Umschlag

Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geographie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er als Projektmanager in einem Hamburger Beratungsunternehmen tätig. Im Emons Verlag erschienen die Küsten Krimis »Tödliche Stimmen«, »Der Teufel von St. Marien«, »Möwenjagd« und der Ostwestfalenkrimi »Westfalenbräu«. Mit »Traveblut« liegt jetzt sein neuester Band der Kriminalreihe um den Lübecker Kommissar Birger Andresen vor.
www.jobst-schlennstedt.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
»Traveblut« ist eine grundlegende, umfassende und in der Chronologie der Birger-Andresen-Reihe angepasste Überarbeitung von »Linien«, erschienen 2006 bei BoD. »Traveblut« folgt somit inhaltlich dem zuletzt erschienenen Küsten Krimi »Möwenjagd«.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: fotolia.com/Sascha Ohde
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-065-0
Küsten Krimi
Originalausgabe

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»Eine schmerzliche Wahrheit ist besser als eine Lüge.«

Thomas Mann

 

 

FÜR NIEMANDEN

 

Ich werde es tun.

 

Mein Leid wird nach all den Jahren des Schmerzes endlich ein Ende finden. Zumindest für einen Augenblick.

 

Aufhören werde ich erst, wenn ich ihnen das angetan habe, was sie verdienen. Auch wenn der Tod keine gerechte Strafe sein wird. Denn es gibt keine gerechte Strafe.

 

Eine nach der anderen werde ich in den Tod schicken. Und ich werde ihnen dabei in die Augen schauen. Denn ich will ihre Panik sehen. Wenigstens etwas Genugtuung fühlen.

 

Schon bald wird es so weit sein. Dann werde ich es tun. Und ganz am Ende, wenn alles vollbracht ist, werde auch ich ruhen. Lieber tot als lebendig. Denn meine Wunden werden niemals wieder heilen. Dafür ist es längst zu spät.

 

Falls das hier jemals jemand lesen sollte, dann sei ihm gesagt, dass auch er sich schuldig fühlen soll. Stellvertretend schuldig für die Ignoranz aller. Denn niemand wollte sehen, was geschehen ist.

 

Niemand.

1

Er lauschte in die Dunkelheit. Er war sich sicher, bereits ihren leisen Atem hören zu können. Das leichte Keuchen in der kalten Aprilluft beruhigte ihn, weil er wusste, dass er sich nicht geirrt hatte. Alles lief nach Plan. Gleichzeitig spürte er Adrenalin in seinen Blutbahnen. Der Gedanke, sie umzubringen, elektrisierte ihn.

Ihre Schritte waren jetzt ganz nahe. So nahe, dass er sich hinunterbeugte und hinter dem Stamm der Linde wie ein Raubtier in Stellung ging. In wenigen Sekunden würde sie direkt an ihm vorbeikommen.

Ihr Atem war jetzt so laut, dass er glaubte, sie stünde hinter ihm. Plötzlich überkam ihn dieses Schamgefühl, das er immer zu unterdrücken versucht hatte. Gefolgt von dem unbändigen Hass, der sein ständiger Begleiter geworden war.

Da war sie. In der Dunkelheit erkannte er nur einen Schemen, obwohl sie bloß wenige Meter entfernt an ihm vorbeilief. Für einen Moment schloss er die Augen. All die schrecklichen Bilder tauchten wieder auf. Seit all den Jahren waren sie da. Nichts hatte jemals geholfen, was er auch versucht hatte. Der Schmerz war immer wieder zurückgekehrt.

Er öffnete die Augen und blickte in die Dunkelheit. Sie hatte sich bereits so weit von ihm entfernt, dass er ihre Umrisse nicht mehr erkennen konnte. Er tastete nach dem Tuch in seiner Jackentasche, sprang hinter dem Baum hervor und rannte hinter ihr her. Mit einem Satz stürzte er sich auf sie, packte sie von hinten am Hals und drückte das mit Chloroform getränkte Tuch auf ihren Mund. Dann schleppte er sie abseits des Weges, dorthin, wo die Bäume ihm Schutz gaben. Sie wehrte sich und trat hart nach ihm. Doch körperliche Schmerzen spürte er in diesem Zustand nicht mehr.

»Halt still!«, zischte er. »Je mehr du dich wehrst, desto mehr werde ich dir wehtun.«

Sie versuchte zu schreien, doch der einzige Laut, der durch das Tuch drang, war ein angsterfülltes Gurgeln.

Mühevoll drängte er sie zu Boden. Noch immer zappelte sie, doch ihre Bewegungen erlahmten allmählich.

Er lockerte den Griff, legte das Tuch beiseite und setzte sich auf ihren Brustkorb, ihre Arme mit seinen Beinen fixierend. Ihr Blick irrte orientierungslos umher. Trotz der Dunkelheit wollte er ihr in die Augen sehen. Wollte spüren, wie sie begriff, was es heißt, Angst zu haben.

Plötzlich schien es, als wollte sie schreien, um Hilfe rufen. Aber er war schneller und versetzte ihr zwei heftige Schläge ins Gesicht, dass Blut aus Mund und Nase trat. Benommen blieb sie auf dem feuchten Gras liegen.

