Umschlag

Sybille Baecker wurde 1970 in Thuine geboren und wuchs in Gronau (Westfalen) auf. Sie studierte Betriebswirtschaftslehre in Münster und Neu-Ulm, anschließend war sie einige Jahre als IT-Prozessingenieurin in einem amerikanischen Unternehmen tätig. Heute lebt sie in der Nähe von Tübingen und arbeitet als Pressereferentin eines Sportfachverbandes in Stuttgart. Im Emons Verlag erschienen die Kriminalromane »Irrwege« und »Körperstrafen«.

Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-018-6
Schwaben Krimi
Originalausgabe

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Für Frank

DUNKELHEIT

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MIT EINEM GROSSEN TUCH

 

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UMSCHLIESST SIE

MIT EINSAMEN SCHATTEN

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MIT EINEM GROSSEN TUCH

 

IN DER NACHT

FÜHRT KEIN WEG ANS LICHT

VERSTECKE MICH

UNTER EINEM GROSSEN TUCH

 

ERWARTE

DEN TAG VERGEBENS

Dienstag

Schlechte Nachrichten haben die unangenehme Eigenschaft, zumeist völlig unerwartet einzutreffen. Sie tauchen auf aus dem Nichts. Treffen einen unvorbereitet. Kommen zu einem Zeitpunkt, der nie der richtige ist.

Normalerweise war er derjenige, der die schlechten Nachrichten überbrachte, an andere, Dritte, an Menschen, die er in der Regel nicht kannte.

Dieses Mal war es anders. Dieses Mal hatte es ihn getroffen, und es ließ ihn zurück. Ratlos. Hilflos. Ihn, Kriminalhauptkommissar Andreas Brander, vierundvierzig Jahre und seit mehr als zwanzig Jahren im Dienst.

Hatte er gedacht, nur weil er auf der einen Seite des Gesetzes stand, könne die andere nicht in sein Leben treten? Er stand am Fenster, starrte aus der dunklen Küche hinaus auf die Straße. Schneeflocken trieben in der Finsternis durch die Luft, wirbelten durcheinander, schwebten lautlos zur Erde. Es war kalt.

Statt zurück ins Bett zu gehen, ging Brander ins Wohnzimmer, nahm den Ballechin und ein Glas aus dem Regal. Es geschah automatisch, ohne sein Zutun. Er schaltete die kleine Stehlampe auf der Anrichte an und setzte sich auf das Sofa. Sein Kopf fühlte sich seltsam leer an. Nein, nicht leer, eher traurig. Ja, traurig, das traf es besser. Gedankenfragmente tauchten auf und verschwanden. Fragen blieben unbeantwortet. Traurig und ratlos. Das Gefühl, etwas übersehen zu haben, etwas nicht bemerkt zu haben. Auf jeden Fall, nicht zu verstehen, warum er nicht wenigstens etwas geahnt hatte. Leben. Sterben. Zwei Zustände, so gegensätzlich wie Licht und Dunkel. Hineingleiten in den Tod, sanft, vorbereitet sein. Aber nicht so plötzlich. So unerwartet. Nicht so. Er hatte genug Gewalt gesehen. Vielleicht schon zu viel.

Er nahm die Flasche aus der blauen Schmuckdose. »For the UK Market«, stand auf einem Aufkleber. Daniel hatte ihm die Flasche geschenkt. Er war beruflich in Schottland gewesen, und die Besichtigung der Edradour-Distillery hatte zu einem Ausflug mit den Kollegen gehört. Edradour galt als die kleinste Destillerie Schottlands. Brander kannte die Whisky-Brennerei. Weiße Häuschen mit roten Toren. Vor vier Jahren war er dort zum ersten Mal gewesen. Zum zehnten Jahrestag seiner Ehe hatte er mit Cecilia eine Tour durch die schottischen Highlands gemacht. So klein die Destillerie auch war, die Vielfalt an Whiskys war enorm. Sie hatten sechs verschiedene Sorten probiert und waren völlig betrunken im strömenden Regen die schmale Straße nach Pitlochry zurück ins Hotel gewandert. Sie hatten die nassen Kleider ausgezogen und unter der Bettdecke ihre nackten Körper aneinandergekuschelt, sich aneinander gewärmt. Und sie hatten sich geliebt.

Den Ballechin hatte er damals nicht probiert. Zumindest konnte er sich nicht an diesen Whisky erinnern – und wenn er ihn schon einmal getrunken hätte, dann hätte er ihn nicht vergessen. Vielleicht gab es ihn damals noch nicht. Es war ein starker Whisky mit einer für die Region untypischen rauchigen Note. Er hatte nicht die Rauchigkeit eines Laphroaig oder eines Talisker, die nach Asche und Torf schmeckten. Der Ballechin erinnerte ihn an eine Hütte, in der Aale geräuchert wurden, vermischt mit der süßen Note einer Sherryfass-Lagerung. Außergewöhnlich und vielschichtig. Der richtige Whisky, um an nichts anderes mehr zu denken. Brander öffnete die Flasche, schloss einen Moment lang die Augen, als er das herb-rauchige Aroma roch. Dann goss er die Flüssigkeit in sein Glas, hielt es vor sein Gesicht und betrachtete die Farbe im Schein der kleinen Stehlampe. Bernsteinfarben. Helles Bernstein. Er trank einen kleinen Schluck, wartete, dass sich das Aroma in Mund und Rachen ausbreitete. Es vermischte sich mit diesem seltsamen Gefühl ratloser Traurigkeit.

Eine Tür wurde geöffnet. Kurz darauf fiel ein Lichtstrahl vom Flur ins Wohnzimmer. Er hörte Schritte auf der Treppe. Sie war barfuß, meinte er am Geräusch ihrer Schritte zu erkennen. Sie sollte Hausschuhe tragen, die Fliesen sind eiskalt, ging es ihm durch den Kopf. Sie blieb an der Türschwelle zum Wohnzimmer stehen, die Arme fröstelnd um ihren Oberkörper geschlungen. Sie hatte keinen Morgenmantel übergezogen. Sie zog nie einen Morgenmantel an, und er fragte sich, warum er ihr eigentlich zum Geburtstag einen geschenkt hatte. Hatte sie sich nicht einen gewünscht?

»War das deine Dienststelle?«, fragte Cecilia. Sie hatte also das Läuten des Telefons gehört, dabei hatte er sich beeilt, das Gespräch entgegenzunehmen. Er hatte Bereitschaft und wollte nicht, dass ihr Schlaf gestört wurde.

Im Gegenlicht des Flurs konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, sah nur ihre Silhouette, sehnte sich danach, sie in seine Arme zu nehmen und nie wieder loszulassen.

»Nein.«

Sie blieb schweigend im Türrahmen stehen, wartete darauf, dass er etwas sagte. Er schwieg.

»Und wer ruft dich dann mitten in der Nacht an?«, fragte sie schließlich.

Brander seufzte, nippte an seinem Glas. »Daniel.«

»Daniel?« Sie kam ein paar Schritte in den Raum. »Ist etwas passiert? Ist was mit Julian?«

Der Sohn von Branders Bruder Daniel hatte eine Zeit lang sehr über die Stränge geschlagen.

