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Émile Zola

Germinal

Émile Zola

Germinal

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Armin Schwarz
EV: Universum-Bücherei für Alle, Berlin, 1930
2. Auflage, ISBN 978-3-954182-28-2

www.null-papier.de/99cent

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Au­tor

Ger­mi­nal

Teil 1

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Teil 2

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Teil 3

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Teil 4

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Teil 5

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Teil 6

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Teil 7

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

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Autor

Émi­le François Zola (✳ 2. April 1840 in Pa­ris; † 29. Sep­tem­ber 1902 eben­da) war ein fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Zola gilt als ei­ner der großen fran­zö­si­schen Ro­man­ciers des 19. Jahr­hun­derts und als Leit­fi­gur und Be­grün­der der ge­sam­t­eu­ro­päi­schen li­te­ra­ri­schen Strö­mung des Na­tu­ra­lis­mus. Zu­gleich war er ein sehr ak­ti­ver Jour­na­list, der sich auf ei­ner ge­mä­ßigt lin­ken Po­si­ti­on am po­li­ti­schen Le­ben be­tei­lig­te.

Sein »Ar­ti­kel J’ac­cu­se …!« (Ich kla­ge an …!) an­läss­lich der Drey­fus-Af­fä­re war ein wich­ti­ges Ele­ment bei der schließ­li­chen Re­ha­bi­li­tie­rung des fälsch­lich we­gen Lan­des­ver­rats ver­ur­teil­ten Of­fi­ziers Al­fred Drey­fus.

Émi­le Zola wur­de in Pa­ris als Sohn des ita­lie­nisch-ös­ter­rei­chi­schen Ei­sen­bah­n­in­ge­nieurs Fran­ces­co Zola (eigtl. Zol­la) ge­bo­ren. Sei­ne Mut­ter, Émi­lie Auré­lie Au­bert (1819–1880), war Fran­zö­sin.

Zola wuchs in Aix-en-Pro­vence auf. In Aix war Zola mit dem spä­te­ren großen Ma­ler Paul Cézan­ne und dem spä­te­ren Bild­hau­er Phil­ip­pe So­la­ri be­freun­det.

Sein Durch­bruch wur­de 1867 der Ro­man »Thérè­se Ra­quin«, der eine span­nen­de Hand­lung um die zur Ehe­bre­che­rin und Mör­de­rin wer­den­de Ti­tel­hel­din mit ei­ner un­ge­schön­ten Schil­de­rung des Pa­ri­ser Klein­bür­ger­tums ver­bin­det. Das Vor­wort zur zwei­ten Auf­la­ge 1868, in dem Zola sich ge­gen sei­ne gut­bür­ger­li­chen Kri­ti­ker und ih­ren Vor­wurf der Ge­schmack­lo­sig­keit ver­tei­digt, wur­de zum Ma­ni­fest der jun­gen na­tu­ra­lis­ti­schen Schu­le, zu de­ren Ober­haupt Zola nach und nach avan­cier­te.

Zu Zo­las Leb­zei­ten am er­folg­reichs­ten war »La Débâcle« (Der Zu­sam­men­bruch, 1892), des­sen Hand­lung vor dem Hin­ter­grund des deutsch-fran­zö­si­schen Krie­ges von 1870/71 und der blu­tig un­ter­drück­ten Pa­ri­ser Com­mu­ne spielt.

Heu­te noch ge­le­sen wer­den vor al­lem die bei­den Ro­ma­ne »L’As­som­moir« (Der Tot­schlä­ger, 1877), wo am Schick­sal ei­ner Wä­sche­rin und ih­rer Fa­mi­lie sehr ein­gän­gig die Aus­wir­kun­gen des Al­ko­ho­lis­mus im be­eng­ten und tris­ten Pa­ri­ser Un­ter­schich­ten­mi­lieu be­schrie­ben wer­den, und »Ger­mi­nal« (1885), das die dra­ma­ti­sche Ge­schich­te ei­nes Berg­ar­bei­ter­streiks im Kräf­te­feld der wirt­schaft­li­chen und ideo­lo­gi­schen Ant­ago­nis­men der Zeit dar­stellt.

Meh­re­re der Ro­ma­ne, un­ter an­de­rem »Thérè­se Ra­quin«, »Nana«, »L’As­som­moir« und »Ger­mi­nal«, wur­den bald nach ih­rem Er­schei­nen zu er­folg­rei­chen Thea­ter­stücken ver­ar­bei­tet und spä­ter auch ver­filmt.

Zola starb zu Be­ginn der Heiz­pe­ri­ode im Herbst 1902 durch eine Koh­len­mon­oxid­ver­gif­tung in sei­ner Pa­ri­ser Woh­nung. Je nach po­li­ti­schem Stand­punkt wur­den Gerüch­te über einen Selbst­mord oder Mord ge­schürt. Eine Un­ter­su­chungs­kom­mis­si­on mach­te Ex­pe­ri­men­te mit dem Ofen und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Un­fall han­del­te. 50 Jah­re spä­ter wur­de be­rich­tet, dass ein Schorn­stein­fe­ger, der Mit­glied der na­tio­na­lis­ti­schen »Ligue des Pa­trio­tes« war, ei­nem Gleich­ge­sinn­ten ge­gen­über an­ge­ge­ben habe, den Ka­min ver­stopft zu ha­ben.

Werks­aus­zug

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Germinal

Der Ger­mi­nal (deutsch auch »Keim­mo­nat«) ist der sieb­te Mo­nat des Re­pu­bli­ka­ni­schen Ka­len­ders der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on.

Teil 1

Erstes Kapitel

In ster­nen­lo­ser, fins­te­rer, ra­ben­schwar­zer Nacht schritt ein ein­zel­ner Mann durch die fla­che Ebe­ne auf der Heer­stra­ße da­hin, die von Mar­chi­en­nes nach Mont­sou führt und sich zehn Ki­lo­me­ter lang ge­ra­de­aus durch Rü­ben­fel­der hin­zieht. Er ver­moch­te selbst den schwar­zen Bo­den vor sich nicht zu un­ter­schei­den und hat­te das Ge­fühl des un­ge­heu­ren, fla­chen Ho­ri­zon­tes nur durch das We­hen des Mär­zwin­des, der in brei­ten Stö­ßen ei­sig kalt da­hin­fuhr, nach­dem er mei­len­wei­te Stre­cken von Sümp­fen und kah­len Fel­dern be­stri­chen hat­te. Kein Baum­schat­ten hob sich vom Nacht­him­mel ab; die Stra­ße zog sich mit der Re­gel­mä­ßig­keit ei­nes Dam­mes durch die stock­fins­te­re Nacht hin, in der das Auge wie ge­blen­det war.

Der Mann war ge­gen zwei Uhr von Mar­chi­en­nes auf­ge­bro­chen. Er mach­te lan­ge Schrit­te, denn er frös­tel­te in sei­ner Ja­cke von dün­nem Wol­len­zeug und in sei­nem Bein­kleid von Samt­stoff. Sein Päck­chen, das in ein kar­rier­tes Ta­schen­tuch ge­wi­ckelt war, be­läs­tig­te ihn sehr; er drück­te es bald mit dem einen, bald mit dem an­de­ren El­len­bo­gen an sich, um bei­de Hän­de zu­gleich in die Ta­schen ste­cken zu kön­nen, sei­ne er­starr­ten Hän­de, die der ei­si­ge Ost­wind wund­ge­bla­sen hat­te. Ein ein­zi­ger Ge­dan­ke be­schäf­tig­te sei­nen hoh­len Kopf ei­nes ar­beits- und ob­dach­lo­sen Ar­bei­ters: die Hoff­nung, dass nach Son­nen­auf­gang die Käl­te we­ni­ger emp­find­lich sein wer­de. Er moch­te eine Stun­de so da­hin­ge­schrit­ten sein, als er zur Lin­ken zwei Ki­lo­me­ter von Mont­sou rote Feu­er wahr­nahm, drei Glut­hau­fen im frei­en Fel­de, die gleich­sam in der Luft schweb­ten. Zu­erst zö­ger­te er, von Furcht er­grif­fen; dann konn­te er dem schmerz­li­chen Be­dürf­nis­se nicht wi­der­ste­hen, einen Au­gen­blick sei­ne Hän­de zu wär­men.

Der Mann be­trat einen Hohl­weg, der da­hin führ­te. Al­les um ihn her ver­schwand. Zur Lin­ken hat­te er eine Plan­ken­wand, die einen Schie­nen­weg ab­schloss, wäh­rend rechts eine gras­be­stan­de­ne Bö­schung sich er­hob, ge­krönt von Häu­ser­gie­beln, die in der nächt­li­chen Fins­ter­nis ver­schwam­men; es war das Schat­ten­bild ei­nes Dor­fes mit nied­ri­gen, gleich­för­mi­gen Haus­dä­chern. Er mach­te un­ge­fähr zwei­hun­dert Schrit­te. Plötz­lich tauch­ten bei ei­ner Bie­gung des We­ges die Feu­er ganz nahe wie­der auf, und er be­griff jetzt so we­nig wie frü­her, wie es kom­me, dass sie so hoch un­ter dem to­ten Him­mel brann­ten, rau­chen­den Mon­den glei­chend. Doch am Bo­den zog ein an­de­rer An­blick sei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich. Es war dies eine schwer­fäl­li­ge Mas­se, eine Grup­pe nied­ri­ger Ge­bäu­de, aus de­ren Mit­te der Schat­ten­riss ei­nes Fa­brik­schlo­tes auf­stieg; ein Licht­schein drang aus den we­ni­gen schmut­zi­gen Fens­tern her­vor; au­ßen hin­gen am Bal­ken fünf oder sechs trüb­se­li­ge La­ter­nen, de­ren ge­schwärz­te Höl­zer sich zu rie­si­gen Gerüs­ten an­ein­an­der­reih­ten; von die­ser fan­tas­ti­schen, in Nacht und Rauch ge­tauch­ten Er­schei­nung stieg eine ein­zi­ge Stim­me auf: der lau­te und lan­ge Atem ei­ner Dampf­aus­strö­mung, die man nicht sah.