Er packte sie an den Armen und zog sie zurück über den Schotterweg in Richtung der kleinen Böschung, die zur Kanaltrave hinabführte. Dort hielt er noch einmal kurz inne und sah sich um. Obwohl es gerade einmal halb neun war, schien niemand mehr am Kanal unterwegs zu sein. Keine Jogger, keine Spaziergänger oder Nachtschwärmer. So, wie er es gehofft hatte.

Vorsichtig rollte er ihren Körper den Abhang hinunter, immer auf der Hut, nicht selbst auf dem feuchten Gras abzurutschen und ins Wasser zu fallen.

Als er endlich unten angekommen war, zog er erneut das chloroformgetränkte Tuch aus der Tasche und drückte es ihr vors Gesicht. Unter Wasser würde sie andernfalls zu schnell wieder das Bewusstsein zurückerlangen.

Er presste seine Hände so fest auf ihren Mund und Hals, dass er einen Moment lang befürchtete, sie bereits umgebracht zu haben. Das wollte er auf keinen Fall. Sie sollte ertrinken. Hilflosigkeit spüren, wenn sie die Augen aufschlug und ihre ausweglose Situation realisierte. Die Panik durchleben, die auch er all die Jahre verspürt hatte.

Ihre Hände an seinen Oberarmen bemerkte er sofort. Im nächsten Augenblick schnellte ihr Kopf hoch. Sie riss die Augen auf und fuhr ihm mit den Fingernägeln wie eine Raubkatze durchs Gesicht. Obwohl er perplex über ihr Aufbäumen war, reagierte er schnell und hämmerte ihren Kopf zurück auf den Steinboden der Uferbefestigung. Das Chloroform hatte sie nicht ausknocken können, dann musste es eben auf die harte Weise passieren. Er legte seine Hände um ihren Hals und drückte so lange zu, bis sie nur noch röchelte und von ihren Augen bloß noch das Weiße zu sehen war. Als er trotz der Dunkelheit erkennen konnte, dass sie bereits blau anzulaufen begann, ließ er von ihr ab. Langsam schob er sie auf die Seite und stieß sie mit den Füßen voran ins Wasser. Dann legte er sich bäuchlings auf den Boden, den Kopf nur knapp über die Wasseroberfläche gebeugt.

Im ersten Augenblick glaubte er, dass sie sofort untergehen würde, doch als er ihren Kopf unter Wasser drückte, erwachte sie zu neuem Leben und tauchte wieder auf.

Immer und immer wieder presste er sie unter Wasser. Gelegentlich war ein Gurgeln von ihr zu hören, Wasser spritzte auf. Sie zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Im Todeskampf schien sie fast übermenschliche Kräfte zu entwickeln.

Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich sicher war, dass sie tot war. Er hielt sie nur noch an den Händen fest, der Rest ihres Körpers hing leblos im Wasser. Eine Weile wartete er noch, dann schloss er die Augen, lockerte seine Muskulatur und ließ sie langsam in den kalten Kanal gleiten.

Erst eine Viertelstunde später richtete er sich wieder auf. Er hatte erfolglos versucht, ihren Körper in der Dunkelheit zu verfolgen. Aus der Hosentasche zog er eine Packung Zigaretten, zündete sich mit ruhiger Hand eine an und blies den Rauch kreisförmig in den Abendhimmel.

Er blickte noch einmal ins Wasser und betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild. Die sich im Mondschein kräuselnden Wellen verhinderten jedoch, dass er Einzelheiten erkennen konnte. Seine Augen tanzten hin und her, Mund und Nase schienen seltsam verformt. Die verschwitzten Haare und die blutigen Kratzer auf den Wangen konnte er nur erahnen.

Einen Moment lang hatte er das Gefühl, ihren Kopf unter der Wasseroberfläche zu sehen. Doch dann sagte er sich, dass sie schon längst von der Strömung davongetrieben worden war. Er kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über die dahinfließende Kanaltrave schweifen. Er hatte es erneut getan. Obwohl sie sich zur Wehr gesetzt hatte, war es einfacher als erhofft gewesen. Sogar noch leichter als beim ersten Mal. Wahrscheinlich weil er besser vorbereitet gewesen war. Und weil er sie direkt hier am Wasser abgepasst hatte.

Wie unterschiedlich menschliche Körper doch waren, dachte er. Beim ersten Mal hatte die Leiche einfach nicht davontreiben wollen. Immer wieder hatte er versucht, den leblosen Körper von der Uferkante wegzuschieben. Diesmal war sie innerhalb weniger Sekunden aus seinem Blickfeld verschwunden.

Er zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette, ehe er die Kippe ins Wasser schnipste. Nachdem er den Rauch ausgeblasen hatte, drehte er sich um und verschwand im Schatten der großen Bäume. Im befriedigenden Bewusstsein, dass er schon bald an diesen Ort zurückkehren würde.

2

Hanka Weicherts Lunge brannte, und das verdammte Seitenstechen fühlte sich an, als ramme ihr jemand ein langes Küchenmesser in die Bauchdecke.

Sie war untrainiert und hasste es zu joggen. Aber es war nun mal das effektivste Mittel gegen den Kummerspeck, den sie sich nach der Trennung von ihrem letzten Freund angefressen hatte.

Sie lief nicht viel, zweimal in der Woche, das war das Maximum. Oft blieb es jedoch bei den guten Vorsätzen. Trotzdem hatte sie eine feste Strecke entlang der Kanaltrave. Knapp vier Kilometer, genug, um anschließend fix und fertig zu sein.

