Elke Pistor, Jahrgang 67. In Gemünd in der Eifel aufgewachsen, geprägt und der Region bis heute eng verbunden. Abitur in Schleiden. Studium in Köln. Nach kurzem Zwischenstopp am Niederrhein lebt sie heute in Köln, arbeitet als freie Seminartrainerin in der Erwachsenenbildung und leitet Schreibworkshops.
Ihrem Hang zu den Abgründen der menschlichen Seele lässt sie seit 2007 in Kurzkrimis und mörderisch bösen Geschichten freien Lauf.
»Gemünder Blut« ist ihr erster Kriminalroman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-017-9
Eifel Krimi
Originalausgabe
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Für Heike
»Alles kommt zu dem, der warten kann!«
Afrikanisches Sprichwort
EINS
Der König schritt voran. An seinem Arm die Königin. Es folgten die Minister mit Damen, der Ortsvorsteher und der Pfarrer. Die Fahnen der Kompanien wehten im Wind, zur Hälfte aufgerichtet. Es war heiß. Der Gemünder Schützenzug bewegte sich wie die Fata Morgana einer Karawane am Rande der Festwiese entlang. Stumm. Nur unterbrochen durch das Klirren der Säbel an den Uniformen und vereinzeltes Frauenlachen.
An der Bordsteinkante zur Hauptstraße verfing sich die Königin im Stoff ihres Abendkleides, strauchelte und ging in die Knie. Die Menschen am Straßenrand raunten. Niemand kam ihr zur Hilfe. Ohne eine Miene zu verziehen, stand sie auf und glättete ihr Kleid. Den Riss im Taft ihrer Robe, durch den Stücke des Reifrocks zu sehen waren, ignorierte sie.
Der König schritt voran. Seine Orden klimperten. Das Königspaar und sein Gefolge stellten sich in der Mitte der Straße auf – Soldaten auf dem Exerzierplatz –, die Reihe wie an einer Schnur ausgerichtet, reckten die Hälse, strafften den Rücken. Bereit für die ehrenwerte Parade.
Die Königin öffnete ihre Handtasche und zog eine Sicherheitsnadel aus einer Mappe mit Nähzeug.
Als die Musik einsetzte und die Fahnen, Uniformen und Musikkapellen endlos an ihr vorbeidefilierten, war der Riss verschwunden, nicht mehr zu sehen. Aber er war da. Das wusste sie.
Mein Bruder aß immer. Jetzt gerade eine Ananas.
»Wo hast du denn die her?« Ich lehnte mich über den Biertisch und schrie Olaf die Frage über die Musik und das Stimmengewirr im Festzelt hinweg ins Gesicht.
Er kaute, hob eine Augenbraue und legte eine Hand an sein Ohr. »Es gibt hier Pommes, Currywurst und Reibekuchen. Wo hast du die Ananas her?«
»Mitgebracht«, quetschte er mit vollem Mund hervor. »Ich mache Diät!« Dann schob er ein Stück in meine Richtung. »Bier?« Olaf stand auf und strebte der Theke zu, ohne auf Antwort zu warten.
Am Nebentisch schunkelte sich eine Gruppe Frauen in Ekstase. Vermutlich ein Kegelclub.
»Ein Stern, der deinen Namen trägt …«, sangen sie und übertrafen die Festcombo zwar nicht an Tonsicherheit, aber doch erheblich an Lautstärke.
Ich schätzte sie auf mein Alter, erkannte aber keine von ihnen. Entweder waren sie nicht aus Gemünd, oder die Freundinnen meiner Kindheit hatten sich so verändert, dass ich keine Chance hatte, sie zu erkennen.
Der unterschiedliche Musikgeschmack war nicht das Einzige, was uns trennte. Während sie adrett, mit zweifarbig gesträhnten Kurzhaarfrisuren an ihrem jugendlichen Aussehen feilten, strahlte jeder Zug an mir die Gleichgültigkeit der Städterin aus, die sich in der Anonymität verstecken wollte. Ich hatte mich von Olaf überreden lassen, überhaupt hierhin zu gehen, und dann, kurz bevor wir losgingen, wahllos Jeans und T-Shirt aus meinem Kleiderstapel übergestreift.
Wo blieb Olaf nur? Von meinem Platz aus suchte ich ihn in der Menge, blieb an dem einen oder anderen Gesicht hängen, nickte, grüßte und lächelte. Den Mann neben mir bemerkte ich erst, als er mich ansprach: »Hallo, Ina.«
Vor mir stand Steffen Ettelscheid. Olafs bester Freund seit Kindertagen und Namensvetter meines Exmannes. Er war hochgewachsen, und die vielen kleinen Fältchen um seine Augen zeigten mir, dass er sich vor Sonne und Wind nicht fürchtete. Er schien sich über unsere Begegnung zu freuen. Ich hatte ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Dem Kind mit zerschlagenen Knien und dem Jugendlichen mit langen Haaren und jeder Menge Buttons, die seine Ansicht zur jeweils aktuellen Weltlage kundtaten, hatte ich oft genug die Tür geöffnet. Hier stand ein erwachsener Mann vor mir. In seiner Schützenuniform sollte er Tradition und Ordnung ausstrahlen, aber ich kam nicht umhin zu denken, dass er irgendwie wie ein Rockstar aussah, der sich als Schütze kostümiert hatte. Wirre braune Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und in seinen dunklen Augen blitzten Neugier und etwas Jungenhaftes auf. Er faszinierte mich, und ich konnte nichts dagegen tun. Unwillkürlich hielt ich nach Buttons Ausschau, entdeckte aber nur Orden der Schützenbruderschaft.