Da er­kann­te der Mann, dass er sich bei ei­nem Berg­werk be­fand. Aber­mals ward er von Scham er­grif­fen: was nütz­te es? Er be­kam doch kei­ne Ar­beit. An­statt sei­ne Schrit­te nach den Ge­bäu­den zu len­ken, ent­schloss er sich end­lich, den Hü­gel zu er­stei­gen, auf dem die drei Koh­len­feu­er in großen, guss­ei­ser­nen Kör­ben brann­ten, um Licht und Wär­me zur Ar­beit zu lie­fern. Die bei dem Ab­bau be­schäf­tig­ten Ar­bei­ter muss­ten bis in die spä­te Nacht am Wer­ke ge­we­sen sein, denn es wur­de noch im­mer Schutt her­aus­ge­führt. Er hör­te jetzt die Ab­füh­rer die Züge über die Gerüs­te schie­ben und un­ter­schied le­ben­de Schat­ten, die bei je­dem Feu­er ihre Hun­de leer­ten.

»Gu­ten Mor­gen«, sag­te er, als er sich ei­nem der Feu­er­kör­be nä­her­te.

Der Kärr­ner stand mit dem Rücken dem Feu­er zu­ge­wen­det; es war ein al­ter Mann in ei­ner Tri­kot­ja­cke von blau­em Wol­len­zeug und mit ei­ner Müt­ze von Ka­nin­chen­fell; sein Pferd, ein großer, gel­ber Gaul, war­te­te un­be­weg­lich, als sei es von Stein, bis man die sechs Kar­ren, die es her­auf­ge­führt, ge­leert hat­te. Der bei der Aus­lee­rungs­vor­rich­tung an­ge­stell­te Hand­lan­ger, ein ro­ter, ma­ge­rer Bur­sche, be­eil­te sich nicht; mit schläf­ri­ger Hand drück­te er auf den He­bel. Da oben weh­te der Wind noch stär­ker, ein ei­si­ger Nord­ost, des­sen brei­te, re­gel­mä­ßi­ge Stö­ße gleich Sen­sen­stri­chen vor­über­zo­gen.

»Gu­ten Mor­gen«, er­wi­der­te der Alte.

Dann trat wie­der Stil­le ein. Der Fremd­ling, der sich mit miss­traui­schen Bli­cken be­trach­tet wuss­te, sag­te so­gleich sei­nen Na­men.

»Ich hei­ße Eti­enne Lan­tier und bin Ma­schi­nist. Gibt es hier kei­ne Ar­beit?«

Die Flam­men be­leuch­te­ten ihn; er moch­te ein­und­zwan­zig Jah­re zäh­len, war sehr braun, ein hüb­scher Mann von kräf­ti­gem Aus­se­hen trotz sei­ner klei­nen Ge­stalt.

Der Kärr­ner schüt­tel­te den Kopf; er schi­en jetzt be­ru­higt.

»Ar­beit für einen Ma­schi­nis­ten?« sag­te er. »Nein, nein … Ges­tern wa­ren auch zwei da. Es gibt kei­ne Ar­beit.«

Ein Wind­stoß schnitt ihm das Wort ab. Dann frag­te Eti­enne, in­dem er auf die dunkle Grup­pe von Ge­bäu­den am Fuße des Hü­gels zeig­te:

»Das ist ein Berg­werk, nicht wahr?«

Der Alte konn­te nicht so­gleich ant­wor­ten. Ein hef­ti­ger Hus­ten­an­fall droh­te ihn zu er­sti­cken. End­lich spie er aus, und sein Spei­chel bil­de­te einen schwar­zen Fleck am ro­ten Erd­bo­den.

»Ja, das Berg­werk le Vo­reux … Der Ort liegt ganz nahe.«

Er wies mit aus­ge­streck­tem Arme nach dem im Dun­kel der Nacht da­lie­gen­den Dor­fe, des­sen Haus­dä­cher der jun­ge Mensch mehr er­ra­ten als ge­se­hen hat­te. Doch die sechs Hun­de wa­ren jetzt leer; der Alte folg­te ih­nen ohne einen Peit­schen­knall mit sei­nen gicht­stei­fen Bei­nen, wäh­rend der große, gel­be Gaul von selbst sei­nen Gang wie­der an­trat und zwi­schen den Schie­nen müh­sam sei­ne Last schlepp­te, von ei­nem neu­en Wind­sto­ße ge­peitscht, der ihm die Haa­re sträub­te.

Die Gru­be le Vo­reux schi­en aus dem Nacht­schla­fe zu er­wa­chen. Eti­enne, der sei­ne ar­men, blu­ten­den Hän­de am Koh­len­feu­er wärm­te, ver­lor sich völ­lig in sei­nen Be­trach­tun­gen und er­kann­te all­mäh­lich sämt­li­che Tei­le des Berg­wer­kes, den ge­teer­ten Schup­pen des Sich­tungs­wer­kes, den Glo­cken­stuhl des Schach­tes, die ge­räu­mi­ge Hal­le der För­der­ma­schi­ne, den vier­e­cki­gen Turm der Schöpf­pum­pe. Die­ses Berg­werk, das in der Tie­fe ei­ner Schlucht lag, schi­en ihm mit sei­nen nied­ri­gen Zie­gel­bau­ten, sei­nem wie ein dro­hen­des Horn in die Höhe ra­gen­den Schlot das un­heil­kün­den­de Aus­se­hen ei­nes gie­ri­gen Raub­tie­res zu ha­ben, das da­hock­te, um die Welt zu ver­schlin­gen. Wäh­rend er es be­trach­te­te, dach­te er an sich selbst, an sein Va­ga­bun­den­le­ben, das er seit acht Ta­gen auf der Su­che nach ei­nem Plat­ze führ­te. Er sah sich in sei­ner Ei­sen­bahn­werk­stät­te wie­der, wo er sei­nen Vor­ge­setz­ten geohr­feigt hat­te, dann aus Lil­le ver­jagt und von über­all ver­trie­ben. Am Sams­tag war er in Mar­chi­en­nes an­ge­kom­men, wo er in den Ei­sen­hüt­ten an­geb­lich Ar­beit fin­den soll­te; aber es war nichts, we­der in den Ei­sen­hüt­ten, noch in den Fa­bri­ken Son­ne­vil­les; er hat­te den Sonn­tag un­ter den Höl­zern ei­ner Wa­gne­rei ver­bor­gen zu­ge­bracht, de­ren Auf­se­her ihn um zwei Uhr nachts weg­ge­jagt hat­te. Er hat­te nichts mehr, kei­nen Sou und kei­nen Bis­sen Brot; was soll­te er an­fan­gen? Zi­el­los irr­te er auf den Heer­stra­ßen und wuss­te nicht, wo­hin vor den Un­bil­den des Wet­ters flüch­ten? Ja, es war ein Berg­werk, die we­ni­gen La­ter­nen be­leuch­te­ten das Pflas­ter des Vor­ho­fes; eine plötz­lich ge­öff­ne­te Tür ge­stat­te­te ihm, die Feue­rung der Damp­fer­zeu­ger in hel­lem Lich­te zu se­hen. Er er­klär­te sich jetzt al­les, selbst die Dampf­aus­strö­mung der Pum­pe, die­ses lau­te, lan­ge, un­abläs­si­ge At­men, das gleich­sam der ver­schleim­te Atem des Un­ge­heu­ers war.

Der Hand­lan­ger bei der Koh­len­lösch­hal­de stand mit ge­krümm­tem Rücken da und warf kei­nen Blick auf Eti­enne. Die­ser woll­te eben sein klei­nes Bün­del vom Bo­den wie­der auf­he­ben, als ein Hus­ten­an­fall die Rück­kehr des Kärr­ners an­kün­dig­te. Man sah ihn lang­sam aus dem Dun­kel auf­tau­chen, ge­folgt von dem gel­ben Gaul, der sechs vol­le Hun­de schlepp­te.

»Gibt es in Mont­sou Fa­bri­ken?« frag­te der jun­ge Mann.

