Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit zwanzig Jahren Theaterstücke und Kurzfilme. Als Schauspieler war er an den großen deutschsprachigen Bühnen (Staatstheater Stuttgart, Schauspielhaus Zürich, Burgtheater Wien) engagiert, im Fernsehen gibt er meist den Bösewicht und den üblichen Verdächtigen (»Tatort«, »SOKO Köln«, »Die Sitte«, »Postmortem«). Am Max Reinhardt Seminar und am Konservatorium der Stadt Wien unterrichtet er Schauspiel. Im Emons Verlag erschien »Tod in der Rheinaue«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-021-6
Der Badische Krimi
Originalausgabe
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»Jeder Schatten ist im Letzten doch ein Kind des Lichts.«
Stefan Zweig
EINS
Belledin bemerkte es als Erster: Es hatte aufgehört zu regnen. Nach sieben Wochen ununterbrochenen Niederschlags war das rhythmische Plätschern endlich verstummt. Belledin schielte lauschend hinauf in das Skelett seines Regenschirms. Tatsächlich schlug kein Tropfen mehr auf das schwarze Tuch.
Auch die anderen Trauergäste streckten vorsichtig ihre Hände unter dem Schutz der Schirme hervor, da sie dem Frieden noch nicht trauen wollten. Nach und nach sanken die Schirme, parallel dazu glitt der Sarg in das Grab hinab. Als der Pfarrer die erste Schaufel Erde auf das Eichenholz warf, rissen die Wolken auf und ein Sonnenstrahl erhellte den Friedhof.
Hauptkommissar Belledin hatte den Toten nicht gekannt, aber er musste sich mit ihm beschäftigen. Thomas Hartmann war mit aufgeschlitzter Kehle von seiner türkischen Putzfrau in einer Lache Blut gefunden worden. In seiner Praxis. Neben dem Toten war auch die Tatwaffe gelegen, ein Okuliermesser, wie es die Bauern hier verwendeten, um Obstbäume zu veredeln. Belledin konnte allerdings keinen Bauern oder Winzer unter den Trauergästen entdecken; dafür einige ihrer Ehefrauen. Das fiel ihm auf. Neben ihm selbst und dem Pfarrer waren lediglich die beiden Totengräber und Dr. Merz männlichen Geschlechts.
Belledin musste unwillkürlich an seinen Lieblingsfilm von François Truffaut denken. »Der Mann, der die Frauen liebte …«, murmelte er unter seinem dicken Schnäuzer.
»Was?«
Biggi, die sich bei ihm untergehakt hatte, blickte ihn fragend an. Belledin schüttelte abwehrend den Kopf, so wie er es gerne tat, wenn man ihn beim lauten Nachdenken erwischt hatte.
Biggi hatte es sich nicht nehmen lassen, ebenfalls zur Beerdigung des beliebten Heilpraktikers zu kommen. Normalerweise brachten sie keine zehn Pferde in die Nähe eines Grabes. Die einzigen Beerdigungen, die sie nie verpasste, waren die des englischen Königshauses, des Papstes und ähnlicher Prominenter ersten Ranges. Bei Lady Di hatte sie es geschafft, acht Päckchen Papiertaschentücher zu verbrauchen. Beim Tod von Michael Jackson kam sie lediglich auf drei. Er stand ihr dann doch nicht so nah. Bei der Queen würden es sicherlich sechs Päckchen werden, bei Papst Benedikt war Belledin sich völlig unsicher.
Sie schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch und riss ein neues Päckchen auf. Es war bereits das zweite. Dafür, dass der Heilpraktiker kein Prominenter war, war dies beachtlich.
Belledin überlegte kurz, ob sie auch etwas mit diesem Don Juan gehabt hatte. Es kursierten einige Gerüchte, aber er vertrieb den Gedanken wieder. Und wenn schon, dachte er, solange er noch jeden Mittwoch an die Reihe kam, ging das in Ordnung. Immerhin hatte es Biggi mit Hartmanns Hilfe geschafft, innerhalb von sechs Monaten fünfzehn Kilo abzunehmen und eine schwere Krise zu überstehen. Sie war dadurch in einen zweiten Frühling gerauscht, der auch Belledin zugutekam. Er hatte sich sogar überlegt, ob er Hartmann nicht selbst konsultieren sollte. Seit er sein Knie wegen des Kreuzbandrisses schonen musste, war an Bewegung überhaupt nicht mehr zu denken, und Biggi schien durch den eigenen Gewichtsabbau noch mehr Freude daran zu haben, ihn kulinarisch zu verwöhnen.
Ein hysterischer Schrei riss Belledin aus seinen Gedanken. Silke Brenn war am Grab auf die Knie gefallen. Sie riss die Arme gen Himmel und schrie so laut, dass es sogar die Totenglocken schwer haben würden, dagegenzuhalten. Sofort waren Silkes Schwester Margit und der Pfarrer bei ihr, um sie vom Boden zu heben und tröstend beiseite zu führen. Die Umstehenden begannen zu tuscheln.
Belledin zückte seinen Notizblock und protokollierte Silkes Zusammenbruch. Immerhin war sie die amtierende Weinkönigin der Gegend und stand kurz davor, zu heiraten. Da brach man doch nicht einfach so am Grab eines anderen Mannes zusammen.
Er hatte noch nicht zu Ende geschrieben, da zog ihn Biggi am Arm. Sie wollte nun ebenfalls ans Grab. Belledin gehorchte und geleitete sie an die Stelle, an der Silke kurz zuvor niedergesunken war. Er würde später einige Fragen an sie zu richten haben. Jetzt hoffte er inständig, dass Biggi nicht auch so eine Szene veranstaltete. Aber sie hielt sich tapfer. Sie schnäuzte in ein frisches Papiertaschentuch, warf eine Schaufel Erde auf den Sarg und fragte sich kurz, ob sie nun wieder zunehmen würde.
* * *
Die Abzüge baumelten an Wäscheklammern und tropften ins Säurebad. Killian gefiel der Anblick: Er hatte die letzten vier Wochen damit verbracht, den andauernden Regen zu fotografieren, und jetzt plätscherte er sogar aus den Fotos heraus. Vielleicht sollte er davon ein Foto machen? Ein Foto vom Regenfoto, aus dem es heraustropfte? Vielleicht sollte er die Tropfen dann auch noch farblich nachbearbeiten? Dunkelrot? Ein Regen, der sich in Blut verwandelte, nachdem er fotografiert worden war? Roter Regen.