»Urlaub von der Domstadt?« Er lächelte mich auf eine Art an, die mich hoffen ließ, er sähe mir die neun Jahre, die ich ihm voraushatte, nicht an. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte mehr Sorgfalt auf mein Äußeres gelegt. Dunkle Strickjacken waren bequem und so oder so faltenfreundlich. Sie waren nicht attraktiv.
»So ähnlich«, murmelte ich und war froh über die drei Gläser und die Schale mit Erdnüssen, die Olaf zwischen uns auf den Biertisch stellte.
»Kommst du auch schon, Herr Oberförster?« Olaf hatte sich allem Anschein nach erfolgreich durch das Gedränge an der Theke gekämpft und schob ihm ein Bier zu. Es schwappte über den Rand, lief am Glas entlang und bildete eine Lache auf dem dunklen Holz.
Einen kurzen Moment lang hielt ich es für Blut. Mir schwindelte. Ich schloss die Augen. Ich war hier, um das zu vergessen.
»Lass mal, ich will nicht …!« Steffen sah zu seinem Freund und schüttelte den Kopf.
Von meiner Reaktion hatte er nichts gemerkt. Er fischte einen Bierdeckel aus der Lache und drehte ihn um. Nepomuk, der Gemünder Brückenheilige, lächelte uns an. Steffen grinste zurück, setzte seinen Schützenhut ab und legte ihn auf den Tisch.
»Dir würde so ein Hut auch gut stehen, alter Knabe.« Dann nickte er mir zu, packte sein Glas, trank aber nicht. »Wie lange hast du Urlaub, Ina?«
»Beurlaubung, das ist ein Unterschied!«, mischte sich Olaf ein. »Sie ist beurlaubt, unsere Frau Kommissarin.«
Steffen zog eine Augenbraue hoch. »Hast du Mist gebaut?«
»Sie hat einen Fall ver…« Olaf murrte, als ich ihm meinen Ellbogen durch seine Speckschicht in die Rippen jagte.
»Ich kann sehr gut für mich selbst sprechen, Brüderchen.«
Steffen schwieg und sah mich an.
Ich schob die Bierdeckel über den Tisch und kratzte an Nepomuks Nase herum.
»Also gut.« Ich seufzte. Steffen war ein Freund meines Bruders. »Ich habe mich von privaten Gefühlen in einem Fall beeinflussen lassen und mich und meinen Kollegen damit in eine sehr gefährliche Situation gebracht.« Ich hob das Bierglas an meine Lippen, setzte es aber sofort wieder ab. »Ich habe um die Beurlaubung gebeten. Ich muss mir darüber klar werden, ob dieser Beruf wirklich das Richtige ist für mich.«
Es hörte sich wie auswendig gelernt an, selbst in meinen Ohren.
»Und da hat sie sich gedacht, das kann sie am besten in der schönen Eifel, im Schoße der Familie.« Olaf langte in die Erdnüsse, stopfte eine Handvoll in den Mund und kaute. Seine Wangen wogten auf und ab. »In meiner Wohnung.«
»Ja, manchmal muss man wissen, wo man hinwill.« Steffen nickte. »Und wo man hinkann.«
Die Musikkapelle auf der Bühne spie ein paar Töne in das Festzelt. Ich zuckte zusammen.
»Wir wollen aber jetzt keine Trübsal blasen!« Olaf prostete uns zu. »Auf deine Beförderung, Herr Oberförster!«
Steffen lachte und wiegelte ab. »Noch ist es nicht spruchreif, Olaf. Noch bin ich ein Förster – kein Forstamtmann. Müllersohn hat mich zwar vorgeschlagen, aber es ist nichts unterschrieben.« Steffen schob sein Bierglas von sich. »Ich will nicht mehr. Ich hab schon eben während des Zuges zwei, drei getrunken. Das reicht mir.«
Olaf spitzte die Finger, fischte eine Erdnuss aus der Schale und warf sie ihm ins Gesicht.
»Dir schmeckt wohl unser Gemünder Bier nicht mehr, was? Oder trauerst du dem bayrischen Bier deiner Studentenzeit hinterher?«
»Keine Angst, mein Freund. Das Kölsch hier schmeckt immer noch am besten.«
Olaf legte seine Stirn in Falten und kräuselte die Lippen. Er sah aus wie ein chinesischer Faltenhund. »Du weißt, wir legen hier Wert darauf, dass unser Obergäriges kein Kölsch ist, sondern Gemünder!« Olaf hatte den gleichen Ton wie in seiner Rolle als Stadtführer angeschlagen, in die er alle vier Wochen für einen Haufen Nationalparktouristen schlüpfte.
»Lassen Sie es stehen. Es wäre vergeudet, Herr Ettelscheid. Ihre Beförderung ist alles andere als sicher. Zumindest, solange ich derjenige bin, der Ihre Dienstakte prüft.« Die Stimme schnitt aus dem Hintergrund durch die Töne der Blaskapelle.
Steffen fuhr herum.
Die zu große Jacke im englischen Landhausstil und das rote Seidentuch ließen den Mann lächerlich aussehen. Der Hass in seinen Augen aber war beängstigend. Steffen erstarrte.
»Prutschik!«
»Ganz richtig, Ettelscheid, ganz richtig«, keckerte der. »Erinnern Sie sich?« Er rieb sich die Hände und fingerte nach seiner Aktentasche, die vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte. »Bestimmt erinnern Sie sich!«
Steffen öffnete den Mund, so als ob er etwas erwidern wollte. Dann schluckte er und wandte sich von Prutschik ab. Sein Blick flog zwischen mir und Olaf hin und her. Schließlich packte er sein Glas, trank einen Schluck. Dann noch einen.
