Umschlag

Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief«, »Schwelbrand«, »Tod im Koog«, »Schwere Wetter«, die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine«, »Niedersachsen Mafia« und »Das Finale« sowie der Kurzkrimiband »Eine Prise Angst« und die beiden »Tatort«-Krimis »Erntedank« und »Borowski und die einsamen Herzen«.
www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-137-4
Hinterm Deich Krimi
Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur
EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel, Lille, Frankreich
(www.editio-dialog.com)

 

Für Ariane und Leif

 

Wollt ihr zugleich den Kindern der Welt
und den Frommen gefallen?
Malet die Wollust – nur malet den Teufel dazu!

Friedrich Schiller

EINS

Heiser drang der Schrei einer Krähe durch den Morgen. Sie verbarg sich irgendwo im unsichtbaren Geäst einer knorrigen Birke, das im dichten Nebel nur zu erahnen war. Fast unheimlich waberten die Schwaden zwischen den Koniferen, schlanken Säulenwacholdern und spätherbstlichen Rhododendren. Die Nässe war spürbar und gelangte mit jedem Atemzug bis in die letzten Verästelungen der Lunge. Dort, wo der Blick den Dunst durchbrach, sah man, wie sich ein Hauch Feuchtigkeit auf den bunten Blättern der wenigen Laubbäume niederlegte und eine glänzende Schicht auf den polierten Grabsteinen hinterließ.

Erneut krächzte die Krähe. Es war nicht die Zeit für Spaziergänger, die an schönen Tagen die gepflegte Anlage des Husumer Ostfriedhofs gern aufsuchten, um in dem parkähnlichen Areal zwischen Flensburger und Schleswiger Chaussee dem Stadtlärm zu entfliehen.

Henry Vollstedt war mit der morbiden Stimmung vertraut. Seit dreißig Jahren war der Friedhof sein Arbeitsplatz. Zu allen Jahreszeiten war er hier tätig, pflegte die Anlage, reinigte und besserte die Wege aus, entleerte die Abfallbehälter und hob die Gräber aus. Nach der Beisetzung kümmerte er sich um das Einebnen der Grabstätte, das Fortschaffen des Grabschmucks und die weitere Betreuung. Die Pflege der Grabstätten oblag den Hinterbliebenen oder beauftragten Gärtnereien. Das hinderte Vollstedt aber nicht daran, an von allen vergessenen Plätzen zu harken, grob das wuchernde Unkraut zu beseitigen und gelegentlich eine Blume zu pflanzen.

Dies war sein Friedhof. Er kannte fast alle Gräber, konnte die Daten auf den Grabsteinen aufsagen, legte mit stoischem Gleichmut neue an und sah das Ganze als Teil des natürlichen Kreislaufs des Lebens. Der Tod barg für ihn keinen Schrecken mehr. Zu oft war er trauernden Hinterbliebenen begegnet. Schon zum Zeitpunkt der Beerdigung vermochte er zu sagen, ob der Besuch auf dem Friedhof ein einziger blieb oder ob sich hinterher jemand um die Grabstätte kümmern würde.

Heute Morgen war er allein unterwegs. Zu dieser frühen Stunde suchte niemand das Gräberfeld auf, um sich um eine Ruhestätte zu kümmern, dort im stillen Gedenken einen Moment zu verweilen oder um einfach nur die Parklandschaft der Anlage zu genießen.

Vollstedt bog mit seiner Schubkarre, auf der er ein paar Gartengeräte transportierte, von einem der gepflasterten Hauptwege in einen Seitenweg ab. Hierher kamen selten Besucher. Zumindest keine zufälligen. Vollstedts Gang war nicht mehr so elastisch wie in früheren Jahren. Die schweren Stiefel schleppten sich müde über den Erdboden, der Rücken war gekrümmt, die schwieligen Hände umklammerten die Holme der Karre. Er fröstelte leicht in der Kühle des Morgens, im dichten Nebeldunst. Später, wenn die Oktobersonne noch einmal ihre Kraft entfalten würde, löste sich der Nebel mit Sicherheit auf, und es würde noch einmal ein schöner Herbsttag werden.

Er passierte eine Stelle, an der noch Kränze und Blumengebinde auf einem frisch aufgeworfenen Erdhügel lagen. Der Mann, der dort vor zwei Tagen beigesetzt worden war, war nur zwei Jahre älter als Vollstedt gewesen. Bald würde er auch diese Parzelle so herrichten wie die anderen auf dem Friedhof, später würde irgendwann der Grabstein gesetzt und das Grab bepflanzt werden. So wie das Gras über dem Sarg würde es symbolisch über die Erinnerung an den Verstorbenen wachsen. Und mit ein wenig Glück – Glück? – würden irgendwann nur noch interessierte Besucher auf die verwitterte Inschrift schauen, sie zu entziffern versuchen, nachrechnen, wie alt der Tote geworden war, und sich keine weiteren Gedanken darüber machen, was für ein Leben er geführt, was ihn bewegt, wer ihn geliebt oder vielleicht gehasst hatte.

Heute war der Nebel – selbst für diese Jahreszeit – besonders dicht. Im Stillen bedauerte Vollstedt jene Leute, die sich mit ihrem Auto durch den Dunst tasten mussten. Er selbst hatte es nur wenige Schritte von der Rungholtstraße zu seinem Friedhof.

Er erschrak, als er ein Geräusch vernahm. In das Krächzen der Krähe mischte sich ein Rascheln. Zu dieser frühen Stunde und bei dieser Witterung glaubte er, der einzige Lebende auf dem Friedhof zu sein. Jetzt löste sich eine Gestalt aus dem Dickicht der Säulenwacholder, nahm ganz langsam Konturen an und kam auf ihn zu.

Vollstedt blieb stehen. Er setzte die Schubkarre ab und drückte das Kreuz durch.

Schritt für Schritt näherte sich die Gestalt, blieb kurz vor ihm stehen, drehte sich um und wies in die Richtung, aus der sie gekommen war.

»Du?«, fragte Vollstedt erstaunt. »Was machst du hier? So früh am Morgen?«

»Da«, sagte der Mann. Und wiederholte mehrfach: »Da. Da.«

»Was ist da, Lenny?«, fragte Vollstedt und musterte ihn neugierig.

Armin Lennartz war untersetzt, hatte eine stämmige Figur, ohne dass Muskeln zu erkennen waren. Der Hals war zu kurz, die Proportionen stimmten nicht. Lenny, wie er von allen genannt wurde, wohnte in der Mommsenstraße, nur durch einen Zaun vom Friedhof getrennt. Der Mann mit dem Downsyndrom schlüpfte durch ein Loch in der Einfriedung. Lenny hielt sich, sooft er konnte, auf dem Gräberfeld auf. Viele Besucher kannten ihn, freuten sich, wenn er freundlich grüßte, hilfsbereit älteren Menschen die Gießkanne trug und mit ihnen eine kleine Plauderei begann.

Vollstedt hätte nicht sagen können, wie viele Jahre er Lenny kannte. Manchmal half ihm der junge Mann. Jung?, überlegte er. Lenny musste inzwischen auch die vierzig erreicht haben.

»Da.« Erneut wies Lenny in die Richtung, aus der er gekommen war.