Der Alte warf wie­der schwar­zen Spei­chel aus und er­wi­der­te dann:

»Oh, an Fa­bri­ken ist kein Man­gel. Man müss­te es noch vor drei, vier Jah­ren se­hen! Es summ­te und brumm­te rings­um­her; man konn­te nicht ge­nug Leu­te fin­den; nie hat­te man einen so gu­ten Er­werb. Jetzt aber sind wie­der ma­ge­re Jah­re ge­kom­men. Ein rech­tes Elend ist ins Land ein­ge­zo­gen; man ent­lässt die Leu­te, die Werk­stät­ten wer­den ge­schlos­sen, eine nach der an­de­ren … Es ist viel­leicht nicht die Schuld des Kai­sers; aber warum geht er nach Ame­ri­ka, sich her­um­schla­gen? Dazu kommt noch, dass das Vieh an der Cho­le­ra zu­grun­de geht ge­ra­de­so wie die Men­schen.«

In kur­z­en Sät­zen mit sto­cken­dem Atem be­klag­ten sich die bei­den wei­ter. Eti­enne er­zähl­te, wie er seit ei­ner Wo­che ver­ge­bens Ar­beit su­che. Müs­se man denn wirk­lich vor Hun­ger um­kom­men? Bald wür­den die Land­stra­ßen sich mit Bett­lern fül­len. »Ja, ja,« mein­te der Alte, »das wird bös en­den. Gott kann un­mög­lich wol­len, dass so vie­le Chris­ten­menschen auf die Stra­ße ge­wor­fen wer­den.«

»Man hat nicht alle Tage sei­nen Bis­sen Fleisch.«

»Wenn man nur alle Tage Brot hät­te!«

»Das ist wahr; wenn man nur alle Tage Brot hät­te!«

Ihre Stim­men ver­lo­ren sich; die Wind­stö­ße ent­führ­ten ihre Wor­te mit trü­bem Ge­heul.

»Seht, dort liegt Mont­sou!« sag­te jetzt der Kärr­ner laut und wand­te sich nach Sü­den.

Wie­der streck­te er die Hand aus und zeig­te im Dun­kel auf un­sicht­ba­re Punk­te in dem Maße, wie er sie nann­te. Fau­vel­les Zucker­fa­brik in Mont­sou hal­te sich noch, Ho­tons Zucker­fa­brik je­doch ver­rin­ge­re ihre Ar­bei­ter; nur Du­til­leuls Mül­le­rei und Bleu­zes Sei­le­rei hät­ten noch zu tun. Dann zeig­te er mit ei­ner wei­ten Hand­be­we­gung den hal­b­en Ho­ri­zont im Nor­den; die Bau­werk­stät­ten Son­ne­vil­les hät­ten die­ses Jahr nicht zwei Drit­tel ih­rer sons­ti­gen Auf­trä­ge be­kom­men; von den drei Hochö­fen der Ei­sen­wer­ke zu Mar­chi­en­nes sei­en bloß zwei an­ge­bla­sen; in der Glas­fa­brik Ga­ge­bois end­lich dro­he ein Aus­stand, weil man von ei­ner Her­ab­set­zung der Ar­beits­löh­ne spre­che.

»Ich weiß, ich weiß«, wie­der­hol­te der jun­ge Mann bei je­der die­ser Aus­künf­te. »Ich kom­me von dort.«

»Bei uns ist es bis­her noch er­träg­lich«, füg­te der Kärr­ner hin­zu. »Und doch ha­ben die Koh­len­gru­ben über­all ih­ren Be­trieb ein­ge­schränkt. Da drü­ben auf dem Sie­ges­werk bren­nen auch nur mehr zwei Koksö­fen.«

Er spie und ging wie­der hin­ter sei­nem schlum­mern­den Gaul her, den er von Neu­em vor die lee­ren Hun­de ge­spannt hat­te.

Jetzt konn­te Eti­enne mit sei­nem Blick die gan­ze Ge­gend um­fas­sen. Es herrsch­te noch im­mer eine tie­fe Fins­ter­nis; aber die Hand des Al­ten hat­te sie gleich­sam mit ei­nem großen Elend an­ge­füllt, das der jun­ge Mann jetzt un­will­kür­lich über­all rings­um­her in der gan­zen un­er­mess­li­chen Aus­deh­nung fühl­te. War’s nicht ein Schrei des Hun­gers, den der Mär­zwind durch die­se kah­le Land­schaft trug? Die Wind­stö­ße wa­ren stär­ker ge­wor­den; sie schie­nen den Tod der Ar­beit mit sich zu füh­ren, eine Hun­gers­not, die vie­le Men­schen zu tö­ten droh­te. Sei­ne ir­ren­den Au­gen streng­ten sich an, die Fins­ter­nis zu durch­drin­gen, ge­pei­nigt von dem Ver­lan­gen und der Furcht zu se­hen. Al­les ver­lor sich in der Tie­fe der nächt­li­chen Fins­ter­nis; er sah nichts als in wei­ter Fer­ne die Hochö­fen und die Koksö­fen. Die letz­te­ren, Bat­te­ri­en zu hun­dert schief sit­zen­der Schlo­te, dehn­ten ihre Ram­pen von ro­ten Flam­men da­hin, wäh­rend die bei­den mehr nach links ge­le­ge­nen Hochö­fen un­ter frei­em Him­mel mit blau­en Flam­men brann­ten gleich Rie­sen­fa­ckeln. Es war trau­rig wie auf ei­ner Brand­stät­te; kei­ne an­de­ren Lich­ter wa­ren zu se­hen an die­sem dro­hen­den Ho­ri­zont als die­se nächt­li­chen Feu­er der Ei­sen und Koh­le er­zeu­gen­den Län­der.

»Sind Sie viel­leicht aus Bel­gi­en?« frag­te jetzt hin­ter Eti­enne der Kärr­ner, der zu­rück­ge­kehrt war.

Dies­mal brach­te er nur drei Hun­de; man konn­te sie im­mer­hin aus­lee­ren. Im Auf­zugs­schach­te war eine Schrau­ben­mut­ter ge­bro­chen, und die­ser Un­fall stör­te die Ar­beit eine gute Vier­tel­stun­de. Am Fuße des Hü­gels war es still ge­wor­den. Die Män­ner an der Win­de hat­ten auf­ge­hört, mit ih­rer Ar­beit die Gerüs­te in un­auf­hör­li­cher Er­schüt­te­rung zu er­hal­ten. Nur aus der Gru­be tön­te das fer­ne Geräusch ei­nes Ham­mers her­auf, der auf Blech los­schlug.

»Nein, ich bin aus dem Sü­den«, ant­wor­te­te der jun­ge Mann.

Der Hand­lan­ger hat­te die Hun­de aus­ge­leert und sich dann auf die Erde ge­setzt, ganz froh über den Un­fall, der ihm eine kur­ze Ruhe ge­stat­te­te. Er be­wahr­te sei­ne stil­le Scheu und er­hob die mat­ten Au­gen ganz er­staunt zu dem Kärr­ner, gleich­sam ver­dros­sen über so vie­le Wor­te. Der letz­te­re hat­te in der Tat nicht die Ge­wohn­heit, so viel zu re­den. Das Ge­sicht des Frem­den muss­te ihm ge­fal­len, und er wur­de au­gen­schein­lich von je­nem Drang nach Ver­trau­lich­keit er­fasst, der zu­wei­len be­wirkt, dass alte Leu­te von selbst und ganz laut zu plau­dern be­gin­nen.

»Ich bin von Mont­sou,« sag­te er, »und hei­ße Bon­ne­mort.«1

»Das ist wohl ein Spitz­na­me?« frag­te Eti­enne er­staunt.

Der Alte grins­te ver­gnügt und sag­te, nach dem Vo­reux­schach­te zei­gend:

»Ja, ja … Man hat mich drei­mal in Stücken von dort her­aus­ge­zo­gen. Das ers­te Mal war mir al­les Haar weg­ge­sengt, das zwei­te Mal steck­te ich in der Erde bis an den Kropf; das drit­te Mal war der Bauch von Was­ser an­ge­schwol­len wie der ei­nes Fro­sches … Da sa­hen die Leu­te, dass ich nicht hin wer­den woll­te, und nann­ten mich Bon­ne­mort, frei­lich nur so zum Spaß.«

Er be­gann da­bei zu ki­chern; es klang wie das Krei­schen ei­nes ein­ge­ros­te­ten Brun­nen­schwen­gels und ar­te­te schließ­lich in einen furcht­ba­ren Hus­ten­an­fall aus. Der Feu­er­korb be­leuch­te­te jetzt voll­stän­dig sei­nen di­cken Kopf mit den wei­ßen, schüt­teren Haa­ren und dem fla­chen, blei­chen, bläu­lich ge­fleck­ten Ge­sich­te. Er war klein von Ge­stalt, hat­te einen furcht­bar di­cken Hals, die Wa­den und Fer­sen nach au­ßen ge­kehrt, lan­ge Arme, de­ren vier­schrö­ti­ge Hän­de auf sei­nen Kni­en ruh­ten. Er schi­en üb­ri­gens von Stein zu sein wie sein Pferd, das un­be­weg­lich auf den Bei­nen stand, völ­lig un­be­küm­mert um den Wind; die Käl­te und der Wind, der ihn um die Ohren pfiff, lie­ßen ihn un­be­rührt. Wenn er ge­hus­tet hat­te – wo­bei ein tie­fes Rö­cheln sei­nen Hals zu zer­rei­ßen schi­en – spie er am Fuße des Feu­er­kor­bes aus, und die Erde färb­te sich schwarz.

Eti­enne be­trach­te­te ihn und dann den Bo­den, auf den der Alte in sol­cher Wei­se schwar­ze Fle­cke warf.

»Ist’s schon lan­ge her, dass Ihr in der Gru­be ar­bei­tet?« hub Eti­enne wie­der an.

