Umschlag

Elke Pistor, Jahrgang 1967, ist in Gemünd in der Eifel aufgewachsen. Nach dem Abitur in Schleiden zog es sie zum Studium nach Köln, wo sie nach einem Zwischenstopp am Niederrhein bis heute lebt. Sie arbeitet als freie Seminartrainerin in der Erwachsenenbildung und leitet Schreibworkshops. Im Emons Verlag erschienen der Eifelkrimi »Gemünder Blut« und der Mysteryroman »Das Portal«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: photocase.de/MMchen
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-172-5
Eifel Krimi
Originalausgabe

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Für Heini

 

In einem leeren Haselstrauch,

da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch.

Der Erich rechts und links der Franz

und mittendrin der freche Hans.

Sie haben die Augen zu, ganz zu,

und obendrüber, da schneit es, hu!

Sie rücken zusammen dicht an dicht,

so warm wie Hans hat’s niemand nicht.

Sie hör’n alle drei ihrer Herzlein Gepoch.

Und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.

Christian Morgenstern (1871–1914)

EINS

Am schlimmsten war der Gestank. Das Wasser kroch träge über den Schlamm und hinterließ kleine Bachläufe auf der Oberfläche. Ihre Füße versanken im Schlick und sie spürte, wie die Masse zwischen ihren Zehen hindurchquoll und den Knöchel umschloss. Die Kälte kroch ihre Waden hinauf, aber das störte sie nicht. Mit jedem Schritt gab es ein schmatzendes Geräusch, das sie an die unwillkommenen Küsse von Tante Rickarda erinnerte, und dann, wenn sie den Ast, auf den sie sich stützte, aus dem Boden zog, kam der Gestank. Nach faulen Eiern, nassem Dreck und nach Fisch. Sie schnaubte, versuchte durch den Mund zu atmen und balancierte weiter. Die anderen sollten es nicht merken. Die anderen durften es nicht merken.

»Weiter, Erich!«, feuerte eine Stimme sie an. »Weiter!« Sie hörte das Kichern der beiden anderen Mädchen und wusste genau, was gerade hinter ihrem Rücken geschah und wie breit das Grinsen in den Gesichtern ihrer Freundinnen hing. Aber umdrehen konnte sie sich nicht. Beide Füße steckten tief im Schlamm fest, und der Sog des Wassers wurde stärker. Trotzdem wollte sie es wissen. Sie wandte den Kopf. Sofort verlor sie das Gleichgewicht, ruderte mit beiden Armen in der Luft und hatte große Mühe, nicht umzufallen. Die anderen lachten. Noch vier Meter, dann hätte sie es geschafft.

Das Rascheln der Blätter in den Baumkronen übertönte das Plätschern des Wassers. Ein Automotor heulte hoch über ihr auf, als sich der Wagen die steile Straße den Dürener Berg hinaufquälte. Sonst war alles still. Sie waren allein im Kurpark. Hans, Franz und sie, Erich. Wie die drei Spatzen in dem Gedicht von Christian Morgenstern, das sie in der Schule gelernt hatten. Sie fand die Namen blöd, vor allem, weil es Jungsnamen waren, aber Hans hatte gemeint, wenn man eine Bande war, dann müsste man geheime Namen haben. Geheime Namen für eine geheime Bande.

Sie umklammerte den Stock und zog. Ihre Fingerknöchel wurden weiß vor Anstrengung. Wieder ein Stück. Wenige Schritte nur. Das Wasser ging ihr jetzt bis zu den Oberschenkeln, und als sie den rechten Fuß anhob, blind nach vorne schob und neuen Halt suchte, stießen ihre Zehen an einen Stein. Angestrengt blinzelte sie auf die glitzernde Oberfläche, aber außer einem dunklen Schatten erkannte sie nichts.

»Jetzt mach mal schneller!«, rief Franz.

»Schneller geht nicht!«, schrie sie zurück und bereute es sofort, als sie das aufgesetzte Stöhnen vom Ufer hörte. Sie biss die Zähne zusammen. Sie war zehn Jahre alt. Nach den Sommerferien, die in zwei Wochen begannen, würde sie auf das Gymnasium in Schleiden gehen. Da durfte man keine Angst haben. Weiter. Noch ein Stück. Das Wasser zerrte an ihr. Aber jetzt konnte sie den Reifen sehen. Er hatte sich im Gestrüpp knapp unterhalb des Wehrs verfangen. Sie blieb stehen. Es war gefährlich, und eigentlich dürfte sie gar nicht hier sein. Mama würde fürchterlich schimpfen, wenn sie es herausfinden würde. Sie war froh, dass Papa morgens das Auto brauchte, um zur Arbeit zu fahren, sonst würde Mama nach den Ferien bestimmt noch auf die Idee kommen, sie genauso ins acht Kilometer entfernte Schleiden in die Schule zu fahren, wie sie es in Gemünd gemacht hatte. Bis vor die Tür. Mama wollte nicht, dass sie gefährliche Sachen machte, und verbot ihr eigentlich alles, was Spaß machte. Aber das hier machte ihr keinen Spaß. Das hier machte ihr Angst.

Vorsichtig hob sie den anderen Fuß auf den glitschigen Stein und schob ihn langsam vorwärts. Das war besser als der Schlamm. Sie zitterte. Nicht nur weil es kalt war im Wasser. Sie fürchtete sich. Die Urft war zwar nur ein kleiner Fluss, aber direkt hier, hinter dem Wehr, strudelte das Wasser ganz schön heftig, obwohl es vom Ufer aus nicht so aussah. Sie blieb stehen.