»Nein.«

Jetzt war es Cecilia, die laut seufzte. Sie legte den Kopf zur Seite. Er meinte zu erkennen, dass sie blinzelte, um sein Gesicht im matten Licht besser sehen zu können.

»Andi, ich bin müde und muss morgen früh raus. Dein Bruder ruft dich mitten in der Nacht an, und dann setzt du dich allein ins dunkle Wohnzimmer und trinkst Whisky. Irgendetwas muss doch passiert sein!«

»Babs …« Er stockte, spürte einen harten Kloß im Hals. Er räusperte sich, suchte nach den richtigen Worten. Wie etwas sagen, was man noch nicht begriffen hatte? »Babs liegt im Krankenhaus. Sie kommt vielleicht nicht durch. Sie …«

»Um Gottes willen.« In wenigen Schritten war Cecilia bei ihm, setzte sich zu ihm auf das Sofa.

Er fühlte ihre kühle Haut durch sein T-Shirt. Sie hätte den Morgenmantel überziehen sollen, dachte Brander. Er legte den Arm um ihre Schultern, zog sie fest an sich, wollte sie wärmen, wollte sie bei sich wissen. Sicher und geborgen.

»Was ist denn passiert?«, fragte Cecilia nach einer Weile. Sie strich sich eine Strähne ihres langen Ponys aus dem Gesicht und sah zu ihm.

»Sie … sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen.« Es tat weh, diesen Satz auszusprechen. Seit mehr als zwanzig Jahren kannte er seine Schwägerin. Eine fröhliche Frau. Eine Frau, die das Leben anpackte. Eine Frau, die sich nicht so leicht unterkriegen ließ. Hatte er zumindest immer gedacht. »Ich …« Er schüttelte den Kopf, konnte es einfach nicht fassen. »Julian hat sie gefunden.«

Er spürte, wie sich Cecilias Körper verspannte. Er zog sie noch enger an sich, kippte den Rest des Whiskys in sich hinein.

»Warum?«, fragte Cecilia nach einer Weile.

»Ich weiß es nicht.« Daniel hatte nicht viel erzählt. Hatte nicht viel erzählen können. Die meiste Zeit hatte er geweint.

»Willst du nach Düsseldorf fahren?«

Brander schüttelte leicht den Kopf. »Daniel will nicht, dass ich komme.« Noch etwas, das er nicht verstand. »Er hat unsere Eltern angerufen. Sie fahren morgen zu ihm und kümmern sich um Julian.«

»Warum will er nicht, dass du kommst?«, wunderte sich Cecilia.

»Ich weiß es nicht.« Brander hatte das Gefühl, diesen Satz nicht mehr ertragen zu können. Er stellte das Glas auf den Couchtisch, wollte nach der Flasche greifen, als erneut das Telefon klingelte. Ohne aufs Display zu schauen, griff er nach dem Apparat, nahm das Gespräch entgegen.

»Daniel?«

»Ähm … nein … Polizeidirektion Tübingen, Sabrina Wilke. Andi, bist du das?«, hörte er die verdutzte Stimme der Kollegin aus der Zentrale.

»Ja, ‘tschuldige.« Brander atmete durch, versuchte, sich zu sammeln. Profi sein. »Was gibt’s?«

»Wir haben einen Toten. Der Mann wurde vermutlich zusammengeschlagen und verstarb kurz darauf im Krankenhaus«, erklärte ihm die Kollegin knapp.

Brander schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt? Er hatte andere Sorgen. »Ist es notwendig, dass ich rauskomme?«

»Du bist der leitende Beamte.«

Das wusste er selbst. Er seufzte leise. Er wollte jetzt nicht zum Dienst, wollte sich nicht um fremde Probleme kümmern, auch nicht um fremde Tote. Seine Familie brauchte ihn, sein Bruder, seine Schwägerin und sicher ganz besonders sein Neffe. Was mochte in dem Jungen jetzt vorgehen?

»Tut mir leid«, bedauerte Sabrina ihren Anruf. »Soll ich …?«

»Nein, schon gut.« Ein Mann war tot. Er hatte Bereitschaft und würde in dieser Nacht sowieso keinen Schlaf mehr finden. »Ich brauche ein paar Minuten. Ruf Peppi an. Die ist schneller da.«

Vielleicht war der Fall schnell erledigt, wenn nicht, konnte er versuchen, ihn am nächsten Morgen an einen Kollegen abzugeben. Es würde ihn jetzt zumindest von stundenlangen, sinnlosen Grübeleien abhalten. Im Moment gab es nichts, was er für seinen Bruder und dessen Familie tun konnte. Er wusste, dass er sich selbst belog, dass er sich aus einer Verantwortung stahl.

»Wie viel hast du schon getrunken?«, fragte Cecilia, nachdem er aufgelegt hatte.

»Nur einen Whisky.«

»Fahr bitte vorsichtig. Es ist glatt draußen.« Sie fragte nicht, wie er in dieser Situation zur Arbeit gehen konnte. Sie ließ ihn gehen. Später. Später würden sie über alles reden.

Die Seitenstraßen waren zugeschneit, als Brander sich mit dem Wagen auf den Weg machte. Selbst die B 28, die von Entringen nach Tübingen führte, war mit einer kleinen Schneeschicht überzogen. Die Räumdienste kamen mit der Arbeit in dieser Nacht nicht nach.

Mehr als eine Dreiviertelstunde war vergangen, seit Sabrina ihn angerufen hatte. Er hatte sich nicht zur Eile antreiben können. Noch immer waren da zu viele Gedanken in seinem Kopf. Als er am Tatort ankam, waren die Arbeiten bereits voll im Gang. Brander parkte den Wagen am Straßenrand, schaltete die Scheinwerfer aus und starrte durch die Windschutzscheibe auf das geschäftige Treiben. Kollegen von der Schutzpolizei hatten den Tatort abgesperrt und hielten Schaulustige fern. Obwohl es fast zwei Uhr morgens war, hatte es einige Anwohner aus ihren warmen Wohnungen getrieben. Fröstelnd standen sie im Schnee. Der Wagen des Erkennungsdienstes war vor Ort. Männer und Frauen in weißen Anzügen sicherten die Spuren. Sie würden nicht viel finden, ahnte Brander schon jetzt. Er entdeckte Hendrik Marquardt, der eigentlich keinen Bereitschaftsdienst hatte, aber anscheinend schon gerufen worden war. Vielleicht hatte Peppi das veranlasst, seine Kollegin mit dem griechischen Temperament und einer Ruppigkeit, mit der sie ihr weiches Herz zu verbergen versuchte.

Augenblicklich kehrte die Erinnerung an Daniels Anruf zurück. Was hatte Babs vor ihnen verborgen? Was hatten sie nicht gesehen? Seine Finger krampften sich um das Lenkrad. Einen Moment lang schloss er die Augen. Was machst du hier?, fragte er sich im Stillen. Er sollte jetzt auf dem Weg nach Düsseldorf sein. Aber nun war er in Tübingen und hatte Dienst, und außerdem wollte Daniel nicht, dass er kam.

Er nahm die Hände vom Lenkrad, rieb sich kräftig durch das Gesicht, als könnte er damit alle familiären Sorgen abwaschen. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch, setzte die bunte Strickmütze auf und stieg aus dem Wagen.