Es war Viertel vor sieben; noch war kaum etwas los auf den Straßen Lübecks. Der morgendliche Berufsverkehr würde aber schon bald einsetzen. Sie wohnte am Wakenitzufer und hatte es nicht weit bis zum Kanal. Sie kreuzte die Falkenstraße, um wie immer nach links in Richtung Hüxtertorbrücke abzubiegen. Kurzerhand entschied sie sich jedoch um und lief in die andere Richtung. Sie überquerte den Kanal, indem sie den Weg über die Glitzerbrücke wählte. An deren Ende bog sie wieder rechts ab und joggte parallel zur Kanalstraße am Wasser entlang.

Es gab einen speziellen Grund dafür, dass sie sich heute für diesen Weg entschied. Brigittes Tod vor einigen Tagen hatte sie ziemlich aus der Bahn geworfen. Ihre Leiche war irgendwo hier am Kanal im Wasser gefunden worden. Die Polizei ging offenbar von einem tragischen Unfall aus. Zumindest war nicht von einem Verbrechen die Rede gewesen.

Sie lief weiter am Kanal entlang. Ihre Gedanken kreisten um Brigitte und ihre Familie. Sie hatten damals nicht viel miteinander zu tun gehabt, dafür war der Altersunterschied zu groß gewesen. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie sie nie sonderlich gemocht. Brigitte war unnahbar gewesen und hatte eine antiquierte Art gehabt, mit Kindern umzugehen. Trotzdem ließ ihr Tod sie nicht unberührt.

Das Stechen in der Seite wurde immer stärker. Es fühlte sich jetzt an, als reiße ihr jemand die inneren Organe heraus. Der zunehmende Regen peitschte in ihre Augen.

Ob es tatsächlich ein Unfall gewesen war? In der Zeitung hatte gestanden, dass vorerst in alle Richtungen ermittelt werde. Aber wer ermordete schon eine joggende Rentnerin? Den unheimlichen Gedanken, der sich für einen kurzen Moment an die Oberfläche ihres Bewusstseins kämpfen wollte, verdrängte sie erfolgreich.

Ihr Herz pumpte jetzt so schnell, dass sie befürchtete zu kollabieren. Sie blieb abrupt stehen, hatte jedoch Probleme, sich auf den Beinen zu halten. Ihr Kreislauf schien schlappzumachen. Plötzlich spürte sie, dass ihr schlecht wurde. Sie schleppte sich vom Schotterweg an die Uferkante des Kanals und ging in die Hocke. Nachdem sie die Augen geschlossen hatte, beruhigte sie sich allmählich. Der Brechreiz verschwand, das pulsierende Stechen in ihrem Oberkörper ließ langsam nach.

Vorsichtig öffnete sie die Augen wieder. Die Sonne blinzelte hinter den dicken Regenwolken hervor und blendete sie. Ein Regenbogen formte sich am Himmel.

Jetzt erst fiel ihr Blick ins Wasser der Kanaltrave. Sie bemerkte, dass etwas beständig gegen die Uferböschung schwappte. Noch hatten ihre Augen Probleme mit der Helligkeit, doch nach und nach erkannte sie Konturen. Ihre Übelkeit kehrte schlagartig zurück. Sie rappelte sich auf und betrachtete fassungslos die Frauenleiche im Wasser. Obwohl sie nicht erkennen konnte, um wen es sich bei der Toten handelte, hatte sie eine fürchterliche Ahnung.

3

Birger Andresens Handy klingelte, als er gerade in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums einbog. Es war Viertel nach acht. Gerade erst war er aus Kiel zurückgekehrt, wo er mit Wiebke und den Kindern ein verlängertes Wochenende bei ihrer Mutter verbracht hatte. Auf dem Display erkannte er, dass es Frank Sibius war.

»Morgen«, brummte Andresen.

»Wo bist du? Kannst du schnell kommen?« Der Leiter der Mordkommission klang gehetzt. »Wir haben in zehn Minuten Krisensitzung. Man hat schon wieder eine gefunden.«

Andresen wollte etwas erwidern, doch das Gespräch wurde unterbrochen. Er musste daran denken, dass erst vor wenigen Tagen eine weibliche Wasserleiche in der Kanaltrave gefunden worden war, und befürchtete das Schlimmste. Er parkte seinen Volvo auf dem für ihn reservierten Parkplatz und nahm den Aufzug in die dritte Etage der Bezirkskriminaldirektion. Obwohl er das Behördenhochhaus mit seinem sterilen Interieur nicht mochte, hatte er nach all den Jahren längst das Gefühl, sein zweites Zuhause zu betreten. Wie viele Stunden, Tage und Nächte hatte er hier schon verbracht. Wahrscheinlich mehr als in seinem eigenen Haus.

Sein eigenes Haus in der Großen Gröpelgrube, in dem er nun seit mehr als einem Jahrzehnt lebte, sinnierte er. Anfangs mit seiner damaligen Frau Rita und ihrem gemeinsamen Sohn Ole, seit ein paar Jahren mit Wiebke und den beiden kleinen Mädchen. Es schien ihm noch immer surreal, dass er das Haus in der vergangenen Woche tatsächlich an ein Pärchen aus Süddeutschland verkauft hatte, das schon seit Langem auf der Suche nach einer passenden Immobilie in der Altstadt Lübecks gewesen war. Immerhin hatte er sich mit den neuen Besitzern, die das Haus komplett umgestalten wollten, darauf geeinigt, die Dachetage anzumieten. So ganz wollte er einfach noch nicht gehen und die Vergangenheit über Bord werfen.