Franz und Hans riefen ihr etwas zu, aber sie konnte sie nicht verstehen. Diesmal klappte es mit dem Umdrehen. Die anderen standen dicht nebeneinander an der Uferböschung und schauten zu ihr hinüber. Ihre nassen Haare klebten an den Köpfen. Aus den abgeschnittenen Jeans und nassen T-Shirts tropfte das Wasser. Zwei schwarze Reifen lagen neben ihnen und trockneten in der Sonne. Sie hatten die Arme vor der Brust verschränkt und starrten sie an. Warteten darauf, was passieren würde. Ob sie es schaffen würde. Sie ließ die Arme hängen und seufzte. Es ging nicht. Dann war der Reifen eben weg. Auch egal. Es hatte ihr eh keinen Spaß gemacht, mit den Autoreifen über die Urft zu schwimmen. Sie wäre lieber ins richtige Schwimmbad gegangen. Dann würde es auch später keinen Ärger geben, wenn Mama es rausbekommen würde. Und das würde sie, da war sie sich ganz sicher.

»Was ist?«, rief Hans. »Bist du festgefroren?«

Sie schüttelte den Kopf und klammerte sich an den Stock, der noch neben dem Stein im Schlamm steckte, während sie im Strom des Wassers hin- und herschwankte. Es ging nicht. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, als sie langsam vom Stein herabstieg und wieder mit den Füßen im Schlick versank.

»Jetzt hol endlich meinen Reifen da raus, wenn du schon so dusselig bist und ihn reinwirfst.«

»Du kannst meinen haben.«

»Ich will deinen nicht. Der ist mir zu klein.«

Sie zögerte. Hans war die Anführerin ihrer Bande. Vielleicht ginge es ja, wenn sie mit dem Stock nach dem Reifen hangeln würde. Außerdem wollte sie kein Angsthase sein. Sie zog den Stock aus dem Boden, und ihre Füße suchten wieder den harten Untergrund. Es ging. Sogar noch ein Stückchen weiter als beim ersten Versuch. Sie lehnte sich nach vorne, streckte den Arm weit aus und stieß mit dem Stock nach dem Reifen. Wenn sie ihn doch losbekommen könnte. Es fehlte nur noch ein kleines bisschen. Beinahe berührte die Stockspitze das schwarze Gummi.

»Mach endlich!«

Sie sah die Bewegung im Wasser, bevor sie die Berührung spürte, und schrie auf. Eine Welle von Ekel überrollte sie. Mit der Rechten umklammerte sie den Stock, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, mit der Linken zog sie an dem schwarzen Ding, das sich an ihrem Oberschenkel festgesaugt hatte. Es ging nicht weg. Panik stieg in ihr hoch. Sie vergaß ihre Vorsicht, wandte sich um und stakste so schnell, wie es ihr möglich war, auf die Böschung zu. Sie schrie immer noch, als sie schon fast das Ufer erreicht hatte.

»Ach, stell dich nicht so an. Es ist doch nur ein Blutegel.« Franz begutachtete den schwarzen Wurm.

»Was?« Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Das Ding wand sich und glitt ihr durch die Finger. Sie packte es fester und riss daran.

»Es blutet, wenn du ihn abmachst.« Ein Junge stand mit einem Mal neben ihnen und zeigte auf den Blutegel. »Er muss von allein abfallen.« Sie hatte nicht gesehen, wo er hergekommen war. Er stieg von seinem Fahrrad, ließ es auf die Wiese fallen und kam näher.

»Aber es ist so eklig und …«

Hans schob sich zwischen sie und den Jungen. »Was weißt du Knirps denn schon?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es halt.«

Sie kannte ihn vom Schulhof. Er ging erst in die dritte Klasse. Trotzdem fand sie ihn nett.

»Soll ich dir den Reifen aus dem Wasser holen?«, fragte er und lächelte. Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist zu gefährlich«, murmelte sie und kratzte an dem Blutegel. Sie schüttelte sich, packte das Tier an der Stelle, wo es sich festgesaugt hatte, und drehte. Es tat weh. Sie biss die Zähne zusammen. Schließlich löste sich der Druck, und der Blutegel wand sich in ihrer Handfläche. Angeekelt warf sie ihn weg. Blut lief aus der Wunde ihr Bein hinunter.

»Das ist nicht gefährlich, du bist zu feige!« Franz’ Stimme bohrte sich in ihre Seele. Sie wischte ihre Hand an der nassen Hose ab und schob die Spitze ihres Mittelfingers in den Mund. Das regelmäßige Knacken bei jedem Biss auf den Nagel beruhigte sie.

»Ich mach es«, sagte der Junge und nickte ihr zu. Dann kletterte er die Böschung hinunter, ohne auf die Brennnesseln zu achten, die sicher an seinen Beinen brannten.

Knack. Sie beobachtete ihn. Knack. Er machte das für sie. Mit dem Finger im Mundwinkel lächelte sie. Knack.

Er ruderte mit beiden Armen, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren, und schaffte es in der Hälfte der Zeit bis zu dem Stein in der Mitte des Baches. Aber er war kleiner als sie. Das Wasser ging ihm bis zur Hüfte. Er stemmte sich gegen die Strömung, drehte sich zu ihnen um und winkte. Dann sprang er und schwamm mit kurzen, schnellen Zügen auf das Gestrüpp zu. Hans und Franz johlten neben ihr und feuerten den Jungen an, bis er das Gestrüpp erreicht und nach dem Reifen gegriffen hatte. Er schob seinen Arm hindurch und zerrte daran. Doch der Reifen saß fest. Sie sah, wie er tauchte. Sein Kopf verschwand unter der Wasseroberfläche.

»Der traut sich was!« Franz verschränkte ihre Arme und nickte anerkennend.

Sie starrte auf die Stelle, an der er verschwunden war. Der Reifen bewegte sich, ruckelte hin und her, tauchte tiefer ein und schien sich zu lösen.

Knack. Es dauerte so lange. Knack. Sie schmeckte Blut.