Brander brauchte einen Moment, bis er in der vermummten Gestalt neben dem Erkennungsdienstler seine Kollegin erkannte. In der weißen Daunenjacke und dem überdimensionalen hellblauen Schal, den sie dreimal um Hals und Gesicht gewickelt hatte, sah Peppi aus wie ein Marshmallow auf dem Weg zu einer Polarexpedition. Einer einzigen schwarzen Locke war es gelungen, sich aus der Kapuze hervorzustehlen.

»Hallo, Schneemann.« Er trat neben Peppi, versuchte, einen lockeren Ton anzuschlagen. Seine Sorgen waren Privatsache. Er nickte dem Kollegen vom Erkennungsdienst zu, bedauerte einen Augenblick, dass es nicht Manfred Tropper war.

»Schneefrau«, korrigierte Peppi Brander. Sie hob den Blick. »Schicke Mütze.«

Er ahnte ein boshaftes Grinsen unter dem blauen Schal. Die Mütze war sicherlich seit Jahren aus der Mode und hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber er konnte sich nicht davon trennen.

»Man tut, was man kann.« Ihn befiel eine leichte Dankbarkeit dafür, dass Peppi hier war. Das lockere Geplänkel mit der Kollegin nahm etwas von der Last, die auf seine Schultern drückte.

»Du hast dir Zeit gelassen«, stellte Peppi fest.

Brander zuckte die Achseln. »Klär mich auf.«

Sie gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihr zu folgen. Kurz darauf saßen sie im schützenden Inneren der grünen Minna, die allerdings im Rahmen der Europäisierung inzwischen blau war. Den Spitznamen hatte der Einsatzwagen dennoch behalten.

Sie zogen die Handschuhe aus, öffneten ihre dicken Jacken, und Peppi rieb fröstelnd ihre Hände aneinander. Brander wartete schweigend, bis die Kollegin mit ihrem Bericht begann.

»Also, kurz nach Mitternacht erhielten wir einen Notruf«, erklärte sie schließlich. »Ein Mann sei zusammengeschlagen worden und läge auf der Straße. Eine Streife ist rausgefahren. Ein türkisches Paar war bei dem Mann und versuchte, ihn mit Decken zu wärmen. Da hat er noch gelebt. Der RTW traf gegen halb eins ein und brachte ihn in die Klinik. Noch während im Krankenhaus die Not-OP vorbereitet wurde, erlag er seinen Verletzungen. Dann wurden wir gerufen. Der Tatort war bereits abgesperrt, allerdings hat das nicht viel genützt, weil die Rettungsassistenten und der Notarzt ja hier voll im Einsatz waren. Hinzu kam, dass durch die Sirenen und Blaulichter die Leute neugierig wurden und munter hin und her gelaufen sind. Und zu allem Glück schneit es auch noch pausenlos. Spuren dürften vermutlich gegen null gehen.« Sie unterbrach kurz und blies heißen Atem in ihre kalten Hände. »Ist das kalt, verflucht.«

»Was wissen wir über den Toten?«

Peppi zog ein kleines Notizbuch aus der Jackentasche. »Der Tote hatte einen Pass bei sich. Er heißt Nael Vockerodt, ist zweiundzwanzig Jahre alt, farbig. Der Pass wurde in Kapstadt ausgestellt. Er hat eine zweckgebundene Aufenthaltsgenehmigung. Er ist Student.«

»War«, sagte Brander mehr zu sich als zu seiner Kollegin.

»Ja, er war Student. Scheiße. Kapstadt. Da kommt einer aus Kapstadt und wird in Tübingen erschlagen.«

»Hmm.« Er lehnte sich zurück und sah zum Fenster. Kleine Eisblumen hatten sich an den Scheiben des Einsatzwagens gebildet und funkelten im Schein der aufgestellten Strahler wie die Stars einer Varieté-Show. Glitzerten höhnisch kalt. Er schüttelte den Kopf. Was hatte er für absurde Gedanken?

»Hallo? Hörst du mir zu?«, hörte er Peppi fragen.

»Hm? Ja, ja, natürlich.« Er atmete tief durch, füllte seine Lungen mit Luft, um die Stricke zu lösen, die sich um seine Brust schnürten. Daniels Anruf ließ ihn nicht los. »Was hast du gerade gesagt?«

Peppi verzog kurz das Gesicht, dann wiederholte sie: »Ich sagte, dass wir noch nicht wissen, wo er gewohnt hat. Er hatte eine Aufenthaltsgenehmigung, das heißt, dass er nicht erst heute Nacht aus Kapstadt eingereist ist. Vermutlich lebte er hier irgendwo in Tübingen.«

»Vermutlich, ja«, murmelte er. Er musste sich zusammenreißen. Er war im Dienst. Ein Mann war zusammengeschlagen worden. Der Mann war gestorben. Vielleicht hatten sie eine Chance, den Täter noch in dieser Nacht zu finden.

»Was wissen wir über den oder die Täter?«

»Nichts.«

»Was heißt ›nichts‹? Jemand hat die Polizei gerufen. Hier sind Häuser, hier wohnen Menschen. Jemand muss doch etwas gesehen haben!«

»Das türkische Paar, das uns gerufen hat, sagte, dass sie den Mann erst gesehen haben, als er schon am Boden lag. Sie wohnen in einem der Häuser direkt hier vorne. Sie hatten etwas gehört, und als sie aus dem Fenster sahen, lag der Mann auf der Straße. Der Täter war bereits weg. Wir wissen nicht einmal, ob es nur einer war oder vielleicht zwei oder drei.«

»Wenn sie nichts gesehen haben, woher wissen sie dann, dass der Mann zusammengeschlagen wurde?«

Peppi zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Frag sie.«

»Vielleicht ist er nur gestürzt? War er betrunken?«

»Wir wissen es nicht. Die Kollegen sagen, er hatte Gesichtsverletzungen. Mehr kann ich dir im Moment auch nicht sagen. Wir fangen gerade an, die Nachbarschaft zu befragen. Ich hab schon Mann und Maus zusammentrommeln lassen. Ein paar Kollegen von der Schutzpolizei fahren die Gegend ab und nehmen die Personalien der Leute auf, die jetzt noch unterwegs sind. Werden nicht so viele sein bei dem Wetter und um diese Zeit. Jens ist im Büro und versucht herauszufinden, wo Vockerodt in Tübingen gewohnt hat. Die Staatsanwaltschaft haben wir informiert.«

Branders Blick wanderte wieder zum Fenster. Der Tatort war mit Planen überdacht worden, die Kollegen vom Erkennungsdienst versuchten, an Spuren zu retten, was zu retten war. Er meinte, dass die Zahl der Schaulustigen auf der Straße weniger geworden war. Wahrscheinlich beobachteten sie nun aus der Sicherheit ihrer warmen Zimmer die Arbeit der Polizei. Vielleicht waren sie auch wieder schlafen gegangen. Was sollten sie auch tun? Es betraf sie ja nicht. Brander bemerkte das Paradoxe seiner Gedanken. Zum einen verurteilte er sie als Schaulustige, zum anderen warf er ihnen mangelnde Anteilnahme vor. Was erwartete er? Wie sehr nahm er denn Anteil am Leben der Familie seines Bruders, dass ihn die Nachricht von Barbaras Selbstmordversuch so überraschte? Es hatte keinen Zweck. Er sollte die Ermittlungen Peppi übergeben und sofort nach Düsseldorf fahren. Er wandte sich wieder Peppi zu.