»Was ist los, Lenny? Hast du schlecht geschlafen?«

»Komm mit«, forderte ihn Lenny auf und marschierte zurück. Vollstedt ließ die Schubkarre auf dem Weg stehen und folgte Lenny auf einem schmalen Trampelpfad zwischen den Grabstätten. Der führte durch eine Gruppe von Wacholdern, umrundete mehrere Rhododendren und mündete auf eine Grabreihe am nächsten Seitenweg.

»Sieh. Da.« Lenny war stehen geblieben und zeigte auf ein frisch ausgehobenes Grab.

Nein. Es war keine neue Grabstelle, sondern eine alte. Vollstedt blieb wie angewurzelt stehen. Die Erde war samt der Bepflanzung ausgehoben worden und lag auf dem benachbarten Grab. Vorsichtig trat er näher. Der oder die Unbekannten hatten sich bis zum Sarg vorgearbeitet und den Deckel eingeschlagen. Undeutlich waren die verbliebenen Überreste der sterblichen Hülle zu erkennen.

Vollstedt war der Umgang mit Verstorbenen vertraut. Er hatte auch die Scheu davor verloren, bei aufgegebenen Grabstätten nach den Resten, die nach der vereinbarten Verweildauer noch vorhanden waren, zu graben und sie pietätvoll umzubetten, damit der Platz neu belegt werden konnte. Doch das Zwischenstadium … er musste einen Würgereflex unterdrücken, zumal der offene Sarg mit einer Flüssigkeit aufgefüllt war.

»Komm, Lenny«, sagte er und zog ihn mit sich fort.

»Was hast du da gemacht?«, fragte Lenny.

»Ich nicht, mein Junge. Das waren böse Menschen.«

»Hier gibt es keine bösen Leute. Alle sind nett«, protestierte Lenny.

»Ja, mein Junge«, gab ihm Vollstedt recht und legte seinen Arm um Lennys Schultern.

Er spürte, dass der Mann vor Aufregung zitterte. Kurz darauf hatten sie das Gebäude der Friedhofsverwaltung erreicht.

Im Büro traf Vollstedt auf eine Mitarbeiterin aus der Verwaltung.

»Ruf mal die Polizei an«, forderte er sie auf.

»Moin, Henry. Was ist denn mit dir los?«, fragte die Frau erschrocken. »Wie siehst du denn aus? Ist dir nicht gut?«

»Nun ruf schon die Polizei an. Die sollen herkommen.«

Er unterließ es, der Kollegin von seiner Entdeckung zu berichten.

***

Erster Hauptkommissar Christoph Johannes saß an seinem Schreibtisch in der Husumer Polizeidirektion. Seit acht Jahren war er als »kommissarischer« Leiter der Kriminalpolizeistelle, wie es umständlich im Amtsdeutsch hieß, in der nordfriesischen Kreisstadt tätig. Er beugte sich vor und blätterte in den Berichten, die wesentliche Ereignisse der vergangenen Nacht aus dem Zuständigkeitsbereich dokumentierten.

Husum war kein Zentrum intensiver Kriminalität, andererseits aber auch kein gewaltfreier Raum. Es gab die üblichen Schwerpunkte, an denen die Kollegen der uniformierten Polizei oft gefordert wurden: die Diskothek im Gewerbegebiet und die Neustadt. Darüber hinaus beherrschten Delikte, die auch in allen anderen Regionen der Republik verübt wurden, den Alltag der Polizei, nur mit dem Unterschied, dass hier vieles geruhsamer und doch einen Hauch friedlicher ablief. Selbst die Kriminalität schien sich der klaren, weiten Landschaft mit ihrem rauen, pittoresken Charme und den auf den ersten Blick zurückhaltend wirkenden, aber sich dann mit Herzlichkeit öffnenden Bewohnern angepasst zu haben.

»Schon wieder«, begann er ein Selbstgespräch, als er die Meldung über mehrere Einbrüche am Stadtweg las. Seit geraumer Zeit beschäftigte sich seine Dienststelle mit einer Einbruchserie. Während Diebe es gewöhnlich auf die anscheinend wohlhabenderen Gegenden abgesehen haben, stiegen diese Täter in als bürgerlich zu bezeichnenden Bezirken in fremde Wohnungen ein.

Er wurde beim Lesen durch die Tür unterbrochen, die aufgerissen wurde, mit einem Knall gegen das Aktenregal stieß, einen Stoß bekam und wieder ins Schloss fiel. Christoph sah auf und beobachtete, wie Oberkommissar Große Jäger an seinen Schreibtisch trat, die Schublade hervorzog, sich krachend in seinen Bürostuhl warf und die Füße in der Schublade parkte.

»Moin, sagt der Bauer, wenn er in die Stadt kommt«, begrüßte Christoph seinen Kollegen, mit dem er sich aus lieb gewordener Tradition das Büro teilte, obwohl ihm ein Einzelzimmer zugestanden hätte.

Der dritte Schreibtisch im Raum war verwaist. Dort hatte früher »das Kind« gesessen. So hatte Große Jäger Kommissar Harm Mommsen genannt, bevor der an der Polizeihochschule in Münster studiert hatte, zum Kriminalrat befördert worden war und heute Leiter der Kriminalpolizei in Ratzeburg war.

»Bin ich ein Bauer?«, grunzte der Oberkommissar.

»Nein«, erwiderte Christoph. »Im Unterschied zu dir können die sich benehmen.«

»Willst du mich schon zu früher Stunde anmachen?«

Der Oberkommissar schien schlecht geschlafen zu haben. Vielleicht war er auch nur müde, weil er am Vorabend einen »Inspektionsgang« durch die Neustadt unternommen hatte. In diesem Straßenzug fand sich eine Kneipe neben der anderen. Und wenn man in jeder nur ein Bier trank, reichte es für eine mittlere Alkoholvergiftung.

»Ja«, erwiderte Christoph und fuhr fort: »Es hat wieder Einbrüche gegeben. Diesmal am Stadtweg.«

Große Jäger gab einen undefinierbaren Laut von sich.

»Was will der Seniorkommissar damit sagen?«, erkundigte sich Christoph.

»Das nimmt allmählich überhand. Wieder in einfache Wohnungen? Bei normalen Menschen?«

»In Nordfriesland wohnen nur normale Menschen«, belehrte ihn Christoph.

Der Oberkommissar schob ein paar Papiere zur Seite, die er beim Verlassen seines Arbeitsplatzes am Vortag so hatte liegen lassen, wie er sie gerade in Bearbeitung hatte. Mit seinem Zeigefinger, unter dessen Nagel ein Trauerrand beheimatet war, fuhr er an dem auf der Schreibtischunterlage gedruckten Kalender entlang.

»Hast du auf den Kalender gesehen?«, fragte Große Jäger.