Killian ließ die inneren Bilder und Phantasien zu, er wusste, dass es zur Bewältigung seiner Kriegstraumata gehörte. Er sah nun tatsächlich Blut aus den frisch abgezogenen Fotos tropfen. Das Plastikbecken färbte sich rot, gestaltete sich zu einem wilden Strudel, der Rohina mit sich in den Abgrund riss. Dann warf jemand Steine auf den Blutsee, und sie hüpften über das Rot, bis auch sie in der Lache ertranken. Killian erkannte den Werfer der Steine. Er war es selbst.
Er riss sich von seinem verschwommenen Spiegelbild los, stieß die Tür der Dunkelkammer auf und rang nach Atem. Dann ließ er sich erschöpft auf sein barockes Sofa fallen und versuchte, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken.
Er dachte an seine Tochter Swintha. Ob ihr Berlin gefiel? Er selbst hatte die Prüfung an der Hochschule der Künste damals ebenfalls bestanden, hatte das Studium dann aber bereits nach dem ersten Semester abgebrochen, weil ihm das Kunstgesülze über Fotografie zuwider gewesen war. Für Killian war Fotografie nicht das Festhalten des Moments, nicht das Einfrieren des Augenblicks, sondern die Entdeckung der Bewegung in der scheinbaren Ruhe. Und dafür hatte er in die Welt ziehen müssen. Dorthin, wo die Bewegung am wildesten tobte: in den Krieg. Und schon wieder waren seine Gedanken dort, wohin sie nicht sollten. Hinter den Linien seiner eigenen Fronten.
Er setzte sich auf, sein Blick fiel auf eine Visitenkarte. Er nahm sie in die Hand und überlegte, ob er einen Termin vereinbaren sollte. Bärbel hatte ihm die Karte gegeben. Sie selbst war auch bei dem Typen in Behandlung, die Hypnose würde ihr sehr helfen, hatte sie gesagt.
Killian atmete durch, schwang sich aus dem Sofa und warf sich seine Jacke über. Er musste sowieso nach Bötzingen, weil er ein paar Fotos vom dortigen Freibad schießen wollte. Früher war es für ihn der größte Spaß gewesen, im Regen zu baden. Das Gefühl der völligen Nässe ließ ihn zum Fisch werden. Er schnappte seine Rolleiflex und öffnete das Schiebetor des Ateliers.
Wie ein Morlock, der aus der Unterwelt ans Tageslicht gekrochen kam, blinzelte Killian in den zerrissenen Himmel. Die Fetzen, die sich die Sonnenstrahlen bereits durch die Wolkendecke geschnitten hatten, blendeten ihn. Er warf einen Blick auf die Kamera und überlegte einen Moment, ob das Regenprojekt damit nicht beendet war. Aber das Schwimmbad wollte er doch noch mit ihr fotografieren, ehe er wieder auf die digitale Nikon umsteigen würde. Das Schwimmbad gehörte zum Element Wasser. Vielleicht krochen die Nebel aus den überfluteten Wiesen, die das Schwimmbecken umgaben? Dann könnte er den Regen in umgedrehter Bewegung fotografieren: von unten nach oben.
Er hatte lange nicht mehr mit der 6x6-Kamera fotografiert. Und zu Beginn des Regenprojektes hätte er die Rolleiflex gerne mehrmals in tausend Stücke zerbrochen. Zu ungewohnt war der Blick von oben, die spiegelverkehrte Bewegung, um ein Objekt in Kadrage zu zwingen. Man musste sich Zeit nehmen, um mit der 6x6 ein gutes Foto zu schießen. Sie forderte einen Umgang mit Zeit, die Killians Temperament und der Art, wie er die letzten Jahre gelebt hatte, völlig konträr lief. Jetzt war er stolz, dass er durchgehalten hatte.
Er legte die Kamera auf den Beifahrersitz seines Defenders, startete den Wagen und fuhr langsam durch die überflutete Straße.
Aus den Kanaldeckeln der Bruckmühlenstraße gurgelte noch das Regenwasser. Die Männer der freiwilligen Feuerwehr und des technischen Hilfswerks stapelten unermüdlich Sandsäcke vor den gefährdeten Kellerfenstern des denkmalgeschützten Sandsteingebäudes. Ein Fotograf des Rebland-Kuriers mühte sich redlich, einige spektakuläre Fotos von den Katastrophen des Jahrhundertregens zu knipsen. Ein fülliger Feuerwehrmann stapfte durch die Lachen, das Wasser floh unter dem schweren Tritt seiner Gummistiefel in alle Richtungen, wusste aber nicht, wohin, und schwappte wieder zurück. Der Feuerwehrmann hob die Hand über seinen Helm und versperrte Killian mit diesem Zeichen die Durchfahrt.
Killian bremste und kurbelte das Fenster herunter.
»Do geht’s nit durch.« Um seine Ansage zu untermauern, schüttelte der Feuerwehrmann seinen behelmten Kopf mehrere Male so heftig, dass auch sein wuchtiges Doppelkinn in Bewegung geriet und Killian schon befürchtete, die Flugkraft des Kinns würde dem armen Mann am Ende das Genick brechen.
»Ich muss nach Bötzingen, wie komme ich da hin?«, fragte er.
Die Masse des Doppelkinns beruhigte sich, dafür begannen nun die Hirnzellen des Feuerwehrmanns zu glühen. Er kratzte sich mehrmals am Helm, schnaufte tief durch und begann den Kopf hin- und herzuwiegen, als beginne er gleich einen indischen Volkstanz. Dann öffnete er endlich den Mund, setzte zum Sprechen an, aber sein Funkgerät unterbrach ihn. Per Handzeichen bat er Killian, sich noch einen Moment zu gedulden, nestelte an seinem Gürtel, an dem das Funkgerät befestigt war, und lauschte, was die Zentrale ihm zu melden hatte.
Killian beobachtete die Szene mittlerweile durch seine Rolleiflex. Diesen Moment durfte er sich nicht entgehen lassen: der füllige Retter des Infernos inmitten der überfluteten Dorfgasse. In der einen Hand ein antiquiertes Funkgerät, die andere wild fuchtelnd zum Himmel gestreckt – als ob er mit dem Herrn des Regens selbst verhandeln würde. Killian versuchte die Einstellung während der einzelnen Schüsse nicht zu verändern und die Kamera so ruhig wie möglich zu halten. Ein Stativ wäre jetzt angebracht gewesen. Er würde aus den Fotos, die er von seinem Helden schoss, gerne ein Daumenkino machen, eine Slapstick-Doku zum Anfassen. Er lachte in sich hinein, während er die Bilder schoss.