»Danke.«

»Wofür?«

»Dass du dich um alles gekümmert hast.«

Sie bedeutete ihm mit einer Geste, dass es nicht der Rede wert sei. »Ich mach den Job ja auch nicht erst seit gestern.«

»Wir müssen das Auswärtige Amt und die Südafrikanische Botschaft informieren«, fiel ihm ein. Peppi nickte, machte sich eine Notiz.

Er starrte wieder einen Augenblick aus dem Fenster des Wagens. »Ich will noch mit diesem türkischen Paar reden, und dann lass uns ins Krankenhaus fahren und mit den Sanis sprechen. Vielleicht hat der Mann noch irgendetwas gesagt, bevor er starb.« Das eine denken, das andere tun. Er hatte das Gefühl, sich selbst zu beobachten, ohne zu verstehen, was er tat.

»Das sind keine Sanis, das sind Rettungsassistenten«, belehrte ihn Peppi.

»Kriminalhauptkommissar Andreas Brander«, stellte er sich kurz darauf den Eheleuten Achmed und Ebru Iscan vor.

Peppi hatte das türkische Paar, das noch nicht wieder in seine Wohnung zurückgekehrt war, zum Einsatzwagen gebracht. Sie mochten Mitte oder Ende vierzig sein, schätzte Brander, waren beide in lange dunkle Mäntel gehüllt. Ebru Iscan verbarg ihr Haar unter einem dunklen Kopftuch, während ihr Mann zum Schutz vor Kälte und Schnee eine Fellmütze aufgesetzt hatte. Er sah Brander mit einem so aufmerksamen Blick an, dass es den Kommissar kurz irritierte.

»Können Sie mir bitte genau erklären, was Sie gehört und gesehen haben?«, begann er.

»Ihre Kollegen sagen, der Mann ist gestorben?«, stellte Ebru Iscan eine Gegenfrage. Sie sprach ein fast akzentfreies Deutsch, und Brander wunderte sich, dass sie das Wort ergriff anstelle ihres Mannes. Er sah in ihr ebenmäßiges Gesicht, entdeckte braune, ernste Augen. Sie saß aufrecht vor ihm, die Hände ruhten sanft in ihrem Schoß. Eine würdevolle Schönheit ging von dieser Frau aus. Achmed sah konzentriert von seiner Frau wieder zu Brander.

»Ja, der Mann ist gestorben. Wenn Sie bitte …«

Sie ließ ihn nicht aussprechen, nickte mit teilnahmsvollem Blick und begann zu reden: »Achmed und ich saßen im Wohnzimmer. Wir wohnen dort.« Sie zeigte auf eines der Mehrfamilienhäuser, das auch Peppi ihm schon gezeigt hatte. »Wir haben einen Film angesehen. Und plötzlich hörte ich Stimmen. Laute Stimmen. Ich verstand nicht, was gesprochen wurde, aber es hörte sich nicht gut an. Die eine Stimme klang sehr wütend. Ich habe es meinem Mann gesagt. Aber dann war alles plötzlich wieder still. Ich bin dann trotzdem zum Fenster gegangen. Ich war irgendwie beunruhigt. Und da lag der Mann auf der Straße. Ich habe Achmed geholt und es ihm gezeigt. Wir haben Decken genommen und sind schnell zu dem Mann gelaufen, um ihm zu helfen.« Sie hatte ruhig gesprochen, keine Hektik, keine Aufregung in der Stimme. Sachlich hatte sie das Geschehen erklärt, als täte sie so etwas nicht zum ersten Mal.

»Herr Iscan, haben Sie auch etwas gehört?«, wandte sich Brander an ihren Mann. Achmed Iscan sah ihn schweigend an, wobei er die Stirn in Falten legte und leicht die Schultern hob. Sein Gesicht war faltig, zwei Narben zogen sich über die linke Schläfe. Vielleicht spricht er kein Deutsch, dachte Brander und sah wieder zur Ehefrau des Türken. Auf ihrem Gesicht entdeckte er den Ansatz eines nachsichtigen Lächelns.

»Achmed ist taubstumm«, erklärte sie. »Er hat nichts gehört.«

»Aber … sagten Sie nicht gerade, Sie hätten einen Film angesehen?«

»Mit Untertiteln«, erklärte sie, und das Lächeln wurde deutlicher, verschwand jedoch gleich wieder, als ihr Blick zum Fenster ging. Sie drehte sich zu ihrem Mann und erklärte ihm in einer Mischung aus Lippenbewegungen und Gebärdensprache, was sie dem Kommissar gesagt hatte.

»Waren es Männer- oder Frauenstimmen, die Sie gehört haben?«, fuhr Brander schließlich mit der Befragung fort.

»Männerstimmen. Laute Männerstimmen.«

»Wie viele?«

»Ich weiß nicht. Zwei, vielleicht drei. Ich bin nicht sicher. Es war nur ganz kurz.«

»Und als Sie aus dem Fenster sahen, haben Sie niemanden sonst auf der Straße gesehen?«

Sie überlegte, schüttelte schließlich den Kopf. »Nein, da war nur der Mann. Ich habe auch ehrlich gesagt auf nichts anderes geachtet. Ich dachte nur, da liegt ein Mensch und braucht Hilfe.«

»Vielleicht waren der oder die Männer schon weiter weg? Haben Sie jemanden weglaufen sehen? Etwas weiter entfernt vielleicht?«

Wieder überlegte sie einen Augenblick lang. Brander sah in das konzentrierte Gesicht der Frau. Eine schöne Frau, ging es ihm, ohne dass er es wollte, durch den Kopf.

»Nein, wirklich. Ich habe sonst niemanden gesehen.«

»Und Ihr Mann?«

Sie übersetzte seine Frage für ihren Mann. Achmed Iscan sah zu Brander, verzog bedauernd das Gesicht, zeigte die offenen Handflächen und schüttelte den Kopf.

»Ich danke Ihnen. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, dann melden Sie sich bitte bei mir.« Er reichte ihr seine Visitenkarte.

Das Ehepaar erhob sich und verließ den Einsatzwagen. Brander wollte ihnen ins Freie folgen, als Ebru Iscan unvermittelt stehen blieb und sich noch einmal zu ihm umdrehte.

»Hätten wir noch irgendetwas für den Mann tun können, um ihn zu retten?«, fragte sie.

Brander roch einen dezent süßlichen Duft. Rosen. Der Duft blühender Rosen mitten im Winter. »Ich weiß nicht. Vermutlich nicht, nein«, antwortete er vage.

Sie blickte Brander traurig an, und einen Moment lang hatte er das unsinnige Gefühl, sie könne in ihn hineinsehen, in das Chaos, das gerade in ihm herrschte.

»Man kommt meistens zu spät, nicht wahr?«

Brander spürte eine eiskalte Hand in seinem Nacken. Er antwortete nicht.