»Du hast recht, Olaf, Gemünder Bier ist doch das beste.«
»Wenn du meinst«, murmelte der und hob ebenfalls sein Glas.
Ich beobachtete an Steffen vorbei die Reaktion des Mannes. Er drängelte sich aus der Bank und stellte sich an die Stirnseite unseres Tisches.
»Was ist, Ettelscheid?« Er stützte sich mit den Handknöcheln ab. »Soll ich Ihnen auf die Sprünge helfen?«
»Ich würde gerne sagen, dass ich mich freue, meinen alten Lehrer nach so langer Zeit in unserer gemeinsamen Heimat wiederzutreffen. Aber ich lüge nur ungern, Herr Prutschik. Es ist schon schlimm genug, wie sich unsere Wege immer wieder kreuzen müssen. Leider gibt es nicht so viele Forsthochschulen in Deutschland, als dass ich Ihnen hätte ausweichen könnte, auch wenn mir das sehr lieb gewesen wäre.«
»Dreist, arrogant und unverschämt – so kenne ich Sie, Ettelscheid. So waren Sie als Student, und so sind Sie heute immer noch. Ich habe mich erkundigt über Sie! Erkundigt!« Kleine Tropfen sprühten aus seinem Mund, während er sprach. »Sie haben sich nicht verändert, und ich habe es auch nicht von Ihnen erwartet.«
»Bitte gehen Sie, Herr Prutschik. Oder sind Sie extra hergekommen, um sich mit mir über meinen Charakter zu unterhalten?«
»Ihr Charakter, Ettelscheid, ist nicht der Rede wert. Ihre Taten schon. Vor allem Ihre Missetaten.«
Der Frauenkegelclub war verstummt und verfolgte reglos den Streit der beiden Männer. Die Blicke der Frauen flogen zwischen den beiden Kontrahenten hin und her und ließen keinen Zweifel an der Sympathielage.
»Es war nicht meine Missetat, sondern Ihr Unfall, Herr Prutschik. Ich hatte damit nichts zu tun.«
»Oh, sind Sie da so sicher, Ettelscheid? So sicher?« Prutschik zog eine Mappe aus seiner Aktentasche, öffnete den Knopfverschluss und legte einzelne Blätter vor uns auf den Tisch. Ich erkannte den Briefkopf einer Polizeibehörde aus dem Süddeutschen.
»Ich habe hier den Polizeibericht vom 28.03.2002 der Stadt Weihenstephan. Ich zitiere.« Er hob sich auf die Zehenspitzen, wippte und räusperte sich. »… vor dem Hochschulgebäude verletzt aufgefunden. Das Opfer, Professor Prutschik, erlitt schwere Verletzungen am Schädel, am Rücken und an beiden Händen.« Prutschik setzte die Brille ab und geiferte Steffen an. Sein Glasauge schimmerte im Licht der Festbeleuchtung.
Steffen stand auf und holte tief Luft. Ich sah, wie schwer es ihm fiel, ruhig zu bleiben.
»Sie haben den Vorgang bei der Polizei so zu Protokoll gegeben. Es gab keinen Zeugen. Es gab keinen Überfall. Von mir nicht und von niemand sonst.« Steffen blickte auf den Professor hinunter. Dann drehte er sich zu uns herum. »Ich gehe jetzt, Olaf. Morgen wird ein harter Tag werden.« Er deutete eine Verbeugung an und lächelte mir zu. »Ina.« Dann wandte er sich an Olaf. »Bleibt ihr noch?«
»Sie waren doch der Anführer dieses Studentenrudels, Ettelscheid. Sie haben mich gehasst, Ettelscheid, mich gehasst!« Prutschiks Stimme überschlug sich. Er stellte sich Steffen in den Weg. Steffen blieb dicht vor dem Tobenden stehen, der neben ihm wie ein Erstklässler aussah.
»Herr Prutschik, bitte gehen Sie mir aus dem Weg. Und vielleicht erinnern Sie sich. Sie haben mich schon damals beschuldigt. Die Polizei hat mich überprüft. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal in der Stadt. Was sollte ich auch da? Sie hatten mich ja durch die Prüfung fallen lassen. Ich hatte mit Sicherheit keinen Grund zu feiern und danach einen Dozenten …«
»Professor, für Sie immer noch Professor Prutschik, Ettelscheid.« Prutschik rührte sich keinen Millimeter.
»Ich denke, Herr Ettelscheid hat sich klar ausgedrückt.« Ich packte meine Kommissarinnenstimme aus und strich mir die Haare hinter die Ohren, um einen strengeren Eindruck zu machen. »Seine Unschuld wurde bewiesen. Was Sie machen, ist Verleumdung.« Prutschik reagierte nicht. Olaf berührte den Professor am Ärmel. Der zuckte zusammen und schüttelte die Hand ab, als wäre sie ein Insekt. Dabei schlugen seine grauen Haarsträhnen wie Schlangen um seinen Kopf, aber er hielt den Blick auf Steffen gerichtet.
»Man sieht sich immer zwei Mal, Ettelscheid. Zwei Mal.« Sein Finger schoss vor und bohrte sich vor Steffen in die Luft. »Sie werden nicht Forstamtmann werden, Ettelscheid. Sie nicht. Solange ich etwas zu sagen habe, Sie nicht.« Prutschik zischte. »Ich lasse mich nicht folgenlos von einem dahergelaufenen Studenten zusammenschlagen.«
Steffen ballte die Fäuste.
»Und jetzt haben Sie noch die Dreistigkeit, hier so zu tun, als ob Sie unschuldig wären«, keifte Prutschik, die Stimme unnatürlich hoch.