***

Der Tod ist ekelhaft, dachte Kai Rokke Hornbläser und wandte sich ab. Er schluckte, kämpfte gegen die Übelkeit und sah erneut hin. Der milchige Schimmer der Augen, der Geruch nach modriger Fäulnis und das blasse Fleisch der offenen Wunde, an der die Fische gefressen hatten, ließen keinen Zweifel. Der Körper musste einige Zeit im Wasser gelegen haben. Das Gewebe am Kopf war aufgequollen und wirkte unnatürlich vergrößert, der Leib aufgebläht.

Er starrte auf den Entenkadaver. Widerlich! Er schüttelte sich. Jemand musste das tote Tier entsorgen, bevor in fünf Stunden die Regatta begann.

Über dem Fluss lag ein feiner Dunst. Gestern hatte es den ganzen Tag geregnet. Nicht heftig, sondern in diesem feinen Nieseldunst, der sich auf alles legte und dessen Feuchtigkeit langsam, aber stetig in das Gewebe der Kleider kroch und sich über die Haut ausbreitete. Auch heute würde es nicht besser werden. Auf den weißen Planendächern der Pavillons standen kleine Pfützen, die sich in unregelmäßigen Abständen über den Rand ergossen und zu Boden platschten.

Kai Rokke ignorierte den Kadaver, so gut es ging, und runzelte die Stirn. Es würde schwierig werden. Er war früh aufgestanden und hatte den Wohnmobilplatz am anderen Ende des Kurparks verlassen. Die Betreiber nannten den Platz »Wohnmobilhafen«. Genau der richtige Aufenthaltsort für ihn und seine »Lydia«. Er war hierhergefahren und hatte sein Gefährt mühsam in einen der schmalen Parkplätze hinter der Fußgängerzone rangiert, um ungestört diese Trainingsrunde absolvieren zu können. Ohne die Kommentare, Ratschläge und Bemerkungen seiner Mitstreiter ertragen zu müssen. »Hornblower«, so hatten sie ihn gestern sofort genannt, nachdem er sich vorgestellt und die »Lydia« zu Wasser gelassen hatte. Wie einfallsreich. Er hasste das. So wie er vieles hasste, nicht mochte oder ablehnte. In feinen Abstufungen. Große Menschenmengen waren ihm zuwider. Laute Musik verursachte bei ihm Übelkeit, aufgedrängte Gespräche Schweißausbrüche. Er hasste Geschrei. Ebenso Hundebellen. Und Essen. Er verabscheute Fisch. Ekelte sich vor Fleisch. Mochte kein Gemüse und kein Obst. Nur Nudeln gingen, wenn sie aus Hartweizen waren und der Parmesan darauf nicht geschmolzen. Brot, Marmelade, Kartoffeln. Alles Fehlanzeige.

Als Kind hatte er einmal einen Film über Tiertransporte gesehen und seitdem die Lust am Fleisch verloren. Aber warum er auch die anderen Lebensmittel verweigerte, konnte weder er, noch der Therapeut, den er irgendwann zurate gezogen hatte, erklären. Es war ihm inzwischen auch egal. Er mochte es einfach nicht. Das war der Grund, warum er seit Jahren nur mit dem Wohnmobil unterwegs war. Kein Hotel konnte ihn als Gast ertragen. Und er kein Hotel.

Er stand auf, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete das Schiff in seiner Halterung. Das handgefertigte Modell war sein ganzer Stolz. Die sechsunddreißig Kanonen der Fregatte, die Segel, sogar die Galionsfigur mit dem gespannten Bogen, alles war maßgetreu verarbeitet und bis ins Detail nachempfunden. Über zwei Jahre hatte ihn die »Lydia« in Beschlag genommen. So lange hatte er es bisher noch mit keiner Frau ausgehalten. Kai Rokke wusste nicht, ob er diesen Umstand bedauern oder begrüßen sollte. Sicher, er hätte gerne Kinder gehabt. Nicht, um mit ihnen zusammen zu sein. Nur um sagen zu können, er habe eine Familie. Das gehörte dazu. Irgendwie. Gab einem wie ihm den Anschein der Normalität. Er selbst brauchte es nicht. Er brauchte niemanden. Kai Rokke Hornbläser war gerne allein.

Er wischte sich die Hände an den Seiten seiner Jeans trocken, griff in das Innenfutter seines langen schwarzen Mantels und nahm ein Päckchen Tabak heraus. Mit klammen Fingern drehte er eine Zigarette, schob sie sich in den Mundwinkel und suchte dann mit beiden Händen in den Taschen nach einem Feuerzeug.

In dem Faltmäppchen mit dem Werbeaufdruck des Gemünder Hotels Friedrich, das er schließlich in den Tiefen entdeckte, befand sich nur noch ein einziges Streichholz. Er brach es heraus und rieb den Schwefelkopf über die Zündfläche. Der Geruch von Verbranntem stieg ihm in die Nase, ein kleiner Funke blitzte auf, aber es kam keine Flamme.

»Mist.« Er ließ die Zigarette aus dem Mundwinkel in seine Handfläche fallen, stopfte sie in den Tabaksbeutel und sah sich um. Die beiden einander im spitzen Winkel gegenüberliegenden Brücken über die Urft und die Olef waren menschenleer. Auf dem kleinen Plateau über ihm, am Zusammenfluss der Flüsse, drängelten sich die Pavillons um die steinerne Nepomukfigur. In wenigen Stunden würden hier zahlreiche Besucher mit Bratwürsten und Bier in der Hand die Modellschiffregatta verfolgen, aber jetzt war alles ruhig.

Der Steg schwankte und das Holz knarrte unter Kai Rokkes Füßen. Die rot-weißen Plastikbänder, als vorübergehende Absperrungen zum Wasser gedacht, knatterten leise wie Segel. Für einen Moment überkam ihn das Gefühl, auf einem richtigen Schiff zu stehen. Er genoss es und schloss die Augen.