Ein lautes Hupen schreckte ihn aus dem Sucher seiner Kamera. Hinter ihm hatte es jemand besonders eilig. Ein schwarzer Jeep Cherokee Overland rückte Killians altem Defender auf die Pelle. Killian sah in den Rückspiegel, aber durch die getönte Scheibe konnte er nicht erkennen, wer in dem Wagen saß.
Der Feuerwehrmann beendete seinen Funkverkehr und schielte grimmig nach dem Hupgeräusch. Als er jedoch erkannte, dass es nicht Killian war, der drängelte, sondern der Cherokee dahinter, wandelten sich Miene und Körperhaltung des wichtigsten Menschen der Bruckmühlenstraße schlagartig. So gut es das Hochwasser zuließ, sprintete er an Killians Wagen vorbei, um atemlos neben dem Cherokee zu halten.
Killian beobachtete im Außenspiegel, wie die Fensterscheibe der Fahrerseite nach unten glitt. Der Winkel war allerdings zu spitz, sodass er auch jetzt nicht zu erkennen vermochte, wer den Wagen fuhr. Schüttelte der General aller Feuerwehrleute bei ihm noch kategorisch sein Haupt, begann er nun devot zu nicken. Wobei auch hier das Doppelkinn wieder seinen eigenen Gesetzen folgte. Durch den Kragen der Montur hatte das Fettpolster keine Möglichkeit auszuweichen und stülpte sich mit jedem Nicken seines Besitzers nach oben, sodass der Mund des Feuerwehrmanns immer wieder dahinter verschwand. Killian musste erneut lachen, diesmal war es ihm aber nicht möglich, die Rolleiflex anzusetzen. Dazu war sie nicht handlich und schnell genug.
Der Feuerwehrmann eilte zu Killian und schnaufte: »Fahren Sie bitte rechts ran, damit der Wagen hinter Ihnen vorbeikann.«
Es wurde offiziell, dachte Killian, der Mann bemühte sich, Hochdeutsch zu sprechen. »Ich denke, die Straße ist gesperrt? Wie kann der Wagen hinter mir dann durchfahren?« Killian stellte sich dumm.
Der Feuerwehrmann schnaubte, rang nach Worten, offenbar fiel ihm aber kein passendes Argument ein. Deshalb begann er zu brüllen: »Fahre Sie ran oder Sie kriege ä Anzeige wege Behinderung von …!« Den Rest verstand Killian nicht mehr, da der Feuerwehrmann selbst nicht richtig wusste, wie der Terminus tatsächlich lautete. Killian tat dem leidenden Mann den Gefallen und fuhr zur Seite, um den Cherokee vorbeizulassen. Der Feuerwehrmann lächelte erleichtert und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Killian dachte aber gar nicht daran, am Straßenrand stehen zu bleiben, sondern hängte sich direkt an die Stoßstange des Cherokee.
»Wo ein Auto durchkommt, schaffen es auch zwei«, grinste er den Feuerwehrmann an, als er an ihm vorbeifuhr. Der grunzte missbilligend zurück, gab sich aber geschlagen und kündigte über Funk die beiden Autos an, die die Straße passieren durften. Dafür fuchtelte er wieder wichtig mit dem Arm, als er einen weiteren Wagen auf sich zufahren sah. Den würde er wohl durch die Weinreben schicken, und wenn es der Bürgermeister persönlich wäre.
* * *
Belledin empfand nicht nur die Tatsache, dass er der einzige Mann auf der Beerdigung des toten Heilpraktikers gewesen war, sondern auch den Umstand, dass offenbar kein Verwandter dem Toten die letzte Ehre erwiesen hatte, als merkwürdig. Die Recherchen hatten nämlich ergeben, dass Thomas Hartmann zwei Schwestern hatte und auch sein Vater noch lebte. Die Familie wohnte zwar in Celle, aber für die Beerdigung eines nahen Verwandten sollte diese Strecke doch nicht zu weit sein.
Belledin dachte an seine eigene Schwester. Ob sie wohl zu seiner Beerdigung käme? Kolumbien war nicht Celle – aber Belledin war sich sicher, dass sie sich von Bogotá aufmachen würde, wenn man ihn in der Erde versenkte. Sie hatten zwar kein herzliches Verhältnis, sich aber den gegenseitigen Grundrespekt bewahrt. Gleichzeitig machte ihm aber der Gedanke zu schaffen, ob er selbst nach Bogotá reisen würde, um seine Schwester zu beerdigen. Belledin kam zu dem Schluss, dass er es tun würde – so es der Dienstplan zuließe.
Biggi zupfte ihn wieder am Ärmel und riss ihn aus seinen Gedanken. Sie deutete mit dem Kopf zu einer Bank am Rande des Kieswegs. Dort saß Silke Brenn und schluchzte, ihre Schwester Margit war nirgendwo zu sehen. Die übrigen Trauergäste hatten sich bereits auf den Weg gemacht. Die einen hatten zu arbeiten, andere trafen sich noch im Wirtshaus Krone zum Leichenschmaus.
Belledin gab Biggi ein Zeichen, dass sie schon mal vorgehen sollte. Sie gehorchte, reichte ihm allerdings noch ein frisches Päckchen Papiertaschentücher.
Silke kauerte auf der Holzbank, die blonden Locken versteckten ihr Gesicht. Sie hatte nicht wahrgenommen, dass Belledin zu ihr getreten war. Er kannte Silke, jeder kannte sie. Immerhin war sie die schönste Weinkönigin Ihringens, die man in den letzten zehn Jahren gekürt hatte. Ihr Konterfei prangte an jeder Ortseinfahrt, und selbst die Nachbardörfer hatten eingesehen, dass es in diesem Jahr sinnlos war, eine eigene Weinkönigin zu stellen. Silke war ohne Konkurrenz. Nicht nur, weil sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren eine natürliche Schönheit war, sondern auch weil ihr Vater Herbert Brenn als einer der größten Winzer im Umkreis galt. Obendrein sollte Ende September die Vermählung zwischen Silke Brenn und Andreas Zimmerlin stattfinden. Und Andreas Zimmerlin wiederum war der Erbe des anderen Big Players der Kaiserstühler Weinszene; eine Elefantenhochzeit also. Um Belledin die Dimension dieser Heirat klarzumachen, hatte Biggi gesagt, es wäre so, wie wenn die Tochter des Aufsichtsratsvorsitzenden von Gazprom einen der Söhne des obersten Ölscheichs aus Abu Dabi ehelichen würde. Belledin wusste nicht, was er von diesem Vergleich halten sollte, aber für die örtliche Klatschpresse war die bevorstehende Hochzeit sicherlich von höchstem Gehalt.