»Ja. Der zweite Oktober.«

»Heute ist der Tag der deutschen Zwietracht.«

»So? Das habe ich anders in Erinnerung.«

Der Oberkommissar schüttelte den Kopf. »Ich sehe nicht nach Osten in die neuen Länder. Für die Wiedervereinigung ist der Tag schon okay. Wir brauchen einen weiteren Feiertag, an dem sich Bayern an die Einheit mit dem Rest der Republik erinnert.«

Christoph stöhnte auf. »Nun fang nicht wieder an, über den bayerischen Verkehrsminister zu schimpfen.«

»Warum nicht? Sieh dir unsere B 5 an. Bis zur Kreisgrenze ist die gut ausgebaut. Und dann? Und wenn du das übergeordnet betrachtest, taugt der Nord-Ostsee-Kanal bald nur noch für Ruderregatten. Da hat sich der alte Kaiser Wilhelm ins Zeug gelegt und den Kanal buddeln lassen, hat uns die Sektsteuer beschert, um den Kanal damit zu finanzieren. Und heute? Du kannst saufen, so viel du willst. Das gibt höchstens eine kaputte Leber, aber keinen Meter Kanalsanierung.« Große Jäger zog die Stirn kraus. »Kann es sein, dass manche Menschen schon vor der Geburt sündigen?«

»Ja. Wir sind alle mit der Erbsünde belastet.«

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine die bedauernswerten Menschen, die etwas anderes begangen haben müssen und zur Strafe in Bayern mit dem dortigen Dialekt geboren wurden.«

Christoph sah zum Oberkommissar hinüber. »Hast du nichts zu tun und musst philosophische Betrachtungen anstellen?«

Große Jäger stöhnte auf. »Unbequem«, maulte er und veränderte seine Sitzposition.

Die herausgezogene Schreibtischschublade gab einen ächzenden Ton von sich, als er seine dort geparkten Füße bewegte. Dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken.

»Hätte man dir damals in Kiel etwas Anständiges beigebracht, zum Beispiel das vernünftige Betätigen einer Tastatur mit zehn Fingern, würde es nicht so abgehackt klingen. Dabei kann man nicht in Ruhe denken.«

»Ist ›Denken‹ im Münsterland ein anderer Begriff für ›Schlummern‹? Oder ist das Wilderich-spezifisch?«

»Beleidige mir nicht meine Westfalen. Die sind einmalig in Deutschland. Fast wäre ein Münsteraner Bundespräsident geworden.«

Christoph sah auf. »So? Wer denn?«

Große Jäger griente ihn an. »Das bekommst du auch mit Joker nicht heraus. Günther Jauch. Der beweist seit Jahren, dass er alles weiß. So sind wir eben, wir Münsteraner.«

»Ich denke, du bist naturalisierter Nordfriese?«

»Ich bin Weltbürger. Es wäre schade für die Menschheit, wenn jemand wie ich nur einer einzigen Region gehören würde.« Mühsam erhob er sich. »Mit einem Kieler kann man nicht vernünftig reden. Ich hole mir jetzt einen Kaffee bei Tante Hilke.«

Dann verließ er das Büro.

Christoph sah ihm mit einem Lächeln hinterher. Wer den knorrigen Mann mit der rauen Schale nicht kannte, ahnte nicht, welch weites Herz sich darunter verbarg. Sein Äußeres mit der fleckigen Lederweste, in der Große Jäger ein Einschussloch wie einen Orden trug, der schmuddeligen Jeans, deren Gürtel vom überhängenden Schmerbauch nahezu verdeckt wurde, und dem roten Holzfällerhemd passte zu den selten gewaschenen dunklen Haaren, in die sich in den letzten Jahren immer mehr silbergraue Strähnen eingeschlichen hatten. Die dunklen Bartstoppeln waren kein gepflegter Dreitagebart. Der Oberkommissar erachtete es als Zeitverschwendung, sich jeden Morgen zu rasieren.

Christoph wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. Der Einbruchserie musste jetzt mit vermehrtem Einsatz seiner Beamten begegnet werden. Er legte die Meldung an die Seite. Dieser Punkt würde in der Dienstbesprechung des Teams eine herausragende Rolle einnehmen. Er wurde durch das Schnarren seines Telefons abgelenkt. Es meldete sich eine Kollegin des Husumer Polizeireviers aus demselben Haus.

»Wir haben einen Anruf über einen Zwischenfall auf dem Ostfriedhof erhalten«, sagte die uniformierte Beamtin, »und eine Streife hingeschickt. Die melden einen außergewöhnlichen Fall einer vermutlichen Grabschändung. Wir haben gedacht, dass es etwas für Sie wäre.«

»Ist die Streife noch vor Ort?«

»Die warten auf eine Antwort.«

»Wir kommen«, sagte Christoph und überlegte, welchen Mitarbeiter er hinschicken könnte. Er beschloss schließlich, die Sache selbst anzusehen, und zog seine Jacke über.

»Schon wieder Feierabend?«, sagte Große Jäger und stieß einen Fluch aus, weil er in der Tür mit Christoph zusammengestoßen war und nur mit einem gekonnten Sidestep verhindern konnte, dass der überschwappende Kaffee auf seine Jeans kleckerte.

»Ich will zum Probeliegen auf den Ostfriedhof.«

»So plötzlich?« Er musterte Christoph mit spöttischem Blick von oben bis unten. »Zu sehen ist nichts. Geht es mehr um den inneren Verfall? Oder hat sich deine Frau beschwert? Ach ja«, schob er nach, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Anna bekommt ja eine gute Witwenrente aus deiner Pension. Da werde ich mich um sie bemühen müssen.« Dann wurde er ernst. »Um was geht es?«

Christoph berichtete vom Anruf der Schutzpolizei.

»Ich komm mit«, entschied Große Jäger, stellte seinen Kaffeebecher ab, nachdem er zuvor einen großen Schluck genommen hatte, und fing fürchterlich an zu japsen. Als er wieder Luft bekam, schimpfte er: »Das lernt Tante Hilke nie. Ich muss mir mal den Trick verraten lassen, wie die das Wasser mehrere hundert Grad heiß bekommt.«

Wenig später saßen sie in Christophs Volvo und fuhren am Bahnhof entlang, der im Unterschied zu vielen anderen Stationen ein kleines Schmuckstück war, und passierten in der Herzog-Adolf-Straße Große Jägers Wohnung in einem der Mehrfamilienhäuser aus den Anfängen der sechziger Jahre.

Merkwürdig, dachte Christoph, wir sind nicht nur ein gutes Team – dabei bezog er Harm Mommsen und dessen Partner Karlchen ebenso mit ein wie seine Frau Anna –, sondern verkehren auch privat miteinander. Aber in all den Jahren ist noch nie irgendjemand in Große Jägers Wohnung gewesen.

Am nächsten Kreisverkehr bogen sie rechts ab und ließen den ZOB seitlich liegen.

»Wer sich das ausgedacht hat«, brummte Christoph. »Da steigt doch nie jemand ein.«

»Ich weiß nicht, wie es mit den Schülern ist«, erwiderte Große Jäger.

»Die stehen doch alle am Bahnhof. Aber das hier …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist genauso wie mit der Parksituation in Husum. Schön, es gibt Angebote, aber wenn ich an den Erichsenweg denke, graust es mir. Das war ein beliebter Platz für Leute, die aus der Umgebung gekommen sind und etwas länger als zwei Stunden in der Stadt bummeln wollten. Für ein paar lausige Cent hat man dort Parkuhren errichtet, um Besucher abzukassieren. Das lernen die nie, dass man die nicht an den Stadtrand vertreiben darf. Und die Konkurrenz rund um Husum schläft nicht. Die Städte sind nicht minder attraktiv, bieten aber kostenfreies Parken an.«

»Das hast du in Husum auch.«

»Aber nur für zwei Stunden, wenn ich etwas in bestimmten Geschäften kaufe.«

Inzwischen waren sie rechts abgebogen, dann wieder links und noch einmal rechts.