»Ich habe nichts mit dem Vorfall zu tun, aber das scheint nicht zu Ihnen durchzudringen.« Steffen hob die Hand und schob den Kleineren ohne Schwierigkeiten zur Seite. »Ich denke, wir werden sehen, was aus meiner Beförderung wird. Zum Glück sind Sie ja nicht der Einzige, der in der Kommission sitzt.«
Prutschik fasste mit seiner Rechten nach der Hand des Försters, und mit der Linken umklammerte er dessen Jackett.
»Sie packen mich nicht noch mal an, Sie nicht!«, kreischte er laut. Köpfe wandten sich in unsere Richtung und wurden zusammengesteckt. Die Umstehenden beäugten den Streit. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Bestürzung, gepaart mit Neugier und Sensationslust. Die Kapelle spielte einen Tusch. Am Kopfende der Halle kam Bewegung in den Königstisch. Der König und sein Gefolge betraten mit ihren Damen die Tanzfläche. Walzer. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Die Musik schwallte durch den Saal.
Prutschik ließ sich nach hinten fallen. Für einen Moment zog er mit seinem gesamten Gewicht an Steffens Jackett, dann riss der Stoff, und der Professor fiel zu Boden. Sofort rappelte er sich auf und tobte: »Sie haben mich niedergeschlagen, ich werde Sie verklagen. Verklagen werde ich Sie. Sie werden schon sehen, dass ich am längeren Hebel sitze!«
Steffen hob die Arme. »Ich habe Sie nicht …«
»Hah!« Prutschik gackerte wie ein Huhn. »Hah! Ich wusste, dass ich Sie bekomme, Ettelscheid. Sie werden niemals …«
Der Faustschlag schien Prutschik zu überraschen. Er taumelte und riss die Augen auf.
Ich stand wie versteinert.
Wieder lag Prutschik auf dem Boden. Die Musik war zu einem Foxtrott übergegangen. Die Leute klatschten. Eins und zwei und drei und vier und eins …
Steffen rieb sich die Hand.
Mit Triumphgeheul sprang Prutschik auf die Füße.
»Das war’s für Sie, Ettelscheid. Das war’s. Kein Forstamtmann Ettelscheid!« Er griff nach seiner Aktentasche, quetschte sich durch die Bankreihen und rief: »Alle haben es gesehen, Ettelscheid. Alle!«, bis er schließlich ins Freie verschwand.
Steffen schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
»Ein widerlicher Kerl.« Olaf schüttelte seine Hände, als ob er in etwas Unangenehmes gefasst hätte.
»Er hat recht, Olaf. Das war’s«, sagte Steffen, setzte sich auf die Bank und vergrub seinen Kopf in den Armen.
Olaf nickte stumm.
»Steffen, wir können bezeugen, dass er dich provoziert hat.« Ich setzte mich neben ihn.
Steffen wandte mir sein Gesicht zu. In seinen braunen Augen sah ich mein Spiegelbild. Eingehüllt in den Mantel des schummrigen Lichts, das jetzt wie ein Nebel über dem Saal lag. Niemand schaute mehr zu uns her. Das Schauspiel war vorbei. Discofox. Alle machten mit. Eins, zwei, drei, vier. Die Röcke der Königin flogen mit den letzten Takten. Die Musik war zu Ende. Sie machte einen Knicks vor dem König, verneigte sich und verschwand von der Tanzfläche.
»Bier?«, fragte Olaf. Ich schüttelte den Kopf. Olaf nickte Steffen zu und stürzte sich ins Thekengewühl. Ihn erschütterte nichts. So schien es zumindest. Ich kannte ihn besser.
Steffen pflückte meine Hand von seiner Schulter und hielt sie fest. Die Wärme seiner Haut überraschte mich. Sein Blick wanderte über mein Gesicht, die Igelfrisur und die schwarze Strickjacke.
»Wenn die Frau Kommissarin hier meine Zeugin ist, dann kann es ja nicht so schlimm werden, oder?« Er nickte und rang sich ein Lächeln ab.
Ich entzog ihm meine Finger und räusperte mich. Er war der Freund meines Bruders, er war viel jünger als ich und hatte eben jemanden niedergeschlagen. Drei Dinge, die ihn definitiv aus meiner engeren Auswahl katapultierten. Aber er war auch verdammt attraktiv, sehr charmant und schien mich zu mögen. Das musste ich zugeben. Außerdem: War ich nicht auf der Suche nach einer Gelegenheit, Vergangenes zu vergessen? Sie saß hier vor mir, und ich musste sie nur ergreifen. Für einen kurzen Moment zögerte ich. Dann trafen sich unsere Blicke, und ich erkannte hinter dem Funkeln in seinen dunklen Augen noch etwas anderes, Tieferes, was mich neugierig machte auf mehr. Viel mehr.
Vermutlich wäre ich ansonsten auch nie an einem Schützenfestsonntag um fünf Uhr nachmittags mit ihm im Bett gelandet.
ZWEI
Seine Lippen gleiten über meine Wange, flüstern Worte, die ich nicht verstehe. Seine Hände wandern über meinen Körper, jagen Schauer über meine Seele. Wir sind eins. Der Himmel über uns ist weit und offen und blau. Wie seine Augen. Ich versinke in dem Blau seiner Augen.
Ich falle.
Verliere den Halt, greife ins Leere.
Ich falle.
Rückwärts, blind. Unter mir die Tiefe, ich weiß es. Und während ich falle, springt mein Herz. Jede Faser meines Körpers bereitet sich auf den Aufprall vor, den ich nicht überleben werde.
Ich weiß es. Ich schwitze. Ich schreie.