Bon­ne­mort tat die bei­den Arme weit aus­ein­an­der und er­wi­der­te:

»Lan­ge? Ach, ja … Ich war noch nicht acht Jah­re alt, als ich in den Vo­reux­schacht ein­fuhr; jetzt zäh­le ich achtund­fünf­zig. Rech­nen Sie ein­mal … Ich habe da drin­nen al­les ge­macht, war zu­erst Schlep­per, dann Eg­gen­mann, als ich stark ge­nug dazu war, her­nach Schauf­ler acht­zehn Jah­re lang. Und spä­ter, als die ver­track­ten Bei­ne schlecht wur­den, ta­ten sie mich zum Ab­bau als Fül­ler und Fli­cker bis zu dem Tage, da sie mich her­auf­ho­len muss­ten, weil der Arzt sag­te, dass ich die Kno­chen da las­sen müs­se. Jetzt bin ich Kärr­ner seit fünf Jah­ren schon … Fünf­zig Jah­re Berg­werks­ar­beit, das ist hübsch, wie? Da­von fünf­und­vier­zig in der Gru­be …«

Wäh­rend er so sprach, war­fen ein­zel­ne bren­nen­de Koh­len­stücke, die aus dem Kor­be ge­fal­len wa­ren, einen blut­ro­ten Schein auf sein fah­les Ge­sicht.

»Sie ra­ten mir, in den Ru­he­stand zu ge­hen«, fuhr er fort. »Aber ich will nicht; ich bin nicht so dumm! … Ich wer­de wohl noch zwei Jah­re aus­hal­ten, bis die Sech­zig voll sind, um mei­ne Pen­si­on von hun­dert­acht­zig Fran­ken zu be­kom­men. Wenn ich heu­te mei­nen Ab­schied neh­me, wür­den sie mir nur hun­dert­fünf­zig be­wil­li­gen. Es sind gar pfif­fi­ge Ker­le! … Ich bin üb­ri­gens noch kräf­tig, von den Bei­nen ab­ge­se­hen. Das Was­ser ist mir un­ter die Haut ge­drun­gen, weil ich in den Stol­len gar so sehr nass ge­wor­den bin. Es gibt Tage, an de­nen ich kein Glied rüh­ren kann, ohne vor Schmerz auf­zu­schrei­en.«

Ein Hus­ten­an­fall un­ter­brach ihn wie­der.

»Ihr habt auch den Hus­ten da­von?« frag­te Eti­enne.

Er schüt­tel­te hef­tig den Kopf. Als er wie­der re­den konn­te, sag­te er:

»Nein, nein; ich habe mich im vo­ri­gen Mo­nat er­käl­tet. Nie­mals habe ich ge­hus­tet, jetzt aber kann ich den Hus­ten nicht los wer­den. Und das Ko­mi­sche da­bei ist, dass ich speie …«

Ein Rö­cheln stieg wie­der in sei­ner Keh­le auf, und er spie.

»Ist das Blut?« wag­te Eti­enne end­lich zu fra­gen.

Bon­ne­mort wisch­te sich mit dem Han­drücken lang­sam den Mund ab.

»Das ist Koh­le«, sag­te er. »Ich habe in mei­nem Leich­nam ge­nug da­von, um mich bis an das Ende mei­ner Tage zu wär­men. Und doch habe ich seit fünf Jah­ren kei­nen Fuß mehr in die Gru­ben ge­setzt. Wie es scheint, habe ich die Koh­le auf­ge­spei­chert, ohne es zu wis­sen. Bah! Das hält die Kno­chen zu­sam­men!«

Es trat wie­der ein Schwei­gen ein; der Ham­mer in der Fer­ne führ­te re­gel­mä­ßi­ge Schlä­ge; der Wind fuhr kla­gend da­hin wie ein Schrei des Hun­gers und der Er­mü­dung, der aus den Tie­fen der Nacht ge­kom­men. Vor dem Koh­len­feu­er sit­zend, das im Win­de auf­fla­cker­te, fuhr der Alte mit lei­se­rer Stim­me in sei­nen Erin­ne­run­gen fort. Ach ja, es war lan­ge her, dass er und die Sei­nen in den Mi­nen­gän­gen ar­bei­ten. Die Fa­mi­lie stand im Diens­te der Berg­werks­ge­sell­schaft von Mont­sou seit der Grün­dung des Un­ter­neh­mens. Das war lang her, schon hun­dert Jah­re. Sein Groß­va­ter, Wil­helm Ma­heu, hat­te als fünf­zehn­jäh­ri­ger Bur­sche die Stein­koh­le in Ré­quil­lart ent­deckt; es war die ers­te Gru­be der Ge­sell­schaft; sie liegt dort un­ten in der Nähe der Zucker­fa­brik Fau­vel­le und ist jetzt längst auf­ge­las­sen. So wuss­te es das gan­ze Land; zum Be­wei­se des­sen hieß das ent­deck­te Koh­len­la­ger »Wil­helms­schacht« nach dem Vor­na­men sei­nes Groß­va­ters. Er hat­te ihn nicht ge­kannt; es war, wie man er­zähl­te, ein großer, sehr star­ker Mensch, der mit sech­zig Jah­ren an Al­ters­schwä­che ge­stor­ben war. Sein Va­ter, Ni­ko­laus Ma­heu, ge­nannt der Rote, war mit kaum vier­zig Jah­ren im Vo­reux­schach­te ge­blie­ben, der zu je­ner Zeit ge­gra­ben wur­de; es fand ein Ein­sturz statt, eine voll­stän­di­ge Ver­schüt­tung; die Fel­sen ver­schlan­gen Blut und Kno­chen. Spä­ter hat­ten zwei sei­ner Ohei­me und sei­ne drei Brü­der gleich­falls ihre Haut da­ge­las­sen. Er selbst, Vin­zent Ma­heu, der fast ganz, nur mit ge­schwäch­ten Bei­nen aus der Gru­be her­vor­ge­gan­gen war, galt des­halb für einen Schlau­mei­er. Was war üb­ri­gens zu ma­chen? Man muss­te doch ar­bei­ten und tat es vom Va­ter auf den Sohn, wie man et­was an­de­res ge­tan hät­te. Sein Sohn Tous­saint Ma­heu schund sich jetzt dort ab, und auch sei­ne En­kel, sei­ne gan­ze Fa­mi­lie, die da drü­ben im Dor­fe wohn­te. Hun­dert Jah­re Fro­ne, nach den Al­ten die Jun­gen, im­mer für den näm­li­chen Herrn: ist das schön? Nicht vie­le Spieß­bür­ger könn­ten so leicht ihre Ge­schich­te her­sa­gen.

»Wenn man we­nigs­tens zu es­sen hat«, mur­mel­te Eti­enne wie­der.

»Das sage ich auch; so­la­ri­ge man Brot hat, kann man le­ben.«

Bon­ne­mort schwieg und wand­te die Au­gen nach dem Dor­fe, wo jetzt Lich­ter an­ge­zün­det wur­den, ei­nes nach dem an­de­ren. Im Kirch­turm zu Mont­sou schlug es vier Uhr; die Käl­te wur­de noch emp­find­li­cher.

»Ist eure Ge­sell­schaft reich?« frag­te Eti­enne wei­ter. Der Greis zog die Schul­tern in die Höhe und ließ sie wie­der sin­ken, gleich­sam er­drückt durch einen Berg von Ta­lern.

»O ja, o ja … Vi­el­leicht nicht so reich wie ihre Nach­ba­rin, die Ge­sell­schaft von An­zin. Aber doch Mil­lio­nen und Mil­lio­nen; es ist gar nicht zu zäh­len … Neun­zehn Schäch­te, da­von drei­zehn zur Aus­beu­tung, le Vo­reux, der Sie­ges­schacht, Crè­ve­coeur, Mi­rou, Sankt-Tho­mas, der Mag­da­le­nen­schacht, Feu­try-Can­tel und noch an­de­re; sechs für die För­de­rung und die Lüf­tung, wie Ré­quil­lart … Zehn­tau­send Ar­bei­ter; Bo­den­rech­te, die sich auf sie­ben­und­sech­zig Ge­mein­den er­stre­cken, eine För­de­rung von täg­lich fünf­tau­send Ton­nen; eine Ei­sen­bahn, die sämt­li­che Gru­ben ver­bin­det; und Werk­stät­ten und Fa­bri­ken! … O ja, Geld ist da! …«

Ein Rol­len von Hun­den über die Gerüs­te ließ den großen, gel­ben Gaul die Ohren spit­zen. Der Auf­zugs­kas­ten un­ten schi­en in­zwi­schen aus­ge­bes­sert zu sein; die Män­ner an der Win­de hat­ten ihre Ar­beit wie­der­auf­ge­nom­men. Wäh­rend der Kärr­ner sei­nen Gaul an­spann­te, um wie­der hin­ab­zu­fah­ren, sag­te er zu dem Tie­re in sanf­tem Tone:

»Ver­track­ter Faul­pelz, du sollst dich nicht ans Schwat­zen ge­wöh­nen! … Wenn Herr Hen­ne­beau wüss­te, wie du die Zeit ver­geu­dest!«

Eti­enne schau­te nach­denk­lich in die Nacht hin­aus und frag­te:

»Das Berg­werk ge­hört also Herrn Hen­ne­beau?«

»Nein,« er­klär­te der Alte, »Herr Hen­ne­beau ist nur der Ge­ne­ral­di­rek­tor; er wird eben­so be­zahlt wie wir.«

Der jun­ge Mann wies mit ei­ner Hand­be­we­gung in die un­er­mess­li­che, dunkle Fer­ne hin­aus und frag­te wei­ter:

»Wem ge­hört denn all dies?«

Doch Bon­ne­mort ward jetzt von ei­nem neu­en, der­ma­ßen hef­ti­gen An­fall er­grif­fen, dass er nicht zu Atem kom­men konn­te. Als er end­lich aus­ge­spien und den schwar­zen Schaum von sei­nen Lip­pen weg­ge­wischt hat­te, sprach er in den wie­der schär­fer ge­wor­de­nen Wind hin­aus:

»Wie? Wem all dies ge­hört? Man weiß es nicht; es ge­hört Leu­ten.«

Er wies in der Dun­kel­heit nach ei­nem un­be­stimm­ten Punk­te, nach ei­nem un­be­kann­ten, fer­nen Orte, be­völ­kert von den Leu­ten, für wel­che die Ma­heu seit hun­dert Jah­ren in den Berg­wer­ken ar­bei­te­ten. Sei­ne Stim­me hat­te eine an­däch­ti­ge Scheu an­ge­nom­men; es war, als spre­che er von ei­nem un­nah­ba­ren Hei­lig­tum, wo der ge­sät­tig­te Gott im Ver­bor­ge­nen weil­te, dem sie Leib und Le­ben hin­ga­ben, und den sie noch nie­mals ge­se­hen hat­ten.