Sein eigenes Haus. Das stand jetzt keine dreihundert Meter von der Abbruchkante des Brodtener Steilufers entfernt. Wiebke hatte sich durchgesetzt mit ihrer Idee, aufs Land zu ziehen. Wenn er darüber nachdachte, wie sich sein Leben verändern würde, gab es Momente, in denen er seine Entscheidung bereute.

Im ersten Stockwerk stieg eine junge Kollegin aus der Pressestelle in den Fahrstuhl ein.

»Guten Morgen, Birger.«

»Hallo, Martina. Wie geht's dir? Viel zu tun?«

»Na, du stellst Fragen. Hier ist der Teufel los. In einer Stunde beginnt die PK.« Ihr Handy klingelte. Knapp teilte sie dem Anrufer mit, dass sie den vereinbarten Termin nicht würde wahrnehmen können. Aus den Wortfetzen, die Andresen aufschnappte, schloss er, dass es um den Besuch einer Schulklasse ging, die sich den Polizeialltag aus nächster Nähe anschauen wollte.

Als sie im dritten Stockwerk anhielten, nickte er der noch immer telefonierenden Kollegin zu und verließ den Fahrstuhl. Sein Büro befand sich am Ende des Gangs auf der rechten Seite.

Andresen schaltete den Rechner an und blätterte rasch einige Papiere durch, ehe er beschloss, sich am Automaten auf dem Flur einen Espresso zu ziehen und anschließend ins Besprechungszimmer zu gehen, wo Sibius und die anderen bestimmt schon warteten. Als er aufstand, fiel sein Blick auf die oberste Mappe in seiner Ablage. Ein Einbruch in einem Bürogebäude in der Fackenburger Allee. Die Geschichte lag bereits einige Monate zurück und war mehr als hoffnungslos. Eigentlich hätte der Fall von den Kollegen vom Kommissariat für Raub, Körperverletzungsdelikte und Diebstahlsdelikte bearbeitet werden müssen. Weil es bei dem Einbruch jedoch zu einem kleineren Brand gekommen war, waren die Ermittlungen im Kommissariat für Tötungsdelikte, Todes- und Brandermittlungen und Vermisste hängen geblieben.

Um ihrer Pflicht nachzukommen, besuchten sie das betroffene Unternehmen in regelmäßigen Abständen und gaben vor, mehreren Spuren nachzugehen. Tatsächlich hatten sie vor Kurzem verwertbare DNA-Spuren an einem am Tatort gefundenen Stück Stoff sicherstellen können. Allerdings sah es nicht danach aus, als ob sie den genetischen Fingerabdruck, den das Labor erstellt hatte, jemals jemandem würden zuordnen können. Deshalb hatte sich Andresen eine neue Taktik überlegt, die den Fall möglicherweise in eine andere Richtung lenken würde. Am Nachmittag wollte er dem Geschäftsführer des Unternehmens, einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, einen weiteren Besuch abstatten.

Als er das Besprechungszimmer betrat, herrschte eine angespannte Stimmung, die sich in Form von hektischer Betriebsamkeit entlud. Jemand stieß ihn versehentlich an, sodass er die Hälfte seines Kaffees verschüttete. Es war Kriminalkommissar Ben Kregel, einer von Andresens engsten Vertrauten.

»Sorry, Birger. Aber gut, dass du endlich da bist.«

»Guten Morgen, Ben. Klärst du mich kurz auf, was los ist?«

»Sag bloß, du weißt es noch nicht?«

»Doch, aber nicht –«

»Heute in den frühen Morgenstunden wurde schon wieder eine Wasserleiche im Klughafen gefunden«, unterbrach ihn Kregel. »Fast an derselben Stelle wie letzte Woche. Wieder eine Frau.«

Andresen nickte und runzelte die Stirn. Bei dem ersten Leichenfund vor zehn Tagen hatten sie einen tragischen Unfall nicht ausschließen können. Sie warteten noch immer auf den abschließenden Obduktionsbericht. Ein zweiter Leichenfund an nahezu identischer Stelle warf jedoch ein völlig anderes Licht auf die Sache.

Er vernahm ein Räuspern und drehte sich um. Hinter ihm stand Frank Sibius, der allen Anwesenden mit einer Handbewegung bedeutete, Platz zu nehmen.

Dass Sibius noch immer Leiter der Mordkommission war, hatte er seiner freiwilligen Rücktrittsankündigung zum Sommer zu verdanken. So war er einem Disziplinarverfahren und dem wahrscheinlichen Rausschmiss nach seiner wenig rühmlichen Rolle in einem Fall im vergangenen Jahr zuvorgekommen. Damals hatte er die Ermittlungen massiv behindert, indem er wichtige Informationen vorenthalten und mit der wichtigsten Zeugin ein heimliches Verhältnis gehabt hatte.

»Morgen«, begann Sibius. »Von einem guten Morgen kann leider keine Rede sein. Wie ihr wahrscheinlich bereits wisst, ist heute erneut eine Wasserleiche in der Kanaltrave gefunden worden. Die zweite innerhalb weniger Tage. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass beide Todesfälle in irgendeiner Weise in Zusammenhang stehen.«

»Heißt das, wir nehmen jetzt offiziell die Ermittlungen auf?«, fragte Kregel.