»Enten geangelt, schon am frühen Morgen?« Die Stimme kam von weit oben. Kai Rokke zuckte zusammen und wandte den Kopf in Richtung des Brückengeländers über der Urft. Niemand war zu sehen. Seine Handinnenflächen wurden feucht.

»Da sollten Sie sich aber nicht mit erwischen lassen!« Ein heiseres Lachen, gefolgt von einem Hustenanfall.

Kai Rokke legte den Kopf in den Nacken und entdeckte den Mann an einem Fenster des Hotels neben dem Fluss.

»Die war schon vorher Geschichte«, rief er, stieß den Kadaver mit der Schuhspitze an und verzog das Gesicht. Der Kopf der Ente rutschte über den Rand des Stegs und hing ins Wasser. Einzelne Federn bauschten sich und ließen es so aussehen, als ob das Tier noch atmen würde.

Rokke widmete sich wieder der »Lydia«, richtete einige Segel und ließ das Boot behutsam zu Wasser.

»Ach, Sie sind das, Kapitän Hornblower«, hustete die Stimme wieder, und Kai Rokke beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Mann sich weiter aus dem Fenster lehnte. »Tolles Schiff. Alle Achtung, Skipper!«

Er lächelte wider Willen, blieb aber stumm und spürte, wie ihm der Schweiß unter den Achseln ausbrach.

»Gestern hat es wohl nicht so geklappt, was?« Der Mann gab nicht auf. Jetzt erkannte Kai Rokke ihn. Er hatte mit seiner Mannschaft den ersten Platz der Liga-Meisterschaft belegt, und wenn er sich recht erinnerte, war er innerhalb seines Teams der Beste gewesen.

»Wir waren nicht so gut, wie wir hätten sein können«, rief er nach oben, ohne den Mann anzusehen, schaltete dann seine Fernsteuerung ein und ging in Gedanken den festgelegten Parcours durch die Bojentore durch. Gestern hatte er zu viele Strafpunkte wegen Berührens der rot-weißen Hindernisse einkassiert, heute musste es besser werden.

Die »Lydia« schob sich in die Wellen. Er legte den Vorwärtsgang ein und horchte auf den hohen, flirrenden Ton. Der Motor lief rund. Kein Stottern. Kein Ruckeln. Perfekt.

Der Nebeldunst war verschwunden.

Am gegenüberliegenden Ufer schälten sich zwei Enten aus den Schatten einer dichten Hecke. Sie spreizten die Flügel, reckten die Hälse und watschelten behäbig ins Wasser. Langsam näherten sie sich dem Steg. Im weiten Bogen schwammen sie um ihn herum, paddelten gegen die Strömung und ließen sich dann zu der Stelle treiben, an der der Kadaver lag. Ihre dunklen Augen fixierten ihn. Hatte das tote Tier zu ihnen gehört? Die Enten verharrten einen Moment. Dann tauchten sie ab und kamen einige Meter weiter in der Flussmitte wieder hoch. Jetzt erst fiel Kai Rokke der Abstand auf, den sie die ganze Zeit über zwischen sich ließen. Wie eine Lücke. Er schüttelte den Kopf und riss sich von dem Anblick los. So ein Unsinn. Enten trauerten nicht. Für sie ging die Welt weiter. Einfach so.

Er konzentrierte sich wieder auf sein Schiff, testete dessen Reaktion auf die Strömungen und das Verhalten in den Wellen, die an der Mündung entstanden.

Ein Stück weiter verschwand der Fluss hinter einer Biegung. Er wusste, dass dort das Wehr lag, auch wenn er es jetzt nicht hören konnte. Er hatte es sich gestern angesehen und kannte den Weg dorthin. Über die Olefbrücke, ein Stück durch die Fußgängerzone und dann an der Wiese entlang bis zum Eingang des Kurparks. Das Wehr war nicht groß und nicht gefährlich für die Modelle. Aber er musste achtgeben, wenn er das hinterste Bojentor nehmen und das Boot wieder in seine Richtung lenken würde.

Die »Lydia« fuhr eine weite Kurve, neigte sich zur Seite und kämpfte gegen den stärker werdenden Sog des Wehrs an. Das Geräusch des Elektromotors wurde höher, je weiter er den Hebel der Fernbedienung nach vorne kippte. Er reckte den Hals, balancierte bis zur äußersten Kante des Stegs und stellte sich auf die Zehenspitzen, um sein Boot nicht aus den Augen zu verlieren. Hatte er die Strömung doch unterschätzt?

»Verdammte Scheiße!«, knurrte er, als die weißen Segel mit einem Ruck nach links aus seinem Blickfeld verschwanden, der Motor hochdrehte und dann verstummte. Er drückte den Starterknopf und schüttelte die Fernbedienung. Nichts geschah. Stille. Nur unterbrochen vom vereinzelten Quaken der Enten, die ungerührt ihre Bahnen schwammen.

Noch einmal drückte er den Startknopf und lauschte. Wieder nichts.

Er legte den Kopf in den Nacken und suchte den Mann am Fenster des Hotels. Vielleicht konnte er etwas erkennen. Aber das Fenster war verschlossen und die Gardinen zugezogen. Er drehte sich um, bückte sich nach der Transporttasche und öffnete den Reißverschluss. Dann schüttelte er den Kopf und richtete sich wieder auf. Bestimmt würde niemand an einem Sonntagmorgen um sechs eine fast leere Reisetasche mit dem Werbeaufdruck eines Hämorrhoidenmittels stehlen wollen. Er verschloss die Tasche wieder, stieg die Steintreppe zum Plateau hinauf und wandte sich nach rechts. Die Kirchturmuhr schlug. Erst vier kurze, helle, dann sechs lange, dunkle Schläge. Die Enten auf dem Fluss antworteten mit lautem Geschnatter.