»Bei dieser Einbahnstraßenregelung bekommst du einen Drehwurm«, knurrte Große Jäger.

»Hast du schlecht geschlafen? Du bist ausnehmend missgelaunt.«

»Pass lieber auf, wohin du fährst«, herrschte ihn der Oberkommissar an. »Das hier ist falsch. Wir hätten in die Schleswiger Chaussee gemusst.«

»Hier kommen wir aber auch zum Friedhof.«

»Da muss man aber so weit laufen«, maulte der Oberkommissar und war immer noch unzufrieden, als Christoph auf dem Parkstreifen gegenüber der Husumer Schwimmhalle hielt.

Zum Glück war das große Tor schon geöffnet, und sie mussten sich nicht durch das Drehkreuz zwängen. Christoph blieb einen Augenblick unentschlossen stehen und warf einen Blick auf das Hinweisschild, das den Weg zur Grabstelle der Regenbogenkinder wies. Vis-à-vis lag die Gedenkstätte für die Opfer des Ersten Weltkriegs.

»Wohin?«

»Auf den Friedhof.«

»Geht es ein wenig genauer?«

»Mehr Informationen habe ich nicht«, gestand Christoph ein.

»Und so was wird Hauptkommissar. Sogar Erster Hauptkommissar.« Der Oberkommissar versenkte seine Hände in die ausgebeulten Taschen seiner Jeans und stapfte los in Richtung der rot geklinkerten Kapelle, die auf den ersten Blick einem Bauwerk aus einem englischen Landkrimi um Inspector Barnaby ähnelte. Unterwegs sah er in die Quergänge, konnte aber nichts entdecken.

»Mann, was ist das für eine Suppe«, beklagte er sich über den Nebel.

»Auf dem Damm von Nordstrand zum Festland rüber war fast nichts zu sehen«, sagte Christoph. »So dicht war der Nebel.«

Doch Große Jäger schien das nicht zu interessieren. An der Kapelle bog er ab.

»Hier geht’s zur Verwaltung«, erklärte er, nicht ohne erneut über die endlosen Fußwege Klage zu führen.

Das Gebäude der Friedhofsverwaltung war ein lang gestreckter Bau, der wie ein zu groß geratenes Einfamilienhaus aussah und dessen Walmdach über und über mit Moos bedeckt war. Große Jäger zeigte darauf.

»Da züchten die ihr Grünzeug, das sie später für viel Mäuse als Trauergesteck verkaufen.«

»Soll ich dich gleich als Inspektor Moser vorstellen?«, fuhr ihn Christoph an. »So wie du heute herummoserst. Ich habe einen heißen Tipp für dich. Versuch morgen früh, mit dem anderen Bein aufzustehen.«

Diese Anmerkung lockte den Anflug eines Lächelns auf das unrasierte Antlitz des Oberkommissars.

Vor den Türen, die zur öffentlichen WC-Anlage führten, stand eine kleine Menschenansammlung.

»Moin«, grüßte Christoph. »Polizei. Wir wollen zur …«

Er musste seine Frage nicht zu Ende führen. Stumm zeigte eine Angestellte, die die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände seitlich an die Flanken geführt hatte, auf einen Weg, der Richtung Norden führte. Christoph war sich sicher, dass es nicht nur die morgendliche Kühle und der Nebel waren, die die Frau frösteln ließen.

Fünfzig Meter weiter stießen sie auf die beiden Beamten der Streife und einen älteren Mann in Arbeitskleidung.

Nach einer knappen Begrüßung auf nordfriesische Art erklärte ein Beamter: »Das ist Herr Vollstedt. Er arbeitet hier und hat das da entdeckt.«

»Nee, nee«, protestierte Vollstedt. »Ich war es nicht, ich mein, der das entdeckt hat. Das war Lenny.«

»Wer ist das?«

»Ein netter Kerl. Mongoloid.«

»Downsyndrom nennt man es heute«, korrigierte ihn Christoph.

Doch Vollstedt hörte nicht zu. »Der wohnt dort drüben.« Er zeigte auf die Nebelwand. »Lenny treibt sich den ganzen Tag hier herum.«

»Macht er –?«, wollte Christoph fragen, wurde aber sofort unterbrochen.

»Nix da. Das ist ein unheimlich lieber Bursche. Alle Friedhofsbesucher mögen ihn. Immer hilfsbreit. Lenny kennt hier jeden Winkel. Er weiß genauso gut Bescheid wie ich. Und ich mach das hier schon seit –«

»Danke, Herr Vollstedt«, unterbrach ihn Große Jäger. »Was hat Lenny entdeckt und Ihnen gezeigt?«

»Das da«, sagte der Friedhofsarbeiter und zeigte auf ein geöffnetes Grab, das ein Stück weiter lag.

»Waren Sie schon an der Stelle?«, erkundigte sich der Oberkommissar.

Vollstedt nickte. »Klar. Sonst hätte ich es ja nicht sehen können. Und Lenny war auch da. Und die da.« Dabei zeigte er auf die beiden uniformierten Beamten.

Damit waren mögliche Spuren zerstört, überlegte Christoph und folgte dem Oberkommissar, der sich zwischen zwei Beeten hindurchschlängelte.

»So eine Schweinerei habe ich in all den Jahrzehnten noch nicht erlebt«, hörten sie Vollstedt in ihrem Rücken sagen.

Das mochte wohl zutreffen.

Das Erdreich war ausgehoben und neben dem Grab aufgehäuft. Der Sargdeckel war eingeschlagen. Das Holz war zersplittert.

»Da hat jemand mit einem Beil draufgeschlagen«, stellte Große Jäger fest.

Christoph stimmte ihm zu. Auch ohne dem Ergebnis der Spurensicherung vorzugreifen, war zu erkennen, dass jemand mit einem stabilen Handbeil den Deckel zertrümmert hatte.

Viel schlimmer war aber der Anblick dessen, was vom Verstorbenen noch zu erkennen war. Und die Flüssigkeit, in der die sterblichen Überreste schwammen.

Christoph hatte den hartgesottenen Oberkommissar selten entsetzt gesehen. Jetzt stand ihm das Grauen ins Gesicht geschrieben.