Er räusperte sich. Silke hob langsam den Kopf, schielte zwischen ihren goldblonden Locken hindurch und zog noch einmal die Nase hoch. Belledin riss das frische Päckchen auf und reichte ihr ein Taschentuch. Sie nahm es und schnäuzte sich.
»Standen Sie sich sehr nah?«
Der Lockenkopf nickte, dann begann der ganze Körper zu beben, und das Schluchzen setzte von Neuem ein.
»Er war ihr Heilpraktiker! Und er hat ihr sehr geholfen«, antwortete eine scharfe Stimme hinter Belledin. Er drehte sich um und blickte in Margits grüne Augen. Wenn man es wusste, konnte man erkennen, dass Silke und sie Schwestern waren, aber nur dann. Margit war herber als ihre fünfzehn Jahre jüngere Schwester, auf ihrem Kopf wucherte ein wilder roter Schopf, der bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen war. Auf ihrer spitzen Nase tanzten wilde Sommersprossen, die Haut war von der täglichen Arbeit im Weinberg gezeichnet. Trotz des energischen Kinns mit dem männlichen Grübchen ließen ihre vollen Lippen eine unerwartete Sinnlichkeit ahnen.
Belledin war von Margit schon immer fasziniert gewesen. Früher hatten sie sie die rote Zora gerufen, nach der Heldin einer TV-Serie der späten siebziger Jahre. Tatsächlich hatte auch Margit eine Bande angeführt, mit der sie durch die Weinberge gezogen war und Schmuggler und Zöllner gespielt hatte. Irgendwann hatten sich dann allerdings die Grenzen von Spiel und Realität verschoben, und Margits Bande hatte Autos geknackt, um anschließend die Musikanlagen daraus zu verscherbeln. Belledin hatte damals die undankbare Aufgabe gehabt, Margit in Jugendhaft zu schicken und ihrem Vater zu erklären, dass es das Gesetz nun mal so vorschreibe. Seitdem hatte der alte Brenn mit Belledin kein Wort mehr gewechselt. Und auch mit Margit sollte er heute zum ersten Mal wieder sprechen.
»Hallo, Margit. Lange nicht gesehen«, eröffnete Belledin den Versuch eines Gesprächs.
»Kein Verlust, oder?« Margit grinste frech, dass sich kleine Grübchen in ihre Wangen schlichen. So verführerisch ihr Lächeln war, so giftig blitzte das Grün aus ihren Augen.
Margit wusste, was sie Belledin schuldig war. Er hätte sie damals auch entwischen lassen können. Aber Belledin war jung gewesen, selbstgerecht und hatte sauber bleiben wollen. Ihr Lächeln verschwand.
»Wollen Sie meine Schwester verhören? Dann bestellen Sie sie aufs Revier.« Sie drehte sich zu Silke und half ihr auf. Silke zeigte noch immer kein Gesicht. An Margits Arm wankte sie über den Kies zum hinteren Ausgang des Friedhofs.
Belledin blickte den beiden stumm nach und zückte seinen Notizblock. Ganz sicher würde er Silke aufs Präsidium bestellen. Und nicht nur sie.
* * *
Erst jetzt wurde Killian klar, dass er eine ganze Woche zwischen Dunkelkammer und Sofa gependelt war, ohne auch nur ein einziges Mal das Atelier verlassen zu haben. Es schien ihm, als hätte hier draußen der Evangelist Johannes Anregungen für seine apokalyptischen Reiter finden können. Böschungen waren verwüstet, ganze Raine abgerutscht, Straßen unter Löß begraben. Überall versuchten Bagger und Traktoren die Schäden, die der Regen angerichtet hatte, zu beheben. Eine Katastrophe für die Winzer. Die wenigsten waren gegen solche Wetterschäden versichert. Noch im Juli hatte man von der besten Ernte seit Jahrzehnten gesprochen und sich hoffnungsvoll auf die Schulter geklopft, Experten prophezeiten gar einen Jahrhundertwein. Nun durfte man froh sein um jeden Tropfen, den dieser Jahrgang aus sich herauspressen ließ.
Killian war nie ein großer Freund der Winzer gewesen. Da er nicht als Eingesessener galt, sondern ein Kind der Arbeiter war, die im Zuge der kleinen Industrie Bötzingens an den Kaiserstuhl gezogen waren, galt er als »Plaschtiker«. Der Begriff war aus dem Hochdeutschen »Plastik« abgeleitet worden, eine rotwelsche Kreation der Einheimischen. Das Unternehmen in Bötzingen, das zunächst Nichtbadener und später auch Gastarbeiter angezogen hatte, machte sein Geld mit der Fabrikation von Kunststoffteilen. Man begann mit Bierkästen, Regentonnen und Haushaltswaren, dann spezialisierte man sich auf Autostoßstangen. Was die Zukunft bringen würde, wusste niemand so recht. Aber irgendetwas mit Plastik würde es schon sein.
Jedenfalls galt der Plaschtiker dem einheimischen Winzerkind als natürlicher Feind, ebenso zu bekämpfen wie eine Reblaus, was auf dem Schulhof manch blutige Nase mit sich gebracht hatte. Stibitzten die Plaschtiker die dunkelroten Kirschen aus den Plantagen, hetzten die Winzerkinder die Schäferhunde auf sie; naschten die Plaschtiker kurz vor der Weinlese von den reifen Trauben, krachte Schrot aus den Flinten der Obsthüter. Wurde dabei einer der Plaschtiker aus Versehen getroffen, zuckten die Winzer mit den Schultern; schließlich hatten sie nur auf Krähen gezielt. Man musste eben flink sein und durfte sich nicht erwischen lassen.
Killian befand sich noch immer auf der Straße, die von Oberbergen nach Vogtsburg führte. Es ging nur im Schritttempo vorwärts. Immer wieder sprudelten kleine Bäche, die sich ihren Weg durch den Löß gebahnt hatten, von den Hängen und fluteten die Straße. Vor Killian schlichen noch vier andere Autos hinter einem schweren Traktor her. Er genoss das Schneckentempo, dadurch konnte er sich die Verwüstung besser ansehen. Er ertappte sich dabei, dass ein Hauch Schadenfreude in ihm aufstieg. Allerdings rügte er sich auch gleich dafür. Aber es war ein Reflex aus vergangener Zeit, als Plaschtiker und Winzerkinder noch im Krieg gelegen hatten. Freunde waren sie zwar noch immer nicht geworden, aber wen würde Killian schon einen Freund nennen? Vielleicht Moshe. Aber selbst die Freundschaft mit Moshe bedurfte einer genauen Definition, die viele Einschränkungen und Klauseln beinhaltete. Killian verdrängte den Gedanken an Moshe. Von Moshe zu Rohina war es nur ein Katzensprung, und den wollte er vermeiden, deswegen war er schließlich auch auf dem Weg zu dem von Bärbel angepriesenen Wunderheiler.