»Ja«, antwortete Sibius. »Wir können nicht ausschließen, dass die Frauen einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind.«

»Birnbaum hat bislang nichts in diese Richtung erwähnt«, warf Andresen ein. »Wieso sind wir uns jetzt plötzlich sicher, dass Brigitte Jochimsens Tod nicht doch ein Unfall gewesen ist?«

»Zu viele Gemeinsamkeiten«, erklärte Hauptkommissarin Ida-Marie Berg. Obwohl sie mittlerweile schon fast ein Jahr zum Team gehörte, haftete an ihr noch immer das Image der »Neuen«. Mit ihrer offenen, gelegentlich schroffen Art eckte sie ein ums andere Mal bei ihren Kollegen an.

Andresens Gedanken drifteten ab. Er und Ida-Marie hatten eine sonderbare Beziehung zueinander. Vom ersten Moment an war da dieses Knistern zwischen ihnen gewesen. Sie warf sich mal auf direkte, mal auf subtile Art und Weise an ihn heran, ohne dass es jemals tatsächlich zu einer körperlichen Annäherung gekommen wäre. Und obwohl er glücklich mit Wiebke liiert war, ließ er die Flirterei zu. Manchmal forcierte er sie sogar, wenn er herausfinden wollte, wie weit er tatsächlich gehen konnte. Es war, als gäbe es eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen, die sie zu ihrem Selbstschutz voneinander trennte. Manchmal hatte Andresen Angst davor, dass die Mauer eines Tages verschwinden würde.

Erst letzte Woche waren sie gemeinsam im Kommunalen Kino gewesen. Ihm gefielen die Atmosphäre des alten Kinos und die Ruhe, die er dort fernab vom stressigen Arbeitsalltag fand. Früher war er gelegentlich nur deshalb dorthin gegangen, um zwei Stunden lang zu schlafen. Doch mit Ida-Marie an seiner Seite war an Schlaf nicht zu denken gewesen. Sie hatten viel gelacht, Bier getrunken und Popcorn gegessen. Wiebke hatte er erzählt, er treffe sich mit seinem alten Kumpel, dem Privatermittler Kalle Hansen, im Buthmanns, um an die neuesten Informationen zu kommen.

»… hörst du mir eigentlich zu, was ich dir erzähle?«, rief Ida-Marie plötzlich quer über den Besprechungstisch.

»Zu viele Gemeinsamkeiten«, wiederholte Andresen irritiert. »Du kannst es mir ja gleich noch mal in Ruhe erklären.«

»Spinner!«, murmelte sie und warf ihm ein müdes Lächeln zu. »Auch wenn wir die Tatorte und Tatzeiten noch nicht exakt bestimmen können, liegen einige Parallelen vor. Zwei tote Frauen binnen weniger Tage in der Kanaltrave. Beide wurden in den frühen Morgenstunden gefunden. Sorry, Birger, aber ich glaube nicht an Zufälle.«

»Kennen wir denn schon Details?«, fragte Andresen.

»Bislang noch nicht«, antwortete Kregel. »Wir versuchen gerade herauszufinden, wie die Tote heißt.«

»In Ordnung«, übernahm Sibius wieder das Wort. »Machen wir uns an die Arbeit. Birger und Ida-Marie leiten die Ermittlungen. Zur Seite stehen euch Ben und Julia.« Er beendete die Besprechung mit einigen kurzen Hinweisen, wie sich das Ermittlungsteam gegenüber der Presse in den kommenden Tagen zu verhalten habe.

»Birger, kommst du bitte kurz mit in mein Büro, ich muss mit dir reden.«

Andresen blickte seinen Chef überrascht an. Eigentlich war Sibius ein angenehmer Vorgesetzter. Kollegial, fair und nur selten launisch. Gerade hatte er jedoch ungewohnt ernst geklungen. Wortlos folgte er ihm in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.

»Setz dich bitte, Birger.« Sibius hüstelte. Es war ihm deutlich anzumerken, dass ihm die Situation unangenehm war. »Vielleicht weißt du, weshalb ich mit dir sprechen möchte?«

»Um ehrlich zu sein, nein.«

Sibius legte eine kurze Pause ein und sah Andresen eindringlich an.

»Ich habe einen Hinweis erhalten, dass du dich mit einer Frau triffst«, sagte er schließlich. »Und wenn ich es richtig verstanden habe, handelt es sich nicht um deine Wiebke.«

Im ersten Augenblick glaubte Andresen, sich verhört zu haben. Vielleicht hatte Sibius da auch etwas verwechselt. Doch dann verstand er, worauf sein Chef hinauswollte.

»Okay, pass auf, Birger«, fuhr Sibius fort. »Im Grunde ist es mir egal, was du mit Ida-Marie machst. Zumal ich der Letzte bin, der dir in Sachen Beziehungen einen Rat geben sollte. Trotzdem will ich euch bitten, die Sache so professionell wie möglich zu regeln. Trennt das Private von eurer Arbeit.« Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach. »Und klär das bitte so schnell wie möglich mit Wiebke, sie hat nicht verdient, dass du ihr …«

»Halt mal!«, ging Andresen dazwischen. »Ich glaube, du hast da etwas vollkommen missverstanden. Von wem weißt du, dass ich mich mit Ida-Marie treffe?«

»Spielt keine Rolle«, wiegelte Sibius ab.