»Da hat jemand den Sarg mit Fäkalien vollgeschüttet«, sagte Große Jäger angewidert. Dann richtete er sich auf, holte tief Luft und wies die beiden uniformierten Kollegen und Vollstedt von der Friedhofsverwaltung an: »Wir müssen sofort diesen Teil des Friedhofs großflächig sperren. Am besten wäre es, die gesamte Anlage zu schließen.«

»Wir haben um zehn Uhr die erste Beerdigung«, erklärte Vollstedt schüchtern. »Ich glaube nicht, dass wir die absagen können. Darüber muss allerdings der Chef entscheiden.«

Große Jäger warf Christoph einen raschen Blick zu. Dann entschied er: »Eine Verschiebung kann man der Trauergemeinde nicht zumuten. Die Kapelle ist weit genug entfernt.« Er sah sich um. »Wo ist die Grabstätte?«

»Ein Stück weiter Richtung Flensburger Chaussee.«

»Kommen die hierher, ich meine, in die Nähe?«

»Nicht unbedingt.«

»Gut. Dann schließen wir den Friedhof, lassen nur die Trauergäste der Beerdigung durch und sperren diesen Teil ab. Sprechen Sie mit Ihrem Chef. Oder sollen wir das machen?«

Vollstedt schüttelte den Kopf. »Der ist in Ordnung. Da gibt es keine Probleme.«

Christoph war ein paar Schritte zur Seite gegangen und rief die Spurensicherung in Flensburg an.

»Habt ihr wieder eine Leiche? Lass mich raten: eine schmutzige«, erklärte Hauptkommissar Klaus Jürgensen, der Leiter des K6 in der zuständigen Bezirkskriminalinspektion. Dann nieste er und räusperte sich.

»Klaus«, begann Christoph und ging nicht wie sonst auf die üblichen Frotzeleien ein. »Alles, was du gesagt hast, trifft zu, aber auf eine besonders perfide Weise.« Mit wenigen Worten schilderte er, was sie vorgefunden hatten.

»Okay. Wir sind schon unterwegs«, erwiderte Jürgensen.

»Können Sie die Tatortsicherung übernehmen?«, bat Christoph die beiden Beamten der Streife.

»Jungs, wir besorgen euch einen heißen Kaffee«, ergänzte Große Jäger.

»Danke, für mich nicht«, wehrte der Jüngere ab, während sein Kollege »Das wäre prima« antwortete.

Sie gingen zum Gebäude der Friedhofsverwaltung zurück, wo sie von den dort wartenden Leuten mit fragenden Augen erwartet wurden.

»Wir haben die Untersuchungen aufgenommen«, beließ es Christoph bei einer knappen Erklärung. Die Angestellte, die ihnen zuvor den Weg gewiesen hatte, verschwand in das Innere des Hauses und kochte Kaffee. Der Leiter der Friedhofsverwaltung veranlasste die von den Beamten erbetenen Maßnahmen.

»Wer liegt in dem Grab?«, fragte Christoph, als die Arbeiten verteilt waren.

»Dr. Pferdekamp«, antwortete Henry Vollstedt spontan.

»Woher wissen Sie das so genau? Da liegen doch Hunderte von Toten begraben«, fragte Christoph erstaunt.

»Ich mach das hier seit Jahrzehnten. Da kennt man sich ein bisschen aus.«

»Sie kennen alle Gräber mit Namen?« Christoph war immer noch verblüfft.

»Nicht alle. Bewahre. Aber viele«, erklärte Vollstedt.

»Und wer war Dr. Pferdekamp?«

»Muss man den kennen?«, fügte Große Jäger an.

»Persönlich bin ich ihm nie begegnet«, erklärte Vollstedt. »Ich weiß nur, dass auf dem Grabstein ›Dr. med. Hasso Pferdekamp‹ steht.«

»Ein Arzt«, sagte Christoph leise, mehr zu sich selbst gewandt. »Wie lange ist der Mann schon tot?«

»Ungefähr zwei Jahre.«

»Geht es ein bisschen genauer?«, fragte Große Jäger.

Vollstedt zuckte hilflos mit den Schultern. »So genau habe ich das auch nicht im Kopf. Da müssen wir Annedore fragen. Kommen Sie mal mit.« Er führte sie in das Büro der Friedhofsverwaltung und wiederholte im Beisein der Angestellten die Frage der Beamten.

Die Frau gab etwas in ihren Computer ein. »Dr. Pferdekamp ist vor zwei Jahren beerdigt worden.« Sie nannte das genaue Datum und den Sterbetag.

»Das klingt nicht spektakulär«, stellte Große Jäger fest. »Zwischen Tod und Beisetzung liegen sechs Tage. Das ist ganz normal.«

Die Friedhofsangestellte bestätigte es mit einem Nicken.

»Wie alt ist Dr. Pferdekamp geworden?«

Sie sah erneut nach. »Achtundsiebzig Jahre.«

»Hm«, überlegte Große Jäger laut. »Ein schönes Alter. Auch das gibt uns zunächst keinen weiteren Hinweis. War er Husumer?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Hier ist als letzte Adresse die Lornsenstraße in Husum angegeben.«

»Angehörige? Wer kümmert sich um das Grab?«

»Kann ich Ihnen die Daten geben? Ich meine, wegen Datenschutz und so«, sagte sie zögerlich.

»Das gehört zu den Ermittlungsarbeiten. Außerdem … Wollen Sie zu den Angehörigen fahren und erklären, was dort draußen passiert ist?«

Man sah förmlich, wie ein Schauder die Frau durchflutete. »Um Gottes willen«, sagte sie leise und sah auf ihren Bildschirm. »Hier steht, dass ein Holger Kruschnicke Bevollmächtigter für die Grabstätte ist. Gleiche Anschrift wie der Verstorbene«, fügte sie an.

»Das ist ein anderer Name. Steht dort das Verwandtschaftsverhältnis? Schwiegersohn? Neffe?«, fragte Große Jäger.

»Leider nicht«, bedauerte die Frau.

Christoph rief auf seiner Dienststelle an und bat »Tante Hilke« um Unterstützung.

»Was kann ich für euch tun?«, fragte die blonde Kommissarin mit den Sommersprossen.

»Wir benötigen Informationen über Dr. Hasso Pferdekamp, der vor zwei Jahren verstorben ist, und Holger Kruschnicke, wohnhaft in der Lornsenstraße.«

»Geht es um die Sache auf dem Friedhof? Was ist dort los?«, wollte Hilke Hauck wissen.

»Das möchtest du nicht hören«, wiegelte Christoph ab. »So etwas hat es in Husum noch nicht gegeben. Und ich hoffe, es wird sich nie wiederholen«, fügte er leise an.

Sie versuchten, die Wartezeit bis zum Eintreffen der Spurensicherung mit der Befragung der Friedhofsmitarbeiter zu überbrücken, aber außer den Informationen, die sie schon erhalten hatten, gab es keine weiteren Erkenntnisse.

Das Grab Dr. Pferdekamps befand sich im gleichen Zustand wie die meisten Gräber. Nicht komplett vernachlässigt, aber auch nicht übermäßig gehegt und gepflegt.

»Das sind oft ältere Frauen, die zum Friedhof kommen und sich manchmal mehrfach in der Woche um die Pflege des Grabes kümmern. Bei gutem Wetter sitzen sie dort, und einige halten auch Zwiesprache mit ihrem Partner. Obwohl ich das seit Jahrzehnten kenne, berührt es mich immer noch«, erzählte Vollstedt. Dann senkte er seine Stimme. »Das wird nur übertroffen von den Gräbern, in denen Eltern ihre Kindern beerdigt haben.« Er schüttelte sich. »Daran möchte ich nicht denken.« Plötzlich straffte er sich. »Was ist das für ein makabrer Scherz, den sich irgendwelche Leute ausgedacht haben?«

»Das ist kein Scherz«, entgegnete Christoph. »Auch dumme und rohe Scherze haben ihre Grenzen. Hier steckt etwas anderes dahinter. Da hat jemand Rache genommen.«

»Rache?« Der Friedhofsarbeiter sah Christoph ungläubig an.

