Für meine Studenten und Klienten, die mich täglich lehren, wie man über ein Trauma hinwegkommt und weiterlebt.

VF

 

Für meine Mutter, Maria Formolo Pistorello, deren Lebensprinzip, stets den eigenen Werten treu zu bleiben, mir in Zeiten der Ungewissheit ein Leitstern war.

JP

Vorwort:
Ein neuer Weg in die Zukunft

In der entwickelten Welt stirbt man höchst selten vor Hunger oder Durst. Bei näherem Hinsehen kann man in dieser Tatsache jedoch einen kleinen Hinweis auf eine größere menschliche Realität entdecken. Wir sind inzwischen so geübt darin, die Außenwelt unter Kontrolle zu haben, dass wir das besonders in Gegenden, wo die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stehen, für ganz selbstverständlich halten.

Trifft uns jedoch ein unerwarteter Schlag, gerät diese Annahme ins Wanken. Trotz aller Kenntnisse und Hilfsmittel hat man die Außenwelt nie ganz im Griff, das zeigen Gewalttaten, tragische Unfälle, Naturkatastrophen, Kriege, sexueller oder emotionaler Missbrauch und etliche weitere Vorkommnisse dieser Art. Solche schmerzhaften Herausforderungen verlagern den Schauplatz der vermeintlichen Kontrolle plötzlich von der Außen- in die Innenwelt. Ein Schmerz fängt außen an und lebt innen weiter, in Form von qualvollen Erinnerungen, beunruhigenden Emotionen, negativen Gedanken oder störenden Impulsen. Sind sie einmal da, tut man, was man mit qualvollen Erinnerungen, beunruhigenden Emotionen, negativen Gedanken oder störenden Impulsen immer schon getan hat. Und genau das ist oft das Problem.

Seine Innenwelt beherrscht der Mensch nicht so gut wie seine Außenwelt und auch dort ist seine Kontrollfähigkeit nur begrenzt. Qualvolle Erinnerungen abzuschütteln, beunruhigende Emotionen zu beschwichtigen, negative Gedanken abzustellen oder störende Impulse zu unterdrücken ist gar nicht so einfach. Und tatsächlich hat die moderne psychologische Forschung offenbart, dass sich Schmerz vor allem dann in ein Trauma verwandelt, wenn man die Innenwelt genau wie die Außenwelt – urteilend, planmäßig, problemlösend und kontrollierend – behandelt und sie damit misshandelt.

Unser Denkapparat will Probleme lösen – er kann nun einmal nicht anders. Deswegen können auch wir bei Schmerz zuerst gar nicht anders, als uns dagegen zu wappnen, mit ihm zu hadern, ihn zu kritisieren oder gleich ganz vertreiben zu wollen. Und manchmal bringt das ja sogar etwas. Bestimmt haben Sie das alles schon durchexerziert. Wahrscheinlich ohne Erfolg, denn sonst hätten Sie nicht zu diesem Selbsthilfebuch gegriffen und würden jetzt nicht darin lesen. Sie möchten vorankommen und sind also auf der Suche nach einem neuen Weg.

Sie haben einen gefunden.

Solange das Geheimnis um diesen Denkapparat noch nicht gelüftet ist und man noch nicht genau weiß, wie er funktioniert, macht er einfach weiter wie gehabt, wie ein Pony, das nur ein einziges Kunststück kann und es immer wieder vorführt. Nun hat die moderne psychologische Forschung aber gezeigt, dass man an Erinnerungen, Emotionen, Gedanken und Impulse noch ganz anders herangehen kann als auf die verstandesmäßige, problemlösende Art. Möglich wird dies mithilfe von Achtsamkeits- und Akzeptanzmethoden, die dazu beitragen, das Leben schneller wieder lebenswert zu machen, ohne erst den Krieg, der im Inneren tobt, gewinnen zu müssen.

Wie Sie auf diesen alternativen Weg gelangen, erfahren Sie in diesem Buch.

Bei dem Ansatz, der hier vertreten wird – Acceptance und Commitment Therapie (ACT, nicht wie bei anderen Abkürzungen in drei separaten Anfangsbuchstaben, sondern in einem Wort ausgesprochen: ÄKT) –, wird das Leben nicht als Problem betrachtet, das es zu lösen gilt. Das Leben will stattdessen gelebt werden, und zwar mit seiner Vergangenheit, die sicher unveränderlich ist, aber auch mit einer Zukunft, die so weit ist wie jene Werte, von denen Sie zutiefst überzeugt sind. Wenn man sich in diese Richtung bewegen will, muss man lernen, bestimmte Arten des Problemlösens abzulegen. Es bedeutet, Gefühle als Gefühle zu fühlen und Gedanken als Gedanken zu denken. Da man sich diesen alternativen Weg aber erarbeiten muss, ist dieses Buch entsprechend ein Arbeitsbuch. Mit bloßem Verstehen ist es nicht getan. Das nicht wertende Problemlösen lässt sich allein vom Verstand her nicht vollständig begreifen, weil dieser nun einmal systematisch und wertend vorgeht.

Dort, wo konventionelle und altvertraute Wege ins Nichts führen, zeigt ACT neue Möglichkeiten, wie man mit wenig viel erreichen kann. Wenn nichts mehr zu helfen scheint, eröffnet ACT auf behutsame Weise Wege zu spannenden Alternativen.

Im Hinblick auf Trauma, Schmerz, Angst und Depression – die die meisten Leser und Leserinnen wahrscheinlich zum Teil aus eigener Erfahrung kennen – wächst die wissenschaftliche Beweisgrundlage für ACT rasant an, ist aber immer noch nicht so umfangreich wie bei anderen, eher klassischen Methoden. Wer noch nie eine herkömmliche kognitive Verhaltenstherapie gemacht oder nach anderen empirisch unterstützten Methoden gearbeitet hat, möge dies bedenken. Doch gibt es ausreichend solide Evidenz dafür, dass es wohl an der Zeit ist, diesen neuen Ansatz Menschen zugängig zu machen, die davon profitieren könnten, besonders aber jenen, die etwas brauchen, das ihnen Auftrieb gibt.

Die beiden Autorinnen des vorliegenden Buches kenne ich seit vielen Jahren. Meine wertgeschätzte Kollegin und Freundin Victoria Follette hat als Erste die Aufmerksamkeit auf die Anwendung von Achtsamkeit und Akzeptanz bei Trauma gerichtet und Jacque Pistorello ist nicht nur eine der besten ACT-Therapeutinnen, die ich kenne, sondern auch meine geliebte Ehefrau. Es kann also gut sein, dass ich nicht ganz objektiv bin. Dafür habe ich aber den Entstehungsprozess des Buches verfolgt und weiß, wie viel Sorgfalt, Leidenschaft und Anteilnahme darin steckt. Mich begeistert vor allem die Vorstellung, dass vielen Tausenden von Betroffenen geholfen wird.