Nael Vockerodt war nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Brander und Peppi waren zur Unfallklinik auf dem Schnarrenberg gefahren und hatten mit dem Notarzt gesprochen, der zum Tatort gerufen worden war. Der Tote hatte kleine Blessuren im Gesicht, die von einem Schlag stammen konnten. Gestorben war er vermutlich an einer Kopfverletzung. Näher wollte sich der Notarzt nicht zur Todesursache äußern. Sie würden die Obduktion abwarten müssen. In der Kleidung des Toten fanden sie seinen afrikanischen Ausweis und einen kleinen Lederbeutel mit neun Euro zweiunddreißig Bargeld. Keinen Hinweis auf einen Wohnsitz in Tübingen oder eine Adresse sonst irgendwo in Deutschland.

Brander atmete auf, als sie das Klinikum wieder verließen. Als er die typische Krankenhausluft beim Betreten des Gebäudes gerochen hatte, waren unweigerlich die Sorgen um seine eigene Familie wieder in den Vordergrund getreten. Knappe fünfhundert Kilometer entfernt lag seine Schwägerin auf der Intensivstation einer Düsseldorfer Klinik. Ob Daniel bei ihr war? Natürlich war er bei ihr! Wo sollte er sonst sein? Und Julian? Brander hatte die Gedanken mühsam zurückgedrängt, während sie durch die nächtlichen Gänge der Klinik liefen und den Notarzt suchten.

Mit einem Seufzen ließ er sich nun wieder auf den Fahrersitz seines Wagens fallen.

»Und jetzt?«, fragte Peppi, während sie nach dem Sicherheitsgurt fischte.

»Wir fahren zur Dienststelle. Vielleicht hat Jens etwas herausgefunden.«

Jens kam aus seinem Büro gestürmt, als Brander und Peppi angekommen waren und auf die Kaffee-Ecke zusteuerten.

»Hey, da seid ihr ja. I’ve some news for you. Wir haben einen Kontakt von Nael Vockerodt in Tübingen«, berichtete er stolz, wobei er unaufhörlich vor sich hin schniefte. Erfolglos suchte er in seinen Taschen nach einem Taschentuch.

»Und der wäre?« Brander reichte ihm ein Tuch von der Küchenrolle.

»Danke.« Nachdem Jens sich geräuschvoll die Nase geputzt hatte, erklärte er: »Er hatte eine Freundin. Jasmin Risch. Ich hab auch schon ihre Adresse aus unserer Datenbank gefischt.«

»Und wie hast du das herausgefunden?«, erkundigte sich Peppi.

»Leute, lasst da mal einen Computerfachmann ran«, sagte Jens mit selbstgefälligem Grinsen. »Twitter, Facebook, Xing, studiVZ, irgendwo sind die Digital Natives doch immer vernetzt.«

»Digital Natives?«

»Yep, das ist die Generation, die mit diesem ganzen Computer-Schnickschnack aufgewachsen ist. Wir, hm …« Jens grinste Brander und Peppi frech an, hustete bevor er fortfuhr: »Also, eher ihr … ihr gehört zur Generation Digital Immigrants.«

»Ganz toll. Ich wollte schon immer ein Digital Immigrant sein, du auch, Andi?« Peppi verzog spöttisch das Gesicht.

»Ein Traum geht in Erfüllung.« Brander schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Er betrachtete Jens besorgt, der erneut hustete und schniefte. Seine Augen sahen etwas fiebrig aus, und die Nase war gerötet. »Sag mal, bist du krank?«

»Ach was, kleiner Schnupfen«, wehrte Jens ab.

»Schweinegrippe«, diagnostizierte Peppi. »Wehe, du steckst uns an!«

»Blödsinn.« Jens schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Also, Vockerodt habe ich bei Twitter gefunden, zwitschert da unter dem Namen Navo3.«

»Woher weißt du, dass er es ist?«, fragte Brander

»Wenn ich dir das jetzt erklären wollte, wären wir morgen Mittag noch nicht fertig. Wichtig ist doch, dass wir einen Kontakt haben.«

»Ist diese Jasmin Risch eine Freundin oder seine Freundin?«, hakte Brander nach.

»Dem Gezwitscher nach müsste sie seine Freundin gewesen sein.« Er sah abwechselnd zu den Kollegen. Das stolze Grinsen aus seinem Gesicht verschwand. »Ich habe meinen Job erledigt. Hinfahren dürft ihr.« Er reichte Brander den Zettel mit der Adresse.

»Seit wann sagst du mir, was ich zu tun habe?«, fragte Brander und nahm den Zettel entgegen.

Jens zuckte entschuldigend die Achseln, deutete mit dem Zeigefinger auf seine Nase. »Ich bin krank.«

»Ich hätte mich impfen lassen sollen«, murrte Peppi vor sich hin, als sie wieder im Auto saßen. Sie hatten den Dienstwagen genommen, und Brander hatte der Kollegin den Platz am Lenkrad überlassen. Noch immer fiel der Schnee in schweren, nassen Flocken.

»Ich dachte, du hättest …«

»Ich wollte, aber weißt ja, wie es ist. Erst war so viel zu tun, dann war ich im Urlaub, und jetzt hab ich gedacht, die Grippewelle wäre vorüber.«

»Du hast aber schon mitbekommen, dass sich letzte Woche bereits fünf Kollegen krank gemeldet haben?«, fragte Brander.

»Verflucht, und ich bin nicht geimpft.«

»Tja.«

»Jedes Jahr lasse ich mich impfen. Jedes Jahr! Ich hab keinen Bock auf Grippe. Ich will Weihnachten nach Rhodos. Ich hab meine Eltern schon so lange nicht mehr gesehen.« Peppis Vater war Grieche, und vor einigen Jahren hatten er und seine Frau Liliane beschlossen, in die Heimat von Philipos Pachatourides zurückzukehren.

»Mann, so ein Mist! Bist du dir eigentlich im Klaren, dass jährlich mehr Menschen an so einem blöden Virus sterben als …«

»Peppi«, bremste Brander die Kollegin.

»Ja?«

»Jetzt nicht.« Er hatte nicht das Bedürfnis nach einer Diskussion über Grippe, Impfungen und das Gesundheitssystem in Deutschland. Sie waren auf dem Weg zu einer jungen Frau, die sie mitten in der Nacht wecken mussten, um ihr zu sagen, dass ihr Freund tot war. Branders Magen rebellierte bei diesem Gedanken. Er schluckte trocken. Tot. Das Wort hatte in dieser Nacht eine so vielschichtige Bedeutung für ihn, dass er Schwierigkeiten hatte, einen klaren Kopf zu behalten. Immer wieder tauchten Fragmente aus dem Gespräch mit seinem Bruder in seinem Kopf auf. Wir wissen nicht, ob sie durchkommt. Eine Gänsehaut zog sich über seine Arme. Er suchte in seiner Jackentasche nach seinem Handy, sah auf das Display. Keine Nachricht. Es war vier Uhr morgens. Er konnte jetzt unmöglich anrufen. Vielleicht hatte Daniel gerade einen leichten Schlaf gefunden, und er wollte ihn nicht wecken. Brander nahm sich vor, gleich morgens, Punkt sieben Uhr anzurufen und sich zu erkundigen, wie es Babs ging. Nein, bitte komm nicht, hatte Daniel gesagt. Warum? Brander seufzte leise. Sieben Uhr war eine Zeit, zu der er anrufen durfte.