Der nickte. »Ja. Wer so viel Mühe auf sich nimmt, ein Grab auf so perfide Weise zu schänden, muss einen abgrundtiefen Hass gegenüber dem Verstorbenen hegen. Der muss so tief sitzen, dass auch zwei Jahre nach der Beerdigung der Hass so unbändig ist, dass jemand diese Anstrengung auf sich nimmt, aber auch ein großes Risiko, entdeckt zu werden.«

»Und es war eine gut vorbereitete Tat«, ergänzte Große Jäger. »Kein spontaner Entschluss.«

»Aber wieso?« Vollstedt sah von einem zum anderen.

»Zunächst muss man die Örtlichkeiten auskundschaften, zum Beispiel ob es ein Loch im Zaun gibt, durch das der oder die Täter geschlüpft sind. Dann müssen die benötigten Arbeitsmaterialien beschafft werden. Schaufel. Beil. Aber vor allem … woher nimmt man die erforderliche Menge an Exkrementen? Ersparen wir uns Einzelheiten«, beschloss der Oberkommissar.

Er bot dem Friedhofsarbeiter eine Zigarette an. Schweigend rauchten sie, während Christoph seinen Blick über die Wipfel der Bäume schweifen ließ.

Ganz langsam lichtete sich der Nebel und zog sich zurück, aber nicht gleichmäßig. Es schien, als würden sich einzelne dichtere Schwaden an manchen Stellen festsetzen, während ein Stück weiter das Grün im feuchten Glanz eines trüben Morgens schimmerte.

Eine Dreiviertelstunde nach dem Anruf trafen die drei Mitarbeiter der Spurensicherung mit ihrem alten VW LT ein.

»Da kommt Klaus«, sagte Große Jäger, als er das Husten und Niesen hörte, das charakteristisch für den kleinen Hauptkommissar mit den fast nicht mehr wahrzunehmenden kurzen Haaren war, die zumindest an den noch nicht völlig kahlen Stellen einen Hauch von Kopfhaar andeuteten.

»Hier sind wir«, rief Große Jäger, als die Männer um die Ecke bogen. »Moin, Klaus. Dein Niesen wirkt bei Nebel wie ein Echolot.«

»Spar dir deinen Kommentar«, erwiderte Jürgensen. »Ich bin immer nur dann Allergiker, wenn ich zu euch an die Westküste kommen muss. Ich bete seit Jahren, dass endlich eine große Sturmflut kommt und euch wegspült.«

»Und Flensburg zur Insel macht?«

»Zur Insel der Glückseligen. Aber das sind wir jetzt schon. Was habt ihr zu bieten?« Jürgensen schnupperte in der Luft.

»Eine Leiche.«

»Eine?« Sein ausgestreckter Arm beschrieb einen Halbkreis. »Ich vermute – viele.«

»Ja«, bestätigte Große Jäger. »Und die wollen wir alle nacheinander obduzieren. Fangen wir mit einer an, haben wir gedacht. Im Unterschied zu euch Ostküstenbarbaren sind wir Nordfriesen ein bescheidenes und rechtschaffenes Volk.«

Jürgensen sah sich demonstrativ um. »Wo ist hier ein Nordfriese? Ich sehe keinen.«

»Hier sind ganz viele. Die haben wir vor Kannibalen wie dir aber gut versteckt, etwa eineinhalb Meter unter der Erdoberfläche.«

»Bringt ihr euch jetzt gegenseitig um? Endlich. Das ist auch eine Lösung.«

»Den letzten Toten hast du auf dem Gewissen. Als wir ihn gefunden haben, hast du ihn mit deiner ewigen Erkältung so infiziert, dass die Leiche ganz gestorben ist.«

Jürgensen räusperte sich. »Wo müssen wir hin?«, schaltete er urplötzlich auf Ernsthaftigkeit um.

Christoph wäre enttäuscht gewesen, wenn es heute bei der Begrüßung kein Geplänkel zwischen den beiden gegeben hätte.

Wie in einer Prozession gingen sie zur Grabstelle Dr. Pferdekamps.

Jürgensen warf einen Blick darauf. »Mein Gott«, sagte er. Das reichte. Mit ernster Miene sah er Christoph an. »Wer macht so etwas?«

»Das versuchen wir herauszufinden.« Christoph klopfte Jürgensen aufmunternd auf die Schulter. »Ich glaube, Klaus, unser Job ist in diesem Fall der einfachere.«

Das war nicht nur dahergesagt. Schon oft hatte Christoph im Stillen die Frauen und Männer der Spurensicherung bewundert, die mit nahezu stoischem Gleichmut einer Arbeit nachgingen, die kaum beschreibbar war.

Jürgensen nickte andächtig. »Wir kümmern uns«, sagte er. »Euch brauchen wir hier nicht mehr. Wollt ihr noch etwas ansehen?«

»Nein. Danke.«

»Wir legen das frei und bringen es zur KTU nach Kiel.« Er sah sich um. »Außerdem werden wir die Umgebung nach Spuren absuchen.«

»Viel Erfolg«, sagte Christoph und schob ein anerkennendes und herzliches »Danke« hinterher. Dann rief er noch einmal Hilke Hauck an. »Habt ihr schon etwas herausfinden können?«

»Nicht viel. Dr. Hasso Pferdekamp war bis vor einigen Jahren niedergelassener Arzt in Garding.«

»Welche Fachrichtung?«, unterbrach Christoph sie.

»Praktischer Arzt. Also Facharzt für Allgemeinmedizin, wie das heute wohl heißt. Nach Aufgabe seiner Praxis ist er nach Husum gezogen. Allerdings war er in der Lornsenstraße schon länger gemeldet.«

»Wie lange?«

»Puh.« Es dauerte einen Moment, bis Hilke Hauck die Stelle gefunden hatte. »Wenn ich es richtig interpretiere, wohnt er schon seit dreißig Jahren in Husum.«

»Und hat in Garding praktiziert? Es gibt doch eine Residenzpflicht für Ärzte. Die dürfen ihren Wohnsitz nicht weiter als eine bestimmte Entfernung von der Praxis wählen, damit sie in Notfällen für die Patienten erreichbar sind.«

»Garding ist nicht aus der Welt.«

»Ich bin kein Jurist, habe aber Zweifel, ob ein Wohnsitz in Husum noch im Toleranzbereich liegt. Wie lange war Dr. Pferdekamp Arzt in Garding?«

»Du fragst Sachen. Moment.« Erneut brauchte Hilke Hauck einen Augenblick Zeit zur Beantwortung der Frage. »Zweiunddreißig Jahre. Vor neun Jahren hat er aufgehört.«

»Da war er einundsiebzig«, überlegte Christoph. »Dann müsste er noch für Privatpatienten tätig gewesen sein, da er seine Kassenzulassung mit, so glaube ich, achtundsechzig zurückgeben musste. Immerhin hat er schon während dieser Zeit in Husum gewohnt.«

»Das steht nicht fest«, wandte Hilke Hauck ein. »Dr. Pferdekamp hatte auch einen Zweitwohnsitz in Garding. Und zwar unter derselben Adresse wie die Praxis.«

»Das wird immer spannender«, stellte Christoph fest und berichtete Große Jäger von Hilkes Rechercheergebnissen. »Dann werden wir uns auf den Weg machen«, beschloss er.