Sie befinden sich in einer einmaligen Lage. Wenn Sie bereit sind, sich von Ihrem eigenen Schmerz leiten zu lassen, gewinnen Sie damit auch die Offenheit, neue Wege beschreiten zu lernen. Vielleicht haben unter anderem auch deswegen Schicksal und Zufall Ihnen dieses Buch zugespielt. Denn hätte der alte Weg Sie an Ihr Ziel gebracht, bräuchten Sie jetzt keinen neuen kennenzulernen. Dies ist also ein Lernprozess, bei dem sie von zwei Menschen begleitet werden, die ich zutiefst achte und denen ich vollkommen vertraue.

Wenn Sie so weit sind, wenden Sie das Blatt. Es ist Zeit, einen neuen Weg beschreiten zu lernen.

Steven C. Hayes, University of Nevada

Danksagung

Wir möchten gerne allen danken, die zu diesem Buch beigetragen haben. Mehrere Autorinnen und Autoren haben uns gestattet, ihre Übungen zu übernehmen oder diese an die besonderen Ziele dieses Buches anzupassen: Steven C. Hayes und Spencer Smith, James Pennebaker, Michael Addis und Chris Martell, J. T. Blackledge sowie Joseph Ciarrochi. Robyn Walser, Kelly Wilson und Sonja Batten haben uns Anstöße gegeben, über die Anwendung von ACT in der Traumatherapie nachzudenken. Wir möchten auch diejenigen erwähnen, deren Arbeit uns inspiriert hat oder die uns Grundlagen für bestimmte Elemente dieses Buches geliefert haben. Über all die Jahre haben uns viele Traumaforscher und -forscherinnen sehr geprägt: Pam Alexander, John Briere, Christine Courtois, Chris Brewin, Judith Herman, Patricia Resick, Edna Foa, Terry Keane und Josef Ruzek, um nur einige zu nennen. Sie haben uns den Weg bereitet und uns geholfen, eigene Wege zu finden. In vielerlei Hinsicht wertvoll waren auch die Lehren der Achtsamkeitstradition von Kabat-Zinn, Pema Chodron und Thich Nhat Hahn. Marsha Linehan, Robert Kohlenberg und Neil Jacobson waren maßgeblich an der Neudefinition der Verhaltenstherapie beteiligt. Anerkennung und Dank gebührt auch unseren Studentinnen, Adria Pearson, Jennifer Plumb und Karen Murphy, für ihre Assistenz bei einigen Kapiteln. Unser besonderer Dank gilt Kate M. Iverson, ebenfalls Studentin, die hier nicht nur mitgeschrieben hat, sondern uns auch tatkräftig unterstützt hat, damit wir unsere Fristen einhalten konnten. Bei vielen technischen Dingen wie dem Formatieren hat uns Emily Neilan sehr geholfen.

Ohne die Hilfe des internationalen ACT-Netzwerks und dessen wegweisender Arbeit in Forschung und Therapie wäre dieses Buch gar nicht zustande gekommen. Die zweite Grundlage für unser Buch sind unsere Klienten und Klientinnen, die uns bereitwillig ihr Leben anvertraut und uns so vieles gelehrt haben. Ihnen sind wir zu großem Dank verpflichtet.

Schließlich möchten wir auch dem Verlag New Harbinger für diese Chance danken und Tesilya Hanauer und Carole Honeychurch für all ihre Mühe und Unterstützung bei der Verwirklichung unseres Projektes.

Ich danke meinem Mentor Steve Hayes, der mir den Zugang zur Acceptance und Commitment Therapie ermöglicht hat, und natürlich auch Jacque: Ohne dich hätte ich dieses Buch überhaupt nicht in Angriff genommen! Vielen Dank auch an alle Studentinnen und Studenten, von denen ich auf dem Weg so viel gelernt habe und die auch weiterhin meine Arbeit beeinflussen. Dankend erwähnen möchte ich auch William Follette, der mich unermüdlich beraten und unterstützt hat. Mein ganz besonderer Dank gilt den vielen Klienten und an der Forschung Beteiligten für die vielen Informationen. Mit diesem Buch möchte ich das, was ich von Ihnen gelernt habe, mit anderen Überlebenden teilen. Herzlichen Dank an meine Freundinnen Sandy, Alyson, Anne und Patty für ihre jahrelange Unterstützung.

V. F.

Ich möchte Victoria Follette dafür danken, dass sie mich eingeladen hat, dieses Buch mit ihr zusammen zu schreiben, und dass sie mich gelehrt hat, den Einfluss von Trauma zu behandeln und über die Schmerzen meiner Klienten mitfühlend und respektvoll zu berichten. Sehr herzlichen Dank an meinen Ehemann, Steven C. Hayes, für seinen Beistand und seine unerschütterliche Geduld, für das Hüten unseres Kindes an vielen Wochenenden und Abenden, damit ich schreiben konnte, und dafür, dass er mich vor siebzehn Jahren in die ACT eingeführt hat – was mein Leben auf vielfältige Art und Weise verändert hat. Außerdem möchte ich einer Reihe von Verwandten und Freundinnen danken, die mir mit ihrer seelischen oder anderweitigen Unterstützung ermöglicht haben, dieses Buch zu schreiben: Neiva Pistorello, Inge Skeans, Laura Vargas, Elza Major, Catherine Armstrong, Erin Oksol, Nancy Taylor und Duane Varble.

J.P.

Einleitung

Das Geheimnis des Lebens ist kein zu lösendes Problem, sondern erfahrbare Realität.

Zen-Spruch

Entgegen der Annahme, dass die Qualen einer Traumatisierung schier unerträglich sein müssen, finden sich täglich Beispiele von Menschen, die die schlimmsten Erfahrungen überstanden haben, denen es sogar gelingt, in ihrem Leben wieder einen Sinn zu entdecken und aus dem Vollen zu leben. Wie man dies schaffen kann, davon handelt unser Buch. Wir hoffen, dass Ihr Dasein mit unserer Hilfe an Vitalität gewinnt und dass Sie sich zunehmend an der Vielfalt des Lebens erfreuen können!

Trauma

Ein Trauma wird als schwere physische oder psychische Verletzung definiert: eine extrem belastende Erschütterung, die im Leben eine deutliche Zäsur hinterlässt. Verursacht wird eine Traumatisierung durch außergewöhnliche Ereignisse wie beispielsweise Kriege, Naturkatastrophen oder Terroranschläge, aber auch durch Alltägliches wie Unfälle oder Beziehungsprobleme. Man kann noch so vorsichtig sein – aller Wahrscheinlichkeit nach wird jeder Mensch mindestens einmal im Leben eine traumatische Erfahrung machen. Vielleicht haben Sie sich für dieses Buch entschieden, weil Sie selbst oder Menschen aus Ihrem Bekanntenkreis unter den Folgen eines Traumas leiden, Sie aber noch kein Mittel gefunden haben, das hilft.