»Ina!«
Ich fühlte den Fall und wartete auf den Aufprall.
»Ina, wach auf!«
Ich schlug die Augen auf. Olaf stand über mein Bett gebeugt, Panik in den Augen und nass geschwitzt.
Nur mühsam kämpfte ich mich in die Wirklichkeit. Der Alptraum hatte mich im letzten Monat in Ruhe gelassen. Warum kam er jetzt wieder? Ich kniff die Augen zusammen und richtete mich auf.
Olaf setzte sich auf die Bettkante. »Steffen wurde verhaftet!« Er schüttelte den Kopf. Atemlos. »Du musst ihm ein Alibi geben. Du warst doch gestern Nacht mit ihm zusammen.« Jetzt klang er wie der kleine Junge, der so oft im Dunkeln zu seiner großen Schwester geflüchtet war.
Für einen Moment wusste ich nicht, wovon er redete.
»Was ist passiert?« Ich musste zuerst meine Gedanken in eine vernünftige Reihenfolge bringen.
»Sie haben Prutschik gefunden. Er ist tot. Erschlagen. Neben dem Schwimmbad. Sie sagen, Steffen hätte es getan. Sie haben sich gestritten, und Steffen hat ihn getötet. Sagen sie.«
»Warum ausgerechnet Steffen?« Ich war wach. »Warum nicht irgendein anderer Besucher des Schützenfestes? Und wer sagt das?«
»Kommissar Sauerbier. Wegen des Streits!« Olaf starrte auf seine Hände.
»Was ist damit?«
»Ein Kollege Sauerbiers war auf dem Fest und hat den Streit beobachtet. Klar, dass sie da Rückschlüsse ziehen. Der Verdächtige auf dem Silbertablett. Danke schön und auf Wiedersehen!« Olaf richtete sich auf, holte tief Luft und lächelte mich an. »Aber das ist ja alles kein Problem mehr, wenn du gleich zur Polizei gehst und ihnen sagst, dass ihr die Nacht miteinander verbracht habt.«
»Das kann ich nicht, Olaf.«
»Du kannst nicht?« Er wich von mir zurück, als ob ich ihn geschlagen hätte. »Ach Scheiße, Ina! Hast du Angst, dein Ruf wäre ruiniert?« Er lachte bitter. »Kölner Kommissarin hüpft durch Eifelbetten! Und alle zerreißen sich das Maul. Denk mal nicht an dich, Schwester! Nur ausnahmsweise nicht!«
»Olaf!«, zischte ich. »Sei still!«
»Ach, es geht doch immer nur um dich, seit du diesen, diesen …« Olaf schnaubte die Worte heraus. »Nistest dich bei mir ein, kümmerst dich um nichts! Hauptsache, du hast deinen Frieden, richtig?«
»Steffen und ich haben nicht die Nacht miteinander verbracht. Ich kann ihm kein Alibi geben, weil es gelogen wäre.«
»Aber ihr seid doch zusammen weggegangen.« Er runzelte die Stirn.
»Ja.« Ich seufzte. »Aber zur Tagesschau war ich wieder hier.« Aus genau den Gründen, die mein Bruder eben genannt hatte. Und ein paar anderen mehr. Aber darüber konnte ich später nachdenken.
»Dann hilf ihm wenigstens, Ina. Du bist Kommissarin. Du bist meine Schwester. Er ist mein bester Freund. Du hast mit ihm geschlafen. Du weißt, was zu tun ist. Du kannst doch nicht zulassen, dass ein Unschuldiger …«
»Ist er das?«, unterbrach ich ihn. Ich fror.
Olaf starrte mich mit offenem Mund an.
»Du glaubst, er hätte Prutschik umgebracht?«
»Ich glaube nichts, Bruder. Weder das eine noch das andere. Ich kenne ihn ja kaum.« Stimmte das? Gestern hatte mein Gefühl mir definitiv etwas anderes gesagt. Aber auf mein Gefühl, so hatte ich vor Kurzem beschlossen, wollte ich ja nicht mehr hören.
Ich zerrte meine Jeans aus dem Wäschehaufen auf dem Boden und zog sie an. »Außerdem«, der Jeans folgte ein T-Shirt, »bin ich beurlaubt. Vergiss das nicht. Keine Kommissarin.«
* * *
Die Nacht hatte ihre Schatten verloren und befand sich auf dem Rückzug. Noch im Schlaf klärten sich ihre Gedanken, und sie erkannte ihre innerste Wahrheit. Sie erwachte, fing die Erinnerung an den Traum auf und fühlte sich zum ersten Mal wieder wie an dem Tag, als sie ihr Abschlusszeugnis in der Hand hielt mit dem Bewusstsein, nun gehöre ihr die Welt. Frei und ohne Enge. Fortgehen können. Kein Umdrehen. Jetzt war sie hier. Ihr Blick fiel auf den schimmernden Stoff. Er war schön. Schön wie sie selbst. Sie lächelte. Ein schönes Kleid. Sie schlug die Bettdecke zurück, schob die Beine aus dem Bett und stand auf. Im Nebenzimmer schnarchte ihr Bruder. Sie konnte ihn hören. Vater hörte sie nicht mehr. Prinzessin.
Sie ging zur Terrassentür, öffnete sie und betrat den Garten. Es regnete. Es war ein warmer Regen. Er nahm sie auf und barg sie.
