Umschlag

Rudolf Jagusch, geboren 1967 in Bergisch Gladbach, arbeitet als Diplomverwaltungswirt in Köln. Er lebt mit seiner Familie in Bornheim im Vorgebirge. Im Emons Verlag erschienen »Nebelspur« und »Todesquelle«.
www.krimistory.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und manche Orte sind frei erfunden, ebenso die handelnden Personen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind daher rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-171-8
Eifel Krimi
Originalausgabe

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Für meine Goldstücke Dana und Timo

EINS

Bruce Baron spritzte sich Wasser ins Gesicht. Er war allein auf der Toilette. Gut. So konnte er sich vor seinem großen Auftritt noch mal sammeln. Wie in Watte gepackt drang dumpf die Musik an seine Ohren. Die Band spielte ausgezeichnet, und er freute sich, dass er sie engagiert hatte.

Der Blick in den Spiegel zeigte ihm einen ausgemergelten und bleichen Mittfünfziger. Der drastische Gewichtsverlust in den letzten sechs Wochen hatte seine Wangen einfallen lassen, dunkle Ränder unter den Augen ließen ihn krank aussehen. Er nahm sich ein Papiertuch von der Ablage, trocknete sich die Hände und verließ die Toilette.

Im Ballsaal empfing ihn ein warmes gelbes Licht. Auf den runden Tischen, um die seine Gäste saßen, leuchteten Kerzen. Einige Paare tanzten ausgelassen auf der Tanzfläche.

Zufriedene Gesichter strahlten Baron an, als er zur Bühne schlenderte. Unauffällig gab er einer der Kellnerinnen ein Zeichen. Sie griff sich einen kleinen Karton, der unter dem Buffet stand, und begann, Kuverts an die Gäste zu verteilen. Bruce hatte ihr eingeschärft, allen zu sagen, dass sie die persönlich adressierten Umschläge erst nach seiner Rede öffnen durften. Er beobachtete, wie die Ersten ihre Umschläge erhielten. Zufrieden stellte er fest, dass sie der Aufforderung nachkamen und die Kuverts unangetastet ließen.

Baron lächelte. Als er am Tisch des Bürgermeisters vorbeikam, blieb er stehen und klopfte seinem alten Freund auf die Schulter. »Gefällt es dir?«

»Na sicher«, rief der Bürgermeister aus und schmauchte an seiner Zigarre. »Du hast dich das fünfundzwanzigjährige Firmenjubiläum ja richtig was kosten lassen. Hervorragend!«

»Ja, nur vom Feinsten«, bestätigte Baron und gab seiner Frau Susanne, die links vom Bürgermeister saß, einen Kuss in den Nacken. Sie trug ein weinrotes Abendkleid, das ihre Figur umschmeichelte. Die Perlenkette um ihren Hals schimmerte matt im Kerzenschein und betonte ihr freizügiges Dekolleté. Baron wusste, dass seine Frau einige Eskapaden mit anderen Männern gehabt hatte. Sie war kein Kind von Traurigkeit. In diesem Punkt unterschieden sie sich kaum. Allerdings sah das beim Thema Eifersucht anders aus. Er nahm es eher gelassen, wenn sie sich mal vergnügte, verzieh ihr die Seitensprünge. Sie dagegen machte ihm jedes Mal eine Szene, hatte ihn sogar schon mit einem Messer angegriffen. In ihrer Wut kannte sie keine Grenzen. Trotzdem liebte er sie immer noch.

»Bist du aufgeregt?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Ihr Atem roch süßlich nach Prosecco.

Er zuckte mit den Schultern. »Ein wenig.« Er gab ihr noch einen Kuss und schlenderte weiter.

Die Band war wirklich ein Glücksgriff gewesen. Die Musiker trafen jeden Ton und schienen sich dabei noch nicht mal anstrengen zu müssen. Die attraktive Sängerin hauchte lasziv ihren Text ins Mikro. Ein echter Augenschmaus, dachte Baron und zwinkerte ihr zu. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und winkte kaum merklich in seine Richtung.

Ein rundlicher Mann mit Glatze kam auf ihn zu und schüttelte enthusiastisch seine Hand. »Vielen, vielen Dank, Chef. Ich habe mich seit Jahren nicht mehr so köstlich amüsiert. Und erst das Buffet! Phantastisch. Ich habe noch nie Perlhuhn gegessen. Und echten Kaviar auch nicht.« Der Mann beugte sich vor und setzte eine verschwörerische Miene auf. »Das hat bestimmt ein Vermögen gekostet.«

Der Ludwig aus der Werbeabteilung. Ein zuverlässiger Mitarbeiter, mitunter leider ein wenig wehleidig, dachte Baron. »Das Beste ist gerade gut genug für meine Mitarbeiter. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis«, sagte er und senkte die Stimme. »Es ist noch nicht bezahlt.«

»Ach Sie«, gab Ludwig zurück und lachte. »Sie machen Witze.« Er ließ Barons Hand los und schob eine ebenfalls rundliche Frau vor. Sie reichte Baron bis zum Bauchnabel.

Ein lebender Medizinball, dachte dieser amüsiert, hörte ihren Namen, während er ihr freundlich zulächelte, und vergaß ihn auch sofort wieder. Damit wollte und musste er sich nicht mehr belasten. Er entschuldigte sich bei den Ludwigs und schritt die Treppe zur Bühne hinauf.

Die Band spielte die letzten Takte von »Rhapsody in Blue«. Geduldig lauschte er. Es freute ihn, dass die Musiker extra für diesen Anlass Gershwins Meisterwerk einstudiert hatten. Es war sein Wunsch gewesen, da es ihn an seine Anfangszeiten erinnerte, als er noch selbst Klinken geputzt hatte. Bei einer rassigen dunkelhäutigen Kubanerin war er damals mehr als einmal hängen geblieben. Sie hieß Maria und war als Republikflüchtige mit einem GI nach Spangdahlem in die Eifel gekommen. Endlich dem Kommunismus entflohen, verfiel sie dem amerikanischen Lebensstil. Ihr Soldat war schnell laufen gegangen. Geblieben waren ihr der Whisky, ihre Marlboros und die Musik. Und eine ganze Weile auch Bruce.

Wehmut packte ihn. Seine Brust fühlte sich plötzlich an, als ob ein dicker Stein darauf lasten würde. Damals war alles so einfach gewesen. Er hatte nichts außer seinem jungen Leben besessen, hatte nur hinzugewinnen können.

Die Sängerin steckte das Mikro in den Ständer und schlenderte mit aufreizenden Hüftschwüngen zu ihm rüber. Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ihr Atem roch nach Pfefferminz, ihr Parfüm blumig.

»Wir sehen uns.« Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Versetz mich nicht, sonst werde ich sehr böse.« Schmunzelnd verschwand sie mit den anderen Musikern in dem Gang, der zu den Garderoben führte.

Baron sah verstohlen zu seiner Frau. Sie unterhielt sich angeregt mit dem Bürgermeister und hatte von dem kurzen intimen Moment nichts mitbekommen. Erleichtert atmete er auf. Einen weiteren Fehltritt würde sie ihm zum jetzigen Zeitpunkt bestimmt nicht verzeihen. Von seiner Beziehung zu der Sängerin durfte sie auf keinen Fall erfahren. Er blickte auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Die Ersten saßen bereits etwas unruhig auf ihren Stühlen und warteten nur noch auf seine Ansprache, bevor sie nach Hause eilen würden. Jetzt war der Augenblick gekommen.