Häufig fragt man sich: „Warum verschwinden Schmerz und Angst nach einem Trauma nicht von selbst und warum geht es einem im Gegenteil immer schlechter?“ Viele traumatisierte Menschen sind schreckhaft, haben jegliche Hoffnung verloren, fühlen sich leer, hilflos oder sogar wie „tot“. Und gleichzeitig empfinden sie aber auch einen gewissen Stolz, weil sie überlebt haben: Sie sind am Leben geblieben und bleiben es auch weiterhin, trotz des erlittenen Traumas. Auch Sie leben und lesen gerade dieses Buch, obwohl Sie vielleicht Schweres durchgemacht haben. Vermutlich möchten Sie Ihr Leben zum Positiven hin verändern. Und genau darum geht es in unserem Buch. Es basiert auf einer Methode, mit der wir schon seit über 15 Jahren arbeiten, um Menschen zu helfen, die unter den Folgen eines Traumas leiden. Diese Behandlungsform heißt Acceptance und Commitment Therapie.

Acceptance und Commitment Therapie

ACT (nicht A-C-T ausgesprochen, sondern „äkt“ wie das englische Verb „to act“, was „handeln“ bedeutet) ist eine Psychotherapiemethode, bei der Verhaltens- und kognitive Therapieformen sowie Prinzipien wie Wertorientierung und Achtsamkeit miteinander kombiniert werden (Hayes & Smith, 2007; Hayes, Strosahl & Wilson, 2004). Bei dieser Methode sind Sie eingeladen, in sich zu gehen und das, was Sie dort finden, zu ergründen und zu beschreiben. Wenn Sie einen neuen Blick auf Ihre Reaktionsweisen nach einem Trauma werfen, werden Sie feststellen, was Ihnen guttut und was nicht. Auf diese Weise können Sie Strategien, die Sie womöglich davon abhalten, das zu leben, was Ihnen wirklich wichtig ist, endlich loslassen. ACT basiert auf der Annahme, dass wir bei dem Versuch, Schmerz zu verdrängen oder ihm zu entfliehen, häufig noch mehr leiden. Problematisch sind sogenannte „gute“ Vorsätze wie zum Beispiel „Es darf mir nicht wehtun“, an die man sich manchmal ganz verzweifelt festklammert. Um sich aus dieser Umklammerung lösen zu können, braucht es eine neue Perspektive. Und zu genau diesem Zweck werden in der ACT Strategien verwendet, die der Intuition widerstreben und zu Überraschungen führen können. Mehr dazu erfahren Sie später, wenn Sie weiterlesen und die Übungen machen.

Damit Sie sich von dem Folgenden aber schon einmal ein Bild machen können, wollen wir Ihnen vorweg einige Grundsätze der ACT erläutern. ACT besteht aus drei Komponenten: Akzeptieren – Wählen – Handeln (Hayes et al., 2004).

Akzeptieren Sie Ihre Reaktionen und bleiben Sie in der Gegenwart!

Schmerz lässt sich im Leben nicht vermeiden, Leiden ja. Unnötiges Leid geschieht aber durch Erfahrungsvermeidung, nämlich dann, wenn man versucht, den ursprünglichen Schmerz wegzuschieben oder auszulöschen.

Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Körperempfindungen sind Erfahrungen, die nur im Inneren existieren. Vergisst man diese Tatsache, meint man, sie kontrollieren, verdrängen oder gar auslöschen zu müssen, obwohl sie ja eigentlich unschädlich sind. Denn an und für sich können Gefühle der Traurigkeit oder Gedanken wie „Ich bin ein schlechter Mensch“ nicht verletzen – es sei denn, wir lassen es zu.

Dass man vergisst, dass Gedanken nichts weiter als Gedanken sind, liegt an der Sprache. So hilfreich Sprache auch sein mag, hat sie doch auch eine Schattenseite, auf der wir uns eine beängstigende Zukunft ausmalen, uns an unerreichbaren Idealen messen und eine Realität kreieren, die nur vor unserem inneren Auge existiert.

Die Aufmerksamkeit neutral auf den gegenwärtigen Augenblick zu richten und, egal was dieser mit sich bringt, nicht darüber zu urteilen, wird möglich mithilfe der Methode der Achtsamkeit. Damit kann man sich bewusst machen, dass ein Gedanke bloß ein Gedanke ist, ein Gefühl bloß ein Gefühl, eine Körperempfindung bloß eine Körperempfindung, eine Erinnerung bloß eine Erinnerung. Seit vielen Jahrhunderten in angeleiteten Sitzmeditationen gelehrt, führt diese Methode der Bewusstwerdung zu mehr Offenheit im Erleben.

Wählen Sie eine Richtung, die Ihnen wichtig ist!

Damit wir nicht mehr auf die unabänderliche Vergangenheit zurückschauen, lenkt die ACT den Blick auf das, was wir jetzt und zukünftig wollen. Denn wenn man die Aufmerksamkeit auf das richtet, was einem wirklich etwas bedeutet, nämlich auf die Werte, dann weitet sich der Lebensradius zusehends.

Hat man seine Werte erst einmal klar definiert, kann man trotz schwieriger Vergangenheit selbst bestimmen, welche Richtung man im weiteren Leben einschlagen will. Befreiend sind aber nicht die Werte, die man wählt, um Schuldgefühle zu vermeiden oder anderen Menschen zu gefallen, sondern diejenigen, für die man sich um ihrer selbst entschieden hat beziehungsweise weil sie das Leben lebenswert machen und eine vitalisierende Wirkung haben.

Handeln Sie!

Dem gegenwärtigen Augenblick akzeptierend und achtsam zu begegnen und ihn mit Werten zu füllen ist ein ständiger Prozess, durch den wir unser eigenes Verhalten an dem, was tatsächlich gut funktioniert, ausrichten können. Indem wir schrittweise sich immer weiter öffnende Muster engagierten Handelns entwickeln, entsteht Lebensfreude. Dieser Prozess wird nie abgeschlossen sein. Das muss er auch gar nicht, denn letztendlich ist ja auch das Leben selbst ein Prozess und kein Ergebnis. Immer wieder, in allen möglichen Situationen und Phasen, stellt sich Ihnen dieselbe Frage: Sind Sie bereit, trotz häufigen inneren Unbehagens, das zu tun, was notwendig ist, um Freude am Leben zu haben?

In der ACT geht es darum, eine wohlwollende Einstellung sich selbst gegenüber zu entwickeln und das Leben als mitfühlenden Ausdruck der eigenen Ganzheitlichkeit zu leben. Es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass ACT bei vielen verschiedenen Problemen hilft, wie Depression, Angst, Substanzmissbrauch, chronischem Schmerz und sogar bei Psychosen (Hayes & Strosahl, 2004). Die Theorie der ACT baut auf dem Verständnis auf, dass die Mehrheit psychischer Probleme wie auch die Erfahrungsvermeidung mit der Sprache zu tun haben – eine Erkenntnis, die auch von Laboruntersuchungen unterstützt wird (Hayes, Barnes-Holmes & Roche, 2001; Hayes et al., 2006).

Wie kann ACT Traumaüberlebenden helfen?