So früh war niemand in der Fußgängerzone unterwegs. Die Häuser lagen im Halbdunkel, und eine einzelne Laterne verteilte ihr Licht über die Straße. Nach fünfzig Metern öffnete sich rechts eine schmale Gasse. Kai Rokke fühlte sich eingekeilt zwischen der Häuserwand und einer leeren Schaufensterfront. Am Ende der Gasse war ein kleiner Park. Er ging jetzt schneller. Über die Wiese auf das Wehr zu. Er sah sich um. Das Rauschen und Murmeln kam näher. Hinter einer Reihe von Büschen und Sträuchern staute sich das Wasser, bevor es über eine Schwelle in das tiefer gelegene Bachbett lief. Er versuchte, durch die Büsche zum Ufer zu gelangen. Irgendwo dort musste die »Lydia« liegen. Vermutlich hatte sie sich im Gestrüpp verheddert und hing mit zerfetzten Segeln fest. Er presste die Lippen zusammen. Ob er noch einmal so ein Originaltuch bekommen könnte? Sicher nicht.

Brombeerranken piekten in seinen Mantel und zogen kleine Fäden aus dem Gewebe. Hier kam er nicht durch. Aber er musste zum Wasser gelangen und die »Lydia« retten. Vielleicht ein Stück weiter rechts? Er trat auf kleinere Äste, stampfte das dichte Unterholz nieder, fand aber keinen Durchgang.

»Scheiß Grünzeugs!«, fluchte er und stolperte auf die Wiese zurück. Dann musste es eben anders gehen. Nur wenige Meter weiter führte ein Metallsteg über die Schleuse. Er fühlte die raue Oberfläche, als er sich über das Geländer beugte. Die »Lydia« lag in drei Meter Entfernung längsseits zur Kante des Wehrs. Wasser schlug übers Deck. Die Fregatte drohte zu kentern, stellte sich aber wie von Fäden gehalten immer wieder auf. Er richtete die Fernbedienung aus, drückte den Starterknopf und hörte ein hohes Flirren. Der Motor lief, aber die Schraube saß vermutlich fest. Er hob einen Ast auf, stieg über die Absperrung auf den Gitterrostboden des Schleusenstegs und hangelte nach dem Motorboot, während er sich weit über das Geländer beugte. Der Ast war zu kurz. Kai Rokke richtete sich auf und zuckte zusammen. Ein Dorn hatte sich in seine Hand gebohrt. Blut quoll aus der kleinen Wunde. Er wischte es an seiner Hose ab und lehnte den Ast gegen das Geländer. Auf der glatten Wasseroberfläche spiegelten sich die am Ufer stehenden Büsche. Darunter erkannte er nur Schwärze. Vielleicht Algen? Oder Blätter? Er zog seinen Mantel aus und kletterte wieder über die Absperrung.

Am Ende des Geländers fand er eine kleine Lücke im Gebüsch. Er balancierte den kurzen, steilen Hang hinunter, die Arme weit von sich gestreckt, mit unsicherem Gang. Als er über eine Wurzel im Boden stolperte, schrie er auf, strauchelte und stürzte vornüber. Die Fernbedienung fiel ihm aus der Hand und verschwand im Dickicht. Er riss die Hände nach vorn und fiel ins Wasser, zu seiner großen Verwunderung nicht sehr tief. Etwas bewegte sich unter ihm, wich aus, und er versank tiefer im Wasser. Prustend kam er hoch. Die Nässe in seiner Kleidung machte den Stoff schwer. Mühsam richtete er sich auf. Die »Lydia« hatte sich bewegt, trudelte in der Strömung und drohte das Wehr hinunterzustürzen. Kai Rokke hechtete nach vorn und packte sein Schiff. Was darunter, dicht unter der Oberfläche schwamm, erkannte er erst auf den zweiten Blick.

***

Hermann lag mit geschlossenen Augen auf meiner Brust und schnurrte.

»Er wird sterben, Ina.« Steffen saß neben mir auf dem Bettrand und streichelte den Kopf des Katers.

»Ich weiß.«

»Willst du es ihm nicht leichter machen?«

»Er hat keine Schmerzen.«

»Aber so ist es kein Zustand.« Steffen stand auf. Er schob beide Hände in die Taschen seiner Jeans und starrte abwechselnd auf mich und den Kater in meinen Armen. »Du solltest ihn erlösen.«

Ich schluckte und fühlte, wie es hinter meinen Augen brannte. Stumm schüttelte ich den Kopf.

»Er kann nicht mehr allein laufen, er frisst nur noch, was du ihm direkt vor die Nase hältst, und auf sein Klo musst du ihn tragen.« Ich hörte das Mitleid in Steffens Stimme. Mit dem Tier. Und mit mir.

»Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte ich und merkte, wie mir nun doch eine Träne über die Wange rann. »Er hat ein Recht darauf, es allein zu Ende zu bringen. Und ich werde bei ihm sein.«

Wieder dieser Knoten in meiner Kehle. »Es tut ihm nichts weh«, murmelte ich. Das war mein Mantra. Seit vor fünf Tagen die Tierärztin zuerst Hermann sehr lange und dann mich nur kurz angesehen hatte, stand mir die Wahrheit zwar vor Augen, aber ich weigerte mich immer noch, sie zu sehen.

»In einer Stunde fängt deine Schicht an. Was ist dann?«

Ich zuckte mit den Schultern und kraulte Hermann an der Stelle hinter seinem rechten Ohr, an der er es so gerne hatte. Hermann war bei mir, seit ich dreißig Jahre und er vier Tage alt gewesen war. Beinahe neunzehn Jahre lang. Er hatte meine Ehe mitgemacht und meine Scheidung. Er hatte nie geschimpft, wenn ich mitten in einem Fall steckte und nur zum Schlafen und Duschen nach Hause kam. Er war sechsmal mit mir umgezogen. Zuletzt vor einem Dreivierteljahr von Köln hierher in die Eifel, als ich mich entschieden hatte, der Stadt und der dortigen Mordkommission den Rücken zu kehren und zu meinem Vater und meinem Bruder nach Gemünd zu ziehen. Und zu Steffen.