Mit festem Schritt trat er ans Mikrofon und wartete geduldig, bis er sich der Aufmerksamkeit aller sicher war. Er horchte in sich hinein. Damals, als er den Plan gefasst hatte, den Höhepunkt hier und jetzt zu setzen, hatte er noch Skrupel gehabt. Doch je näher der heutige Tag gerückt war, desto sicherer war er geworden. Er hatte alles richtig gemacht.

»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde«, begann er und steckte die Hände in die Taschen seines neuen Anzuges. »Ich hoffe, Sie hatten alle einen schönen Abend.«

Applaus brandete auf, einige johlten.

Baron lächelte und verbeugte sich leicht. »Das freut mich sehr. Sie haben sich diesen Abend redlich verdient. Denn fünfundzwanzig Jahre haben wir Seite an Seite gestanden und das Schiff auf Kurs gehalten. Jeder von Ihnen hat sein Bestes gegeben. Viele von Ihnen haben sich sogar finanziell eingebracht, haben mir Kredite gewährt, damit wir die schwierigen letzten drei Geschäftsjahre überbrücken konnten. Dazu die vielen unbezahlten Überstunden. Wenn ich die alle hätte auszahlen müssen, wäre ich schon vor längerer Zeit gezwungen gewesen, den Betrieb einzustellen. Ihr außergewöhnlicher Einsatz verdient meinen Respekt und meinen ganz besonderen Dank. Ich bin stolz auf Sie.« Er zog die Hände aus den Taschen und breitete die Arme aus.

Kräftiger Applaus schlug ihm entgegen.

So, das war der angenehme Part, dachte er. Er wartete einige Sekunden ab und legte sich die Worte zurecht, einfach strukturiert, für jeden verständlich.

»Aber leider hat das alles nichts genutzt. Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden.« Er fasste sich in die Hosentaschen und zog das Futter heraus. »Ich bin pleite. Mein Privatvermögen ist weg, meine horrenden Schulden kann ich nicht mehr bedienen, und das Finanzamt schnürt mir die Kehle zu. Ich habe Insolvenz angemeldet. In den Umschlägen, die Sie gerade erhalten haben, befinden sich Ihre Kündigungen. Die Produktion wird sofort eingestellt, die Verwaltung aufrechterhalten, bis alles abgewickelt ist. Vielleicht aber findet der Insolvenzverwalter den Weg, die Firma zu retten, den ich nicht sehe. Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Bühne.

Während er durch den Seitenausgang ins Freie trat, hörte er, wie hinter ihm im Saal der Tumult losbrach.

* * *

Die Straße durchschnitt ein kleines Wäldchen. Schneeregen prasselte, von den Baumkronen kaum gebremst, unvermindert heftig auf die Windschutzscheibe.

Jan Welscher kümmerte das nicht. Er hatte heute absichtlich nicht die A 1 genommen, da er Zeit brauchte, um über das nachzudenken, was ihn am Morgen kalt erwischt hatte.

Sein alter Fiesta keuchte mit mageren siebzig Stundenkilometern auf der L 182 unter der A 61 durch und weiter, an Neukirchen vorbei, in Richtung Großbüllesheim. Ärgerlich knüllte er seinen Pappkaffeebecher zusammen und warf ihn über die Schulter auf die Rückbank.

»Scheiße! Blöde Hinterwäldler! Dumpfbacken!«, fluchte er nicht zum ersten Mal, seit er heute Morgen seine Zuweisung erhalten hatte. »Euskirchen, so ein Scheißkaff!« Er haute mit dem Handballen auf das Lenkrad. Dabei war doch bisher alles nach Plan gelaufen. Nach der Ausbildung und den Jahren bei der Bereitschaftspolizei hatte er den Dienst im Polizeipräsidium in Köln-Kalk angetreten, ganz so, wie er sich das erhofft hatte. Eine Großstadt mit Herz, in der jeder so leben konnte, wie es ihm in den Sinn kam.

Welscher fingerte an seinem Handy herum, scrollte durch das Telefonbuch. Er musste zu Hause Bescheid geben und sich seinen Frust von der Seele reden. Kurz zögerte er. Ob Alex ihm überhaupt zuhören würde?

Beim gemeinsamen Frühstück heute Morgen hatten sie sich wieder einmal gestritten, wie so oft in den letzten Monaten. Diesmal war es die Wäsche gewesen. Verdammt. Seine unregelmäßige Arbeitszeit brachte es nun mal mit sich, dass der überwiegende Teil der Hausarbeit an Alex hängen blieb. Er konnte doch nichts dafür. Und wenn es nicht seine Arbeitszeit oder die Hausarbeit war, dann ein versalzenes Essen, ein verschütteter Traubensaft oder eine verdorrte Pflanze, an die niemand gedacht hatte. In letzter Zeit fanden sie immer wieder einen Anlass, um aus banalen Gründen einen Streit vom Zaun zu brechen. Sogar der Klassiker aller Beziehungskiller war dabei gewesen: die nicht zugeschraubte Zahnpastatube.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Welscher, ob sie die Beziehung auf dieser Basis überhaupt noch weiterführen konnten. Aber gemeinsame fünf Jahre warf man nicht einfach so über Bord. Er war bereit, für seine Liebe zu kämpfen und Kompromisse einzugehen. Ob Alex es auch so sah? Daran zweifelte er in letzter Zeit immer häufiger. Das ständige Gezicke um jede Kleinigkeit ging ihm ziemlich auf die Nerven.

Aber egal. Jetzt brauchte er eine vertraute Stimme. Er würde einfach mit einer Entschuldigung beginnen, das würde die Wogen glätten.

In seiner Aufregung flutschte ihm das Handy aus der Hand und fiel in den Fußraum auf der Beifahrerseite. »Mist«, grummelte er, beugte sich hinunter und tastete nach dem Gerät. Als er es endlich erwischt hatte und wieder hochkam, bog keine fünfzig Meter vor ihm ein Traktor mit Hänger aus Richtung Schneppenheim auf die Straße und hielt überraschend an. Beherzt trat Welscher in die Eisen und kam schlitternd nur wenige Zentimeter vor dem Traktor zu stehen. Wäre sein Fiesta nicht so altersschwach die Straße entlanggekrochen, wäre er mit Sicherheit unter den Auflieger geraten und jetzt einen Kopf kürzer. Sein Herz klopfte bis zum Hals.

Der Landwirt stieg seelenruhig aus der Fahrerkabine und stellte sich breitbeinig an den Straßengraben.

»Ich glaub es nicht.« Wütend riss Welscher die Autotür auf und wollte hinausspringen. Doch er wurde im Sitz festgehalten. Im ersten Moment wusste er nicht, was los war, dann schoss ihm die Röte ins Gesicht. Er hieb auf das Gurtschloss. Mit einem pfeifenden Geräusch rollte der Gurt sich auf und gab ihn endlich frei. Welscher stieg aus dem Wagen und stürmte auf den Mann zu. »Ja wo gibt’s denn so was? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«

Der Landwirt schüttelte ab, zog den Reißverschluss seiner vor Dreck starrenden Jeans hoch und wandte sich Welscher zu. Dabei blickte er ihn nicht an, sondern sah auf etwas hinter Welschers Rücken. »Stadtminsch«, brummte er und deutete auf das Kennzeichen.