Menschen, die nach einem Trauma Heilung suchen, hat ACT viel zu bieten. Unserer Meinung nach rührt der Schmerz, den Sie als Depression, Posttraumatische Belastungsstörung, seelische Abstumpfung, exzessiven Alkoholgenuss oder abweisendes Verhalten erfahren, mindestens teilweise daher, dass Sie sich anstrengen, Ihr Trauma oder andere schmerzhafte Lebenserfahrungen loszuwerden oder zu verdrängen, davor wegzulaufen oder jegliche Erinnerung daran zu vermeiden. ACT zeigt Ihnen, wie man ein erfülltes Leben führen kann, ohne zu großen Teilen die eigene Person – das, was Sie erlebt haben, das Positive wie auch das Negative – zu verleugnen.

Zwar können wir Ihnen nicht versprechen, dass der Prozess leicht sein wird, glauben aber, dass Sie einen Weg finden werden, wie Sie Ihre schmerzhafte Vergangenheit akzeptieren können, damit Ihre Wunde verheilen und Ihr Leben reicher werden kann. Judith Lewis Herman schrieb in der Einführung zu ihrem Buch Die Narben der Gewalt: „Der Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, Sie laut auszusprechen, ist eine zentrale Dialektik des psychischen Traumas“ (Herman, 2003, S. 9). Mit einem Trauma weiterzuleben bedeutet, etwas er- und überlebt zu haben, das oft mit Scham, Demütigung und Angst verbunden ist, was, wie das Zitat so treffend zum Ausdruck bringt, zu einer beständigen Ambivalenz führt, ob man über den Schmerz reden oder ihn verbergen oder sich gar selbst davor verstecken soll. Denn in unserer Gesellschaft sieht man das Leid anderer Menschen nicht gerne und sorgt so für dessen Verheimlichung. Damit wird jedoch die Vorstellung genährt, dass man über das Erfahrene besser nicht spricht, was wiederum eine Kultur der Vermeidung festigt. Wie oft kommt es vor, dass Sie beim Fernsehen umschalten, wenn dort etwas kommt, das Ihnen unangenehm ist? Wenn zum Beispiel in den Nachrichten über Kriege, Hungersnöte oder andere mit Leiden verbundene Dinge berichtet wird, wo Sie nicht helfend eingreifen können, wechseln Sie vor lauter Schmerz und Ohnmachtsgefühlen das Programm. Auf ähnliche Weise verhalten sich auch viele Traumaüberlebende. Indem sie sich ablenken oder auf irgendeine andere Weise das Programm wechseln, lernen sie, ihre unangenehmen Erinnerungen, Gedanken und Gefühle zu vermeiden und lagern sie aus. Womit sie sich selbst jedoch eher schaden.

Auch wenn die meisten mit dem Vermeiden zumindest kurzfristig durchaus Erfolg haben: Langfristig bringt es wenig, besonders aber dann nicht, wenn man nur dieses eine Werkzeug auf Lager hat. Denn oft ist Vermeidung die wichtigste Bewältigungsstrategie, was das Ganze aber nur noch verschlimmert. Gelingt hingegen der Blick ins Innere, um zu sehen, was dort los ist, dann – und nur dann – hat man auch die Macht, etwas zu verändern. Sich dessen, was in einem vorgeht, bewusst zu werden, ist das Gegenteil von Erfahrungsvermeidung. Wie Sie das schaffen, werden Sie mithilfe unseres Buches Kapitel für Kapitel erlernen.

In Zurück ins Leben finden wollen wir Ihnen zeigen, wie Sie das Erfahrene für sich zurückerobern können. Wir möchten Ihnen dabei helfen zu begreifen, dass Sie weder mit Ihren traumatischen Erinnerungen noch mit Ihren Gedanken und Gefühlen identisch sind, sondern dass Sie der Mensch sind, der all diese Dinge in sich trägt: Sie sind nicht das, was Ihnen passiert ist. Auch wenn Sie sich das Trauma sicher nicht ausgesucht haben und Ihre Probleme eher nicht selbst verursacht haben, müssen Sie sich, wenn Sie Ihr Leben in den Griff bekommen wollen, mit dem Trauma auseinandersetzen und akzeptieren, dass die Selbsterkenntnis mit Schmerzen verbunden ist. Im Gegenzug werden Sie Entscheidungen künftig wesentlich freier treffen können. Folgendes möchten wir Ihnen mit diesem Buch ans Herz legen:

Zum Gebrauch dieses Buches

Es folgen nun einige Tipps, wie Sie diesem Buch, das wir ganz bewusst aus der Perspektive der ACT geschrieben haben, das Beste abgewinnen können. Dies ist für den Prozess sehr wichtig, daher sollten Sie diesen Teil, wenn irgend möglich, nicht überspringen. Gerade wenn Sie zu den Menschen gehören, die Selbsthilfebücher nach der anfänglichen Begeisterungsphase entmutigt wieder beiseitelegen, sollten Sie unserem Rat folgen. Er könnte Ihnen nützlich sein. So lautet auch ein altes Sprichwort östlicher Philosophie: „Wenn der Schüler bereit ist, wird auch der Lehrer erscheinen.“ In diesem Sinne möchten wir Sie bitten, sich bereit zu erklären, alle Lehren, die sich in diesem Buch für Sie als nützlich erweisen könnten, in sich aufzunehmen.

Vertrauen Sie darauf, dass das Buch Ihnen helfen kann

Können Sie mit dem guten Vorsatz ans Werk gehen, dass das Buch Ihnen etwas bringt? Können Sie sich darauf einlassen, dass zwischen den Buchdeckeln etwas steckt, das für Sie wichtig und nützlich sein könnte? Sie brauchen uns nicht blind zu vertrauen, das erwarten wir gar nicht von Ihnen. Doch vielleicht ziehen Sie nur mal in Erwägung, dass dieses Buch Ihnen etwas bietet, das womöglich Ihr Leben verändert. Könnten Sie sich unter diesen Umständen vorstellen, mit dem Lesen zu beginnen? Wenn man schon vieles ausprobiert und nichts geholfen hat, verfällt man nur zu leicht in Zynismus oder Hoffnungslosigkeit. Aber gerade für Menschen, die schon eine Vielzahl von Fehlschlägen erlebt haben, scheint ACT genau die richtige Methode zu sein. Deswegen möchten wir Sie darum bitten, hier und jetzt Ihre Bereitschaft zu signalisieren, dass Sie unserem Buch einen Erfolg zutrauen.