»Ganz bis zum Auto laufen?«, maulte Große Jäger.

Christoph ersparte sich eine Antwort. Er schätzte den Weg bis zum Ausgang auf etwa zweihundert Meter.

Auf der Buskehre vor dem gegenüberliegenden Hallenbad, das sich immer wieder gegen das Gerücht wehren musste, marode zu sein, wendete Christoph und bog in den Marienhofweg ein, eine Straße mit vielen unterschiedlichen Gesichtern, um kurz darauf das Ziel zu erreichen, das in einem ruhigen Wohnviertel mit vielen Häusern aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lag.

»Husum ist die Stadt der kurzen Wege«, sagte er, als er seinen Volvo vor dem Haus abstellte.

Die enge Straße mit dem Kopfsteinpflaster erweckte den Eindruck, als wäre sie von der Umgebung vergessen worden. Gerade das machte den Reiz dieses gewachsenen Wohnviertels aus, beginnend bei dem unscheinbaren Friseursalon an der Straßenecke über die Häuser, die nicht uniform gestaltet, sondern sehr individuell ausgeprägt waren. Hier wohnte nicht der große Reichtum, aber eine zufriedene Bürgerschaft.

»Du meinst, Dr. Pferdekamp hätte auch zu Fuß zum Friedhof gehen können?« Große Jäger quälte sich aus dem Sitz.

»Wie sollte er, wenn du über jeden Schritt meckerst.«

»Ich habe bei der Kavallerie angemustert, nicht bei der Infanterie«, brummte der Oberkommissar und sah sich um. »Da«, sagte er und zeigte auf ein Haus mit zur Straße weisendem Spitzgiebel, dessen Fenster mit kunstvoll gestalteten Stuckornamenten verziert waren. Als sie vor der Tür standen, las er laut: »Kruschnicke.« Er beugte sich vor und sah sich die Mauer an. »Da war früher ein größeres Namensschild angeschraubt. Dieses hier ist noch nicht alt.«

Sie klingelten und mussten einen Moment warten, bis ihnen ein schlanker, fast dürrer Mann mit auffallend langem Hals öffnete. Das schmale Gesicht wurde durch hochstehende Wangenknochen und eine lange Nase bestimmt. Die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Das schwarze Haar mit den Silberfäden hing in dünnen Strähnen über die Ohren.

Der Mann trug eine braune Stoffhose, ungebügelt, registrierte Christoph, darüber ein Hemd mit einem an einigen Stellen abgestoßenen Kragen, das unter einem Pullunder hervorlugte.

»Ja?«, fragte er und sah die beiden Beamten an, um sofort seinen Blick über die Straße schweifen zu lassen und seine Umgebung zu scannen.

»Herr Kruschnicke?«

»Warum?«

Christoph hielt ihm seinen Dienstausweis entgegen. »Polizei Husum. Wir würden gern mit Ihnen sprechen.«

»Warum?«, wiederholte er und startete erneut den Scanvorgang über die Straße.

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Warum?«

Christoph befürchtete im Stillen, dass Große Jäger auf seine Weise die Gesprächsführung übernehmen würde. Er wurde nicht enttäuscht.

»Mensch, Kumpel, wenn du immer ›Warum?‹ fragst, stehen wir morgen noch vor der Tür.«

Kruschnicke starrte den Oberkommissar mit leicht geöffnetem Mund an, als müsse er dessen Worte erst sortieren. Dann trat er einen Schritt zurück und gab den Eingang frei.

Im Flur roch es leicht muffig, so als hätte jemand nasse Kleidung in einen Schrank gehängt und die Tür geschlossen. Die Lampe mit dem Stoffschirm spendete nur spärlich Licht. Eine Garderobe an der Wand, der Spiegel und eine kleine Kommode aus ebenfalls dunklem Holz, ein Schirmständer aus Messing, die Holztreppe mit den ausgetretenen Stufen, die ins Obergeschoss führte … Alles wirkte auf den ersten Blick bedrückend.

Das galt auch für das Wohnzimmer, in das Kruschnicke die Beamten führte. Der düstere Eindruck setzte sich hier fort. Die Möbel waren alt, ohne antik zu sein, das dunkle Holz schien jedes Licht zu schlucken. Christoph erinnerte es an die Einrichtung seiner Großeltern in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Lediglich die Blumentöpfe mit Zimmerpflanzen, die allgegenwärtig waren, boten ein wenig Auflockerung. Die Fensterbänke waren mit Töpfen vollgestellt, vom Fenstersturz baumelten Ampeln herab, auf der Anrichte standen Blumen, und auch der Tisch war voll davon.

»Dürfen wir uns setzen?«, fragte Große Jäger, und um der unausgesprochenen Frage »Warum?« zuvorzukommen, fügte er an: »Im Sitzen spricht es sich besser.«

Sie nahmen auf dem Sofa Platz, das mit einer Wolldecke abgedeckt war. Kruschnicke ließ sich in einem der tiefen Sessel nieder. Er legte die Hände mit der Innenfläche auf die Oberschenkel und ballte sie zur Faust. Dann öffnete er sie wieder, um von Neuem zu beginnen. Bei jeder Bewegung zuckten seine Mundwinkel.

»Sie kannten Dr. Hasso Pferdekamp?«

Kruschnicke sah Christoph an, als hätte er die Frage nicht verstanden.

Christoph wiederholte sie. »Sie sind auf dem Friedhof als Berechtigter für das Grab eingetragen.«

Statt einer Antwort murmelte Kruschnicke kaum hörbar: »Hasso Pferdekamp.«

»Waren Sie mit ihm verwandt? Sind Sie ein Neffe?«

Kruschnicke stierte auf seine sich unablässig bewegenden Hände.

»Verwandt? Ich?« Ohne aufzusehen, sagte er schließlich. »Er hat hier gewohnt.«

»Mit Ihnen zusammen?«

»Bis zu seinem Tod. Plötzlich war er tot. Ganz friedlich. Hat da gesessen.« Er zeigte auf den zweiten Sessel, über den eine weiße Decke ausgebreitet war, als solle er vor Staub geschützt werden. »Es sah aus, als schliefe er. Dabei war er tot. Einfach so.«

»Sie haben also schon früher mit Dr. Pferdekamp zusammengewohnt«, schloss Christoph aus der Bemerkung. »Haben Sie sich um ihn gekümmert? War er pflegebedürftig?«

»Er? Ich um ihn?« Es erklang ein meckerndes Lachen.

»Noch einmal. Sind Sie mit ihm verwandt gewesen?« Christoph ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Ja. Nein. Weiß nicht.«

»Mensch«, fuhr Große Jäger aufgebracht dazwischen und bohrte sich demonstrativ mit dem rechten Zeigefinger im Ohr. »Der sabbelt wie ein Marktweib. Der ist ja im Redefluss kaum zu bremsen.«

Kruschnicke schien den Sarkasmus gar nicht wahrgenommen zu haben.