»Dass es mir nicht auf der Stirn steht, ist mir schon klar«, gab Welscher unwirsch zurück und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung Traktor. »Wie können Sie nur dort anhalten, Mann? Das ist ja gemeingefährlich.«

Einige Wagen zogen hupend an ihnen vorbei.

Der Landwirt achtete gar nicht darauf. »Isch moot ens pinkelen«, nuschelte er und erklomm dann das Führerhaus seines Traktors. Ohne Welscher eines weiteren Blickes zu würdigen, ließ er den Diesel an und zuckelte davon. Eine Rußwolke umhüllte Welscher und ließ ihn husten. Er zog seinen Notizblock aus der Innentasche seines Blousons und notierte sich das Kennzeichen. Als er die letzte Ziffer schrieb, hielt er inne. Sekundenlang schwebte die Mine des Bleistifts über dem Papier, bis er das Kennzeichen durchstrich. Er musste den Kollegen ja nicht direkt am ersten Tag mit solchen Bagatellen auf die Nerven gehen. Die sollten schließlich nicht denken, er würde sich an so etwas aufhängen. Er steckte den Block ein, setzte sich in seinen Wagen und fuhr weiter.

Kurz vor der Kreuzung, an der Welscher links auf die Kölner Straße abbiegen musste, überholte er den Traktor. Der Landwirt tuckerte seelenruhig mit zwanzig Stundenkilometern über die Landstraße, als ob nichts gewesen wäre. Welscher kurbelte das Seitenfenster herunter, streckte den Arm raus und zeigte dem Mann den erhobenen Mittelfinger. Für einen Moment fühlte er sich besser, doch als er einige Minuten später das gelbe Ortsschild erreichte, verflog seine gute Laune wieder. Euskirchen.

Dieses Drecksloch, dachte er, ausgerechnet hierhin. Einen klitzekleinen Trost verspürte er, als er sich daran erinnerte, dass das Gebäude der Kreispolizeibehörde an der Kölner Straße lag. Zumindest das Straßenschild trug einen vernünftigen Namen.

Kurz darauf parkte er seinen Fiesta und betrat mit klopfendem Herzen das schmucklose Gebäude. Da er sich hier nicht auskannte, hatte er den Besuchereingang gewählt. Vom kleinen, nahezu quadratischen Eingangsbereich führte eine Glastür geradeaus in das Treppenhaus. In die Tür links war ein Fenster eingelassen. Welscher sah in dem Raum dahinter eine Frau, die in einen Telefonhörer sprach. Er klopfte, der Türöffner summte und er trat ein. Sie beendete das Gespräch und sah ihn freundlich an.

»Ja?«

Ihr nettes, rundes Gesicht wurde von einem kleinen Doppelkinn untermalt. Eine ansehnliche Oberweite sprengte fast die weiße Bluse. Die Knöpfe spannten bedrohlich, ihr Namensschild, das sie als Frau Brockmeyer auswies, lag fast waagerecht. Im Kragen steckte eine Nadel mit dem nordrhein-westfälischen Wappen. Er schätzte ihr Alter auf Mitte zwanzig.

»Jan Welscher. Ich bin der Neue«, presste er missmutig hervor. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich den Nasenrücken und hob entschuldigend die andere Hand. »Ich fang besser noch mal an.«

»Ist Ihnen nicht gut?«

Ihre Stimme klang wie drei Tage in einer Disco durchgefeiert, kratzig und tief, zu viele Zigaretten, zu viel Alkohol. Welscher vermutete, dass irgendwo in einem der kleinen Dörfer hier am Wochenende ein Schützenfest stattgefunden hatte. Bevor er es verhindern konnte, rutschte ihm heraus: »Da hat aber jemand am Wochenende mit dem Nubbel getanzt, was?«

Er biss sich auf die Zunge. Was ging es ihn an, was die Kollegin am Wochenende trieb?

Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Und Nubbel heißt das Männchen bei uns auch nicht, das sollten gerade Sie eigentlich wissen.«

Er nickte stumm. Nach dem Volksglauben wurden in Köln mit dem Verbrennen des Nubbels kurz vor Aschermittwoch alle in der Karnevalszeit begangenen Sünden und Verfehlungen getilgt. Hier auf den Dörfern geschah das am Ende einer Kirmes, und je nach Region hieß der Nubbel dann Zachaies, Rurmanes oder auch Äätzebär.

Sie zupfte an ihrem Hemdkragen und zog einen Flunsch.

Welscher fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Okay, okay, Arschloch meldet sich zum Dienst«, sagte er und versuchte so, die Situation mit einem Scherz zu entspannen.

Frau Brockmeyer hob eine Augenbraue und blätterte in den Papieren, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Mit einer schwungvollen Bewegung zog sie ein Schreiben hervor, überflog es kurz und hielt es ihm dann vor die Nase. »Nachname Arschloch, Vorname Großes. Stimmt. Der soll heute seinen Dienst hier aufnehmen. Das sind dann wohl eindeutig Sie.«

Welscher las seinen Namen auf dem Schreiben und nickte. Bei Frau Brockmeyer hatte er wohl vorerst verschissen. Er nahm sich vor, bei passender Gelegenheit ein wenig Schönwetter zu machen. Vielleicht mit einem Blumenstrauß.

Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn ihm mit spitzen Fingern. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie dorthin kommen sollen.«

Er nahm den Zettel. Die krakelige Handschrift konnte er kaum entziffern. »Maria Rast?«, fragte er unsicher und runzelte die Stirn.

»Wenn es da steht«, fistelte sie und sah zum Fenster hinaus.

»Was ist denn los?«, wollte Welscher wissen.

»Was weiß denn ich? Ich bin nur die Empfangsdame.« Wieder zupfte sie an ihrer Bluse herum.

Er stopfte sich den Zettel in die Hosentasche und wusste ganz genau, dass sie im Bilde war. Aber offensichtlich hatte sie beschlossen, ihn wie die Titanic auf den Eisberg auflaufen zu lassen. Er drehte sich um und öffnete die Tür.

»Sie wissen, wo das ist?«, rief ihm Frau Brockmeyer nach. In ihrer Stimme schwang Skepsis mit.

»Kein Problem«, antwortete Welscher, ohne sich umzudrehen.

* * *

Horst Fischbach, den alle bis auf seine Frau nur Hotte nannten, saß gedankenverloren an der Werkbank in seiner kleinen Werkstatt. Er starrte auf die grünliche Plane in der hinteren Ecke des Raumes. Eine Maus flitzte über den Berg, den der Stoff verbarg. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er das Autowrack behalten hatte, erinnerte es ihn doch jeden Tag an den folgenschweren Unfall vor fünfzehn Jahren.