Jasmin Risch wohnte in Tübingens Weststadt in einem dreigeschossigen Haus in der Gösstraße. Die schmale Straße lag verlassen vor ihnen, als Peppi das Auto in eine kleine Parklücke zwischen aneinandergereihten Kleinwagen manövrierte. Brander warf einen Blick auf die Gebäude. Es herrschte fast ausnahmslos Dunkelheit hinter den Fenstern. Kein Mensch war zu dieser Stunde unterwegs. Lautlos fiel der Schnee in dicken Flocken auf den Asphalt, knirschte unter dem Gewicht ihrer Schuhe auf dem Weg zur Eingangstür.

»Du oder ich?«, fragte Brander die Kollegin, als sie vor der verschlossenen Haustür standen.

Peppi hob kurz die Schultern, was unter der dicken Daunenjacke kaum auffiel. »Mach du«, murmelte sie unter ihrem Schal hervor.

Brander suchte die Klingel, drückte auf den Knopf. Sie warteten eine Weile, als nichts geschah, klingelte Brander erneut. Weitere Sekunden verstrichen, bis sich eine verschlafene Frauenstimme aus der Gegensprechanlage meldete.

»Ja?«

»Kriminalpolizei Tübingen. Wir würden gern mit Frau Risch sprechen.«

»Kriminalpolizei?«, kam es misstrauisch aus dem Lautsprecher.

»Ja. Kriminalhauptkommissar Andreas Brander. Sie können bei der Polizeidirektion Tübingen anrufen und sich nach mir erkundigen«, versuchte Brander, der Frau ihr Misstrauen zu nehmen.

»Kommen Sie rauf, ganz oben, rechte Tür.« Der Türsummer wurde betätigt.

Sie bemühten sich, möglichst leise die Treppe hinaufzusteigen, blieben vor einer verschlossenen Tür stehen. Brander klingelte erneut, und die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet. Er sah einen Teil eines jungen Gesichts mit kurzen blondierten Haaren.

»Haben Sie einen Ausweis?«

Brander hielt ihr den Ausweis hin. Sie warf einen Blick darauf und öffnete schließlich die Tür so weit, dass die Kommissare eintreten konnten.

»Sind Sie Jasmin Risch?«, erkundigte sich Brander.

»Ja.« Sie rieb sich etwas Schlaf aus den Augen, unterdrückte ein Gähnen. »Ist etwas mit Nael?«

»Ähm … ja …«, entgegnete Brander. Er hätte auf diese Frage gefasst sein müssen, doch er fühlte sich überrumpelt. Sein Blick wanderte durch den schmalen Flur. Eine Garderobe war mit Jacken, Pullovern, bunten Mützen und Schals überladen. Schuhe standen durcheinander auf dem Fußboden davor. Die Wände waren in einem erdigen Orange gestrichen und mit Postkarten, Bierdeckeln und Fotos dekoriert. Eine Kiste Bier und zwei Tetrapacks Orangensaft standen neben einer Tür. »Könnten wir uns vielleicht kurz setzen?«

»Ich … ich habe nur zwei Zimmer. Das Wohnzimmer ist auch mein Schlafzimmer … es ist nicht sehr ordentlich.«

»Das ist kein Problem.«

Anscheinend hatte er einen zu besorgten Ton angeschlagen. Vielleicht lag es auch an seinem Blick. Jasmin Risch sah ihn mit großen Augen an. Die Müdigkeit war verschwunden.

»Was ist mit Nael?« Sie trat einen Schritt auf Brander zu. »Was ist mit Nael? Wo ist er?« Sie wurde lauter. Griff nach Branders Jacke. »Wo ist er? Sagen Sie doch …«

Brander erstarrte. Er konnte es nicht. Er konnte dieser jungen Frau nicht sagen, dass ihr Freund tot im Krankenhaus lag. Die Panik in ihren Augen. Er meinte, seine eigene Panik darin zu sehen.

Peppi sah verwundert zu Brander. Warum reagierte er nicht? Sie griff nach den Händen der jungen Frau, löste sie von seiner Jacke und drängte sie ein Stück zurück. »Gehen wir ins Wohnzimmer. Bitte.«

Widerwillig gehorchte Jasmin Risch, schaute dabei immer wieder zu Brander.

Nur eine kleine Tischlampe spendete Licht in dem Raum. Peppi schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Das Zimmer wirkte durch die Doppelfunktion als Wohn- und Schlafraum unordentlich. Das Bett war zerwühlt, Kleidungsstücke lagen auf den Stühlen, in den Ecken stapelten sich zahlreiche Bücher und Ordner.

»Was ist mit Nael?«, wiederholte sie ihre Frage. Dieses Mal fixierte sie das Gesicht der Kommissarin.

»Frau Risch, es tut mir leid, Nael Vockerodt ist tot.« Peppi versuchte, es so behutsam wie möglich zu sagen. Die ganze Zeit ruhten ihre dunklen Augen auf der jungen Frau, die nun nicht nur die Augen, sondern auch den Mund weit aufriss. So verharrte sie eine Sekunde, dann schlug sie die Hände vors Gesicht, krümmte sich jäh zusammen, und ein entsetzlicher Schrei entfuhr ihrer Kehle. Ihr Oberkörper fiel vornüber, sie ging in die Knie und schrie weiter. Keine Worte. Laute eines abgrundtiefen, unerwarteten Schmerzes. Peppi legte einen Arm um ihre Schultern, strich ihr beruhigend über den Rücken. Sie sah zu Brander, schüttelte den Kopf. Eine Vernehmung konnten sie vergessen.

Jemand klopfte aufgeregt an die Wohnungstür. Anscheinend hatte das Schreien die Nachbarn geweckt. Brander ging zur Tür. Eine Frau, im selben Alter wie Jasmin Risch, stand vor ihm, Jogginghose, Kapuzensweatshirt, in der rechten Hand ein Nudelholz. Wäre die Situation nicht so tragisch gewesen, hätte der Anblick Brander amüsiert.

»Wer sind Sie? Was ist mit Jasmin?«, rief die Frau aufgeregt.

»Brander, Kripo Tübingen. Und Sie sind?«

»Oh.« Die Anspannung der jungen Frau ließ nach. »Laura Gille. Ich … ich wohne nebenan. Was ist denn passiert?«

»Sind Sie mit Frau Risch befreundet?«

»Ja, schon …«

Aus dem Wohnzimmer drangen wieder laute Klagerufe.

»Um Gottes willen! Bitte, kann ich zu ihr?«, bat Laura Gille den Kommissar.

Brander nickte stumm und ließ sie an sich vorübergehen. Er atmete still tief durch, bevor er ihr folgte.