»Haben Sie das vorhin verstanden? Wir haben nach dem Grab gefragt. Das ist heute Nacht geschändet worden.«

Der Mann starrte Christoph verständnislos an. »Hassos Grab. Ja. Das ist auf dem Friedhof. Gleich drüben. An der Flensburger. Ein schönes Grab.« Ein versonnen wirkendes Lächeln huschte über das Gesicht Kruschnickes.

»Das Grab ist heute Nacht aufgebrochen worden. Man hat den Sarg freigelegt und dann …« Christoph brach ab.

»Das geht doch nicht. Hasso ist doch schon tot.«

Die beiden Beamten wechselten einen raschen Blick. Als Große Jäger sich sicher war, dass Kruschnicke ihn nicht beobachtete, machte er mit der Hand eine Wischbewegung vor seiner Stirn. Christoph breitete die Hände aus und signalisierte mit dieser Geste Ratlosigkeit.

»Leben Sie hier allein?«, wechselte er das Thema. Um sicherzugehen, dass der Mann ihn verstand, ergänzte er: »In diesem Haus.«

»Das ist mein Haus.«

Christoph seufzte. »Sie haben es geerbt. Von Dr. Pferdekamp?«

»Alles meins.«

»Was machen Sie beruflich?«

Kruschnicke hörte mit dem Ballen der Fäuste auf. »Nix«, sagte er. Es klang beiläufig.

»Wovon leben Sie?«, wollte Große Jäger wissen.

»Leben?« Es klang nachdenklich. »Ich? Leben?« Er schloss die Augen und versank in sich. »Ja. Ich lebe noch.«

»Sie lieben Blumen?«, wechselte Christoph erneut das Thema.

Ein Ruck durchfuhr Kruschnicke. Seine Augen bekamen einen nahezu strahlenden Glanz.

»Die habe ich alle selbst gepflanzt. Fast alle. Ich pass gut auf sie auf. Im Sommer bin ich den ganzen Tag im Garten. Im Winter ist das hier mein Garten.« Er stand auf und ging zur Fensterbank. Sanft fuhren seine Fingerspitzen über die langen Blätter, als würde er sie liebkosen. Plötzlich drehte er sich um. »Das ist eine Bromelie. Auf Lateinisch heißt sie Bromeliaceae, ein Ananasgewächs. Wussten Sie, dass Christoph Kolumbus die Ananas nach Europa gebracht hat?«

»Und die Pflanze daneben?«, fragte Christoph.

Kruschnickes Hand wanderte einen Topf weiter. »Die hier?«

Nachdem Christoph genickt hatte, erklärte der Mann. »Das ist ein Anthurium andraeanum. Wir nennen sie ›Große Flamingoblume‹. Die kommt aus Mittel- und Südamerika. Die hat ein wunderbares rotes, fast violettes Blütenblatt und einen langen weißen Blütenstand.«

»Die Blumen sind Ihre Welt.«

Kruschnicke schien wie verwandelt. Nachdenklich nickte er. »Sind sie nicht wundervoll?«

Christoph räusperte sich und deutete Große Jäger durch eine Handbewegung an, dass der sich zurückhalten solle.

»Haben Sie auch Dr. Pferdekamps Grab bepflanzt?«

»Hasso liebte die Blumen nicht so wie ich. Er hat mich ausgelacht. Aber leiden mochte er sie doch. Es störte ihn nicht, wenn ich Blumen pflanzte.«

»Herr Kruschnicke«, sagte Christoph mit Nachdruck. »Irgendjemand hat die Pflanzen auf Dr. Pferdekamps Grab zerstört. Ihre Pflanzen.«

»Was?« Kruschnicke schien aufgebracht. »Wer hat das getan?«

Christoph räusperte sich. »Deshalb sind wir hier. Wir sind von der Polizei«, erinnerte er ihn noch einmal. »Wir möchten klären, wer die Blumen zerstört hat.«

»Aber warum?« Kruschnicke klang ungläubig. »Wer zerstört Blumen? Die tun niemandem etwas. Die nicht.«

Christoph stutzte. Mit einem Seitenblick registrierte er, dass auch Große Jäger die Überbetonung aufgefallen war.

»Wer tut wem was?«

Kruschnicke schwieg, während seine Hände versonnen mit den Blättern der Pflanzen spielten.

»Hat Ihnen jemand etwas getan?«

»Mir?«

»Ja.«

Sie erhielten keine Antwort.

»Oder Dr. Pferdekamp. Hatte er Feinde?«

Der verständnislose Ausdruck war auf das Antlitz des Mannes zurückgekehrt. »Feinde? Hasso? Warum?«

Christoph stand auf und gab Kruschnicke seine Visitenkarte.

»Sie können mich jederzeit anrufen«, sagte er und sah, wie der Mann die Karte entgegennahm und achtlos auf die Fensterbank legte, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben.

»Das ist ein seltsamer Vogel«, stellte Große Jäger fest, als sie wieder auf der Straße standen und der Oberkommissar sich eine Zigarette angezündet hatte. Sie sahen, wie ein älteres Ehepaar aus einem der Nachbarhäuser einen asiatischen Kleinwagen mit Leergut belud. Christoph ging auf die beiden zu.

»Moin. Kannten Sie Dr. Pferdekamp?«

Während der Mann sie misstrauisch beäugte, zupfte seine Frau am Ärmel ihres Gatten.

»Sag nichts, Werner. Wer weiß, was die wollen.«

Christoph zog seinen Dienstausweis hervor. »Wir haben nur ein paar Fragen.«

Aufmerksam studierte die Frau das Dokument. »Ist das auch echt?«, fragte sie skeptisch. »Man hört immer wieder von krummen Sachen. Die Ganoven haben viele Tricks drauf.«

»Wir möchten nur ein paar harmlose Informationen. Hatte Dr. Pferdekamp Kontakt zu Nachbarn?«

»Ach der«, tat die Frau ab. »Der war doch was Besseres. Der Herr Doktor!« Dabei drückte sie mit dem Zeigefinger ihre Nasenspitze in die Höhe.

»Komm, Else«, wandte ihr Mann ein. »Der hat nicht rumgeschludert. War immer höflich. Hat gegrüßt. Aber mehr hat er nicht gesagt.«

»Wenn man zweiunddreißig Jahre in einer Straße wohnt, dann unterhält man sich doch«, fiel die Frau ein. »Aber nicht der Doktor. Der war ein Eigenbrötler.«

»Und der Herr Kruschnicke?«

Der Mann tippte sich an die Stirn. »Der hat sie doch nicht mehr alle.«

»Ist der schon einmal auffällig geworden?«

»Immer«, bekräftigte die Frau.

»Inwiefern?«

»Na … Wie der schon geht. Immer dieser stiere Blick. Guckt nicht nach links und rechts.«

»Der ist nicht von dieser Welt.« Der Mann senkte die Stimme. »Jeder weiß doch, dass der meschugge ist. Ballaballa.«

»Wie lange lebt Herr Kruschnicke schon in dem Haus?«