Fischbach wischte sich über die Augen. Die Wochen vor Weihnachten waren die schlimmsten. Der Schmerz, der ansonsten ganz tief in ihm grummelte, flammte auf und entfachte sich bis zu den Feiertagen zu einer Feuersbrunst. In dieser Zeit wurde er wortkarg und abweisend, ohne es wirklich zu wollen.

Jemand stupste ihn an die Wade. Er riss sich von dem Anblick los und beugte sich vor. »Mensch, Schnüffel«, seufzte er und tätschelte dem Tier die Seite. »Heitere mich mal was auf.«

»Klößchen«, hörte er da seine Frau Sigrid über den kleinen Hof rufen. Die Tür der Werkstatt wurde aufgerissen, und sie stürmte herein. »Telefon, dein Chef.«

Fischbach griff sich den Motorradtank von der Werkbank, klemmte ihn zwischen die Beine und begann, den Lack abzuschmirgeln. »Ich hab frei«, sagte er mit fester Stimme, um keinen Widerspruch zuzulassen. »Und ich mag es nicht, wenn du mich so nennst.«

Sie legte den Kopf schief und lächelte, ihre Augen strahlten. Wie immer wirkte sie so, als ob ihr der Schalk im Nacken säße. Mit ihrem heiteren, gutmütigen und ehrlichen Charakter schaffte sie es immer wieder, seine trüben Gedanken zu vertreiben. Dafür liebte er sie.

Sie hielt ihm das Telefon hin. »Nun hab dich doch nicht so. Es ist wohl wichtig.«

Fischbach schüttelte demonstrativ den Kopf. Er hatte sich seinen freien Tag redlich verdient. Insgeheim wusste er jedoch, dass er gegen Windmühlen kämpfte.

Sigrid trat neben ihn, streichelte ihm fürsorglich über sein volles Haar und drückte ihm den Hörer ans Ohr.

»Was ist?«, blaffte Fischbach. »Letzte Woche noch hast du mir versichert, du hättest vollstes Verständnis dafür, dass ich mal eine Woche aussetzen muss. Und jetzt, ich bin kaum ein paar Stunden fort, muss ich schon wieder deine Stimme hören.« Er legte den Tank zur Seite und nahm Sigrid den Hörer aus der Hand.

»Ich weiß«, hörte Fischbach die knorrige Stimme seines Chefs sagen. »Aber ich brauche dich hier. Dringend.«

Sigrid winkte ihm stumm zu und schob ihren kleinen, runden Körper elegant wie eine Primaballerina zur Tür hinaus.

Fischbach schluckte seinen Ärger hinunter. »Leg schon los«, presste er heraus.

»Du wirst es kaum glauben«, verkündete sein Chef und begann mit wahrscheinlich vor Stolz geschwellter Brust, Ungeheuerliches zu erzählen.

Staunend hörte Fischbach zu.

* * *

Welscher nahm die B 51 bis Kreuzweingarten. Immer noch prasselte eisiger Schneeregen auf die Windschutzscheibe. Die Wischer zogen Schlieren, der Austausch der Gummis war schon lange überfällig. Rund um Welschers Auto verschwamm die Landschaft in Grautönen und passte somit zu seiner Stimmung.

Hinter Kreuzweingarten wusste er nicht weiter, hielt auf Höhe der Münsterbergstraße an und trommelte nervös auf das Lenkrad. Sofort beschlugen die Scheiben von innen.

»Scheiße«, fluchte er leise und wischte mit der flachen Hand über das Verbundglas. Angestrengt spähte er hinaus. »Irgendwo hier war das doch.«

Hätte er sich doch nur die genaue Adresse mitgeben lassen. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als die holde Schützenkönigin mit der kratzigen Stimme anzurufen. Nach seinem Abgang vorhin würde die sich schön ins Fäustchen lachen.

Er kramte sein Handy aus der Manteltasche. Die Anzeigebalken signalisierten einen miserablen Empfang. »Alles Käffer hier. Technik von anno Pief«, murmelte er und stieg aus.

Ein tiefergelegter Golf schoss auf ihn zu und haarscharf an der geöffneten Tür vorbei. Mit röhrendem Auspuff und zu hoher Geschwindigkeit verschwand er in der Ferne.

»Proll«, schimpfte Welscher wütend. »Dich werden die Kollegen auch noch mal aus irgendeiner Baumrinde kratzen.«

Sicherheitshalber umrundete er das Heck seines Wagens. Sollte der verhinderte Walter Röhrl zurückkommen oder einer seiner bekloppten Rennbrüder auftauchen, konnte er bei Bedarf seine Gesundheit mit einem Sprung hinter die Leitplanke erhalten.

Er lehnte sich gegen den Kotflügel und suchte in seiner Manteltasche die Telefonnummer der Behörde. Alles, was er fand, war ein Zwanzig-Cent-Stück. Na klasse, dachte er, jetzt muss ich mich auch noch über die 110 verbinden lassen. Die Kollegen in der Einsatzleitstelle würden sich sicher nicht über einen derart banalen Anruf freuen. Ärgerlich haute er mit der Faust auf das Autoblech und blickte genervt über das matschige Feld, das sich vor ihm ausbreitete. Angestrengt kramte er in seinen Erinnerungen. Maria Rast. Da war er mal mit seinen Eltern eingekehrt. Pinguine kamen ihm in den Sinn. Nonnen, ja klar. Er hieb sich in die Hand. Richtig. Eine katholische Bildungsstätte. An einem Waldrand. Sie waren damals in Kreuzweingarten abgebogen, da war er sich plötzlich sicher.

Welscher sprang wieder in seinen Fiesta, wischte erneut mit dem Handrücken den Beschlag von der Scheibe und wendete den Wagen. Vor dem Gasthaus »Zum Alten Brauhaus« bog er instinktiv links in die Antweiler Straße ein und folgte ihr, bis es rechts schließlich tatsächlich zum Parkplatz von Maria Rast hinaufging. Wenige hundert Meter weiter versperrte ihm ein quer gestellter blau-weißer Passat den Weg.

Einer der beiden Streifenpolizisten stieg aus, stellte sich breitbeinig in Position und forderte ihn mit erhobener Hand auf, anzuhalten. Welscher hielt grinsend an. Der Kollege wirkte, als ob er Supermann wäre und einen heranrasenden Güterzug stoppen wollte. Er kurbelte die Scheibe hinunter. Sofort strich ihm ein eisiger Wind über die Wangen.

»Presse ist nicht zugelassen«, grunzte der Mann und zog den Kragen seiner Lederjacke enger.

Welscher zog seinen Dienstausweis aus dem Portemonnaie und hielt ihn so, dass der Kollege ihn sehen konnte.

Der nickte. »Dich kenne ich noch nicht«, beschied er ihn und zündete sich eine Zigarette an.

Der Beamte, der es vorgezogen hatte, im warmen Wagen sitzen zu bleiben, stieg jetzt aus und gesellte sich zu ihnen.

Welscher stieg ebenfalls aus und stellte sich vor. »Erster Tag heute«, offenbarte er.

Die beiden Grün-Weißen lachten. Es klang nicht amüsiert.

»Und dann gleich so was. Herzlichen Glückwunsch auch«, sagte der mit der Zigarette.