Ein Hang, der sich aus einer Weinterrasse schälte und Zilden von Rebstöcken unter sich begrub, half Killian, auf andere Gedanken zu kommen. Die naturgewaltige Bewegung und der nachhallende Schall des Erdrutsches faszinierten den Frontfotografen. Jetzt erst fiel ihm auf, dass es hier aussah, als wäre Krieg. Nur dass es eben keine Schüsse und Granaten zu hören gab, sondern das unaufhörliche Plätschern von Wasser.
* * *
Belledin stand vor dem großen Plakat eines nackten Menschen, über dessen Körper bunte Linien gezeichnet waren. Auf den Linien saßen Punkte, die mit Kürzeln versehen waren. Es handelte sich um die Meridiane der chinesischen Medizin und deren Akupunkturpunkte. Belledin erinnerte es an einen U-Bahn-Fahrplan.
Der Vergleich entlockte Belledin ein Grunzen. Er glaubte nicht an den Schabernack. Als ihm bei einem Wettkampf mal ein Wirbel zu schaffen gemacht hatte, war auch er zur Akupunktur gerannt. Die einstweilige Verbesserung schrieb er allerdings eher der eigenen Einbildungskraft zu als den winzigen Nadeln, die der Chinese ihm gesetzt hatte. Beim Wettkampf vertraute er dann wieder dem traditionellen Voltaren.
Belledin wandte sich von dem Plakat ab und schlenderte durch die Praxis. Warum schlitzte jemand mit einem Okuliermesser den Hals des beliebtesten Heilpraktikers im Umkreis auf und ließ die Tatwaffe dann neben der Leiche liegen? Ein Hinweis? Eine falsche Fährte? Ein Symbol?
Er setzte sich hinter den Schreibtisch und wartete. Er hatte sich um dreizehn Uhr mit Hartmanns Assistentin Christa Faller hier in der Praxis verabredet. Sie war die letzten zwei Wochen auf einem Intensivlehrgang für Heilpraktiker in der Toskana gewesen und erst heute Morgen zurückgekommen. Deswegen war es ihr auch nicht möglich gewesen, an Hartmanns Beerdigung teilzunehmen. Und es sah ganz danach aus, als ob sie den Termin mit Belledin ebenso wenig einhalten konnte.
Er wartete trotzdem. Eine Unterredung mit ihr war ihm wichtig. Bisher hatte er die türkische Putzfrau vernommen und den Vermieter, dem die Praxisräume gehörten. Außerdem hatte er einige Nachbarn befragt und das Okuliermesser auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren überprüfen lassen. Fingerabdrücke waren keine zu finden gewesen, und die DNA-Partikel suchten noch ihr gegenüber. Belledin hätte Hartmanns gesamte Klientel alphabetisch durchforsten können, aber dann hätte er gleich das halbe Dorf bestellen müssen. Die Befragten wussten Hartmann nur als freundlichen Menschen, pünktlich zahlenden Arbeitgeber und Mieter zu preisen, mehr war nicht zu erfahren gewesen. Und da Hartmanns Verwandtschaft sich bequemte, in Celle zu bleiben, war Christa Faller wohl die Person, die dem Toten am nächsten gestanden hatte. Immerhin war sie seine Gehilfin und kannte die Kundschaft, unter der sich der Täter befinden konnte. Vielleicht hatte aber auch sie Gründe, Hartmann zu töten? Nach all dem, was an Gerüchten über Hartmanns Vielweiberei kursierte, drängte sich das Motiv Eifersucht geradezu auf. Und es wäre nicht das erste Mal, dass ein Arbeitsverhältnis auch auf die private Ebene überschwappte. Wenn man sich den ganzen Tag im weißen Kittel gegenüberstand, wollte man irgendwann auch wissen, was es darunter gab. Belledin lachte bei dem Gedanken. Er liebte kleine Schlüpfrigkeiten, behielt sie aber meist für sich.
»Die Gedanken sind frei …«, begann er mit tiefem Bass zu singen und blickte dabei auf seine Armbanduhr. Die Verspätung von Christa Faller sprach nicht für sie. Vielleicht hatte sie tatsächlich etwas zu verbergen. Das gefiel Belledin, und er begann lauter zu singen; dabei lief er von einem Raum in den anderen, in der Hoffnung, dass ihm dabei irgendetwas auffallen würde, was er bei seiner ersten Besichtigung übersehen hatte.
* * *
Killian verglich die Visitenkarte, die Bärbel ihm gegeben hatte, noch einmal mit der Hausnummer, vor der er stand: Rathausstraße 3. Er kannte dieses Haus und hatte schwache Erinnerungen an einen Zahnarzt, der ihm die erste Karies aus den Backenzähnen gebohrt hatte. Reflexartig glitt seine Zunge über die Keramikplomben, die mittlerweile sein Gebiss füllten, und schloss die Tür seines Defenders.
Die Praxis des Heilpraktikers befand sich tatsächlich in den Folterkammern des einstigen Zahnarztes. Dr. Schindler war einer jener hartgesottenen Kerle gewesen, die auch in die Gefängnisse gingen, um den schweren Jungs auf den Zahn zu fühlen. Wenn Killian in Rückenlage gegen das grelle Licht blinzelte, gab es keine Spritze zur Betäubung, sondern Gruselgeschichten von Dr. Schindler, der sich weit über ihn beugte und immer näher kam, je gruseliger die Geschichten wurden. Am liebsten erzählte er den Witz mit der riesigen Kneifzange, die nie und nimmer in einen Kindermund gepasst hätte. Und dann lachte er laut und riss sein Maul so weit auf, dass man seine schlechten Zähne nicht nur sehen, sondern auch riechen konnte. Wie konnte ein Zahnarzt so faule Zähne haben?
Die Treppen rochen nach Putzmittel, das vertrieb die Erinnerung an den fauligen Odem Dr. Schindlers. Eine Türkin, die Mitte fünfzig sein mochte, wirbelte den nassen Mopp über den falschen Marmor.
»Affedersiniz«, sagte Killian in den Rücken der arbeitenden Frau. Sie schrak hoch und drehte sich zu ihm um. Er lächelte und nahm mit einem großen Schritt drei Stufen auf einmal, um nicht in das frisch Gewischte zu treten. Die Putzfrau nahm es dankbar auf, lachte ebenfalls und tauchte den Mopp wieder in den schäumenden Wassereimer.
