schöne und intime Momente für immer der Vergangenheit angehörten, oder ob nicht doch Freude die Augen gehörnter Ehemänner feucht werden ließ.
Auch Jens Friedrich Jensen wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. Mit Momme hatte ihn eine lebenslange Freundschaft verbunden. Sie waren Nachbarskinder gewesen, hatten eine glückliche und unbeschwerte Kindheit im Koog verbracht, gemeinsam die Schulbank gedrückt und sich auch in den folgenden Jahrzehnten nicht aus den Augen verloren.
Nun hast du dich davongeschlichen, dachte Jens im Stillen. Wer begleitet mich nun in den Krug, wenn mir nach Unterhaltung ist? Mit wem kann ich über die Ereignisse auf unserer Insel sprechen? Über die großen und kleinen Missgeschicke der Nachbarn tratschen?
Jens war traurig, weniger, weil ein Mensch gestorben war, nein, weil Momme ihn schmählich zurückgelassen hatte. Andererseits