»Was genau ist denn eigentlich los?«, wollte Welscher wissen. »Wenn ich sehe, was für ein Fuhrpark hier herumsteht, schwant mir nichts Gutes.« Er deutete mit dem Kinn auf den Parkplatz vor dem Waldrand. Dort standen zwei weiße VW Bullys und ein nachtblauer Bentley.

Der Kollege mit der Zigarette nickte. »Da liegst du richtig. Im Wald oben liegt eine Leiche. Vermutlich Mord, sieht zumindest ziemlich zugerichtet aus, der arme Kerl. Der Förster hat ihn heute Morgen gefunden. Etwa zweihundert Meter von hier. Brauchst nur mittig vom Parkplatz aus dem Weg in den Wald folgen.« Er deutete in die Richtung.

Welscher schluckte schwer und zog eine Grimasse. Na toll. Erst die überraschende Zuweisung in die Einöde vor gut zwei Stunden. Und dann auch gleich voll ins Eingemachte. Nix mit gemütlich ankommen und alles in Ruhe kennenlernen. Wenn sich herausstellen sollte, dass es sich tatsächlich um einen Mord handelte, dann konnte er seinen Besuch heute Abend im Kölner Gloria, auf den er sich schon seit Wochen freute, vergessen.

Der Wind fing sich in Welschers blonden Haaren und zerzauste seinen Scheitel. Mit einer unwirschen Handbewegung strich er die Strähnen aus dem Gesicht. Hinter sich hörte er ein näherkommendes Grollen. Er drehte sich um und blickte hangabwärts. Ein Motorrad tauchte auf der Straße auf und donnerte heran. Der deutlich übergewichtige Fahrer trug einen Stahlhelm und Lederkleidung. Ein Dreitagebart kämpfte mit einer riesigen roten Nase um Aufmerksamkeit. Trotz des diffusen Tageslichtes trug er eine Sonnenbrille. Ein Schal mit einem Aufdruck wehte im Wind. Wenn Welscher es aus der Entfernung richtig deuten konnte, stand dort »The K-Heroes«. Was zum Teufel sollte das denn bedeuten? K wie kaputt?

»Leute, Kundschaft«, witzelte er. »Bekloppter Lokalreporter des hiesigen Käseblattes erscheint auf der Bildfläche.«

Die beiden Kollegen sahen ihn mit verwirrtem Gesichtsausdruck an.

»Was denn für ein Reporter?«

»Wie, bekloppt?«

Welscher wedelte mit der flachen Hand vor seinem Gesicht herum. »Mensch, wir haben höchstens ein, zwei Grad über Null. Und der fährt mit seiner Honda rum. Dem muss doch die Sicherung durchgebrannt sein.«

»Das ist eine Harley«, berichtigte ihn der Kollege. »Und mit Reporter liegst du auch daneben. Das ist der Hotte.«

Fischbach bremste vor dem Streifenwagen und drehte den Zündschlüssel. Der Motor erstarb mit einem heiseren Röcheln. Er wuchtete die Harley auf den Ständer, nahm den Helm ab und stopfte die Handschuhe hinein.

»Ist arschkalt«, empfing ihn der Kollege von den Grün-Weißen mit hochgezogenen Schultern und den Händen tief in den Taschen seiner Lederjacke vergraben. »Wie hältst du das nur aus?«

Der andere deutete mit dem Daumen in Richtung Wald. »Da geht’s lang. Der arme Kerl liegt bei den Überresten der Burg. Lasst eure Karren ruhig hier stehen. Wir passen auf.«

Fischbach nickte und musterte dann den schlaksigen Kerl neben den beiden. Zu schlaksig, fast dürr, missmutiger Gesichtsausdruck. Für seinen Geschmack zu lange Haare, ein überschminkter Pickel auf der Nase. Wohl ein wenig eitel, der Neue, amüsierte sich Fischbach stumm. »Jan Welscher?«, fragte er.

Erstaunt riss der junge Mann die Augen auf. »Ja. Woher …«

»Kriminalhauptkommissar Hotte Fischbach«, stellte sich Fischbach vor und gab Welscher die Hand. »Hab gerade erfahren, dass du jetzt zu uns gehörst. Komm mit.« Er stapfte los.

Der neue Kollege gesellte sich leichtfüßig an seine Seite, tänzelnd fast. Fischbach dagegen schnaufte nach wenigen Metern.

»Geht es dir nicht gut?«, wollte Welscher von ihm wissen.

Fischbach sah ihn von der Seite an, bemerkte das spöttische Lächeln und entschied, nicht darauf einzugehen. Was wusste die Jugend schon, wie sich das Alter anfühlte? Schließlich wurde er nächstes Jahr fünfzig.

Aus dem Straßengraben sprang aufgeregt ein Kaninchen heraus und rannte mit wilden Sprüngen über die mit Raureif überzogene Wiese davon.

Fischbachs Knie schmerzten.

Der Spott verschwand aus Welschers Gesicht. »Gewöhn dich nicht an mich. Bin nur auf der Durchreise. Werde mich, so schnell es geht, wieder in die Stadt versetzen lassen. Wer will schon in der Scheiß-Eifel Dienst schieben?«

»Ist mir auch lieber. Ich mag so junges Gemüse nicht«, knurrte Fischbach, ohne es wirklich ernst zu meinen. Aber die Verachtung seiner geliebten Heimat, die in Welschers Stimme mitschwang, ärgerte ihn. Wie konnte man diese Landschaft nicht mögen? So abwechslungsreich, wie der liebe Gott die Erdkruste hier in der Eifel modelliert hatte, waren nur wenige auf Erden. Die geheimnisvollen Maare, riesigen Laubwälder und saftigen Wiesen. Dazu ein knorriges Völkchen, das zwar lange brauchte, um jemanden ins Herz zu fassen, ihn dafür dann aber auch niemals wieder losließ. So etwas musste man doch mögen.

Sie hatten die Stelle fast erreicht. Wenige Meter vor ihnen kramte ein Mann im weißen einteiligen Schutzanzug im geöffneten Heck eines Kleintransporters.

Fischbach zeigte in seine Richtung. »Unsere Tatortgruppe.«

»Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur«, murmelte Welscher.

»Wie weise«, frotzelte Fischbach.

»Ist nicht von mir, sondern von Edmond Locard«, stellte Welscher richtig und ergänzte, als Fischbach ihn fragend anblickte: »Französischer Pionier der Forensik. Hatte gedacht, es hätte sich auch bis hierher rumgesprochen.«

Schon wieder so eine abfällige Bemerkung. Fischbach riss sich zusammen und unterdrückte den Wunsch nach einer Retourkutsche. Er musste sich die Finger nicht schmutzig machen. Wenn der Neue dieses Verhalten auch den anderen im Team gegenüber an den Tag legte, dann würde er sich spätestens am Nachmittag heulend auf der Toilette einschließen. Er freute sich jetzt schon auf den Augenblick, in dem er Welscher ein Taschentuch in die Hand drücken könnte.

Der Mann im weißen Anzug ging vor ihnen über den Parkplatz, bog rechts in einen Pfad ein. Fischbach und Welscher folgten ihm. Laub raschelte unter ihren Füßen. Die Buchen streckten dem Himmel ihre nackten Kronen entgegen. Feiner Nebel hing zwischen den Stämmen und dämpfte jedes weitere Geräusch. Große, runde Misteln an den Ästen saugten den Bäumen die Nährstoffe aus. Die Wipfel rauschten.