»Und ob«, entgegnete Andresen. »Derjenige, der dir das gesteckt hat, bringt da nämlich einiges durcheinander. Ich bin mit Wiebke glücklich und ziehe bald mit ihr aufs Land, falls du das vergessen hast.«

»Habe ich nicht«, entgegnete Sibius. »Umso mehr solltest du aufpassen, was du tust. Das, was ich gehört habe, klang in meinen Ohren alles andere als beruhigend.«

»Wem glaubst du eigentlich? Sag mir, mit wem du gesprochen hast.«

»Lass gut sein, Birger. Solange ich nicht persönlich vom Gegenteil überzeugt werde, glaube ich dir.« Noch einmal machte Sibius eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. »Zurück zu unseren Wasserleichen«, sagte er ungewohnt flapsig. »Wir müssen schnell Ergebnisse liefern. Ich kann nur hoffen, dass wir es nicht mit einem Serienmörder zu tun haben. Vielleicht ist ja doch alles nur Zufall gewesen. Ich zähl auf dich und Ida-Marie.«

Andresen verzichtete darauf, Sibius' Worten etwas entgegenzusetzen.

Kopfschüttelnd ging er zurück an seinen Schreibtisch. Wer von seinen Kollegen hatte ein Interesse daran, Sibius über sein Privatleben zu informieren?

Das Telefon klingelte. Es war Kregel.

»Hast du einen Moment Zeit?«, fragte er. »Dann können wir über die bisherigen Erkenntnisse und die weitere Vorgehensweise sprechen.«

»Eigentlich ist es gerade ganz schlecht«, sagte Andresen, der mit seinen Gedanken noch immer bei Sibius und Ida-Marie war. »Können wir das nicht später machen?«

»Die Sache hat absolute Priorität. Du hast doch gehört, was Sibius gesagt hat.«

»Ja, schon gut. Ich bin gleich bei dir. Dann sprechen wir alles durch.« Andresen seufzte und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Vielleicht war es gut, dass er bald aufs Land zog. Keine spontanen Verabredungen mehr mit Ida-Marie, um abends in der caféBAR über die aktuellen Ermittlungen oder Gott und die Welt zu sprechen. Und auch keine weiteren Kinobesuche. Dabei war es ein wunderschöner Abend neulich gewesen. Sie hatten wirklich viel Spaß miteinander gehabt.

Er atmete tief aus und beschloss, seine Gedanken beiseitezuschieben. Zumindest fürs Erste.

4

»Beide Frauen sind im Klughafen in der Nähe des Binnenschiffanlegers von Joggern entdeckt worden.« Ben Kregel, der bereits die Untersuchungen im ersten Todesfall geführt hatte, saß Andresen gegenüber und versorgte ihn mit den wichtigsten Informationen.

Die erste Tote, Brigitte Jochimsen, eine vierundsechzigjährige pensionierte Grundschullehrerin, war in den frühen Stunden am Donnerstagmorgen vor eineinhalb Wochen etwa hundert Meter von der Hubbrücke entfernt direkt an der Uferkante auf der zur Altstadt hin gelegenen Seite gefunden worden. Als vorläufige Todesursache war Tod durch Ertrinken festgestellt worden. Den abschließenden Obduktionsbericht hatte die Rechtsmedizin vorerst zurückgestellt, weil man von einem Unglücksfall ausgegangen war. Alle Indizien hatten darauf hingedeutet. Zumal der Sohn der Verstorbenen ausgesagt hatte, dass Brigitte Jochimsen unter starkem Diabetes litt und schon einige Male das Bewusstsein verloren hatte.

»Die Leiche, die heute Morgen gefunden wurde, ist noch nicht identifiziert worden«, erklärte Kregel. »Möglicherweise handelt es sich jedoch um Katharina Kock. Eben ist eine Vermisstenmeldung eingegangen. Das könnte passen. Achtunddreißig Jahre alt, von Beruf Grafikerin.«

Andresen nickte und machte sich Notizen.

»Die Frauen sind in den späten Abendstunden beziehungsweise nachts ertrunken«, fuhr Kregel fort. »Alles andere ist derzeit noch ein großes Rätsel. Wir müssen die genauen Abläufe beider Todesfälle rekonstruieren, und wir benötigen dringend die Obduktionsberichte. Falls Fremdeinwirkung vorliegen sollte, müssen irgendwelche Spuren zu finden sein.«

»Ich fahre heute Nachmittag in die Rechtsmedizin«, sagte Andresen. »Vorher habe ich noch ein bisschen Zeit, um mir die Akten über Brigitte Jochimsen durchzulesen. Wir sollten auch noch einmal mit ihren Angehörigen sprechen.«

»Ich warne dich schon mal vor«, antwortete Kregel. »Ihr Sohn ist ein ziemlicher Kotzbrocken.«

 

Gegen Mittag hatte Andresen den Großteil der Unterlagen über Brigitte Jochimsen durchgearbeitet. Viel gaben die Notizen, Protokolle und Zeitungsausschnitte nicht her. Immerhin hatte er einen groben Überblick über die bisherigen Erkenntnisse gewinnen können.