Sie hatten sich entschieden, einen Arzt zu holen, der Jasmin Risch ein Beruhigungsmittel verabreichte. Ihre Freundin bot an, bei ihr zu bleiben. Von ihr erfuhren sie, dass Jasmin Risch vor drei Jahren aus Leipzig zum Studium nach Tübingen gekommen war. Sie studierte Politik- und Medienwissenschaften. Nael Vockerodt hatte sie während eines Praktikums, das sie vor einem Jahr in Kapstadt absolviert hatte, kennengelernt. Erst im Oktober war er nach Deutschland gekommen, um in Tübingen Medizin zu studieren. Er hatte gemeinsam mit Jasmin Risch in der kleinen Dachgeschosswohnung in der Gösstraße gewohnt.

Brander und Peppi verließen das Haus, befreiten die Windschutzscheibe von einer dicken Schneeschicht und setzten sich in den Wagen. Die Räumdienste waren im unermüdlichen Einsatz bemüht, die Hauptstraßen von dem stetig fallenden Schnee zu befreien. Die ersten Frühaufsteher machten sich auf den Weg zur Arbeit. Ein Zeitungsausträger schlich dick vermummt durch die Straßen. In einigen Wohnungen brannten die ersten Lichter. Obwohl es noch stockfinster war, hielt der nächste Tag bereits Einzug. Brander spürte die Schwere seiner Arme, seiner Schultern und vor allem seiner Augenlider.

»Wir wissen noch immer nicht, woher er kam und wohin er wollte«, stellte er fest. Er massierte sich mit beiden Händen die Kopfhaut, gähnte laut. »Wen hat er getroffen? Was genau ist passiert?« Ihm fielen die Augen zu, und er merkte, dass er in der Wärme des Wagens und bei dem gleichmäßigen Brummen des Motors kaum noch gegen die Müdigkeit ankam. »Verdammt, ich brauch ‘ne Mütze Schlaf.«

»Lass uns zu mir fahren. Du kannst dich aufs Sofa legen. Ich würde mich auch gern ein paar Minuten ausruhen«, schlug Peppi vor.

Brander überlegte kurz, nach Hause zu fahren, verwarf den Gedanken wieder. Peppi wohnte in einer kleinen Eigentumswohnung im Französischen Viertel, die sie sich gegönnt hatte, nachdem ihr Mann vor fünf Jahren beschlossen hatte, mit einer neunzehn Jahre jüngeren Frau eine Familie zu gründen. Von Peppis Wohnung aus war er wesentlich schneller in der Polizeidirektion, als wenn er jetzt erst die zehn Kilometer nach Entringen fahren würde. Er wollte so schnell wie möglich mit den Ermittlungen fortfahren. Das Entsetzen, die Trauer, die er bei Jasmin Risch gesehen hatte, hatten ihn getroffen. Mehr, als es ihn sonst traf. Vielleicht lag es an seiner eigenen Situation, dass er die Gefühle nicht von sich fernhalten konnte. Vielleicht war er auch einfach nur übermüdet.

Mittwoch

Brander lag auf dem Sofa und versuchte, die Müdigkeit aus seinem Kopf zu vertreiben. Es war kurz nach sieben. Peppi hatte ihn geweckt und war anschließend in der Küche verschwunden, um Espresso zu kochen. Er stand auf, nahm sein Handy vom Tisch und ging zum Fenster. Noch immer fielen kleine Flocken aus einer dichten Wolkendecke, hinter der sich der Ansatz einer Morgendämmerung erahnen ließ. Straßen und Dächer waren schneebedeckt. Er mochte das Viertel mit den bunten, unterschiedlich gestalteten Wohnblöcken. Aus dem ehemaligen Militärgelände der französischen Truppen war in den letzten fünfzehn Jahren ein schönes Wohngebiet geworden. Auch Cecilia und er hatten vor sieben Jahren, als er von Stuttgart zur Polizeidirektion Tübingen wechselte, überlegt, hier eine Wohnung zu kaufen. Doch dann hatten sie die Doppelhaushälfte in dem kleinen Dorf am Rande des Schönbuchs entdeckt und beschlossen, von der Landeshauptstadt aufs Land zu ziehen.

Aus der Küche drang das zischende und blubbernde Geräusch des Bialetti und kündigte einen heißen Espresso an. Brander streckte sich und wählte Daniels Nummer.

»Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist …«

Er legte auf, wählte Cecilias Nummer.

»Hallo, Andi«, hörte er ihre vertraute Stimme.

»Hey, Ceci.«

Durch das Fenster sah er Menschen in dicken Winterjacken die Wege entlanggehen – zur Arbeit, zum Bäcker, einer führte einen Hund spazieren. Brander holte tief Luft, als müsste er Kräfte sammeln, um ein schweres Möbelstück zu verrücken. »Weißt du etwas Neues?«

»Ich habe mit deinen Eltern telefoniert. Sie sind bereits unterwegs. Sie fahren mit dem Zug nach Düsseldorf.«

»Gut.« Brander spürte für einen kurzen Augenblick Erleichterung. Ihm war nicht wohl gewesen bei dem Gedanken, dass seine Eltern bei diesem Wetter so eine lange Strecke mit dem Auto fahren wollten. Mitteldeutschland hatte der Schneefall noch stärker getroffen als den Süden. Die Verkehrsnachrichten überschlugen sich mit Meldungen über kilometerlange Staus und Straßensperrungen.

»Daniel und Julian waren die ganze Nacht im Krankenhaus«, fuhr Cecilia fort. »Es sieht so aus, als ob Babs durchkommt. Man weiß nur noch nicht …«

Sie hielt inne, und Brander ahnte, wie schwer es ihr fiel, weiterzusprechen. Sie musste ihm nichts erklären. Er wusste, welche Folgen eine Überdosis Schlaftabletten haben konnte. Atemdepression, dadurch Unterversorgung des Blutes mit Sauerstoff, infolgedessen auch Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, Ausfall von Gehirnfunktionen.

»Hmm«, sagte er in ihr Schweigen. »Und du? Wie geht es dir?«

»Ich mache mir Sorgen. Um Babs, um Julian, um Daniel … um dich.«

»Mach dir keine Sorgen um mich«, versuchte er, seine Frau zu beruhigen. »Ich bin beschäftigt.«

»Darum mache ich mir ja Sorgen.«

»Ach, Ceci …« Er starrte auf das Fenster, erkannte in der Scheibe undeutlich sein Spiegelbild vor dem Hintergrund der winterlichen Morgendämmerung.

Es waren kaum acht Stunden seit Eingang des Notrufs vergangen. Auf Branders Schreibtisch stapelten sich bereits zahlreiche Protokolle. Er überflog die Aufzeichnungen der Anwohnerbefragungen. Die meisten waren ergebnislos. Man hatte weder etwas gehört noch gesehen. Erst als das Martinshorn der Einsatzwagen durch die stille Nacht schallte, hatte man auf die Straße gesehen. Niemandem war etwas Ungewöhnliches aufgefallen.

Eine paar Informationen fand er in den Berichten der Kollegen, die mit dem Streifenwagen die Umgebung abgefahren waren. Ein Student, der von einem Besuch bei Freunden kam, berichtete von einem jungen Mann oder vielleicht auch einer jungen Frau, da war er sich nicht sicher, der oder die an ihm in der Steinlachallee auf Höhe des Finanzamtsgebäudes in Richtung Bahnhof vorbeigerannt wäre. Allerdings lagen zwischen Eingang des Notrufs und dieser Begegnung mindestens vierzig Minuten. Vermutlich war es jemand gewesen, der noch schnell die letzte Bahn erwischen wollte.