In Kontakt mit der eigenen Erfahrung

Wir wollen Ihnen keine Denkweise oder Glaubensrichtung andrehen, sondern Ihnen helfen, ganz direkt mit Ihrer eigenen Erfahrung in Verbindung zu kommen. Nur daran können Sie messen, ob sich unsere Anregungen und Vorschläge für Sie als nützlich erweisen. Was gut für Sie ist, was Ihnen wirklich wichtig ist, Ihnen etwas bedeutet und wertvoll für Sie ist, das werden Sie nicht durch die Worte, die Sie hier lesen, sondern nur durch Ihre eigene Erfahrung begreifen. Gedanken und Erfahrungen sind nämlich zwei verschiedene Dinge. Zum Beispiel könnten Sie denken, dass es gut ist, sich von anderen Menschen fernzuhalten, während Ihnen die Erfahrung von Einsamkeit etwas anderes nahelegt. Daher werden wir Sie immer wieder dazu einladen, sich auf Ihre eigene Erfahrung zu besinnen. Die Übungen auch wirklich zu machen, hat eine weit größere Wirkung, als sie sich nur durchzulesen, weil Sie auf diese Weise nicht auf der intellektuellen Ebene, sondern ganz konkret mit Ihrer Erfahrung in Kontakt kommen.

Akzeptanz und Mitgefühl sich selbst gegenüber

Was Sie für diesen Arbeitsprozess brauchen, ist Mitgefühl für sich selbst. Wenn Sie feststellen, dass Sie sich selbst anklagen oder kritisieren, sich schämen oder Schuldgefühle haben, während Sie dieses Buch lesen oder die Übungen machen, nehmen Sie das einfach nur wahr, ohne darüber zu urteilen. Mit diesem Buch setzen wir ja voraus, dass es Bereiche gibt, an denen noch gearbeitet werden muss. Schauen Sie mal, ob Sie diese Reise mit einer gütigen und liebevollen Haltung sich selbst gegenüber beginnen können. Wenn das aber nicht geht und Sie über sich selbst urteilen, dann „bewerten Sie nicht Ihre wertende Haltung“ (Linehan, 1996b). Vielleicht haben Sie sich inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass diese Haltung für Sie ganz normal ist; trotzdem brauchen Sie ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken oder sich Vorwürfe deswegen zu machen.

Psychische Flexibilität

Wir wollen Ihnen nicht per Rezept verordnen, als welche Art Mensch Sie am Ende des Buches herauskommen sollten, denn in der ACT sind wir der Meinung, dass psychische Flexibilität der Schlüssel zu seelischer Gesundheit ist. Je flexibler Sie sind, desto mehr Wahlmöglichkeiten haben Sie für die Gestaltung Ihres Lebens. Auch beim Durcharbeiten dieses Buches erweist sich Flexibilität aus zwei Gründen als ganz praktisch. Erstens ist die Kategorie „Traumaüberlebende“ sehr allgemein gefasst. Weil Sie aber ein ganz bestimmtes Individuum sind, das in einer ganz bestimmten Situation mit ganz bestimmten Werten lebt, werden nicht alle Beispiele und Lebensgeschichten auf Sie passen oder relevant für Sie sein. Nehmen Sie also das mit, was für Sie von Nutzen ist, und lassen Sie den Rest links liegen. Zweitens werden Sie während der Arbeit mit diesem Buch womöglich feststellen, dass Sie sich selbst und die Welt nun mit anderen Augen sehen. Schauen Sie mal, ob Sie das zulassen können, und hören Sie auf zu überlegen, ob Sie es richtig oder falsch machen und ob Sie logisch oder unlogisch handeln. Denn es geht letztendlich ja darum, eine neue Daseinsform auszuprobieren, wie man in der ACT das ganze Leben als eine lange Reise betrachtet, auf der man sich ständig weiter entwickelt und verändert.

Sicherheit geht vor

Wichtig ist vor allem Ihre Sicherheit. Sie haben ein Trauma überstanden und sollten während Ihres Arbeitsprozesses unbedingt gut für sich selbst sorgen. Deswegen zeigen wir Ihnen im zweiten Kapitel einige Grundfertigkeiten, wie etwa die Achtsamkeitspraxis, mit denen Sie Ihre Grenzen erkennen und Probleme auf gesunde Weise angehen können. Informationen über professionelle Hilfsangebote finden Sie im letzten Kapitel, das Sie natürlich jederzeit aufschlagen können.

Zum Aufbau dieses Buches

Wie wir bereits erklärten, handelt es sich bei unserem Buch um ein übungszentriertes Arbeitsbuch mit mehreren Übungen pro Kapitel. Nicht immer, aber doch meistens, werden Sie dabei Dinge in das Buch schreiben, die sehr persönlich sind. Im Fall, dass Sie nicht allein wohnen, sollten Sie sich also gut überlegen, wo Sie das Buch aufbewahren. Betrachten Sie es als eine Art Tagebuch, dessen Inhalt Sie vor anderen Menschen besser verschlossen halten.

Damit Sie wissen, was Sie nun erwartet, möchten wir Ihnen im Folgenden erklären, wie das Buch aufgebaut ist und welche Besonderheiten zu beachten sind.

Gegenstrategien für die Schattenseite der Sprache

Weil in der ACT die Ansicht vertreten wird, dass Sprache nicht nur eine Freundin, sondern auch eine Feindin der Psyche sein kann, werden wir Ihnen in diversen Abschnitten beibringen, wie Sie den Einfluss der Sprache mindern bzw. lockerer nehmen können. Dazu verwenden wir viele neuartige Sprachregeln, Metaphern, Geschichten und praktische Übungen, von denen manche Ihnen vielleicht seltsam erscheinen werden, Beispielsweise erscheint, wie Ihnen sofort auffallen wird, oft anstelle von „Aber“ ein in Großbuchstaben geschriebenes „UND“. Wie wir später noch genauer erklären werden, geschieht dies aus gutem Grund: Damit wollen wir das Augenmerk auf die Tatsache richten, dass die Medaille immer zwei Seiten hat. So heißt es bei uns also nicht: „Ich war deprimiert, bin aber zur Arbeit gegangen“, sondern: „Ich war deprimiert UND bin zur Arbeit gegangen.“ Denn schließlich kann ja beides gleichzeitig zutreffen. Sie können Ihr Leben aus dem Vollen leben und müssen dafür weder Ihre Depression noch Ihre Angst und auch nicht Ihre traumatische Vergangenheit loswerden.

Die Glocke der Achtsamkeit

In der ACT, wie auch in verwandten Behandlungsformen, geht es hauptsächlich darum, die Fähigkeit zu entwickeln, Gedanken, Emotionen, Körperempfindungen, Einschätzungen und Erinnerungen aufmerksam wahrzunehmen. In Anlehnung an manche Achtsamkeitspraktiken, bei denen jedes Mal eine Glocke ertönt, wenn die Teilnehmenden überprüfen sollen, wo sie gerade mit ihrer Aufmerksamkeit sind, erscheint in diesem Buch von Zeit zu Zeit das Bild einer Glocke: Glocke.jpg. Wenn Sie dieses Symbol sehen, werden Sie aufgefordert, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren, Atmung, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, Fantasien und Erinnerungen wahrzunehmen und zu schauen, auf welche Seitenpfade Sie Ihr Geist geführt hat. Das ist eine gute Achtsamkeitsübung, durch die Sie außerdem merken, wenn Sie beim Lesen nervös werden oder innerlich abschalten. Lassen Sie bitte zu, dass Ihnen das Glockensymbol etwas bringt. Wenn es bei Ihnen Unbehagen auslöst, blättern Sie zum Tagebuchabschnitt (siehe unten) am Ende des jeweiligen Kapitels und notieren Sie Ihre Reaktion.