Sie ließ ihr Nachthemd ins Gras gleiten. Nackt stand sie da, spürte die Frische der Luft, die Feuchte der Morgenwiese unter den Füßen. Ihre Fingerspitzen fuhren über die Konturen ihrer Hüfte und fühlten die weiche Haut ihres Bauches. Sie ließ die Lider sinken, konzentrierte sich auf das Prickeln unter ihrer Haut. Spürte den Bahnen auf ihrem Körper nach, die längst vergessene Hände auf ihr hinterlassen hatten. Ihre Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen. Ihr Herzschlag dröhnte gegen das Prasseln des Regens an, als ob er sich aus der Enge ihres Körpers befreien wollte. Wie von selbst hoben sich ihre Arme und zogen im Rhythmus einer inneren Melodie Kreise. Sie tanzte. Sie tanzte ihr eigenes Lied. Für den Augenblick hatte es sie gefunden, und sie kostete es aus. Der Regen streichelte ihre Haut wie die Hände eines erfahrenen Liebhabers. Sie schloss die Augen, wirbelte und sprang, flog durch den Garten. Ihr Atem peitschte, als sie auf die Erde sank. Sie lächelte. Sie war glücklich.
* * *
Schon auf der Treppe hörte ich meinen Vater singen. Mit seiner klaren Tenorstimme bat er den Monat Mai, doch nun bitte alles wieder neu und vor allem grün zu machen. Für einen Moment blieb ich stehen und lauschte. Dann betrat ich seine Wohnung und schob leise die Küchentür auf.
»Immer noch genauso viel Milch wie Kaffee und ohne Zucker?«
Er hielt mir einen Becher hin und wies auf den Platz auf der Küchenbank unter seinem Fenster. Er hatte auf mich gewartet. Ich nickte ihm zu, hob die Tasse an und umfasste sie mit beiden Händen.
»Danke, Hermann.«
In seiner Küche roch es nach frischem Brot, den Kräutern, die auf der Fensterbank standen, und einem Hauch Waschmittel. Es roch nach zu Hause. Ich zog die Knie hoch und versteckte die Beine unter meiner Strickjacke. So hatten wir früher gesessen und die Probleme meines Teenagerlebens gewälzt. Bis Anneliese kam und seinen Witwerstand beendete. Meine Mutter war bei einem Autounfall gestorben, als Olaf zwei und ich zwölf Jahre alt waren. Trotz seiner Trauer schaffte unser Vater es, eine Familie aus uns zu machen. Wir schworen uns aufeinander ein. Aber ihm fehlte etwas. Olaf fehlte etwas. Mir genügten die beiden, und ich wollte keinen Eindringling in unserer Gemeinschaft. Ich mochte Anneliese nicht und zeigte es ziemlich deutlich.
Die Lage entschärfte sich erst, als ich meine Ausbildung begann und aus Gemünd fortzog. Olaf blieb da. An dem Tag, als mir ein Freund dabei half, meine Matratze in einen alten klapprigen Fiat zu laden, kam mein neunjähriger Bruder nicht nach unten, um sich von mir zu verabschieden. Ich stand vor seiner verschlossenen Tür und wollte es ihm erklären, wie ich es ihm schon viele Male erklärt hatte, seit meinem Entschluss.
Danach war ich oft nach Gemünd gekommen. Immer zu Besuch, nie nach Hause.
Olaf war geblieben. Er hatte die untere Wohnung des Hauses in Beschlag genommen, blieb auch bei unserem Vater, als Anneliese nach zehn Jahren wieder aus dessen Leben verschwand und die Dinge mitnahm, die sie mitgebracht hatte.
Jetzt stand Olaf in der Küchentür und sah mich an. Trotz seiner Speckschicht war er ein gut aussehender Mann. Als Schwester hatte ich nicht immer den Blick dafür, aber seine klaren, kantigen Gesichtzüge, ließen mich erahnen, wie ihn ein bisschen mehr Sport und ein bisschen weniger Essen verändern würden.
Er lehnte am Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen versenkt, und bemühte sich um einen zerknirschten Gesichtsausdruck. Seine grünen Augen, das gemeinsame Erbe unserer Mutter, funkelten wie zu unseren Kinderzeiten, wenn er etwas ausgefressen hatte. Sein Tonfall ließ Reue durchscheinen und noch etwas anderes, was ich nicht zuordnen konnte.
»Ich wollte dich nicht bedrängen, Ina. Ich dachte nur, du bist doch die Fachfrau und weißt, was zu tun ist.« Er kam zu mir und ließ sich neben mich auf die Küchenbank plumpsen. Das rote Kunstleder pfiff leise. »Steffen ist mein Freund, und ich dachte, du magst ihn ein bisschen.« Olaf fasste die Kante der Tischdecke und rollte sie zu einem Wulst. »Du …«
»Ich mag ihn ja auch, aber ich darf mich nun mal nicht in einen fremden Fall einmischen.«
Olaf ließ die Tischdecke los und legte die Hände auf seine Oberschenkel. Er nickte.
»Ich verstehe dich, Ina«, murmelte er und starrte auf seine Finger. Er wirkte angespannt.
»Nein, das tust du nicht, Olaf. Du sagst es nur. In Wirklichkeit soll ich bloß wieder die Kohlen für dich aus dem Feuer holen, richtig?« Ich stellte meine Füße auf den Boden und knallte die Tasse auf den Tisch. Die braune Flüssigkeit schwappte über meine Finger und mein T-Shirt. »Mist!« Im selben Moment tat mir meine heftige Reaktion schon wieder leid. Ich packte seine Hand, hob sie hoch und umfasste sie. »Entschuldigung!« Obwohl die Hand meines Bruders viel größer war als meine, fühlte sie sich für einen Moment klein und zerbrechlich an. »Du kannst ihm genauso gut helfen wie ich, Olaf.«
Er rührte sich nicht. Nur seine Augen fixierten mich, als er leise flüsterte: »Bitte, lass mich nicht im Stich, Ina.«
»Das hab ich nie getan. Und du weißt das.«
Mit einem Ruck entzog er mir seine Hand, befreite sich aus der Küchenbank und ging zur Tür.