Es hatte eine Zeit gedauert, bis ich mich dazu hatte durchringen können. Ein Grund für mein Zögern war die Eifel selbst gewesen. Wollte ich wirklich wieder aufs Land ziehen? Dorthin, von wo ich als junge Frau förmlich in die Stadt geflohen war? Schnee schaufeln im Winter? Weite Entfernungen? Pampa?

Den anderen Grund hatte ich mir nur unwillig eingestanden: Steffens Alter. Mein neuer Freund war acht Jahre jünger als ich, und ich hatte, obwohl ich es nicht offen zugeben wollte, Schwierigkeiten mit dieser Tatsache. Aber die Ereignisse des letzten Sommers, der Mordverdacht, der auf Steffen lastete, und mein Anteil an der Aufklärung des Falles hatten mich davon überzeugt, es mit der Eifel, mit Steffen und mit einem neuen Leben zu probieren. Versuchsweise. Die Wohnung in Köln war immer noch nicht gekündigt, wenn auch mit einem Untermieter besetzt. Meine Möbel standen in der Garage meines Vaters und brachten meinen Bruder zur Weißglut. Ich wohnte abwechselnd im familiären Gästezimmer und bei Steffen. Auf Dauer war das kein Zustand, aber ich tat mich schwer mit einer endgültigen Entscheidung. Im Gegensatz zu Steffen. Er war im letzten Jahr zum Oberförster oder, wie es offiziell hieß, »Forstoberinspektor« ernannt worden, glücklich mit seinem Nationalparkbezirk auf der Dreiborner Hochfläche und freute sich seines Lebens, in dem ich in seinen Augen einen wesentlichen Teil einnahm. Hermann war ein Stück meines alten Lebens, das ich jetzt loslassen musste.

»Du hast die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht, Ina.«

»Ich schaff das schon.« Vorsichtig hob ich Hermann hoch, legte ihn in das Unterteil seiner Transportkiste und klappte sie zu. Mit einem Klacken sprangen die Scharniere in ihre Halterungen. Das Türchen schloss ich aus reiner Gewohnheit. Der Kater würde nicht mehr weglaufen. Ich biss mir auf die Unterlippe und schlug die Bettdecke zurück. Dann holte ich tief Luft und stand auf.

»Ich habe heute frei. Ich bleibe bei ihm«, sagte Steffen, drehte sich um und ging durch den Flur in die Küche. Trotzdem hatte ich gesehen, wie er sich mit dem Handrücken über die Augen gewischt hatte.

»Danke.«

Ich schlurfte durch den Flur hinter Steffen her und lehnte mich gegen den Türrahmen. Die Kaffeemaschine spuckte einen Caffè Latte aus und verstummte.

»Judith kommt mich gleich abholen«, sagte ich und seufzte. Die Glasscheibe in der Küchentür warf ein unfreundliches Spiegelbild zu mir zurück. Meine blonden Haare standen in alle Richtungen und waren definitiv zu lang, um noch als Frisur zu gelten. Bis vor Kurzem hatte ich sie jeden Morgen mit Gel zum Igel gestachelt, aber das gefiel mir nicht mehr. Dummerweise war ich mir auch noch nicht im Klaren darüber, was mir denn nun gefallen würde, also tat ich das, was mir in dieser Situation der Entscheidungsschwäche am sinnvollsten erschien. Nichts. Die dunklen Ringe unter den verquollenen Augen trugen auch nicht zu einer attraktiven Erscheinung bei. »Duschen könnte helfen«, murmelte ich meinem Spiegelbild zu und verschwand Richtung Bad.

Das warme Wasser tat gut. Es verdrängte die Müdigkeit und die traurigen Gedanken.

Durch das Rauschen hörte ich die Türglocke dreimal hintereinander schellen. Ich fischte ein Handtuch von der Stange, schlang es um mich und bürstete mir durch die Haare.

»Ina?« Es klopfte an der Badezimmertür.

»Ich komme«, sagte ich und öffnete im selben Moment die Tür. Neben Steffen stand eine junge Frau in Uniform. »Morgen, Judith.« Ich drängte mich im engen Flur an den beiden vorbei ins Schlafzimmer und zog mich an. »Du bist zu früh.«

»Sorry, aber wir haben einen ersten Angriff hier im Ort.«

»Ihr habt was?« Steffen runzelte die Stirn.

»Wo?«, fragte ich, während ich mein Outfit mit Schuhen, Gürtel und Polizeimütze vervollständigte. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte mir eine fremde Frau. Ich hatte mich noch nicht wieder an den Anblick der Uniform gewöhnt.

Schutzpolizei. Das war es, was ich gewollt hatte. Schupo in der Eifel. Keine Mordkommission. Hier ein paar Einbrecher, da ein paar Autounfälle. Die Kriminalstatistik für diesen Landstrich las sich in meinen Augen wie ein Werbeprospekt für Erholungssuchende. Dementsprechend lang waren auch die Wartelisten. Ich hatte einfach nur Glück gehabt, dass es so schnell geklappt hatte mit der Versetzung. Dafür hatte ich jetzt Judith Bleuler am Hals. Fünfundzwanzig. Jung. Schön. Begabt. Und ehrgeizig. Ein einziges Klischee. Gerade fertig studiert, absolvierte sie derzeit den praktischen Anteil ihrer Ausbildung mit einer Energie, die mir auf die Nerven ging. Ich hätte sie eher als »übermotiviert« bezeichnet. Mit meiner Versetzung war aus der Kriminalhauptkommissarin eine Polizeihauptkommissarin geworden, und weil ich ausbilden durfte, hatte man sie mir einfach vor die Nase gesetzt. Vermutlich mit dem Hintergedanken, ich würde in der Eifel sowieso eher eine ruhige Kugel schieben und Gefahr laufen, mich zu langweilen.