Ihre persönliche Tagebuchseite

Am Ende jedes Kapitels haben wir Ihnen einen Freiraum gelassen, wo Sie all das festhalten können, was Sie beim Lesen denken und fühlen: Körperempfindungen, Meinungen, Emotionen, Dinge, die Sie gern getan hätten bzw. in Zukunft tun möchten oder zu denen Sie sich getrieben fühlen. Wann immer Sie bei der Lektüre auf das Glockenzeichen stoßen, können Sie hier etwas hineinschreiben. Sie können aber auch erst dann Ihre Reaktionen auf das Gelesene notieren, wenn Sie das Kapitel beendet haben. Weil die Wirksamkeit des Schreibens über emotional bewegende Themen inzwischen auch wissenschaftlich erwiesen ist (Pennebaker, 2010; siehe auch Kap. 7), wollten wir unseren Lesern und Leserinnen die Möglichkeit geben, regelmäßig über sich selbst zu schreiben. Wenn Sie mehr Platz brauchen, können Sie auch die Leerseiten dieses Buches beschreiben oder Extrapapier verwenden.

Fallgeschichten

Zur Veranschaulichung bringen wir ab und an Fallbeispiele, jedoch keine kompletten Biografien, sondern Auszüge aus einer Sammlung, die wir aus unterschiedlichen Behandlungen über die Jahre zusammengestellt haben. Namen und Daten, die zur Identifizierung beitragen könnten, haben wir absichtlich geändert und Einzelheiten verschiedener Menschen miteinander verbunden. Nicht alles, was wir im Laufe der Jahre gehört haben, stammt von uns bekannten Menschen, ist aber trotzdem wahr.

Was uns wichtig ist

Seit vielen Jahren arbeiten wir beide mit Menschen, die ganz unterschiedliche Traumata wie Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Krieg, Naturkatastrophen oder Terroranschläge erlebt und überlebt haben. Was uns bei unserer Arbeit in Krankenhäusern, ambulanten Kliniken und sozialpsychiatrischen Einrichtungen schon immer ganz besonders beeindruckt hat, ist die enorme seelische Kraft, die Menschen aufbringen können. Dabei ist uns bewusst, dass nicht allen der Weg zu einer Therapie offensteht, weil sie unter anderem zu kostspielig ist, die Betroffenen keinen Zugang dazu haben oder nicht bereit dafür sind. Mit diesem Buch wollen wir das, was wir gelernt haben, an Sie weitergeben und Ihnen auf diese Weise dabei helfen, dass Sie für ein wertorientiertes Leben neue Kraft schöpfen und wieder zu Ihrer Identität zurückfinden.

1. Über Trauma
(Mit Kate M. Iverson)

Die Welt ist voller Leid, aber auch voller Menschen, die es überwunden haben.

Helen Keller

1.1 Was ist ein Trauma?

Seit Erfindung der Schrift gibt es Zeugnisse verschiedener Arten von schmerzhaften traumatischen Ereignissen. Männer und Frauen haben Naturkatastrophen und Kriege durchgestanden, Verluste hingenommen oder wurden Opfer von Gewalttaten.

Ein Trauma kann jeder Mensch erleben. Verwendet wird die Bezeichnung „Trauma“ meist im Zusammenhang mit Situationen, in denen man dermaßen stark bedroht, verängstigt, hilflos und entsetzt ist, dass man unter extrem hohem Stress steht (APA, 2003). Dabei handelt es sich um ganz unterschiedliche Situationen, unter anderem um folgende:

Die Vielfalt der Traumafolgen beschränkt sich nicht auf die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (Follette & Ruzek, 2006; Herman, 2003). Viele Betroffene leiden nach dem Trauma unter Problemen, die sie zuvor nicht hatten und deren Schweregrad sich auf einem Spektrum oder Kontinuum von geringfügig bis sehr ausgeprägt bewegt. Wie inzwischen bekannt ist, häufen sich die Traumafolgen zudem an, mit anderen Worten: je mehr Traumatisierungen, desto mehr Probleme. Wenn Sie also schon mehrere Traumata erlitten haben, heißt das nicht, dass Sie sich einfach daran gewöhnen werden.

Trotz einiger Gemeinsamkeiten, die sich inzwischen herauskristallisiert haben, sind die psychischen Folgen eines Traumas von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Glocke.jpg [Achten Sie an dieser Stelle auf Ihren Atem. Wie in der Einleitung bereits gesagt wurde, soll das Zeichen der Glocke Sie daran erinnern, einen Moment lang innezuhalten, um wahrzunehmen, was gerade mit Ihnen passiert. Nehmen Sie Ihre Reaktionen, um welche es sich auch immer handeln mag (zum Beispiel Ihren Atem, Ihre Gedanken oder Gefühle), im Stillen zur Kenntnis oder schreiben Sie darüber, indem Sie die Leerzeilen am Kapitelende nutzen]. Bei manchen kommt es besonders in schwierigen Lebenssituationen zu wiederkehrenden Episoden einer psychischen Störung. Die einen leiden gleich nach dem Trauma unter leichten Anpassungsstörungen, erholen sich dann aber vollständig, ohne dass sich weitere Probleme im Zusammenhang mit der Traumatisierung zeigen. Bei anderen treten die Symptome ebenfalls gleich nach dem Trauma auf, verschlechtern sich dann über viele Jahre immer mehr, was schließlich in komplexe und chronische Störungen mündet.

Obwohl in den vergangenen 30 Jahren im Bereich der Psychotraumatologie viele neue Erkenntnisse gewonnen wurden, hat man noch nicht genug getan, um sie denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie am nötigsten brauchen. Wie Sie vielleicht aus eigener Erfahrung wissen, kostet es einige Überwindung zuzugeben, wenn man im Leben Probleme hat, zumal wenn man ein Trauma erlebt und Angst davor hat, dass die anderen einen nicht verstehen. So haben gerade Traumaüberlebende Schwierigkeiten, über ihre Probleme zu reden, weil oft die anderen mit dem, was sie durchgemacht haben, scheinbar gar nichts anfangen können und keinen Zugang dazu haben. Dabei sind traumatische Erfahrungen doch viel häufiger, als man denkt. Warum also wird so selten darüber gesprochen? Weil man sich abgewertet und wie gelähmt fühlt, wenn man von anderen Dinge zu hören bekommt (oder es sich gar selber sagt) wie: „Jetzt komm endlich mal darüber hinweg“ oder: „Denk einfach nicht dran.“ (Wenn die Heilung von einem Trauma doch nur so einfach wäre!) Oder wenn man direkt oder indirekt zu spüren bekommt, dass die anderen von dem, was man erlebt habt, lieber nichts hören wollen.