»Wenn du dir da mal nicht zu sicher bist, Schwesterlein!«
Ich blickte ihm nach, als er aus der Tür ging, und hatte wieder das Bild seines Fensters an meinem Auszugstag vor Augen. Die Gardine hatte sich bewegt. Damals hatte ich es gesehen. Jetzt erkannte ich es.
»Wie schlimm ist es?« Hermann seufzte und sah mich an.
»Was meinst du?« Ich pustete Wellen in die Oberfläche meines Kaffees. »Den Streit mit Olaf? Dass heute Morgen der Mann unter Mordverdacht verhaftet wurde, mit dem ich gestern geschlafen habe?«
Eine steile Falte erschien auf der Stirn meines Vaters. Er sah wie eine Kopie von Olaf aus, älter zwar und zwanzig Kilo leichter, aber unverkennbar die gleiche große Statur, das gleiche dichte Haar, die gleiche Mimik. Zwei von einem Stamm. Er schwieg weiterhin und hörte mir zu.
»Dass ich vom Polizeidienst beurlaubt bin? Dass ich nicht weiß, warum ich eigentlich wieder nach Gemünd gekommen bin? Dass ich nicht einmal weiß, ob ich bei der Mordkommission bleiben will, wenn ich hier fertig bin?«
»Womit fertig?«
»Sag es mir, Pap.« Keine Kommissarin. Nur das kleine Mädchen.
Er schüttelte den Kopf, lächelte und setzte sich neben mich.
»Große Ina!« Trostformel aus Kindertagen.
Ich fühlte den Kloß hinten in meinem Hals. Trotzdem musste ich grinsen.
»Ein bisschen mehr als ein aufgeschlagenes Knie vom Fahrradfahren ist es diesmal schon.«
Hermann ging zum Spülbecken und ließ Wasser hineinlaufen.
»Du hast ein paar Narben auf den Beinen. Vom Hinfallen, das stimmt. Aber geheilt ist es immer. Wichtig ist, dass du aufgestanden und wieder aufs Rad gestiegen bist.« Er warf mir ein Geschirrtuch zu und sang die nächste Strophe des Liedes über freudige Wintertage, lustige Abendspiele und zusammenbrechende Kartenhäuschen.
»Stimmt«, unterbrach ich ihn. »Aber ich spüre die Narben bei jedem Wetter.«
»Hindern sie dich beim Gehen?« Er ließ klares Wasser über ein gespültes Glas laufen.
»Nein.« Ich legte das Geschirrtuch auf den Tisch. Mein Vater zeigte stumm mit dem Kinn auf das Glas. Ich seufzte.
»Weitermachen, Kind. Nicht eine Sache mittendrin aufhören.«
Meinte er das Glas? Ich hob es hoch und polierte es auf Hochglanz. Ich war hierher zurückgekommen, um herauszufinden, wer ich war und was ich für mein Leben wollte. Im Beruf. Und für die Seele. Langsam wurde es Zeit, dass ich damit anfing.
Ich räusperte mich. »Wie hieß noch mal der Kommissar, der Steffen verhaftet hat?«
DREI
Auf der Fahrt nach Schleiden überlegte ich, was ich zu ihm sagen wollte. Mein alter apfelgrüner Käfer knatterte munter vor sich hin. An der Kreuzung neben der Sankt-Nikolaus-Kirche wartend, entschied ich mich für die Wahrheit. Zweihundert Meter weiter auf der Schleidener Straße ließen mich meine Unsicherheit und meine Zweifel eine Ehrenrunde durch den Verkehrskreisel drehen.
Als ich ein Kind war und diese Strecke täglich zuerst mit dem Zug und dann mit dem Bus zur Schule fuhr, gab es den Kreisel noch nicht. Wann hatten sie ihn gebaut? Ich wusste es nicht. Hatte auf die Veränderungen nicht geachtet. Aber jetzt fielen sie mir auf. Die kleinen und die großen Veränderungen. Wohin war ich zurückgekommen? In ein Bild, das ich all die Jahre mit mir herumgeschleppt hatte? Ein Bild von der heilen Welt meiner Kindheit? Ich blinzelte und musste grinsen, als zur linken Seite der Reitstall auftauchte. Dieser Teil des Bildes zumindest stimmte. So wie der Fußballplatz, das Autohaus und die kleine Pestkirche in Olef sich genau wie in meiner Erinnerung entlang der Straße präsentierten.
Die Schule grüßte vom Hügel herunter wie vor neunundzwanzig Jahren.
Meine Schule. Das erste Klassentreffen hatte ich geschlabbert, das zweite mit einer Dienstreise verhindert, und vom dritten war ich mit der Erkenntnis nach Hause gefahren, dass auch fünfundzwanzig Jahre nichts Grundlegendes an den Charakteren ändern.
Die Polizeistation selbst lag am Ortseingang von Schleiden. Mit ihrem Siebziger-Jahre-Schick alles andere als einladend, hockte sie hinter einer Tannenallee und bewachte die Sicherheit des Schleidener Tals.
Ich stieg aus, schloss meinen Wagen ab und ging zielstrebig auf den Eingang zu.
»Sauerbier. Kommissar Horst Sauerbier.« Er trug wahrhaftig einen beigefarbenen Trenchcoat, und das Leder seiner Schuhe glänzte wie lackiert. Er kam gerade von einem Außentermin.
»Hallo.« Ich stand von dem Stuhl auf, der mir die Zeit in dem kahlen Amtsflur erleichtert hatte, und streckte ihm meine Hand entgegen. Über eine Stunde wartete ich bereits auf ihn.