Die Eingangstür der Praxis war angelehnt. Killian klopfte dennoch an und trat dann ein. Es war niemand zu sehen.
»Hallo? Jemand hier?«, rief er.
Keine Antwort. Er ging durch einen kleinen Flur, passierte das leere Wartezimmer und landete an der Rezeption. Als er auch hier niemanden antraf, wollte er schon wieder kehrtmachen. Aber aus einem der Praxisräume war ein Geräusch zu vernehmen. Killian ging auf die angelehnte Tür zu und drückte sie auf. Das Geräusch rührte von einem Drucker, der einen Stapel Papier auswarf. Doch es war niemand zu sehen, für den der Druckauftrag erledigt werden sollte. Killian betrat den Raum und spürte plötzlich etwas Hartes in seinem Rücken, das sich wie der Lauf einer Waffe anfühlte. Instinktiv hob er die Hände und überlegte rasch, wie er die Bedrohung entschärfen konnte. Die eingetrimmten Lektionen des Nahkampfes machten ihm verschiedene Angebote: Ein Schritt nach vorne, Drehung mit Oberkörperneigung nach rechts, gleichzeitiger Schlag mit dem linken Arm gegen den Handrücken des Schützen wäre eine Möglichkeit. Andere Variante: Schritt zurück gegen den Lauf, mit überraschender Kopfnuss gegen das Nasenbein des Schützen, dann sofort abtauchen und Tritt von vorne gegen die Kniescheibe des Gegners. So lange es dauerte, die Aktionen zu beschreiben, so schnell waren sie durchgeführt. Aber Killian wählte keine dieser Optionen, sondern drehte sich einfach nur um, weil sich der Lauf der Pistole von allein aus seinem Rücken entfernt hatte.
Belledin hob die buschigen Augenbrauen und steckte die Walther ein. »Du spielst doch nicht etwa wieder Detektiv?«
Killian blickte nicht nur unschuldig, diesmal war er es auch. Er wusste nicht, was Belledin damit meinte.
»Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du sagst mir, dass du aus reiner Langeweile wieder unseren Job machen willst, oder du gestehst, dass du in geheimer Mission für das BKA und den Mossad unterwegs bist. In beiden Fällen erschieße ich dich auf der Stelle.«
Killian war überrascht von Belledins Humor. Vermutlich hatte er sich wieder mal einen Dirty-Harry-Film angeguckt und litt jetzt darunter, dass er im Dienst keine Magnum tragen durfte. Aber Killian verkniff sich die Riposte und blieb sachlich.
»Ich suche lediglich den Heilpraktiker Thomas Hartmann.«
Belledin kniff die Augen zusammen. »Kennt ihr euch?«
»Noch nicht. Ich wollte einen Termin mit ihm vereinbaren.«
»Dann muss ich dich doch erschießen.« Belledin kam Dirty Harry wirklich nahe. »Hartmann ist nämlich tot. Den kannst du nur im Jenseits konsultieren. Aber erzähl mir jetzt bloß nicht, dass du das noch nicht weißt. Laut meinen Informationen bist du nämlich schon seit Juni wieder von der Front zurück. Und der Mord an Hartmann ist das Ereignis seit einer Woche.«
»Der Heilpraktiker wurde ermordet?« Killian stutzte. Er hatte nichts davon mitbekommen. Um ungestört an den Entwicklungen seiner Fotos arbeiten zu können, hatte er in den letzten Tagen auch Computer und Telefon gemieden. Lediglich den Pizzabringdienst hatte er an sich herangelassen.
»Ich war so mit meiner Arbeit beschäftigt, das habe ich gar nicht mitgekriegt. Ich wollte den Heilpraktiker aufsuchen, weil ich gerade nicht so in Form bin«, sagte Killian mehr zu sich.
»Siehst auch ziemlich scheiße aus«, attestierte Belledin sachlich.
»Könntest mir ein paar Pfunde von deinen abgeben, dann ginge es mir bestimmt besser«, konterte Killian.
Belledin verzog das Gesicht. Er wusste, dass er zu fett geworden war. Aber der Kreuzbandriss im Januar hatte ihn noch fauler werden lassen. Und als Biggi dann auch noch angefangen hatte, abzunehmen, hatte sich Belledin aus Trotz ein paar Zusatzpolster zugelegt.
»Hast du schon zu Mittag gegessen?«, fragte er zu seiner eigenen Überraschung. Der Gedanke ans Abnehmen machte ihn sofort hungrig. Killian schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich lade dich ein. Und du erzählst mir, wie es an der Front war. Natürlich nur das, was du erzählen darfst«, lächelte Belledin kalt.
Wenn Killian bloß selbst wüsste, wovon er erzählen durfte und wovon nicht. Schließlich war er genau um dieser Frage willen hier. Er hatte sich Hilfe von dem angepriesenen Heilpraktiker versprochen; aber der war tot, noch ehe Killian auch nur eine einzige Frage an ihn richten hatte können. Immer wieder war es der Tod, der ihm begegnete und ihn anschwieg. Fast glaubte Killian, dass der Heilpraktiker hatte sterben müssen, weil er ihn konsultieren wollte. Es schien die Einlösung eines unausgesprochenen Paktes zu sein. Der Tod hatte sich von Killian auf den Schlachtfeldern in die Karten schauen lassen, dafür hatte dieser nun die dunklen Schatten der Negative in sich zu tragen.
Killian lachte laut bei dem Gedanken, dass er Belledin davon erzählen sollte. Der würde überhaupt nichts verstehen und ihn für verrückt erklären, wenn er es nicht ohnehin schon längst tat.
»Bedeutet dieses irre Lachen ein Ja?«, fragte Belledin, nahm die Blätter aus dem Druckerfach und verstaute sie in einer leeren Kladde, die er auf Hartmanns Schreibtisch gefunden hatte. Dann ließ er Killian den Vortritt und zog die Tür der Praxis hinter sich zu.
Belledin hatte nicht grundlos das Gasthaus Krone für den Mittagstisch gewählt. Abgesehen davon, dass die Portionen ordentlich waren, hatten sich hier einige Trauergäste zum Leichenschmaus eingefunden. Eine Gruppe von Frauen unterhielt sich angeregt. Belledin kannte keine davon; aus dem Dorf waren sie jedenfalls nicht. Aber er erinnerte sich, dass er sie beim Begräbnis gesehen hatte. Sie waren als Gruppe etwas abseits gestanden.
Die Bedienung stand bereits mit ihrem Block am Tisch und wartete auf die Bestellung. Da Belledin mit seiner Aufmerksamkeit noch am Tisch der Damengruppe weilte, begann Killian mit seiner Order.