Fischbach hielt kurz an und tippte mit der Fußspitze auf eine zugefrorene Pfütze. »Gefroren«, stellte er fest. »Knochenhart. Wird schwer werden, Abdrücke zu finden.«

Aus seiner Hosentasche klangen die Akkorde von »Highway to Hell«.

»Ah, AC/DC. Gerade als brandheißer Newcomer in eure Top Ten eingestiegen, was?«, lästerte Welscher.

»Jung, dat han ech schon jehört, do biste noch mit demm Trömmelche öm der Chressboom jeloofe«, murrte Fischbach, klemmte sein Handy ans Ohr und meldete sich.

»Andrea hier. Wie lange brauchst du noch?«, hörte er die aufgeregte Stimme seiner Kollegin fragen.

»Ich seh dich schon«, antwortete er und winkte. Ihre rote Daunenjacke leuchtete in der schmutzig braunen, von zwei Scheinwerfern erleuchteten Umgebung unwirklich grell. Sie trat von einem Bein auf das andere. Ihre dunkelblonden, mit hellen Strähnen durchzogenen, schulterlangen Haare klebten feucht am Kopf. Fischbach verspürte Mitleid mit ihr. Es war offensichtlich, dass Andrea Lindenlaub bis auf die Knochen durchgefroren war.

Ein rot-weißes Absperrband war in einem Radius von circa zwanzig Metern um den Tatort von Baum zu Baum gespannt. Beim Näherkommen zählte Fischbach fünf Kollegen der Kriminaltechnik, alle in weißen Schutzanzügen und mit Schutzhauben auf dem Kopf. Sie werkelten emsig um ein Stück alte Mauer, das nicht viel größer als ein Garagentor war. Moos hatte sich in den Ritzen ausgebreitet und schimmerte feucht. Links an den Bruchsteinen saß eine lebensgroße Steinstatue, von der nur noch der Rumpf und die Oberschenkel vorhanden waren.

Fischbach schluckte trocken, als sein Blick auf den Leichnam fiel. Der Tote saß mit dem Rücken in den Winkel gedrückt, den die Statue zur Mauer bildete. Kuschelig. Auch dem Opfer fehlte der Kopf. Knochensplitter, Blut und Gehirnmasse klebten an der Steinwand, an der der Leichnam lehnte.

»Gütiger Gott. Der Kopf ist ja explodiert«, sagte er leise.

Neben Andrea Lindenlaub fröstelte Guido Büscheler, totenbleich und heftig an einer Zigarette ziehend.

»Wenn du dem noch die Hände und Füße abhackst, sieht er aus wie der steinerne Kollege«, flüsterte er rau.

Büscheler stand kurz vor der Pensionierung. Fischbach wusste, dass er mit den Nerven runter war, und hätte ihm die ganze Sache hier gerne erspart. Doch bei der speziellen Sachlage konnte er auf einen so routinierten, zuverlässigen und emsigen Kollegen nicht verzichten.

»Na dann mal rein ins Vergnügen«, seufzte Fischbach und hieb seinem neuen Kollegen aufmunternd auf die Schulter.

Welscher gab jedem die Hand und stellte sich vor. Dabei vermied er es, zum Toten zu blicken. Wenn er eins hasste, dann waren es Leichen. Nicht gerade von Vorteil in seinem Beruf, das wusste er selbst. Regelmäßig rebellierte sein Magen. Auch jetzt spürte er bereits die aufsteigende Säure in seiner Speiseröhre. Stumm bemitleidete er sich selbst. Offensichtlich hatte sich heute alles gegen ihn verschworen. Es gab keinen gerechten Gott, entschied er.

»Er wird uns unterstützen«, erläuterte Fischbach. »Mehr nachher im Büro. Lasst uns erst mal hier unsere Arbeit machen.«

»Wann kommen die Bonner?«, wollte Büscheler wissen, während er seine Kippe auf dem gefrorenen Boden austrat. Er hustete röchelnd in die hohle Hand, räusperte sich und spuckte gelben Schleim auf den Boden. »Blöde Erkältung«, murmelte er und zündete sich direkt eine neue Zigarette an.

Wohl eher die Raucherlunge, dachte Welscher.

»Die kommen gar nicht«, antwortete Fischbach und erntete allseits überraschte Gesichter.

»Wie? Was soll das denn heißen?«, echauffierte sich Andrea Lindenlaub. »Feiern die alle ihre Überstunden ab, oder was? Wenn es das ist, fehlt mir jegliches Verständnis. Ich bin auch schon fünfzehn Stunden im Dienst. Die sollen mal ihre Hintern …«

»Beruhige dich«, bremste Fischbach sie. »Das wird sich nachher alles aufklären. Jetzt kümmern wir uns erst mal um den Tatort.«

Welscher legte den Kopf schief. Da war er ja mal gespannt. Normalerweise leitete ein Kollege vom Bonner Polizeipräsidium die Mordermittlungen, das war ihm bekannt. Was war hier los? Ein nicht autorisierter Alleingang? Den würde er schnellstmöglich unterbinden, wenn es denn so wäre. Vielleicht könnte er sich so seine baldige Versetzung verdienen. Köln, ich komme, frohlockte er stumm.

»Bringt uns mal auf Stand«, forderte Fischbach.

Büscheler zog an seiner Zigarette und wies mit dem Kinn in Andrea Lindenlaubs Richtung. »Mach du. Du warst zuerst hier.«

Sie nahm ihr Notizbuch und schlug eine Seite auf.

»Der Anruf ging um vier Uhr siebzehn in der Leitstelle ein. Anrufer war ein gewisser Adolf Bachem, wohnhaft in Kreuzweingarten. Beruf Förster. Er war auf Inspektion, als er hier gegen drei Uhr fünfundvierzig vorbeikam. Der Streifenwagen und der Rettungsdienst trafen zeitgleich um zwanzig vor fünf ein. Der Notarzt kam zehn Minuten später. Er attestierte Tod durch Fremdeinwirkung.«

Sie lachte unlustig. »Was unschwer zu erkennen gewesen sein dürfte. Zwischenzeitlich hat man mich aus dem Bett geholt. Scheiß-Bereitschaft, die raubt mir noch den letzten Nerv. Eingetroffen bin ich um kurz vor sechs. Das Rettungsteam war schon wieder weg, die Kollegen von der Streife wiesen mich ein.«

Sie stockte einen Moment und machte eine fahrige Handbewegung in Richtung des Leichnams. »Die Tatwaffe war nirgends zu finden, daher können wir Selbstmord wohl ausschließen. Ich alarmierte also die Staatsanwaltschaft und die Tatortgruppe. Die Techniker trafen um sieben hier ein, Guido um kurz vor acht. Die Staatsanwältin wollte so schnell wie möglich kommen, ist aber noch nicht aufgetaucht.«

»Sie wird bald hier sein«, meinte Fischbach. »Es gab noch ein paar Dinge zu klären.«

Mist, doch kein Alleingang, stellte Welscher enttäuscht fest. Wenn jemand von der Staatsanwaltschaft eingeweiht war, konnte er dem dicken Kollegen nicht mehr ans Bein pinkeln. Die Spitzen des Kölner Doms, denen er sich eben bereits so nahe gefühlt hatte, verblassten in seinen Gedanken.