»Ina Weinz, Kriminalkommissariat Köln.«
»Ah, eine Kollegin aus der großen Stadt.« Er strich sich eine dünne Haarsträhne über den Kopf. Ich schätzte ihn auf Ende fünfzig. Aber vielleicht machten ihn sein stattlicher Bauch und sein Schnauzbart, der von grauen Strähnen durchzogen wurde, älter, als er in Wirklichkeit war. »Was treibt Sie zu uns aufs Land?« Er öffnete mir die Tür zu seinem Büro und ließ mir den Vortritt. »Die gute Luft? Ist ja für Städter etwas Besonderes!«
Er zwirbelte seinen Schnauzer, zog dann den Mantel aus und hängte ihn sorgfältig auf den Garderobenständer, der neben der Tür stand.
»Nein. Ich kenne die Eifelluft. Ich bin von hier.« Weg, ergänzte ich in meinen Gedanken. Dabei lächelte ich freundlich.
»Ach?« Er spitzte die Lippen und sah mich an.
»Aus Gemünd. Mein Vater ist Hermann Stein.«
Er schaute kurz zur Decke und runzelte die Stirn.
»Steins Hermann aus dem Gesangverein?«
Ich nickte, und ein Strahlen ging über sein Gesicht.
»Schöne Stimme, der Vater. Singt Tenor. Ich singe auch dort. Bariton. Kann aber wegen der Arbeit nicht so regelmäßig daran teilnehmen. Schade. Schleiden wird ja bei Mordfällen vom Bonner Kriminalkommissariat bedient. Ich bin quasi ein Gastarbeiter in meinem Heimatdorf.« Er lachte über seinen eigenen Witz. »Aber wem erzähle ich das?« Er räusperte sich. »Ja.«
Für einen kurzen Moment schwieg er und schob ein paar Akten auf seinem Schreibtisch zusammen. Dabei summte er. Sorgfältig stapelte er sie an der rechten Seite zu einem Turm. Fasziniert beobachtete ich, wie er die Kanten der Hängeregistraturen exakt ausrichtete. Die Reiter zeigten in meine Richtung. Die offiziellen Fallnummern sprangen mir in Fettdruck entgegen. Darüber, mit Hand geschrieben, eine dünne Bleistiftschrift. Automatisch las ich die Beschriftungen. »Meyermann« stand auf der obersten, direkt darunter »Prutschik«. Mir wurde warm, und ich spürte, wie meine Wangen sich röteten. Sauerbier widmete mir wieder seine Aufmerksamkeit.
»Möchten Sie etwas zu trinken? Ein Wasser oder einen Kaffee?«
Ich sah mich um. Eine halb volle Flasche schalte auf der Fensterbank in der Sonne vor sich hin.
Er folgte meinem Blick und sprang auf.
»Ich hole rasch eine frische. Warten Sie bitte einen Moment.« Er ging um seinen Schreibtisch herum zur Tür, blieb stehen und drehte sich um. »Dann können Sie mir in aller Ruhe erzählen, womit ich Ihnen helfen kann.«
Ich nickte und starrte auf die Akte. Atmete langsam ein und aus, ein und aus. Meine Hand zitterte, als ich die harte rote Pappe an meinen Fingern spürte. Ich wandte mich um und horchte auf Sauerbiers Schritte. Nichts. Nur schnell die ersten Seiten überfliegen.
»Möchten Sie mit oder ohne Kohlensäure, Frau Weinz?«
Sauerbiers Stimme klang sehr nah. Ich warf die Akte auf den Stapel zurück. Was machte ich hier eigentlich? Ein kleiner orangefarbener Zettel fiel aus den Seiten und segelte zu Boden. Ein Name und eine Adresse. Ich setzte meine Handtasche darauf und lehnte mich wieder in meinem Stuhl zurück. Einatmen und ausatmen. Ganz langsam. Es ist nichts geschehen.
»Mit oder ohne, Frau Kollegin?« Er stellte ein Glas und zwei Flaschen vor mir ab.
»Mit. Danke.« Jetzt konnte ich das Wasser wirklich gebrauchen. Mein Hals war wie ausgetrocknet.
»Ich möchte gerne mit Steffen Ettelscheid sprechen, wenn Sie es mir erlauben, Herr Sauerbier.«
Seine Augenbrauen schoben sich zu einem einzigen Strich zusammen.
»Warum? Hat die Kripo in Köln etwa mit dem Fall zu tun?«
»Nein.« Ich räusperte mich. »Es ist …« Ich drückte den Rücken durch und sah ihm direkt in die Augen. »Ich kenne Herrn Ettelscheid. Er ist ein guter Freund meines Bruders, und ich dachte …«
»Sie dachten, hier auf dem Land nehmen wir es nicht so genau mit den Vorschriften, was?« Die Spitzen von Sauerbiers Schnauzer zuckten wie Stacheln nach oben. »Da muss ich Sie leider enttäuschen, Frau Weinz. Auch wir haben hier Regeln. Herr Ettelscheid kann Ihren Besuch anfordern, aber nicht umgekehrt. Und schon mal gar nicht, bevor wir die Vernehmungen abgeschlossen haben.« Er wuchtete sich aus dem Bürosessel und legte seine Hand auf den Aktenstapel. Er hob die Lider, starrte auf die Akten und schüttelte leicht den Kopf. »Und da wir uns im selben Bundesland wie Köln befinden, vermute ich, dass Ihnen diese Vorschriften nicht fremd sind.«
Ich biss mir auf die Lippen und nickte. So viel zur Ehrlichkeit.