»Einmal Flädlesuppe und eine Apfelsaftschorle.«
Die Bedienung blickte ihn stumm an und notierte nichts auf ihrem Block. Killian wiederholte die Bestellung, aber es geschah wieder nichts. Er überlegte kurz, ob sie die Sprache nicht verstand. Es gab viele Erntehelfer aus Polen, der Ukraine und sogar aus Ungarn. Aber Killian hätte sie blind als ein badisches Gewächs gekauft.
»Kennsch mich nimmi?«, brach es schließlich aus der drallen Frau mit dem runden Gesicht heraus.
Killian hob fragend die Brauen. Er war zwanzig Jahre in der Welt unterwegs gewesen, und seitdem er wieder am Kaiserstuhl war, hatte er sich mehr in seiner geschlossenen Dunkelkammer aufgehalten als in öffentlichen Wirtshäusern.
Belledin, den die Frage der Bedienung wieder an den Tisch zurückgeholt hatte, feixte sarkastisch: »Tja, Frau Jenne, mir hän uns halt verändert. Könne nit alle so jung bliebe wie dä Killian. Aber bei dem isch’s wie beim Dorian Gray, der hät au ä Bildnis uffm Speicher. Und des will ich nit sehe.« Belledin war unweigerlich in den badischen Dialekt gefallen, obwohl die Botschaft eigentlich Killian galt.
»Ich kenn kei Dorian Gray«, protestierte Frau Jenne. »Wer isch des? Wohnt der z’ Bötzinge? Ä Plaschtiker? Oder einer vum Elsass? Den loss ich mir nit ahänge …« Sie fuchtelte gespielt entrüstet mit Block und Kugelschreiber und lachte derb.
Dabei konnte Killian erkennen, dass ihr bereits zwei Backenzähne fehlten, obwohl sie auch erst um die vierzig sein mochte. Ob sie früher auch Patientin bei Dr. Schindler gewesen war?
Belledin röchelte ebenfalls zwei Lacher unter seinem Schnäuzer hervor, dann gab er seine Bestellung auf: »Jägerschnitzel mit Pfifferlingen, kleiner Salat und Weißweinschorle … Soll ich’s ihm sage oder soll er selber druffkumme?«
»Späteschtens zum Nachtisch müsst er’s wisse, sonscht bin ich persönlich beleidigt.« Sie lachte erneut, zwinkerte Killian vertraulich zu und zog mit der Bestellung ab. Dabei schien sie mit ihren ausladenden Hüften Extra-Amplituden zu schwingen, in der Gewissheit, dass Killian ihr nachschauen würde.
Belledin lachte kauzig und sah Killian mit seinen Schweinsäuglein listig an. »Und, kannst du dich nicht an sie erinnern?«
»Müsste ich? Jenne gibt es hier wie Sand am Meer. Und trotzdem hatte ich nie etwas mit einer Jenne.«
»Na dann …«
Frau Jenne kam mit den Getränken zurück, platzierte sie auf Bierdeckeln und blickte Belledin kurz an. Dann linste sie verschmitzt zu Killian hinüber, grinste und wackelte wieder davon.
»Wie du beim Mossad landen konntest, ist mir ein Rätsel bei deinem schlechten Gedächtnis«, stichelte Belledin.
»Ein schlechtes Gedächtnis ist eine ausgezeichnete Voraussetzung für meinen Job. Manchmal wäre ich froh, ich könnte noch mehr vergessen.« Killian hob sein Glas und prostete Belledin zu.
Diesem schauderte bei dem Blick, der ihn aus Killians Augen traf. Auch Belledin war im Laufe seiner Polizeiarbeit vieles begegnet, das er nur all zu gern wieder vergessen würde, doch er konnte nur ahnen, was für Horrorfresken sich in Killians Seele eingebrannt haben mussten.
Belledin spülte die Weinschorle im Mund, dann schluckte er und fragte endlich, was ihn schon lange plagte: »Wieso stehst du beim BKA eigentlich so hoch im Kurs? Hast du der Kanzlerin mal das Leben gerettet, ohne dass es einer weiß? Oder warst du es, der von Saddam ein Foto geschossen hat, noch ehe die Marines angerückt waren? Welche Orden trägst du, dass sie dich derart hofieren?«
Hinter seiner Frage steckte eine gehörige Portion Neid. Belledin hatte die gehobene Beamtenlaufbahn zwar im Schnelldurchgang bewältigt, aber Killian war um alles herumgelaufen und besaß dennoch das bessere Netzwerk. Während Belledin sich mit Streife durch die Niederungen der Kleinkriminalität bis zum Hauptkommissar der Mordkommission Freiburg geschliffen hatte und sich bei jeder Aktion selbst überprüfen musste, ob er auch nach dem Gesetz handelte, war Killian ein gefeierter Kriegsfotograf geworden, der obendrein noch international über die besten Geheimdienstkontakte verfügte. Es sprengte Belledins Fassungsvermögen. Solche Typen wie Killian kannte er sonst nur aus Agentenfilmen. Am Kaiserstuhl konnte es so etwas nicht geben. Schon gar nicht, wenn man aus demselben Dorf kam und dieselbe Schule besucht hatte. Killian irritierte Belledin so sehr, dass er sich selbst zu hinterfragen begann. Und dieses Hinterfragen reichte weit über die sonstigen Symptome einer Midlife-Crisis hinaus. Der einzige Umstand, der Belledin beruhigte, war, dass auch Killian nicht glücklich wirkte.
Killian zuckte mit den Schultern. »Manchmal wirft dich das Schicksal einfach in einen anderen Ring. Wie viele talentierte Fußballer gibt es, die keine Profis geworden sind, weil sie eben nur im Dorfverein gespielt haben und nie von Talentscouts gesehen wurden? Ich kenne hochbegabte Schauspieler, die direkt nach ihrer Ausbildung am Landestheater Wilhelmshaven landeten und dort große Kunst ablieferten, während andere unbeholfen ins Burgtheater stolperten und sich seitdem mit dem Titel des Burgmimen schmücken. Wo jemand seine Qualität bringt, hängt nicht immer von ihm selbst ab, sondern von unzähligen Details, die wir alle gar nicht überblicken. Vielleicht habe ich ein wichtiges Foto geschossen, das jemandem noch wichtigeren das Leben gerettet hat, vielleicht bin ich aber nur ein Arschloch, das ein paar Fotos geknipst hat, die besser nicht ans Tageslicht gelangen, wer weiß das schon …«
Frau Jenne balancierte Flädlesuppe, Jägerschnitzel und Salat auf ihren geübten Händen und servierte die herzhaften Speisen. »Gute Appetit, die Herren.«
Belledin nickte freundlich, Killian sah aufs Dekolleté. Vor allem der Leberfleck über ihrer linken Brust hypnotisierte ihn geradezu. »Britta«, hörte er sich auf einmal sagen.