Sein Magen knurrte. Er nahm die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo sich die Kantine des Präsidiums befand. Mit Currywurst Pommes auf dem Tablett machte er es sich an einem der Tische bequem, an denen noch niemand saß. Nach einer Weile setzten sich einige junge Streifenpolizisten an einen der Nachbartische. Sie redeten lauthals über die Wasserleiche, die heute Morgen im Klughafen gefunden worden war. Offenbar waren ein paar von ihnen vor Ort gewesen.

»Zum Glück lag die noch nicht allzu lange im Wasser, ansonsten hätte ich heute Morgen schon kotzen müssen«, sagte der Wortführer. »Und das hätte nichts mit den Drinks von gestern Abend zu tun gehabt.«

Die anderen lachten laut auf und prosteten sich mit einem Malzbier zu. Anschließend widmeten sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Essen. Andresen fragte sich, ob er sich in seinen jungen Jahren ähnlich verhalten hatte. Ob er auch so respekt- und pietätlos gewesen war. Der Streifenpolizist setzte noch einmal an, wieder lauschte Andresen.

»Mal ehrlich, so wie der Gesichtsausdruck von der aussah, kann es kein Unfall gewesen sein. Die hatte einen richtig panischen Blick, als wenn jemand sie …« Er kam nicht dazu, die letzten Worte auszusprechen.

Andresen war so abrupt aufgesprungen, dass der junge Mann vor Schreck seine Gabel fallen ließ.

»So, jetzt hört mir mal gut zu. Wenn ihr etwas zu sagen habt, dann raus damit! Am besten, ihr kommt alle mit in mein Büro und erzählt es mir da!« Er drehte den verdutzt dreinschauenden Streifenpolizisten den Rücken zu und verließ verärgert die Kantine.

 

Eine halbe Stunde später saß er wieder allein in seinem Büro. Was sie berichtet hatten, hatte ihn kaum weitergebracht. Sie vermuteten zwar, dass der Tod der Frau durch Fremdeinwirkung eingetreten war, konkrete Anhaltspunkte hatten sie jedoch nicht.

Sie benötigten Fakten, die bewiesen, dass bei beiden Todesfällen ein Tötungsdelikt vorlag. Außerdem mussten sie versuchen, einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen herzustellen.

Andresen ging noch einmal alles durch. Er musste dringend mit Professor Birnbaum sprechen. Nur so konnte er Gewissheit darüber erlangen, was die Todesursache der beiden Frauen betraf.

Er griff zum Hörer und rief Ida-Marie an. »Ich fahre gleich in die Rechtsmedizin. Mal sehen, was Birnbaum zu berichten hat. Hast du Lust, mitzukommen?«

»Klar, wenn du mich so nett fragst. Ich befürchte allerdings, dass mir bei diesen Leichenfledderern schlecht wird.«

»Na prima. Probier's mal mit 'nem Schnaps und 'nem Kaugummi. Hat bei mir früher immer geholfen. Meistens ist es nicht der Anblick der Leichen, sondern der seltsame Geruch, der einem den Magen umdreht.«

»Birgers Hausmittelchen«, antwortete Ida-Marie lachend. »Ich probier's mal.«

»Aber nur einen Schnaps. Du musst nämlich fit sein. Wir haben vorher noch einen anderen Termin.«

»Aye, aye, Sir!«

5

Andresen parkte seinen Volvo vor dem Bürogebäude in der Geniner Straße unweit des Gasometers und wunderte sich wie schon bei ihrem ersten Besuch über den wenig vornehmen Sitz der Wirtschaftsprüfung.

Die hübsche Sekretärin, die die Tür öffnete, schenkte ihm und Ida-Marie ein strahlendes Lächeln. Sie folgten ihr den langen Flur bis ans Ende des Gangs. Dabei warf Andresen einen Blick links und rechts in die Büroräume, in denen junge, aufstrebende Mitarbeiter in feinen Anzügen und Kostümen saßen.

»Einen kleinen Augenblick noch. Herr Ensink wird gleich für Sie da sein. Möchten Sie Wasser oder einen Kaffee?«

»Für mich bitte einen Tee, falls das keine Umstände bereitet«, antwortete Andresen.

»Überhaupt nicht. Sie können solange schon einmal Platz nehmen«, sagte die Sekretärin und verschwand mit einem eleganten Hüftschwung auf den Gang.

Das Vorzimmer des Chefbüros sah aus, als hätte jemand versucht, bei der Wahl des geschmacklosesten Büros den ersten Preis zu gewinnen. Die schwarzen Möbel wirkten trist und lieblos ausgewählt. Über einem Sideboard hing ein Ölgemälde, das den Anschein erweckte, gerade eben noch dem Sperrmüll entkommen zu sein. Die beiden modernen, aber billigen Bürostühle, auf denen sie saßen, und der stillose Glastisch, auf dem einige Prospekte lagen, rundeten den negativen Gesamteindruck des Zimmers ab. Entweder warf der Laden nicht genug Geld ab, oder hier wurde so viel gearbeitet, dass für solche Details keine Zeit blieb.

Die Tür zum Chefbüro öffnete sich, und ein Mann um die vierzig trat auf sie zu. Andresen musterte ihn. Roland Ensink trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine blau-weiß gestreifte Krawatte. Hanseatisch schick, aber auch etwas unmodern.