»Wenn man sich doch we­nigs­tens mit Brot sat­tes­sen könn­te«, sag­te Eti­enne zum drit­ten Male, ohne schein­ba­ren Über­gang.

»Ach ja, wenn man im­mer Brot zu es­sen hät­te, es wäre zu schön! …«

Das Pferd hat­te sich in Gang ge­setzt, auch der Kärr­ner ver­schwand mit dem schlep­pen­den Gang ei­nes In­va­li­den. Der Hand­lan­ger bei der Ent­lee­rungs­vor­rich­tung hat­te sich nicht ge­rührt; er saß zu ei­ner Ku­gel zu­sam­men­ge­rollt da, das Kinn zwi­schen den Kni­en, und starr­te mit den großen, mat­ten Au­gen ins Lee­re.

Eti­enne hat­te sein Bün­del wie­der an sich ge­nom­men, ent­fern­te sich aber noch nicht. Er fühl­te, wie ihm der Rücken in dem ei­si­gen Win­de er­starr­te, wäh­rend sei­ne Brust vor dem großen Koh­len­feu­er briet. Vi­el­leicht wür­de er doch gut tun, sich an die Berg­werks­ver­wal­tung zu wen­den; der Alte war viel­leicht nicht recht un­ter­rich­tet; über­dies füg­te er sich in sein Schick­sal und war be­reit, jeg­li­che Ar­beit an­zu­neh­men. Wo­hin soll­te er ge­hen, und was soll­te aus ihm wer­den in die­ser durch den Ar­beits­man­gel aus­ge­hun­ger­ten Ge­gend? Soll­te er hin­ter ei­ner Mau­er ver­re­cken wie ein ver­lau­fe­ner Hund? Doch, hielt ein Zö­gern ihn zu­rück, eine Angst vor dem Vo­reux­schach­te in­mit­ten die­ser kah­len, in tie­fe Nacht ge­tauch­ten Ebe­ne. Der Wind schi­en mit je­dem Sto­ße stär­ker zu wer­den, als bla­se er von ei­nem im­mer mehr sich er­wei­tern­den Ho­ri­zon­te her. An dem nacht­to­ten Him­mel woll­te noch im­mer kein Mor­gen­däm­mer sich zei­gen; nur die Hochö­fen und die Koksö­fen flamm­ten in der Fins­ter­nis mit blut­ro­tem Schein, ohne die Fer­ne zu er­hel­len. Der Vo­reux­schacht, in sei­nem Lo­che hockend wie ein bös­ar­ti­ges Tier, duck­te sich noch mehr und at­me­te tiefer und län­ger, gleich­sam be­drückt durch sei­ne müh­sa­me Ver­dau­ung von Men­schen­fleisch.


  1. Gu­ter­tod  <<<

Zweites Kapitel

In­mit­ten der Ge­trei­de- und Rü­ben­fel­der schlief das Gru­ben­dorf der Zwei­hun­dert­und­vier­zig in der fins­te­ren Nacht. Man un­ter­schied nur un­deut­lich die vier Blö­cke von klei­nen, Rücken an Rücken ste­hen­den Häu­schen, gleich den Ka­ser­nen oder Spi­tä­lern geo­me­trisch ge­nau und par­al­lel an­ge­leg­te Blö­cke, durch drei brei­te Zwi­schen­räu­me ge­trennt, die in gleich große Gärt­chen ab­ge­teilt wa­ren. Auf der ver­las­se­nen Ho­chebe­ne hör­te man nichts als das Heu­len des Win­des, der in den ab­ge­ris­se­nen Dräh­ten der Ein­frie­di­gun­gen sich ver­fing.

In der Fa­mi­lie Ma­heu, die das Häu­schen Num­mer 16 im zwei­ten Block be­wohn­te, rühr­te sich noch nichts. Die ein­zi­ge Stu­be des ers­ten Stock­wer­kes lag in tie­fe Fins­ter­nis gehüllt, die gleich­sam mit ih­rem Ge­wich­te den Schlaf der We­sen nie­der­hielt, die man zu­hauf, of­fe­nen Mun­des, von Mü­dig­keit er­drückt mein­te da­lie­gen zu se­hen. Trotz der schnei­den­den Käl­te, die drau­ßen herrsch­te, lag hier in der schwe­ren Luft eine le­ben­di­ge Wär­me, jene er­sti­cken­de Schwü­le, die man selbst in den sorg­fäl­tigst ge­rei­nig­ten Stu­ben an­trifft, wenn sie nach Men­schen­fleisch rie­chen.

Auf der Kuckucks­uhr der im Erd­ge­schoss ge­le­ge­nen Wohn­stu­be schlug es die vier­te Mor­gen­stun­de. Nichts rühr­te sich noch, man konn­te zar­tes Atem­ho­len ver­neh­men, be­glei­tet von dem ge­räusch­vol­le­ren Atem­ho­len zwei­er Schnar­cher. Plötz­lich rich­te­te Ka­tha­ri­na sich auf. In ih­rer Schlaf­trun­ken­heit hat­te sie gleich­sam aus Ge­wohn­heit die durch den Fuß­bo­den her­auf­tö­nen­den vier Schlä­ge der Uhr ge­zählt, ohne die Kraft zu fin­den, vollends zu er­wa­chen. Dann zog sie die Bei­ne un­ter der Bett­de­cke her­vor, tas­te­te einen Au­gen­blick her­um, rieb end­lich, ein Zünd­hölz­chen an und mach­te Licht. Doch blieb sie sit­zen; ihr Kopf war so schwer, dass er zwi­schen den Schul­tern zu­rück­fiel in ei­nem un­über­wind­li­chen Be­dürf­nis­se, den Schlaf fort­zu­set­zen.

Jetzt be­leuch­te­te die Ker­ze die vier­e­cki­ge, mit zwei Fens­tern ver­se­he­ne Stu­be, die von drei Bet­ton fast ganz an­ge­füllt war. Es stan­den da au­ßer­dem ein Spind, ein Tisch und zwei Stüh­le von al­tem Nuss­holz, de­ren dunk­ler, an­ge­rauch­ter Ton sich scharf von den hell­gelb ge­tünch­ten Mau­ern ab­hob. Kein wei­te­res Ein­rich­tungs­stück; die Klei­der hin­gen an Nä­geln. Auf den Flie­sen stand ein Krug ne­ben ei­ner ro­ten ir­de­nen Schüs­sel, die als Wasch­be­cken diente. In dem Bet­te zur Lin­ken schlief Za­cha­ri­as, der äl­tes­te Sohn, ein Bur­sche von ein­und­zwan­zig Jah­ren, mit sei­nem Bru­der Jo­han­nes, der eben sein elf­tes Jahr vollen­de­te. In dem Bet­te zur Rech­ten schlie­fen zwei klei­ne­re Kin­der, Leo­no­re und Hein­rich, die ers­te­re sechs, der letz­te­re vier Jah­re alt; ein­an­der in den Ar­men hal­tend, la­gen sie da. Ka­tha­ri­na teil­te das drit­te Bett mit ih­rer Schwes­ter Al­zi­re, die für ihre neun Jah­re so schwäch­lich war, dass Ka­the­ri­na sie ne­ben sich kaum ge­fühlt hät­te, wäre nicht der Hö­cker der Klei­nen ge­we­sen, den die­se ihr in die Sei­te stieß. Die mit Glas­schei­ben ver­se­he­ne Tür stand of­fen; man be­merk­te den Flur­gang, eine Art Schlauch, wo Va­ter und Mut­ter ein vier­tes Bett ein­nah­men, vor dem die Wie­ge der jüngs­ten Toch­ter stand, die Estel­le hieß und erst drei Mo­na­te zähl­te.

Ka­tha­ri­na mach­te in­zwi­schen eine ver­zwei­fel­te An­stren­gung. Sie streck­te sich und krümm­te bei­de Hän­de in ih­ren ro­ten Haa­ren, die strup­pig auf ihre Stirn und ih­ren Na­cken nie­der­fie­len. Schmäch­tig für ihre fünf­zehn Jah­re, zeig­te sie von ih­ren Glie­dern au­ßer­halb der en­gen Hül­le, die ihr Hemd bil­de­te, nur bläu­li­che Füße, die von der Koh­le gleich­sam tä­to­wiert wa­ren, und zar­te Arme, de­ren Milch­wei­ße sich leb­haft von der blei­chen Far­be des Ge­sich­tes ab­hob, das von dem fort­wäh­ren­den Wa­schen mit schwar­zer Sei­fe schon ver­dor­ben war. Ein letz­tes Gäh­nen öff­ne­te ih­ren et­was groß ge­ra­te­nen Mund mit präch­ti­gen Zäh­nen, die in ei­nem blut­leer blei­chen Zahn­fleische sa­ßen; in ih­ren grau­en Au­gen lag noch der ver­hal­te­ne Schlaf, und sie zeig­te einen Aus­druck des Schmer­zes und der Er­schöp­fung, der ihre gan­ze nack­te Ge­stalt zu schwel­len schi­en.