»Wissen wir was über den Toten?«, horchte Fischbach nach.

»Aber ja doch«, erwiderte Andrea Lindenlaub. »Der hatte seine kompletten Papiere dabei. Ich hab sie in der Innentasche seines Sakkos gefunden. Es handelt sich um einen gewissen Bruce Baron, wohnhaft in Mechernich. Sein Wagen steht unten auf dem Parkplatz.«

»Der Baron«, betonte Büscheler und sah Fischbach an. »Der mit der Firma in Kall.«

Überrascht stieß Fischbach ein »Oh!« aus. »Lokale Prominenz also. Was ist mit diesem Jäger?«

»Förster«, korrigierte ihn Andrea Lindenlaub. »Mehr, als dass er hier vorbeigekommen ist und das Opfer gefunden hat, konnte er nicht berichten. Hab den armen Kerl vorhin nach Hause geschickt. Ich hatte echt Sorge, dass der mir hier umkippt. Er sah aus wie der lebende Tod.«

Also wie der Kollege Büscheler, dachte Welscher mit einem Seitenblick auf den kleinen Mann.

»Er hält sich zu unserer Verfügung«, fuhr Andrea Lindenlaub fort. »Wir können uns also später in aller Ruhe um ihn kümmern. Weitere Zeugen kann ich dir nicht präsentieren.«

Fischbach seufzte. »Wäre ja auch zu schön gewesen. Sonst noch was Wichtiges?«

Sie zog eine Schnute und wies stumm auf einen in einen einteiligen Schutzanzug gekleideten Mann, der am Fuß der Mauer hockte und Fotos schoss.

Büscheler griff nach seiner Zigarettenschachtel und hielt sie Welscher einladend hin.

»Nein, danke. Bin Nichtraucher«, lehnte er ab.

»Selbst schuld«, keuchte Büscheler und steckte sich eine an.

»Heinz, alter Miesepeter, wie lange braucht ihr noch?«, rief Fischbach dem Mann am Fuß der Mauer zu. Der sah mit mürrischer Miene auf, erhob sich dann sichtlich widerwillig und kam zu ihnen rüber. Seine Kamera trug er an einem Tragegurt über der Schulter, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ein riesiges Feuermal verunstaltete seine linke Gesichtshälfte.

Welscher musterte den Kriminaltechniker. Dessen Augäpfel sprangen wie irr hin und her und schienen keinen Punkt länger als einige Sekunden anzuvisieren.

»Ein neues Gesicht«, stellte der Mann mit tiefer Bassstimme fest und huschte mit seinem Blick bereits weiter. Er reichte Welscher die Hand, ohne ihn anzublicken. »Heinz Feuersänger. Wir sehen uns dann ja jetzt vermutlich öfter.«

Feuersänger? Das kann doch nicht wahr sein, dachte Welscher, wie grotesk. Der arme Kerl wurde vermutlich sein Leben lang gehänselt.

Welscher schlug ein. »Schaun wir mal.«

Feuersänger wandte sich an Fischbach. »Wir sind schon vier Stunden hier«, sagte er. Ein leiser Vorwurf schwang in seiner Stimme mit. Vermutlich beneidete er den Kommissar, der noch gemütlich zu Hause hatte frühstücken können, kombinierte Welscher.

»Ihr seid die wahren Helden. Ohne euch wäre alles nichts«, lobte Fischbach übertrieben. »Trotzdem kein Grund, hier den Miesepeter zu mimen. Wir haben nämlich einen Job zu erledigen. Und zufällig hat der etwas mit dem Kerl da zu tun.« Fischbach wedelte mit der Rechten in Richtung des Toten.

Andrea Lindenlaub und Büscheler schmunzelten. Offensichtlich gefiel es ihnen, dass Fischbach sich Feuersänger zur Brust nahm.

Gequält verzog Feuersänger das Gesicht. Das Mal auf seiner Wange leuchtete jetzt stärker. »Spar dir den Mist. Fünf Minuten noch, dann dürft ihr stürmen.«

Fischbach verschränkte die Arme vor der Brust und straffte sich. »Nix fünf Minuten. Deine erste Einschätzung, raus damit.«

Bevor Feuersänger antworten konnte, rief ihm einer seiner Männer zu: »Wir haben alles, Heinz. Sollen wir einpacken?«

»Wenn du möchtest, kannst du der Leiche gerne noch länger Gesellschaft leisten«, rief Feuersänger zurück. »Was für eine blöde Frage. Wir nehmen uns jetzt den Wagen vor!«

Er wandte sich wieder an Fischbach. »Sind klasse, die Jungs. Nur manchmal ein wenig uneigenständig. Aber um auf unseren Freund da drüben zurückzukommen: Fußspuren gibt es einige. War allerdings auch nicht anders zu erwarten, da die Ruine für Wanderer von Interesse ist, selbst zu dieser Jahreszeit. Frische Abdrücke haben wir allerdings nicht sichern können. Dafür ist der Boden schon zu hart gefroren. Auch konnten wir nirgends etwas finden, was auf ein Gerangel oder einen Kampf hindeuten würde. Das Laub sieht aus wie überall hier. Wir haben aber zumindest das Projektil gefunden. Es steckte in einem der Steine. Außerdem einige Zigarettenkippen, Glasscherben, ein paar alte Kaugummis und zwei verrostete Bierdosen.«

Die vier anderen Techniker schleppten Koffer an ihnen vorbei.

»Wir sind dann wohl fertig«, stellte Feuersänger fest und zog seine Kapuze vom Kopf. Welscher erschrak. Das Feuermal lief von der Wange weiter die Kopfhaut hoch. Es bedeckte den halben Schädel des glatzköpfigen Technikers. Welscher fühlte sich an den Joker erinnert, den fiesen Gegenspieler von Batman, dessen eine Gesichtshälfte durch Säure entstellt war. Er schluckte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Mehr habt ihr nicht?«, drängte Fischbach.

Feuersänger streifte seine Handschuhe ab. »Weißt du, es wimmelt nur so von Spuren. Doch die werden uns wenig helfen. Schau …« Er vollführte eine ausholende Handbewegung. »Lass hier mal am Wochenende zehn, zwanzig Wanderer vorbeikommen. Jeder verliert Haare, Spucke und Hautschuppen. Hier und da wird sich auch einer erleichtert haben.«

Welschers Magen machte einen Sprung. Nervös blickte er sich um. Er verspürte keine Lust auf Exkremente an seinen Schuhsohlen. Möglichst unauffällig legte er den Handrücken auf seine Lippen und atmete tief ein.

»Bestenfalls können wir später, wenn ihr einen Tatverdächtigen ermittelt habt, nachweisen, dass er hier vor Ort war«, schloss Feuersänger.

»Die DNA feiern hier ‘ne Party«, murmelte Büscheler.