Judith sah zu Steffen, und ein Lächeln blitzte kurz in ihrem Gesicht auf. »Eine leblose Person wurde gemeldet«, erklärte sie ihm, als ob sie eine Prüfungsfrage beantworten müsste. »Der Rettungsdienst ist bereits unterwegs.« Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Die Dienststelle hat versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen. Die beiden anderen Dienstwagen sind über Land unterwegs und brauchen ewig, bis sie hier sind.«

»Stummgeschaltet«, murmelte ich und versuchte, mein schlechtes Gewissen damit zu beruhigen, dass ich das Telefon bei Dienstantritt ja angeschaltet hätte.

»Also haben sie mich angerufen«, erklärte Judith weiter. Bildete ich mir den Vorwurf in ihrer Tonlage nur ein, oder fand sie es wirklich unverschämt von mir, in meiner Freizeit nicht ununterbrochen verfügbar zu sein?

»Unsere Fahrgemeinschaft ist anscheinend nicht unbemerkt geblieben.«

Judith reagierte nicht auf meine Bemerkung, sondern fuhr unbeirrt fort: »Hinter der Einkaufsstraße ist es, am oberen Anfang des Kurparks, hat die Leitstelle gesagt.« Sie spitzte die Lippen und sah mich kritisch an. »Ich gehe davon aus, dass du weißt, wo das ist.«

Ich erwiderte stumm ihren Blick. Bei ihr hatte ich immer den Eindruck, dass sie mein Erscheinungsbild missbilligte. Kein Wunder, präsentierte sie sich doch selbst stets wie aus dem Ei gepellt. Perfekt gebügelter Kragen, kein Fussel, keine auch noch so kleine Knitterfalte an der Jacke, die Schuhe immer glänzend. Ich nickte.

»Vier Minuten von hier aus. Wir sind am schnellsten vor Ort.«

Erstaunt sah sie mich an. »Du willst direkt zum Einsatzort?« Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Unsere Waffen liegen im Waffenfach auf der Dienststelle.«

»Meine Waffe ist hier.« Ich klopfte auf das Holster unter meiner Uniformjacke.

»Du hast sie mit nach Hause genommen? Das ist gegen die Vorschrift!«

Ich seufzte. »Natürlich hatte ich sie in Steffens Waffenschrank eingeschlossen, nicht wahr?« Ich starrte Steffen eindringlich an. Wenn er jetzt verriet, dass ich meine Waffe als Lesezeichen zwischen die Buchseiten klemmte und auf dem Nachtisch lagerte, wäre ich in Judiths Augen endgültig unten durch. Er hatte als Förster zwar einen Waffenschrank, aber der war schon lange verwaist. Steffen benötigte seine Waffen selten, seitdem die Eifel zum Nationalpark geworden war. Sie wurden an einer zentralen Stelle der Nationalparkverwaltung gelagert und nur bei Bedarf an die Beamten ausgegeben, da Jagd auf Wild nur noch in Ausnahmefällen und unter strengen Auflagen gemacht wurde.

»Was?« Er blieb ernst, obwohl ich es um seine Mundwinkel herum zucken sah. »Selbstverständlich. In meinem Waffenschrank.«

»Lass uns gehen.« Ich schnappte mir meine Handtasche und war schon halb auf dem Flur, als mir Hermann wieder einfiel. Ich würde mehrere Stunden weg sein. »Warte bitte kurz«, rief ich Judith über die Schulter hinweg zu, während ich ins Wohnzimmer ging und die Tür leise hinter mir schloss. Das ging sie nichts an. Ich kniete mich vor das Sofa, auf das Steffen den Kater in der Zwischenzeit gelegt hatte, und steckte meine Nase in sein Fell. An diesen Geruch wollte ich mich immer erinnern können.

Dann stand ich auf und widmete alle meine Gedanken meiner Arbeit. Zumindest versuchte ich es.

»Haben Sie uns angerufen?«

Der Mann auf der Bank nickte. Er war sehr blass und seine Augen flackerten. Er hatte in der Fußgängerzone auf uns gewartet. Hinter ihm erkannte ich das stumme Blaulicht des Rettungswagens auf der Wiese am Wehr. Es reflektierte in den Schaufensterfronten der Buchhandlung und tauchte die Auslagen in kalten Schimmer.

»Geben Sie uns bitte ihren Namen und ihre Adresse.« Judith hielt Stift und Notizbuch bereit.

»Kai Rokke Hornbläser. Ich habe …« Er unterbrach sich und wandte den Kopf in Richtung Kurpark. »Ich habe …« Er sprang auf, lief zu einem der roten Mülleimer, die an den Straßenlaternen hingen, und beugte sich darüber. Er würgte und erbrach sich.

Ich folgte ihm.

»Brauchen Sie Hilfe, Herr Hornbläser?«

»Es geht schon, danke. Es ist nur …« Er hob die Arme, und erst jetzt sah ich, dass seine Kleidung bis auf den Mantel durch und durch nass war.

»Ina Weinz, Polizei Schleiden.« Ich musterte ihn. »Was ist passiert? Haben Sie versucht, ihr zu helfen?« Während ich sprach, signalisierte ich Judith, dass sie eine Decke aus dem Kofferraum des Polizeiwagens holen und ihm geben sollte.