Ensink begrüßte sie mit aufgesetzter Lockerheit und bat sie herein. Nach dem üblichen Small Talk nahmen sie an einem kleinen Besprechungstisch Platz. Abgestandene Luft hing im Raum; Andresen erinnerte sich, dass ihm der unangenehme Geruch bereits bei seinem letzten Besuch aufgefallen war.

»Um gleich zum Wesentlichen zu kommen«, begann er. »Wir haben neue Erkenntnisse, die den Fall möglicherweise in einem anderen Licht erscheinen lassen.«

»Ach ja? Dann schießen Sie mal los. Ich bin gespannt.« Ensink nahm eine überhebliche Abwehrhaltung ein. Er hatte schon mehrfach zu verstehen gegeben, dass er von der Ermittlungsarbeit nicht sonderlich viel hielt.

»Wie Sie wissen, haben wir damals in der Nähe des eingeschlagenen Fensters ein Stück Stoff gefunden. Unserem Labor ist es gelungen, Spuren zu identifizieren und einen genetischen Fingerabdruck zu erstellen.«

Andresen machte eine Pause und trank von dem Tee, den die Sekretärin mittlerweile gebracht hatte. »Wir haben außerdem versucht, den Einbruch zu rekonstruieren, und konnten feststellen, dass es unmöglich ist, an der Gebäudefassade hochzuklettern und über das eingeschlagene Fenster im vierten Stockwerk in die Büroräume einzusteigen. Hinzu kommt, dass wir keinerlei Spuren an der Fassade ausmachen konnten. Folglich kann es nur zwei Schlussfolgerungen geben. Entweder sind die Einbrecher über einen anderen Weg auf den Dachvorsprung gelangt, oder aber …«

Er räusperte sich. »Ich sag's Ihnen ganz ehrlich. Wir können nicht länger ausschließen, dass einer Ihrer Mitarbeiter den Einbruch fingiert und anschließend die Computer gestohlen hat. Der Brand im EDV-Raum könnte letztlich nur als Ablenkung gedient haben.«

Ensink schüttelte den Kopf und legte die Stirn in Falten. »Haben Sie irgendwelche Beweise für diese These?«

»Noch nicht«, antwortete Andresen. »Aber falls wir herausfinden sollten, dass die DNA mit der eines Ihrer Mitarbeiter übereinstimmt, wird es ungemütlich.«

»Für meine Mitarbeiter lege ich die Hand ins Feuer«, entgegnete Ensink barsch. »Absolut haltlose Vermutungen sind das. Kommen Sie wieder, wenn Sie etwas Stichhaltiges haben. Wenn ich Sie jetzt bitten darf?«

»Sagen Sie Ihren Mitarbeitern, dass sie sich darauf einstellen sollen, vorgeladen zu werden. Sie müssen eine Speichelprobe abgeben. Das betrifft im Übrigen auch Sie.«

Andresen stand auf und gab Ida-Marie ein Zeichen, gehen zu wollen. Ensink murmelte wutschnaubend etwas Unverständliches vor sich hin.

»Bevor ich es vergesse«, Andresen drehte sich noch einmal um, »es gibt eine Zeugenaussage darüber, dass eine silberfarbene Limousine zur Tatzeit auf dem Parkplatz gesehen wurde. Was für ein Auto fahren Sie noch mal?«

»Jetzt reicht's mir aber endgültig«, rief Ensink aufgebracht. »Raus hier!«

 

»Glaubst du wirklich, dass er dahintersteckt?«, fragte Ida-Marie, als sie wieder in Andresens Auto saßen.

»Nein«, antwortete Andresen.

»Aber die Sache mit dem Wagen. Das passt doch. Ensink fährt einen silbernen BMW

»Ja, das stimmt. Das ist aber auch schon alles.«

»Das heißt, du hast …«

»Ja.« Andresen lächelte Ida-Marie an. »Ich wollte ihn ein wenig aus der Reserve locken.«

»Hat aber nicht funktioniert. Ich finde, seine Reaktion war angemessen.«

»Auf jeden Fall ist es eine Option, die wir überprüfen sollten. Außerdem macht es mir auch Spaß, diesen Ensink ein bisschen zu ärgern.«

»Trotzdem sollten wir langsam mal eine ernst zu nehmende Spur finden. Andernfalls wird die Sache wohl liegen bleiben.«

»Ich hoffe auf den DNA-Abgleich. Das Labor in Kiel ist derzeit leider etwas langsam, die kommen kaum nach mit den Analysen.«

»Apropos«, sagte Ida-Marie und zog einen metallenen Gegenstand aus ihrer Jackentasche. »Auch 'nen Schluck?«

Andresen sah sie perplex an. Dann lächelte er und griff nach dem Flachmann.

 

Sie erreichten das Institut für Rechtsmedizin am frühen Nachmittag. Es lag auf dem Gelände des ehemaligen Städtischen Krankenhaus Süd, gehörte jedoch zum Universitätsklinikum Lübeck. Geleitet wurde es von Professor Dr. Birnbaum.

Birnbaum, ein knochiger, sehniger Mann, der nur selten lächelte, hatte schon häufig erfolgreich mit der Kripo zusammengearbeitet.

Sein Kollege Dr. Klemens von Heideloff wirkte wie eine jüngere Kopie von ihm: optisch von großer Ähnlichkeit und sogar noch eine Spur pedantischer in seinen Formulierungen.