»Genau«, bestätigte Feuersänger. »Aber schmeißt nicht sofort die Flinte ins Korn. Vielleicht finden wir im Labor doch noch was. Die Tatortbilder mache ich euch als Erstes fertig. So, jetzt muss ich aber. Ihr könnt zur Leiche. Ich war so frei und habe den Abtransport geregelt.« Er zog seinen Reißverschluss bis zur Mitte der Brust auf, fingerte einen Zettel aus seinem Anzug hervor und drückte ihn Andrea Lindenlaub in die Hand. »Ist die Handynummer. Brauchst nur noch Bescheid geben, sobald ihr hier fertig seid.« Er nickte zum Abschied und lief den anderen nach.

»Der hat es aber eilig«, bemerkte Welscher, als Feuersänger außer Hörweite war.

Die anderen drei grinsten bloß und sahen einander wissend an.

»Was?«, fragte er und spürte, dass er rot wurde. Hatte er sich einen Fauxpas geleistet? Aber es war doch nur eine harmlose Feststellung gewesen.

»Drei«, flüsterte Büscheler.

»Zwei«, sagte Andrea Lindenlaub eine Sekunde später.

Fischbach schloss mit »Eins« an, bevor alle drei im Chor verhalten »Jetzt« murmelten.

Als ob Feuersänger es gehört hätte, blieb er stehen, drehte sich um und kam zurück.

»Fast hätte ich es vergessen. Ich bin aber manchmal auch … Entschuldigt bitte«, keuchte er. Seine Augäpfel tanzten Samba. Vorsichtig zupfte er eine durchsichtige Tüte unter seinem Overall hervor. »Das wollte ich euch noch dalassen. Haben wir in einer der Taschen des Toten gefunden.«

Fischbach nahm das Tütchen entgegen. Die anderen scharten sich um ihn. Zu sehen war Bruce Barons Visitenkarte.

»Schau mal auf die Rückseite«, forderte Feuersänger ihn auf. »Da hat er etwas draufgekritzelt.«

Fischbach drehte das Tütchen um.

»Klinikum Aachen. Und eine Telefonnummer«, murmelte Büscheler.

Welscher fragte sich, ob der Kollege jemals etwas in normaler Lautstärke äußern würde. Oder hatte er eine Form von Kehlkopfkrebs? Bei dem Zigarettenkonsum wäre es kein Wunder.

»Ob das wichtig ist, müsst ihr selbst herausfinden«, warf Feuersänger in die Runde, drehte sich um und eilte den Weg hinunter.

»Drei, zwei, eins, jetzt?« Welscher blickte einen Kollegen nach dem anderen an. »Macht der das etwa immer so?«

Fischbach zuckte mit den Schultern. »Was interessieren dich die Marotten der Kollegen? Du bist doch bald wieder weg, oder?«

Fischbach hatte sich den Spruch trotz aller guten Vorsätze, dem jungen Kollegen bei seinem Einstieg behilflich zu sein, nicht verkneifen können. Der Bursche stand hier in der Runde, als ob ihn alles wenig angehen würde. So leicht kommst du mir nicht davon, Jüngelchen, dachte er und rieb sich die Hände. Die Kälte griff nach seinen Gelenken. Er hätte seine Handschuhe mitnehmen sollen. Die lagen in seinem Helm auf der Sitzbank des Motorrads.

»Los jetzt«, sagte er und stapfte zum Leichnam an der Mauer.

Es sah fast so aus, als ob Bruce Baron sich an die Statue angelehnt hätte, um ein kurzes Nickerchen zu halten – wenn er denn ein Gesicht gehabt hätte. Über den Schultern klebte eine breiige Masse in dem Spalt zwischen Statue und Mauerwerk, die die Steine gräulich rot färbte. Schädelsplitter steckten in den Fugen. Fischbach würgte. Hinter sich hörte er die gleichen Geräusche, dann ein »Oh Gott«. Er wandte sich halb um und sah Welscher davonstürmen. Ein paar Meter schaffte der junge Kollege noch, dann erbrach er sich auf seine Schuhe. Fischbach spürte Mitleid, kämpfte er doch selbst gegen seine aufsteigende Magensäure an. Unzählige Tote hatte er während seiner gut dreißigjährigen Laufbahn gesehen. Strangulierte, Erschossene, übel riechende Wasserleichen und Stromtote, vieles war ihm bisher untergekommen. Trotzdem hatte sich bei ihm nie eine distanzierte Routine eingestellt. Jeder Todesfall kratzte an seiner Psyche und erinnerte ihn sofort an seinen persönlich schlimmsten Fall, an den von Brands Wellem, der hinten in Antweiler mit dem Mähbalken seines Deutz Traktors seinem Sohn die Füße abgesäbelt hatte. Der Junge war verblutet, bevor der Rettungswagen eintraf. Das war in den Siebzigern gewesen, aber die Bilder in Fischbachs Kopf waren so klar, als ob es erst gestern gewesen wäre. Der Junge hatte friedlich ausgesehen, fast so, als ob er seinem Vater im Angesicht des Todes verziehen hätte. Aber die abgerissenen Füße und die schrecklichen Wunden an den Beinen hatten Fischbach noch wochenlang in seinen Träumen verfolgt. Immer wieder hatte er damals überlegt, ob er das Handtuch werfen sollte. Obwohl es ein Unfall gewesen war, kam er nur sehr langsam darüber hinweg. Es machte ihm zu schaffen, dass er dienstlich gezwungen war, sich aus nächster Nähe mit dem Tod eines so jungen Lebens zu befassen. Die Distanz, die andere zum Selbstschutz aufbauten, die gab es bei ihm nicht. Zu allem Überfluss hatten sie kurz darauf Brands Wellem vom Dachbalken seiner Scheune abschneiden müssen.

»Und da bist du ran?«, presste Fischbach hervor und sah Andrea Lindenlaub an. »Das sieht doch aus wie durch den Wolf gedreht.«

»Ich denke dann einfach an was Schönes«, erklärte Andrea Lindenlaub. Sie wirkte kühl und abgeklärt. Nur ein Zucken ihres linken Augenlides verriet ihre Anspannung.

»An was Schönes?«, entfuhr es Welscher, der in zehn Metern Entfernung mit hängendem Kopf an einem Baumstamm lehnte. »Bei dem Anblick? Wie kann man denn da … was soll das denn sein, was Schönes? Ein Mettbrötchen?«

Andrea Lindenlaub wirbelte herum. »Hör mal, du Klugscheißer. Mein Vater war Metzger. Was glaubst du, wie oft ich als Kind zu Schlachtungen mitgenommen wurde? Das ist …«

Fischbach legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Lass gut sein, Andrea«, beschwichtigte er.

Auch Büscheler war inzwischen näher zum Leichnam getreten und starrte ihn an. »Das wirkt auf mich wie ein Selbstmord. Hm. Keine Kampfspuren, alles scheint so … friedlich. Trotz der schlimmen Verletzung«, murmelte er.

Fischbach trat an seine Seite. »Es ist aber keine Waffe da.«

»Ich weiß. Vielleicht hat sie ja jemand mitgenommen.«

»Abwegig, oder? Bei dem Anblick geht doch normalerweise jeder sofort stiften.«

Stumm standen sie eine Weile beisammen, während Fischbach in die Knie ging und so die Perspektive änderte. Er versuchte, sich jedes Detail einzuprägen.