Er presste die Lippen aufeinander und schlang die Arme um den Oberkörper. »Ich bin auf sie gefallen, weil ich meine ›Lydia‹ aus dem Wasser holen wollte.« Er sah mich an und musste meinen irritierten Blick bemerkt haben. »Die ›Lydia‹ ist meine Modellfregatte. Sie hatte sich verheddert. In …« Er machte eine Pause und griff mit spitzen Fingern an seinen Kopf. »In den Haaren der Frau. Sie waren so lang und sind wohl in die Schiffsschraube geraten. Deswegen hat sie so ein komisches Geräusch gemacht.« Er ließ die Hand wieder sinken. »Ich wollte sie retten und –«

»Wir sind fertig«, unterbrach ihn der Notarzt und nahm mich zur Seite. »Das ist jetzt euer Job.« Er wies mit dem Kinn hinter sich. »Sie ist wahrscheinlich ertrunken.«

»Fremdeinwirkung?«

»Kann ich nicht sagen. Da muss der Kollege aus der Rechtsmedizin eine Meinung zu entwickeln.«

Ich wandte mich wieder an den Zeugen. »Schaffen Sie es, uns zum Bach zu begleiten?«

Hornbläser wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. Er fuhr mit der Hand in seine Manteltasche, kramte ein Päckchen Tabak hervor und nahm eine fertig gedrehte Zigarette zwischen die Fingerspitzen. »Haben Sie Feuer?«, fragte er heiser.

»Sie dürfen in der Nähe des Fundortes nicht rauchen, Herr Hornbläser«, mischte sich Judith ein.

»Er hat sich ja auch schon in der Nähe übergeben und damit der Spusi die Arbeit erschwert. Und bevor ihm noch mal schlecht wird …« Ich fasste in die Innentasche meiner Uniformjacke und nahm das Feuerzeug heraus, das ich seit dem Sankt-Martins-Umzug im letzten November mit mir herumtrug. Es war einer meiner ersten Einsätze gewesen, und irgendwer hatte mir den heißen Tipp gegeben, dass die größten Probleme darin bestehen würden, weinende Kinder zu beruhigen, deren Laternen verloschen waren.

»Dann werde ich mir mal den Fundort ansehen.« Ich reichte ihm das Feuerzeug und sah Judith an. »Meine Kollegin bleibt bei Ihnen, bis Sie zu Ende geraucht haben, Herr Hornbläser.« Ich drehte mich um und ging an der Buchhandlung vorbei in Richtung des Wehrs. Die Buchhändlerin hatte das Schaufenster mit Eifel-Krimis dekoriert. Sogar einen Gemünd-Krimi gab es da. Ich unterdrückte ein Lächeln. Die Kommissare in den Büchern hatten es oft leichter als wir. Der Tod ließ sich in der Phantasie besser ertragen als im Leben.

Schon aus der Entfernung fiel mir die gelbe Handtasche am Fuß des Geländers auf. Dann die Schuhe, die ordentlich an der Böschung standen. Violettes Wildleder mit mexikanischem Muster. Mir wurde übel, und ich kämpfte gegen den Impuls, mich ebenfalls zu übergeben. Ich kannte nur einen Menschen, der eine solche Handtasche besaß und solche Schuhe trug, und wusste, wer da im Wasser lag, bevor ich die Leiche gesehen hatte.

Vor dem Dickicht blieb ich einen Moment stehen und schloss die Augen. Wollte ich das wirklich sehen? Konnte ich sachlich und abgeklärt sein? Oder hatte mein sterbender Kater mein Nervenkostüm zu sehr ausgedünnt?

»Ina?« Judith stand dicht hinter mir. »Alles in Ordnung?«

Ich fuhr herum. Ich war ihre Ausbilderin. »Ja. Danke«, murmelte ich und stellte mich den Tatsachen.

Regina Brinke. Angestellte des Bauamtes der Stadt Schleiden. Gemünderin. Lebte mit ihrem an Alzheimer erkrankten Vater zusammen im elterlichen Haus auf dem Salzberg. Alleinstehend. Keine Kinder. Eine ehemalige Klassenkameradin von mir und seit Neuestem wieder in meinen engeren Bekanntenkreis gerückt.

»Wie haben Sie sie aufgefunden?« Meine Stimme zitterte.

Der Sanitäter hatte schon auf mich gewartet.

»Sie lag mit dem Gesicht nach unten vor der Wehrstufe«, berichtete er. »Der Herr, der uns gerufen hat, ist wohl auf sie draufgefallen, als er versucht hat, sein Boot zu retten.«

Ich nickte und sah mich nach dem Zeugen um. Er saß nun wieder auf der Bank, flankiert von Judith und dem Rettungsarzt, der über ein Klemmbrett gebeugt Formulare ausfüllte. Hornbläser rauchte. Sein Boot, dachte ich und merkte, wie die Wut in mir hochkochte. Er wollte sein Boot retten. Nicht Regina. Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt vermutlich keinen Unterschied mehr gemacht hätte.

Ich holte tief Luft und ging zu der Leiche, die nun am Ufer lag. Reginas Haar lag in schweren Strähnen über ihrem Gesicht, und die Kleidung klebte an ihrem Körper. Ihre Hände und die Haut an ihrer Stirn und an den Wangen zeigten Kratzspuren, die aber nicht unbedingt Zeichen eines Kampfes sein mussten, sondern nach ihrem Tod entstanden sein konnten.

»Sonst haben Sie nichts verändert?«

»Natürlich nicht.« Der Sanitäter schob trotzig den Unterkiefer vor. »Ich weiß doch, dass ich alles so lassen muss, wie es war.«

»Okay.« Ich ging zu der Handtasche. Ein weißer Umschlag steckte hochkant darin. Ein kurzer Griff in meine Jackentasche, und ich fand die Gummihandschuhe. Bei einigen alten Gewohnheiten war es gut, sie weiterzupflegen. Routinen beruhigten und lenkten ab. Das Papier knisterte, als ich den Umschlag öffnete, den Brief hervorzog und auffaltete.

»Herr Hornbläser wäre dann jetzt so weit.«

Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Judith und der Zeuge standen nur einen Meter hinter mir.

»Gut.« Der Brief war wichtiger. Handgeschrieben. Nur ein paar Zeilen. Judith räusperte sich.