Doch jetzt ward ein Ge­brum­me aus dem Flur hör­bar; Ma­heu stam­mel­te mit mü­der Stim­me:

»Alle Wet­ter, es ist Zeit auf­zu­ste­hen! … Hast du Licht ge­macht, Ka­tha­ri­na?«

»Ja, Va­ter; es hat un­ten vier Uhr ge­schla­gen.«

»Spu­te dich doch, Nichts­nutz! Hät­test du ges­tern am Sonn­tag we­ni­ger ge­tanzt, dann hät­test du uns frü­her we­cken kön­nen. Ist das ein Fau­len­zer­le­ben!«

Er brumm­te wei­ter; doch der Schlaf über­mann­te ihn; sei­ne Vor­wür­fe ver­wirr­ten sich und gin­gen schließ­lich in ei­nem neu­en Schnar­chen un­ter.

Im Hem­de und mit nack­ten Fü­ßen ging das Mäd­chen in der Stu­be hin und her. Als sie am Bet­te Hein­richs und Leo­no­res vor­bei­kam, warf sie die her­ab­ge­glit­te­ne De­cke über sie; sie er­wach­ten nicht aus ih­rem fes­ten Kin­der­schla­fe. Al­zi­re, die mit of­fe­nen Au­gen dalag, hat­te sich wort­los um­ge­wen­det, um den noch war­men Platz ih­rer äl­te­ren Schwes­ter ein­zu­neh­men.

»Los, Za­cha­ri­as! Und du auch, Jo­han­nes!« rief Ka­tha­ri­na und blieb vor ih­ren Brü­dern ste­hen, die mit der Nase im Kopf­kis­sen wei­ter schlie­fen.

Sie muss­te den Gro­ßen bei der Schul­ter fas­sen und schüt­teln; als er vor sich hin fluch­te, ent­schloss sie sich, ih­nen die De­cke weg­zu­zie­hen. Sie fand es drol­lig und be­gann zu la­chen, als sie die bei­den Jun­gen mit den nack­ten Bei­nen stram­peln sah.

»Das ist blöd, lass mich in Frie­den!« brumm­te Za­cha­ri­as mür­risch, nach­dem er sich auf­ge­setzt hat­te. »Ich mag mag sol­che Spa­ße nicht … Herr­gott, dass man schon wie­der auf­ste­hen soll.«

Er war ein ma­ge­rer, schlot­te­ri­ger Kerl mit ei­nem lan­gen Ge­sich­te, in dem ei­ni­ge spär­li­che Bart­stop­peln sa­ßen, und hat­te die gel­ben Haa­re und die blut­lee­re Bläs­se, die der gan­zen Fa­mi­lie ei­gen wa­ren. Sein Hemd hat­te sich bis zum Bau­che hin­auf ver­scho­ben, er zog es her­ab nicht aus Scham­haf­tig­keit, son­dern weil er fror.

»Es hat un­ten vier Uhr ge­schla­gen«, wie­der­hol­te Ka­tha­ri­na. »Auf, auf! Der Va­ter wird bös.«

»Scher’ dich zum Teu­fel! Ich will schla­fen«, sag­te Jo­han­nes, zog die Bei­ne an und schloss die Au­gen.

Sie lach­te wie­der gut­mü­tig. Er war so klein und sei­ne Glie­der so schwäch­lich mit ih­ren von den Skro­feln an­ge­schwol­le­nen Ge­len­ken, dass sie ihn mit leich­ter Mühe in ihre Arme nahm. Al­lein er zap­pel­te mit den Bei­nen; sei­ne blei­che, fal­ti­ge Af­fen­frat­ze mit den grü­nen Au­gen, die durch sei­ne großen Ohren noch brei­ter wur­de, ward ganz bleich in ohn­mäch­ti­ger Wut. Er sag­te nichts, biss sie aber in die rech­te Brust.

»Bö­ser Bube!« brumm­te sie, einen Schrei un­ter­drückend und den Jun­gen auf die Erde set­zend.

Al­zi­re war nicht wie­der ein­ge­schla­fen; sie hat­te die De­cke bis zum Kinn hin­auf­ge­zo­gen und lag still­schwei­gend da. Mit den klu­gen Au­gen ei­nes Krüp­pels folg­te sie den Be­we­gun­gen ih­rer Schwes­ter und ih­rer Brü­der, die sich an­klei­de­ten. Doch jetzt brach, ein neu­er Streit an der Wasch­schüs­sel aus; die Jun­gen stie­ßen das Mäd­chen weg, weil sie sich zu lan­ge wusch. Die Hem­den flo­gen über die Köp­fe, wäh­rend sie noch schlaf­trun­ken sich wu­schen, ohne jede Scham, mit dem ru­hi­gen Be­ha­gen ei­ner Tracht jun­ger Hun­de, die zu­sam­men auf­wach­sen. Ka­tha­ri­na war üb­ri­gens zu­erst fer­tig. Sie schlüpf­te in die Berg­manns­ho­se, leg­te die Lein­wand­ja­cke an, knüpf­te die blaue Hau­be um den Haar­kno­ten und glich in die­ser sau­be­ren Werk­tags­ge­wan­dung ei­nem klei­nen Mann. Nichts war von ih­rem Ge­schlecht üb­rig­ge­blie­ben, als ein leich­tes Wie­gen der Hüf­ten.

»Wenn der Alte heim­kommt, wird er sich freu­en, wenn er das Bett so zer­wor­fen an­trifft«, sag­te Za­cha­ri­as bos­haft. »Ich wer­de ihm er­zäh­len, dass du es ge­tan hast.«

Der Alte war der Groß­va­ter, Bon­ne­mort, der bei Nacht ar­bei­te­te und bei Tage schlief. Das Bett kühl­te denn auch nie aus; es schlief im­mer je­mand dar­in.

Ohne zu ant­wor­ten, hat­te sich Ka­tha­ri­na dar­an ge­macht, das Bett in Ord­nung zu brin­gen. Doch seit ei­ner Wei­le wur­den hin­ter der Mau­er aus der Nach­bar­schaft Geräusche ver­nehm­bar. Die­se Zie­gel­bau­ten, von der Ge­sell­schaft aufs spar­sams­te her­ge­stellt, wa­ren so dünn, dass man je­den Laut hin­durch hör­te. Man leb­te eng zu­sam­men­ge­drängt von ei­nem Ende des Or­tes bis zum an­de­ren; nichts von dem in­ti­men Le­ben blieb ver­bor­gen, selbst vor den Kin­dern nicht. Ein schwe­rer Tritt hat­te eine Trep­pe in Er­schüt­te­rung ge­bracht; dann hör­te man einen wei­chen Fall, dem ein Seuf­zer der Er­leich­te­rung folg­te.

»Schön«, sag­te Ka­tha­ri­na. »Le­vaque geht zur Gru­be, und Bou­te­loup geht zur Frau Le­vaque.«

Jo­han­nes ki­cher­te, und auch Al­zi­res Au­gen fun­kel­ten leb­haf­ter. Je­den Mor­gen be­lus­tig­ten sie sich in die­ser Wei­se über die be­nach­bar­te Ehe zu drei­en; es war ein Häu­er, der ei­nem Erd­ar­bei­ter Un­ter­kunft gab; in die­ser Wei­se hat­te die Frau zwei Män­ner, den einen bei Nacht, den än­dern bei Tag.

»Phi­lo­me­ne hus­tet«, be­gann Ka­tha­ri­na wie­der und spitz­te die Ohren.

Sie sprach von der Äl­tes­ten der Ehe­leu­te Le­vaque, ei­nem großen Mäd­chen von neun­zehn Jah­ren, der Ge­lieb­ten Za­cha­rias’, von dem sie schon zwei Kin­der hat­te. Sie war üb­ri­gens so schwach auf der Brust, dass man sie am Sich­tungs­werk be­schäf­tig­te, weil sie zur Ar­beit in der Gru­be nicht taug­te.

»Frei­lich, Phi­lo­me­ne!« ant­wor­te­te Za­cha­ri­as. »Die schläft jetzt. Es ist doch eine Schwei­ne­rei, bis sechs Uhr zu schla­fen.«

Er schlüpf­te in sei­ne Hose; da schi­en ihm ein Ein­fall zu kom­men, und er öff­ne­te ein Fens­ter. Drau­ßen herrsch­te noch im­mer tie­fe Dun­kel­heit, und das Dorf er­wach­te all­mäh­lich; zwi­schen den Brett­chen der Rol­la­den sah man nach­ein­an­der die Lich­ter auf­blit­zen. Da gab es einen neu­en Zank; Za­cha­ri­as neig­te sich hin­aus, um zu spä­hen, ob er nicht aus dem ge­gen­über­ge­le­ge­nen Hau­se der Ehe­leu­te Pier­ron den Obe­r­auf­se­her des Vo­reux­schach­tes weg­ge­hen sehe, den man im Ver­dach­te hat­te, dass er bei der Frau Pier­ron schla­fe; wäh­rend Ka­tha­ri­na ihm zu­rief, dass der Mann ges­tern sei­nen Ta­ges­dienst in der Gru­be ge­habt habe, und dass folg­lich Herr Dan­saert die­se Nacht nicht da ge­schla­fen ha­ben kön­ne. Die Luft drang eis­kalt her­ein; die bei­den er­ei­fer­ten sich; je­der trat für die Rich­tig­keit sei­ner Er­kun­di­gun­gen ein, als plötz­lich ein hef­ti­ges Wei­nen los­brach. Es war Estel­le, die in ih­rer Wie­ge fror.