Ein Rentner, der einen kotzenden Hund an der Leine mit sich führte – so stand es im Bericht –, behauptete, zwei verdächtige Personen in der Schellingstraße gesehen zu haben. Was an diesen Menschen jedoch so verdächtig war, konnte er nicht genau sagen. Er beschrieb die beiden als Anfang bis Mitte zwanzig und dunkel gekleidet. Die eine Person mindestens ein Meter neunzig groß, die andere ein gutes Stück kleiner. Es könnte auch eine Frau gewesen sein. Sie hätten sich seltsam bewegt. Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht war es ein Pärchen, das betrunken von einer Party kam. Außerdem waren die Wege voll Schnee und teils vereist. Vielleicht hatten sie unpassendes Schuhwerk an und fanden keinen Halt auf den rutschigen Wegen.

Frustriert schob Brander die Unterlagen zusammen. Konnte es nicht sein, dass der Mann einfach nur unglücklich gestürzt war? Wie leicht konnte unter der Schneedecke eine Eisfläche übersehen werden? Die Blessuren im Gesicht? Faustschläge? Oder war er mit dem Gesicht aufgeschlagen? Wie hatte der Mann überhaupt gelegen, als Ebru Iscan ihn entdeckt hatte? Auf dem Bauch? Auf dem Rücken? Auf der Seite? Verdammt! Brander schlug mit der Hand auf den Tisch, sodass Peppi erschrocken zusammenzuckte.

»’tschuldige«, brummte er. »Weißt du, wie der Mann auf der Straße gelegen hat, als man ihn gefunden hat?«

Peppi zog die Stirn in Falten und kaute auf ihrer Unterlippe. »Frau Iscan sagte, er lag auf dem Rücken, am Rand des Gehsteigs. Müsste aber auch im Protokoll stehen, oder?«

Brander betrachtete missgelaunt den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch. »Ja, vermutlich.« Er sah das schöne und ernste Gesicht von Ebru Iscan vor sich. Man kommt meistens zu spät, nicht wahr?

»Hat jemand Fotos gemacht, bevor der Rettungsdienst eintraf?«

»Ich denke, die Kollegen von der Streife werden Bilder gemacht haben. Ansonsten war da sicher auch irgendein Schaulustiger, der sein Handy gezückt hat.« Sie ahmte mit den Händen die Bewegung eines Fotografen nach.

»Peppi!«

»Nix, Peppi! Ist doch so! Die Leute machen erst mal Fotos und Videos und stellen die online, bevor sie vielleicht mal einen Notarzt rufen«, ereiferte sich die Kollegin.

»Die Iscans sind ganz bestimmt nicht so!«

»Hast ja recht«, lenkte Peppi ein. »Aber es waren auch genug andere da.«

»Er hat also auf dem Rücken gelegen. Ist er so gestürzt oder hat er sich vielleicht umgedreht, nachdem er am Boden lag?«

Peppi zog ratlos beide Schultern hoch. »Ich denke, da müssen wir auf den Bericht der Rechtsmediziner warten.«

Die Soko-Sitzung war spärlich besetzt. Außer dem noch halbwegs gesund gebliebenen Team der Kriminalinspektion 1 waren nur der Kollege von der Presseabteilung und einige Beamte von der Schutzpolizei im Raum sowie ein Mann, dessen Gesicht Brander noch nicht kannte. Vom Erkennungsdienst war noch kein Mitarbeiter anwesend.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«, wandte sich Brander an den unbekannten, gut gekleideten Enddreißiger mit sportlicher Kurzhaarfrisur.

»Staatsanwalt Marco Schmid.« Der Mann erhob sich und streckte Brander artig die Hand entgegen. »Und Sie sind …?«

»Andreas Brander.« Er verzichtete darauf, ihm seinen Dienstgrad zu nennen, reichte dem Mann seine Rechte.

Schmid nickte. »Ich dachte es mir schon. Herr Lehmann hat Sie genau so beschrieben.«

Was auch immer er mit »genau so« meinte, er verpackte es in einen so freundlichen Ton, dass es Brander nicht gelang, auf der Stelle eine Antipathie für den neuen Staatsanwalt zu entwickeln.

»Kriminalhauptkommissarin Persephone Pachatourides«, hörte er Peppis Stimme hinter sich.

Der Staatsanwalt wandte sich Branders Kollegin zu, und Brander meinte, ein Leuchten in seinen Augen zu sehen, als er ihre Hand nahm.

»Enchanté!«, sagte Schmid, ohne den Blick vom Gesicht der schwarzhaarigen Kollegin zu nehmen.

Peppi quittierte es mit einem freundlichen »Ganz meinerseits«, entzog dem Staatsanwalt ihre Hand und ging zu ihrem angestammten Platz.

Hendrik Marquardt fing Branders Blick ein und grinste hintergründig, was dieser mit einem Stirnrunzeln beantwortete. Er begab sich an das Kopfende des Konferenztisches.

»Nael Vockerodt, gebürtig aus Kapstadt, Südafrika, zweiundzwanzig Jahre, seit Anfang Oktober in Tübingen. Medizinstudent. Lebte mit seiner Freundin Jasmin Risch, dreiundzwanzig Jahre, gemeinsam in der Gösstraße. Vorstrafen sind nicht bekannt«, fasste Jens Schöne zusammen, der weiterhin mit seiner schweren Erkältung kämpfte. Er hatte einen dicken Schal um den Hals gebunden, war blasser, als er ohnehin immer war, und hustete nach jedem dritten Wort.

»Andi, schick diese Virenschleuder nach Hause!«, beschwerte sich Hendrik und erhielt zustimmendes Kopfnicken von den Kollegen.

»Ist nur ein Schnupf…« Der Rest ging in einem Hustenanfall unter.

»Jens, es ist vielleicht wirklich besser, wenn du nach der Sitzung erst einmal nach Hause gehst und dich auskurierst«, schlug Brander vor. Er wollte ungern auf Jens verzichten, aber der Kollege sah hundeelend aus. Widerwillig nickte dieser.

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir nicht viel«, wandte Brander sich wieder dem gesamten Team zu. »Wir wissen nicht, was passiert ist, und uns fehlen noch die Auswertungen des Erkennungsdienstes.«

Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, öffnete Manfred Tropper die Tür. »Sorry, ich dachte, die Sitzung wäre um neun«, erklärte Tropper seine Verspätung.

»Demnach wärst du zu früh«, entgegnete Brander nach einem Blick auf die Uhr. Tropper lächelte gequält und setzte sich. Er war zwar nachts nicht am Tatort gewesen, sah aber dennoch aus, als hätte er nicht viel geschlafen.

»Dann mal raus mit der Sprache«, forderte Brander den Bericht des Kollegen.

»Tja, da gibt es nicht viel zu sagen. Die Auswertung der Spuren läuft. Macht euch aber bitte nicht zu viel Hoffnung. Die Obduktion ist auf heute Nachmittag um halb vier angesetzt.«