Obwohl das Thema Trauma und seine Folgen zunehmend von den Medien aufgegriffen wird, ist das Reden über ein erlittenes Trauma immer noch mit einem erheblichen Stigma behaftet. Infolgedessen haben viele Traumaüberlebende das Gefühl, schlechter mit ihrem Trauma fertig zu werden als andere Menschen mit ähnlichen Belastungen, und befürchten, dass sie verrückt werden, es nicht packen oder innerlich zerbrochen sind. Leider haben viele Menschen, selbst diejenigen, die beruflich damit zu tun haben, Angst oder keine Lust, über traumatische Ereignisse zu sprechen. Vielleicht haben auch Sie noch niemandem, auch nicht denen, die es wirklich gut mit Ihnen meinen, von Ihrer traumatischen Erfahrung erzählt und sie daran teilhaben lassen, weil Sie keine gute Erfahrung damit gemacht haben. Selbst Lebensgefährten, Eltern, Therapeuten, Verwandten oder sogar Ihren besten Freunden fällt es schwer zu verstehen, was Sie durchgemacht haben. Es ist jedoch sehr wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass Sie nicht verrückt werden, weder ein Schwächling noch innerlich zerbrochen sind. Die Probleme, unter denen Sie als Folge der Traumatisierung leiden, sind weitverbreitet.

1.2 Die Wahrheit über Trauma: Sie sind nicht allein

Dass Traumatisierungen so häufig sind und derartige Auswirkungen auf Einzelne, Familien und sogar die ganze Gesellschaft haben, wird oft gar nicht für möglich gehalten, weil dieses Thema von einigen langlebigen Mythen verschleiert wird. Auf diese Mythen wollen wir im Folgenden kurz eingehen.

Mythos 1: Traumatische Erfahrungen sind außergewöhnlich

Es ist geradezu erschreckend, wie verbreitet Traumatisierungen sind. Über 70 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenenbevölkerung erleiden irgendwann einmal in ihrem Leben ein Trauma (Breslau, 2002). Obwohl sich die vielen verschiedenen Methoden und Definitionen der Prävalenzforschung zum Teil widersprechen, geht daraus klar hervor, dass die Rate traumatischer Erfahrungen sehr hoch ist. Früher betrachtete man ein Trauma als ein isoliertes, für das normale Leben nicht typisches Ereignis. Inzwischen weiß man jedoch, dass viele Menschen jährlich von Trauma betroffen sind.

Glocke.jpg [Kommen bei Ihnen in diesem Moment irgendwelche Gedanken oder Gefühle hoch?]

Mythos 2: Wenn man nur stark genug ist, kommt man über ein Trauma hinweg

Gegen ein Trauma ist jeder Mensch machtlos, auch vor dessen Folgen gibt es keinen Schutz. Worin Menschen sich unterscheiden, ist der jeweilige Schweregrad der Probleme oder Symptome, die bei der Bewältigung eines traumatischen Ereignisses auftauchen. Diese werden wir später in diesem Kapitel noch ausführlich besprechen. Der Schweregrad der Symptome hängt jedenfalls von einer Reihe von Faktoren ab, etwa von früheren traumatischen Erfahrungen, der angeborenen Stressresistenz, dem wahrgenommenen Schweregrad des Traumas und vor allem von der Art der Unterstützung durch Familie, Freundinnen und professionellen Helferinnen (Herman, 1992). Die Genesung von einem Trauma ist ein komplexes Thema, das weiterhin im Brennpunkt der Forschung steht.

Mythos 3: Alle Traumaüberlebenden brauchen Psychotherapie

Warum schaffen es manche Menschen, sich von der Belastung und den Problemen eines Traumas oder Unglücks zu erholen und danach wieder aufzublühen? Welche Fähigkeiten oder Qualitäten besitzen sie? Noch immer sucht man nach den Antworten auf diese Fragen. Hier, wie auch an vielen anderen Stellen finden wir zwei verschiedene, scheinbar einander widersprechende Ansichten, die jedoch beide zutreffen. Denn einerseits muss ein Trauma trotz seiner vielen weitverbreiteten Folgen grundsätzlich nicht Ihr Leben zerstören. Andererseits tragen Sie keine Schuld an den Problemen, die Sie belasten. Und außerdem ist die Definition der Heilung etwas Subjektives und wird für alle Betroffenen, alle Leser und Leserinnen dieses Buches unterschiedlich ausfallen.

Unserer Überzeugung nach haben Sie die Kraft, durch Ihre Entscheidungen ein zufriedenes und sinnvolles Leben zu führen. Mit dem Begriff „Resilienz“ beschreibt man die Fähigkeit eines Stoffes, nach einer Verformung elastisch wieder zu seiner ursprünglichen Form zurückzufinden. Diese Resilienz, d. h. Widerstandskraft, besitzen auch Menschen, in diesem Zusammenhang jene, die nach einem Trauma wieder auf die Füße kommen. Allerdings deckt dieser Begriff nicht den Heilungsprozess ab, durch den man allmählich zum früheren Funktionsniveau zurückfindet. Resilienz heißt ja nicht, dass ein Trauma für Sie keine schwere Belastung darstellt oder keinerlei Spuren bei Ihnen hinterlässt, sondern dass Sie trotz dieser Hindernisse den Willen und die Fähigkeit haben, nach vorne zu schauen und Ihr Leben anzupacken. Gewiss könnten Sie über Ihre vergangene Erfahrung noch hinauswachsen und später sogar ein zufriedenes Leben führen. Glocke.jpg [Kommen Ihnen gerade irgendwelche Gedanken oder Gefühle? Geht Ihr Puls schneller oder hat sich Ihr Atemrhythmus verändert?]

Schon dass Sie dieses Buch in der Hand halten und bereit sind, an einer Lebensveränderung zu arbeiten, ist ein Zeichen dafür, dass Sie die Fähigkeit haben, von Ihrer traumatisierenden Erfahrung zu genesen: Sie haben gemerkt, dass Sie allein nicht zurechtkommen, und dann Schritte unternommen, um sich Hilfe zu holen.

Für alle Übungen in diesem Buch empfiehlt es sich, dafür zu sorgen, diese in Papierform vorliegen zu haben.

 Übung 1.1: Erkennen Sie Ihre eigene Stärke

Für Ihre Genesung ist es wichtig, dass Sie alle positiven Schritte anerkennen und festhalten. Notieren Sie auch andere Schritte, die sie zu diesem Zweck unternommen haben (etwa sich die Zeit zu nehmen und sich über die Auswirkungen eines Traumas zu informieren).

Mythos 4: Es sind hauptsächlich Frauen, die ein Trauma erleiden

Verbreitet ist auch der Mythos, dass außerhalb von Kampfgebieten nur Frauen traumatisiert werden. Unserem Wissen nach ist dies nicht der Fall. In der Umfrage der National Comorbidity Study (NCS) gaben mehr als 60 Prozent der Männer an, potenziell mindestens ein Trauma erlebt zu haben, viele andere gaben sogar zwei oder mehr Arten von Traumatisierungen an (Kessler et al., 1995). Laut NCS und anderen Untersuchungen berichten jedoch eher Männer davon, Zeuge einer Verletzung oder Tötung geworden, in einen lebensbedrohlichen Unfall, eine Schlägerei oder andere Kampfhandlung verwickelt gewesen zu sein (Breslau et al., 1998; Kessler et al., 1995).