Sie drehte sich zu ihm hin und lächelte. »Doch kei Alzheimer. Da bin ich aber froh.«
Killian musste laut lachen. Dass es ausgerechnet der Leberfleck auf Brittas Brust war, der ihm die Erinnerung an das Geschöpf zurückgab, das ihn bei einem Sommernachtsfest der Bötzinger DLRG mit Leidenschaft verwöhnt hatte! Aber er hatte ihr damals schon nicht ins Gesicht geschaut. Niemand hatte das getan. Britta war ein Mädchen gewesen, das man ob seiner Brüste schätzte und leider auch darauf reduzierte. Sie hatte sicherlich noch ganz andere Qualitäten, aber die waren den Jungs damals nicht so wichtig gewesen.
»Bedienung«, tönte es vom anderen Tisch herüber, wofür Killian sehr dankbar war, denn er wollte die Begegnung mit Britta nicht vertiefen. Sie warf ihm noch einen Blick zu, der Killian ahnen ließ, dass er bei Gelegenheit nahtlos an das damalige Sommernachtsfest anknüpfen könnte, dann steuerte sie mit ihrem betonten Hüftschwung in Richtung Kundschaft.
Belledin beschäftigte sich bereits mit seinem Jägerschnitzel, Killian pustete die Hitze vom dampfenden Suppenlöffel und genoss den würzigen Geschmack der Brühe.
* * *
Es war deutlich zu viel Gepäck. Aber es war lange her, dass Bärbel für zwei Wochen auf Reisen gewesen war. Länger als eine Woche war sie in den Sommerferien nie auf Achse gewesen. Die sozialen und ökologischen Projekte in der Region hatten sie zu sehr beansprucht, als dass sie sich mehr Zeit für sich gegönnt hätte. Aber eben diese Lebensweise hatte Bärbel über die Jahre auch ausgebrannt. Und deswegen hatte sie beim Schulamt nun um ein Jahr Beurlaubung gebeten. Sie brauchte Pause und Neuorientierung. Swintha war zum Studium nach Berlin gezogen, Killian war wieder in der Nähe, die Schüler und die Kollegen hatten sie nur noch genervt.
Noch zwei Stufen, dann war es geschafft. Bärbel ließ die beiden schweren Koffer vor der Wohnungstür auf den Dielenboden sinken und bückte sich, um die Zeitungen der letzten zwei Wochen von der Fußmatte zu heben. Neben der wöchentlichen ZEIT hatte sie auch die Badische Zeitung abonniert.
Während sie die Tür öffnete, warf sie flüchtig einen Blick auf die Schlagzeile der Tageszeitung. Man bejubelte das Ende des langen Regens. Bärbel freute sich, dass das Wetter in der Toskana mild und sonnig gewesen war. So wie man es sich eben vorstellte, wenn man für zwei Wochen knapp dreitausend Euro bezahlt hatte. Aber das Geld war es wert gewesen. Immerhin war es kein normaler Urlaub gewesen, den sich Bärbel genehmigt hatte. Dazu wäre sie gar nicht imstande gewesen. Sie war unfähig, Urlaub zu machen. Auf einer Liege in der Sonne zu garen käme ihr vor, als würde sie bereits Vorübungen für den Sarg machen. Außerdem bekam sie sofort einen Sonnenbrand. Sie war rothaarig, ihre Haut dementsprechend empfindlich.
Die hohe Altbauwohnung des Breisacher Bahnhofs glich einem feuchten Kühlschrank. Sie würde einheizen müssen, um die Feuchtigkeit zu vertreiben; und das im September. Bärbel ließ Wasser in die Badewanne laufen, legte Vivaldis »Vier Jahreszeiten« auf und fühlte sich mit einem Bein noch in der toskanischen Osteria, in der sie die letzten zwei Wochen die lauen Abende verbracht hatte. Ein Deckel voll Rosmarinmilch, den sie ins Badewasser goss, rundete ihr Wohlfühlprogramm ab.
Während sich die Wanne füllte, griff Bärbel den Stapel mit den Zeitungen und sondierte auch ihre Post. Sie fluchte. Obwohl unten an der Haustür ein dickes Schild besagte, dass sie keine Werbung in ihrem Briefkasten duldete, hatten sich zahlreiche bunte Flyer unter ihre Rechnungen gemischt. Aber ihr Groll galt eher Swintha, die noch immer nicht geschrieben hatte.
Swintha war wie ihr Vater, dachte Bärbel schmollend. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ein kurzes Telefonat hatten sie bislang geführt, und das war vor sechs Wochen gewesen. Seitdem war Swintha von der Hauptstadt verschluckt. Bärbel versuchte sich zu erinnern, wie es für sie selbst gewesen war, als sie studiert hatte. Sie hatte allerdings nur in Freiburg studiert und war jedes Wochenende nach Hause gefahren. Im Grunde war sie nie weg gewesen – die Entfernung zwischen Freiburg und Breisach betrug nur dreißig Kilometer –, deswegen konnte sie Swinthas Drang nach fernen Welten nur den Genen ihres Vaters zuschreiben. Bärbel verfluchte Killian, wenn auch nur mit halbem Ernst. Es ging ihr für ihre Verhältnisse gerade zu gut, als dass sie sich wegen eines selbst gebastelten Dramas die Laune verderben wollte.
Denn Bärbel studierte selbst wieder und war festen Willens, die Prüfung als psychologische Heilpraktikerin zu bestehen. Der Hauptunterricht fand im Paracelsus-Institut in Freiburg statt, aber für die Intensiveinheit war der Kurs für zwei Wochen in dem mittelalterlichen Ort Farnese abgetaucht. Und dabei hatte sie sich ein wenig in ihren Lehrer verguckt. Richtig verliebt war sie zwar noch nicht, aber die Voraussetzungen waren gegeben, dass es mehr werden konnte. Thomas Hartmann war charmant, intelligent, hatte große Pläne – und er konnte zuhören. Es war zu schade, dass er nach der ersten Woche schon wieder abreisen musste. Christa hatte ihre Sache zwar auch ganz ordentlich gemacht, aber von Thomas konnte man schlicht mehr lernen. Es war erstaunlich, wie sich alles, was er sagte, sofort in Bärbels Hirn einbrannte. Sie fragte sich, ob sie jemals an einen ihrer Schüler so direkt Wissensstoff hatte vermitteln können.