Ma­heu er­wach­te au­gen­blick­lich wie­der. Was hat­te er denn in den Kno­chen, dass er wie­der ein­ge­schla­fen war wie ein Tau­ge­nichts? Er fluch­te so wild, dass die Kin­der ne­ben­an kei­nen Laut mehr wag­ten. Za­cha­ri­as und Jo­han­nes be­en­de­ten mit mü­den Hän­den das Wa­schen. Al­zi­re schau­te noch im­mer mit weit of­fe­nen Au­gen. Die bei­den Klei­nen, Leo­no­re und Hein­rich, hat­ten trotz des Lär­mens sich nicht ge­rührt, son­dern schlie­fen, ein­an­der in den Ar­men lie­gend, mit dem­sel­ben lei­sen Atem wei­ter.

»Ka­tha­ri­na, gib mir die Ker­ze!« rief Ma­heu.

Sie war eben mit dem Zu­knöp­fen ih­rer Ja­cke fer­tig ge­wor­den und trug die Ker­ze nach dem Flur, wäh­rend ihre Brü­der bei dem we­ni­gen Lich­te, das durch die Glas­tür fiel, ihre Klei­der zu­sam­men­such­ten. Ihr Va­ter stieg aus dem Bet­te. Doch sie hielt sich nicht län­ger auf; mit di­cken Woll­st­rümp­fen an den Fü­ßen stieg sie tas­tend hin­un­ter, um den Kaf­fee zu be­rei­ten. Die Holz­schu­he der gan­zen Fa­mi­lie stan­den dort un­ter dem Ess­schrank.

»Wirst du schwei­gen, elen­der Wurm?« rief Ma­heu, den das fort­wäh­ren­de Ge­schrei Estel­les er­bit­ter­te.

Er war klein wie der alte Bon­ne­mort und glich ihm ins Fet­te über­tra­gen mit sei­nem star­ken Kop­fe, sei­nem plat­ten und fah­len Ge­sich­te un­ter gel­ben, kurz­ge­schnit­te­nen Haa­ren. Das Kind heul­te jetzt noch är­ger, er­schreckt durch die großen, kräf­ti­gen Arme, die über sei­nem Kop­fe fuch­tel­ten.

»Lass sie in Frie­den; du weißt doch, dass sie nicht still sein will«, sag­te sei­ne Frau und streck­te sich mit­ten im Bet­te aus.

Auch sie war eben er­wacht und be­klag­te sich; es sei doch zu dumm, dass man nie­mals die vol­le Nacht durch­schla­fen kön­ne. Konn­ten sie denn nicht mit we­ni­ger Geräusch weg­ge­hen? In die Bett­de­cke ein­ge­wi­ckelt, zeig­te sie nichts als ihr lan­ges Ge­sicht mit den gro­ben Zü­gen ei­ner et­was schwer­fäl­li­gen Schön­heit, mit neun­und­drei­ßig Jah­ren schon ver­un­stal­tet durch ihr Le­ben voll Müh’ und Not und durch die sie­ben Kin­der, die sie ge­bo­ren. Die Au­gen auf die Zim­mer­de­cke ge­rich­tet, sprach sie mit ge­dehn­ter Stim­me, wäh­rend ihr Mann sich an­klei­de­te. We­der er noch sie ach­te­te auf die Klei­ne, die sich schier den Hals aus­schrie.

»Ich muss dir sa­gen, dass ich kei­nen Sou im Hau­se habe, und es ist heut’ erst Mon­tag; sechs Tage dau­ert es noch bis zum Fünf­zehn­ten des Mo­nats. Ich weiß nicht, wie wir uns durch­schla­gen sol­len. Ihr bringt alle mit­ein­an­der neun Fran­ken; wie soll ich da aus­kom­men? Wir sind un­ser zehn im Hau­se.«

»Oho, neun Fran­ken?« wand­te Ma­heu ein. »Ich und Za­cha­ri­as je drei, das macht sechs; Ka­tha­ri­na und der Va­ter je zwei, das macht vier; sechs und vier sind zehn; Jo­han­nes bringt einen, macht elf Fran­ken.«

»Ja, elf; aber du rech­nest die Sonn­ta­ge nicht und die Tage, an de­nen es kei­ne Ar­beit gibt. Nie mehr als neun, hörst du?«

Er such­te sei­nen Le­der­gurt am Bo­den und schwieg. Dann rich­te­te er sich auf und sag­te:

»Be­kla­ge dich nicht, Weib; ich bin noch stark ge­nug. Schon mehr als ei­ner muss­te mit zwei­und­vier­zig Jah­ren schon aus der Gru­be her­auf.«

»Das ist mög­lich, Al­ter, aber da­mit ha­ben wir noch kein Brot. Was fan­ge ich an? Hast du nichts?«

»Ich habe zwei Sous.«

»Be­hal­te sie, um einen Schop­pen zu trin­ken … Mein Gott, was fan­ge ich an? Sechs Tage, eine Ewig­keit! … Wir schul­den Mai­grat sech­zig Fran­ken; er hat mir vor­ges­tern die Tür ge­wie­sen. Das soll mich aber nicht hin­dern, wie­der zu ihm zu ge­hen. Wenn er sich je­doch wei­gert, uns zu pum­pen …«

So fuhr die Ma­heu fort mit be­küm­mer­ter Stim­me und un­be­weg­li­chem Kop­fe; vor dem schwa­chen Lich­te der Ker­ze schloss sie von Zeit zu Zeit die Au­gen. Der Schrank sei leer, sag­te sie, und die Klei­nen ver­lang­ten Brot­schnit­ten zum Kaf­fee, der eben­falls aus­ge­gan­gen. Das lee­re Was­ser ma­che nur Bauch­zwi­cken. Dann er­zähl­te sie von den lan­gen Ta­gen, die man da­mit zu­brin­ge, dass man mit ge­koch­ten Kohl­blät­tern den Hun­ger täu­sche. All­mäh­lich hat­te sie die Stim­me er­hö­hen müs­sen, weil Estel­les Ge­heul ihre Wor­te über­tön­te. Das Ge­schrei der Klei­nen ward un­er­träg­lich. Ma­heu schi­en es plötz­lich zu hö­ren; au­ßer sich vor Wut nahm er das Kind aus der Wie­ge und schleu­der­te es auf das Bett der Mut­ter mit den Wor­ten:

»Da, nimm sie, denn ich wür­de sie zer­tre­ten … Don­ner Got­tes über den Balg! Das sauft an der Mut­ter­brust, dem geht nichts ab, und es gröhlt är­ger als die an­de­ren!«

Estel­le hat­te in der Tat zu sau­gen be­gon­nen; sie war un­ter der De­cke ver­schwun­den und in der Bett­wär­me still ge­wor­den; man hör­te nichts mehr als das gie­ri­ge Lut­schen ih­rer Lip­pen.

»Ha­ben die Bür­gers­leu­te von Pio­lai­ne dir nicht ge­sagt, dass du sie be­su­chen sollst?« frag­te der Mann nach ei­ner Wei­le.

Die Frau spitz­te die Lip­pen mit ei­ner Mie­ne mut­lo­sen Zwei­fels.

»Ja, sie sind mir be­geg­net«, ant­wor­te­te sie. »Sie brin­gen den ar­men Kin­dern Klei­der … Ich wer­de heut’ mor­gen Leo­no­re und Hein­rich hin­füh­ren. Vi­el­leicht ge­ben sie mir hun­dert Sous.«

Wie­der trat ein Schwei­gen ein. Ma­heu war fer­tig. Er blieb einen Au­gen­blick un­be­weg­lich, dann schloss er mit sei­ner dump­fen Stim­me:

»Was willst du? Es ist ein­mal so: brin­ge, wie du kannst, die Abend­sup­pe fer­tig. Das Schwat­zen führt zu nichts; es wird bes­ser sein, wenn ich zur Ar­beit gehe.«

»Ge­wiss«, sag­te die Ma­heu. »Bla­se das Licht aus; ich kann mir auch, im Fins­tern den Kopf zer­bre­chen.« Er blies die Ker­ze aus. Za­cha­ri­as und Jo­han­nes stie­gen schon hin­un­ter, er folg­te ih­nen; die höl­zer­ne Trep­pe krach­te un­ter sei­nen schwe­ren, mit wol­le­nen St­rümp­fen be­klei­de­ten Fü­ßen. Die Stu­be und der Flur­gang hin­ter ih­nen la­gen jetzt wie­der in Fins­ter­nis. Die Kin­der schlie­fen; Auch Al­zi­re hat­te wie­der die Au­gen ge­schlos­sen. Nur die Mut­ter schau­te mit of­fe­nen Au­gen in die Fins­ter­nis, wäh­rend an ih­rer hän­gen­den Brust ei­nes er­schöpf­ten Wei­bes Estel­le brumm­te wie ein jun­ges Kätz­chen.