Mythos 5: Männer werden selten Opfer eines sexuellen Traumas

Immer wieder wird in unserer Gesellschaft übersehen, dass auch Jungen und Männer Opfer sexueller Übergriffe werden können. Die Rate für sexuellen Missbrauch männlicher Kinder und Jugendlicher bewegt sich zwischen 4 und 16 Prozent, je nach Bevölkerungsgruppe, Erhebungsdaten und der Definition von sexuellem Übergriff oder Missbrauch (Dong et al., 2003). Bei einer Befragung neu rekrutierter Marineangehöriger gaben fast 12 Prozent an, in der Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein (Merrill et al., 2001). In der Hauptsache erfolgt der sexuelle Übergriff auf Jungen und Männer durch Männer (obwohl auch Frauen dazu fähig sind), häufig von Autoritätspersonen oder Unbekannten. Dazu kommt, dass viele der betroffenen Männer häufig mit niemandem offen über ihr sexuelles Trauma sprechen, was die Gefühle von Scham und Isolation verstärkt.

Mythos 6: Die Medien übertreiben die Häufigkeit von Trauma

In Bezug auf die zunehmende Behandlung des Themas in Nachrichten, Filmen und Talkshows berichten einige unserer Klienten über eine Art Backlash. Denn gleichzeitig werden auch Stimmen laut, die in dieser verstärkten Medienpräsenz die Ursache für eine ungerechtfertigte und übertriebene öffentliche Wahrnehmung des Traumas, dessen Häufigkeit und Folgen sehen. Gleichwohl beweisen die Prävalenzdaten zur Gewalt gegen Frauen das Gegenteil.

Eine landesweite Untersuchung erwachsener Frauen in den USA ergab, dass etwa 13 Prozent der Teilnehmerinnen vergewaltigt und etwa 14 Prozent sexuell belästigt wurden oder einen versuchten Übergriff erlebt haben (Resnick et al., 1993). Studien weisen darauf hin, dass etwa eine von sechs Frauen in ihrem Leben einmal vergewaltigt wird (Brenner et al., 1999; Tjaden & Thoennes, 1998). Außerdem werden laut National Violence Against Women Survey etwa 25 Prozent der amerikanischen Frauen von ihrem Partner missbraucht (Tjaden & Thoennes, 2000).

Glocke.jpg [Wo sind Sie gerade mit Ihrer Aufmerksamkeit? Auf dieser Buchseite oder irgendwo anders?]

Mythos 7: Missbrauch passiert nur in armen Familien

Gewaltsituationen wie Vergewaltigung, körperlicher und sexueller Missbrauch von Kindern sowie häusliche Gewalt stellt man sich normalerweise nur in gesellschaftlich benachteiligten Schichten vor. Als würde man einem arbeitslosen Alkoholiker eher zutrauen, seine Frau zu schlagen, als einem gut situierten Akademiker. Dabei ist es erwiesen, dass ein Trauma allen Menschen passieren kann, jederzeit, schichtübergreifend, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Bildung und finanziellem Status, wenngleich die Erfahrung von Armut, besonders in Gegenden mit hoher Verbrechensrate, an sich schon eine Form von Traumatisierung darstellt (Kiser & Black, 2005).

Mythos 8: Bei Angehörigen des Militärs sind Posttraumatische Belastungsstörungen selten

Angehörige des Militärs haben oft psychische Probleme, die von einem Kriegstrauma herrühren. So leiden etwa 30 Prozent der Vietnamveteranen irgendwann in ihrem Leben unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (Kulka et al., 1998). Laut einer kürzlich durchgeführten Studie sind die Raten für Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Depression und Angststörungen bei amerikanischen, im Irak und in Afghanistan stationierten Truppen erhöht. So hatten 17 Prozent der aus dem Irak zurückgekehrten Soldaten eine PTBS. Dazu war bei den Soldaten mit den meisten Symptomen die Wahrscheinlichkeit, sich psychologische Hilfe zu holen, am niedrigsten (Hoge et al., 2004). Zwar kehren viele Militärangehörige aus Kriegsgebieten zurück und leben sich gut wieder ein, doch eine beträchtliche Anzahl wird später an PTBS erkranken (Friedman, 2006).

Mythos 9: Hilfe brauchen nur Menschen mit sehr schweren Belastungen

Keine Wahrheit trifft auf alle Menschen zu. So setzt man sich in der Traumaliteratur heftig mit der Frage auseinander, ob nur Menschen mit schweren Belastungen von professioneller Hilfe profitieren. Wie wir bereits sagten, kann aber jeder Mensch eine traumatische Erfahrung machen und unter den Folgen leiden, unabhängig von Gesundheit, Kraft und Belastbarkeit. Wer noch Wochen oder Monate nach einem Trauma mit Problemen zu kämpfen hat, dem stehen viele hilfreiche Behandlungsmöglichkeiten offen, wie zum Beispiel dieses Selbsthilfebuch. Manche Betroffene warten einfach darauf, bis die Symptome mit der Zeit von selbst zurückgehen, während andere sich sofort einer Behandlung unterziehen. Sie sollten auf jeden Fall schauen, was auf Sie selbst zutrifft, und den Weg einschlagen, der zu Ihren ganz persönlichen Bedürfnissen und Zielen passt.

Mythos 10: Wir leben immer mehr in einer Opfergesellschaft

Die Auffassung, dass sich unsere Gesellschaft zu einer Opfergesellschaft entwickelt hat, hat auch mit dem zweiten Mythos zu tun. Leider hört man nicht selten, dass Traumatisierte „aus einer Mücke einen Elefanten machen. Wenn sie es wirklich wollten, könnten sie sich wieder aufrappeln. Auch ich habe eine Menge durchgemacht und auch andere aus meinem Bekanntenkreis, und trotzdem geht es uns gut“.

Vielleicht haben auch Sie schon einmal so etwas gehört oder es sich im Stillen gar selbst gesagt. Wenn Sie auf solche Gedanken kommen, ist das nachvollziehbar. Weniger nachvollziehbar ist es jedoch, diesen Gedanken Glauben zu schenken. Natürlich vergleicht man die eigenen Erfahrungen mit denen der anderen. Das liegt einfach in der Natur der Sache, wird ermöglicht durch Sprache (siehe Kapitel 6) und hilft zunächst, dass man sich nicht mehr so allein fühlt. Vergleiche haben allerdings auch eine weniger hilfreiche Seite und es gibt zumindest drei Gründe, sich nicht so sehr mit dem Vergleichen aufzuhalten.

Erstens sind solche Vergleiche laut Wissenschaft eher unzutreffend. Glocke.jpg