In der Wohn­stu­be im Erd­ge­schoss be­schäf­tig­te sich Ka­tha­ri­na zu­nächst mit dem Feu­er. Es stand ein Ka­min aus Guß­ei­sen da mit ei­nem Rost in der Mit­te und ei­nem Back­ofen auf je­der Sei­te. In die­sem Ka­min brann­te un­auf­hör­lich ein Koh­len­feu­er. Die Ge­sell­schaft ver­teil­te mo­nat­lich acht Hek­to­li­ter Ab­fall­koh­le an jede Fa­mi­lie. Die­ser auf den Stra­ßen zu­sam­men­ge­le­se­ne Staub ent­zün­de­te sich nur schwer. Da­rum deck­te das Mäd­chen je­den Abend das Feu­er mit Asche zu; am Mor­gen brauch­te sie nur um­zu­rüh­ren und ei­ni­ge aus dem Schmutz sorg­fäl­tig her­aus­ge­such­te Koh­len­stück­chen auf­zu­le­gen. Dann setz­te sie einen Koch­topf auf den Rost und hock­te vor dem Spei­se­schrank nie­der.

Es war eine ziem­lich ge­räu­mi­ge Stu­be, die das gan­ze Erd­ge­schoss ein­nahm; sie war ap­fel­grün ge­stri­chen und von hol­län­di­scher Sau­ber­keit mit den blank ge­scheu­er­ten und mit fei­nem wei­ßen San­de be­streu­ten Flie­sen. Au­ßer dem Spei­se­schrank von ge­fir­nis­tem Tan­nen­hol­ze be­stand die Ein­rich­tung aus ei­nem Ti­sche und Ses­seln von dem­sel­ben Hol­ze. An den Mau­ern hin­gen grell ge­mal­te Bil­der, von der Ge­sell­schaft ge­schenkt, sie stell­ten den Kai­ser und die Kai­se­rin dar, wei­ter­hin Sol­da­ten und Hei­li­ge in gol­de­nen Ge­wän­dern, die von der hel­len Kahl­heit der Mau­ern ab­sta­chen. An­de­rer Zier­rat fand sich nicht in der Stu­be als eine Schach­tel von ro­sa­far­be­nem Kar­ton­pa­pier auf dem Spei­se­schrank und die Kuckucks­uhr in bunt­be­mal­tem Kas­ten, de­ren hel­les Tick­tack die Lee­re der ho­hen Stu­be aus­zu­fül­len schi­en. Ne­ben der Tür, die sich auf die Trep­pe öff­ne­te, war noch eine zwei­te Tür, die in den Kel­ler führ­te. Trotz der Rein­lich­keit verd­arb ein seit dem Abend ein­ge­schlos­se­ner Ge­ruch von ver­brann­ten Zwie­beln die Luft, die­se hei­ße, schwe­re, stets von ei­nem schar­fen Koh­len­ge­ruch ge­sät­tig­te Luft.

Ka­tha­ri­na hock­te sin­nend vor dem of­fe­nen Spei­se­schrank. Es war nichts ge­blie­ben als ein Stück Brot, wei­ßer Käse zur Ge­nü­ge, aber kaum ein Krüm­chen But­ter; und es galt, vier But­ter­bro­te zu­rechtzu­ma­chen. End­lich ent­schloss sie sich, schnitt die Brot­stücke, be­deck­te ei­nes mit Käse, be­strich ein zwei­tes mit But­ter und leg­te die bei­den zu­sam­men. Das war der »Zie­gel«, die Dop­pel­schnit­te, die je­den Mor­gen in die Gru­be mit­ge­nom­men wur­de. Bald la­gen die vier »Zie­gel« ne­ben­ein­an­der auf dem Ti­sche, mit größ­ter Ge­nau­ig­keit auf­ge­teilt, von dem größ­ten, der für den Va­ter be­stimmt war, bis zu dem kleins­ten, den Jo­han­nes be­kam.

Ka­tha­ri­na, schein­bar ganz bei ih­rer Ar­beit, dach­te über die Ge­schich­ten nach, die Za­cha­ri­as von dem Obe­r­auf­se­her und der Frau Pier­ron er­zähl­te. Sie öff­ne­te die Haus­tür zur Hälf­te und warf einen Blick hin­aus. Der Wind blies noch im­mer; an den nied­ri­gen Häu­ser­rei­hen des Dor­fes flamm­ten im­mer mehr Lich­ter auf, und das un­deut­li­che Ge­tüm­mel der er­wa­chen­den Be­völ­ke­rung mach­te sich ver­nehm­bar. Tü­ren wur­den ge­öff­net und ge­schlos­sen; ein­zel­ne dunkle Rei­hen von Ar­bei­tern zo­gen durch die Nacht da­hin. Sie war doch recht dumm, sich ei­ner Er­käl­tung aus­zu­set­zen, da ja der Häu­er ge­wiss zu Hau­se schlief, bis er um sechs Uhr sei­ne Ar­beit auf­neh­men muss­te. Aber sie ver­harr­te den­noch in ih­rer hocken­den Stel­lung und be­ob­ach­te­te das Haus, das auf der an­de­ren Sei­te hin­ter den Gär­ten lag. Jetzt ging die Türe auf, und ihre Neu­gier­de ward wie­der rege. Doch das konn­te nur Ly­dia sein, die Toch­ter der Pier­ron­schen Ehe­leu­te, die zur Gru­be ging.

Ein zi­schen­des Geräusch ver­an­lass­te sie, den Kopf zu wen­den. Sie schloss die Tür und eil­te zum Her­de: das Was­ser koch­te, floss über und droh­te das Feu­er zu ver­lö­schen.

Es war kein Kaf­fee mehr da: sie muss­te sich be­gnü­gen, Was­ser auf den Satz von ges­tern zu schüt­ten. Dann süß­te sie den In­halt der Kaf­fee­kan­ne mit Fa­rin­zu­cker. Eben ka­men ihr Va­ter und ihre bei­den Brü­der her­un­ter.

»Alle Wet­ter!« sag­te Za­cha­ri­as, als er die Nase in den Napf ge­steckt hat­te, »der Trank wird uns nicht zu Kopf stei­gen.«

Ma­heu zuck­te re­si­gniert die Ach­seln.

»Bah!« sag­te er; »man hat we­nigs­tens et­was War­mes im Lei­be, und das tut wohl.«

Jo­han­nes hat­te die Bro­sa­men ne­ben den Schnit­ten zu­sam­men­ge­scharrt und in sei­nen Napf ge­wor­fen. Nach­dem sie ge­trun­ken, goss Ka­tha­ri­na den Rest des Kaf­fees in die ble­cher­nen Feld­fla­schen. Alle vier stan­den in dem fah­len Lich­te der rau­chi­gen Ker­ze und stürz­ten in al­ler Hast den Trunk hin­un­ter.

»Sind wir end­lich fer­tig?« frag­te der Va­ter. »Man möch­te glau­ben, dass wir von un­se­ren Ren­ten le­ben.«

Doch jetzt wur­de von der Trep­pe her, de­ren Tür sie of­fen ge­las­sen hat­ten, eine Stim­me ver­nehm­bar. Frau Ma­heu rief:

»Nehmt al­les Brot; ich habe noch einen Rest Nu­deln für die Kin­der üb­rig.«

»Ja, ja«, ant­wor­te­te Ka­tha­ri­na.

Sie hat­te das Feu­er wie­der zu­ge­deckt und in ei­ner Ecke des Ros­tes einen Rest Sup­pe warm­ge­stellt, den der Groß­va­ter, der um sechs Uhr kam, vor­fin­den soll­te. Je­der hol­te un­ter dem Ess­schrank sei­ne Holz­schu­he her­vor, häng­te die Feld­fla­sche um und schob die But­ter­schnit­te in den Rücken zwi­schen Hemd und Ja­cke. Dann bra­chen sie auf, die Män­ner vor­aus, das Mäd­chen hin­ter­drein, nach­dem es die Ker­ze aus­ge­löscht und den Schlüs­sel um­ge­dreht. Das Haus ver­fiel wie­der in Stil­le und Dun­kel­heit.

»Wir ge­hen zu­sam­men«, sag­te ein Mann, der die Türe des Nach­bar­hau­ses schloss.

Es war Le­vaque mit sei­nem Sohn Be­bert, ei­nem Jun­gen von zwölf Jah­ren, der mit Jo­han­nes eng be­freun­det war. Ka­tha­ri­na war er­staunt, un­ter­drück­te ein Lä­cheln und flüs­ter­te Za­cha­ri­as ins Ohr: »Wie? Bou­te­loup war­te­te nicht ein­mal, bis der Mann fort war?«

Die Lich­ter im Dor­fe er­lo­schen jetzt nach­ein­an­der. Eine letz­te Tür fiel ins Schloss, dann ward al­les wie­der still; die Frau­en und Kin­der setz­ten in den be­que­mer ge­wor­de­nen Bet­ten ih­ren Schlaf fort. Vom Dor­fe bis zu dem pus­ten­den Vo­reux-Schach­te be­weg­te sich ein lang­sa­mer Zug von Schat­ten, es war der Auf­bruch der Koh­len­ar­bei­ter zum Wer­ke, die ihre Schul­tern da­hin­scho­ben und ihre Arme, mit de­nen sie nichts an­zu­fan­gen wuss­ten, über die Brust kreuz­ten, wäh­rend der Brot­vor­rat auf dem Rücken ei­nes je­den einen klei­nen Hö­cker bil­de­te. Bloß mit dün­ner Lein­wand be­klei­det, zit­ter­ten sie in der Käl­te, ohne sich des­halb mehr zu be­ei­len; in re­gel­lo­ser Wei­se zo­gen sie mit dem Ge­trap­pel ei­ner Her­de längs des We­ges hin.

Drittes Kapitel

Eti­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­