Umschlag

Ingrid Werner, Jahrgang 1964, liebt die berufliche Abwechslung: Bankkauffrau, Juristin, Mutter von drei Kindern, Heilpraktikerin, Entspannungspädagogin, freischaffende Malerin und Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie in Bad Griesbach. Im Emons Verlag erschien »Niederbayerische Affären«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
Die Übersetzung der ungarischen Ausdrücke befindet sich am Schluss in einem Glossar.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/Martina Berg
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-090-2
Niederbayern Krimi
Originalausgabe

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Für meine Eltern

Prolog

Gott sei Dank – es ist vorbei.

Aber als die Alpträume kamen, wurde mir erst bewusst, wie sehr mich das Erlebte erschüttert hatte. Jede Nacht graute mir vor dem Einschlafen. Auch heute noch, Monate später, macht es mir zu schaffen. Deshalb fing ich an, alles aufzuschreiben. Sozusagen als Therapie. Genau dasselbe hätte ich meinen Klienten geraten.

Beim Schreiben merkte ich, dass mir einige Puzzlestücke an wichtigen Informationen fehlten. Deshalb betrieb ich Hintergrundrecherche, wie man so schön sagt. Ich sprach mit zahlreichen Leuten, fragte ihnen Löcher in den Bauch. Die meisten waren so nett und haben erzählt, auch wenn es ihnen nicht immer leichtgefallen ist. Ihnen möchte ich danken. Auf diese Weise konnte ich mir ein vollständiges Bild der Geschehnisse machen.

Meine Freundin Isabell meinte, das würde auch andere interessieren. Mach ein Buch daraus!, sagte sie. Und das halten Sie nun in Händen.

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, passierte vor einiger Zeit in meinem Heimatort Kirchmünster. Auf den ersten Blick ein verschlafenes Städtchen im niederbayerischen Rottal. Aber das täuscht. Hinter der idyllischen Fassade versteckt sich allerhand.

Es begann am neunzigsten Geburtstag meines Vaters.

Dienstag, der 16. Juni

Elf Uhr vierzig

Mit ungewohnter Mühe drückte ich die Tür der Abstellkammer auf. Während ich mein ganzes Gewicht gegen das grüne Holz stemmte, spürte ich, dass sich dahinter etwas Unfassbares verbarg. Nennen Sie es weibliche Intuition, wenn Sie wollen. Ich war schon immer sehr empfänglich für Stimmungen. Energien. Meine Anstrengungen begleitete ein leises, schleifendes Geräusch. Merkwürdig. Kaum fünfzig Zentimeter ließ sich die Tür öffnen, irgendetwas versperrte mir den Zutritt. Mit der Hand auf der Klinke streckte ich vorsichtig meinen Kopf durch die Öffnung. Auf dem Arm sträubten sich in erwartetem Grauen bereits die Härchen.

Ich sah einen Berg. Fliederfarben und weiß. Gliedmaßen lagen in grotesker Anordnung auf dem gefleckten Linoleum. Das war ein Mensch! Der Hals war überstreckt. Die Zunge hing zwischen den schwülstigen Lippen. An Stirn und Schläfen klebten die kohlrabenschwarzen Haare. Die Augen traten mit starrem Blick blutunterlaufen hervor. Kein Zweifel. Elvira, die Pflegerin, war tot.

Mein Verstand versuchte erschreckend langsam, die Situation zu erfassen. Mein Körper reagierte rascher. Unwillkürlich beschleunigte sich meine Atmung, um sich dem rasenden Herzschlag anzupassen. Meine Muskeln konnten den Blumenstrauß, für den ich eben noch ein Behältnis gesucht hatte, nicht mehr halten, und er fiel klatschend zu Boden. Nach Luft schnappend schloss ich kurz die Augen. Ich wollte hier ganz schnell weg. Geschwind drehte ich mich in die Richtung, aus der ich gekommen war, und war im Begriff loszulaufen. Da streifte mein Blick die zartgliedrige Alte mit den weißen Dauerwellenlocken. Sie hatte mir vorher hilfsbereit den Tipp mit der Abstellkammer gegeben. Reglos beobachtete sie mich, beide Hände auf den Rädern ihres Rollstuhls, bereit sich hierher in Bewegung zu setzen. Endlich schien auf Station zwölf etwas Interessantes passiert zu sein.

Ich wandte mich um, schloss fest die Tür. Suchte nach einem Schlüssel oder einer anderen Möglichkeit hier abzusperren. Ohne Erfolg. Dann musste es eben so gehen. Ich eilte an ihr vorbei. »Bleiben Sie von der Kammer weg und lassen Sie auch sonst niemanden hinein!«

Ihr Mund klappte auf. Wer weiß, ob meine Ermahnung überhaupt gehört worden war, geschweige denn, ob sie befolgt würde. Egal, ich hatte keine andere Wahl. Ich hastete weiter, zurück zum Zimmer meiner Eltern, das ich vor fünf Minuten sorglos verlassen hatte.

Ganz in Gedanken bei der Tischordnung für das Geburtstagsessen war ich den langen grauen Gang entlanggeeilt, auf der Suche nach einer Vase.

Der dritte Bürgermeister wollte kommen. Wo sollte ich den am besten hinsetzen? Natürlich neben meinen Vater, schließlich war es sein Geburtstag. Sein neunzigster sogar. Deshalb hatte ich am Morgen auch diesen riesigen Blumenstrauß in meinem Garten für ihn gepflückt. Den trug ich wie ein Baby im Arm vor mir her und suchte die Abstellkammer. Las die Schilder an den Türen. Hier musste es irgendwo sein. Die alte Dame hatte gelächelt und mit ihrem gichtgekrümmten Zeigefinger auf eine grüne Tür gedeutet. Ich hatte genickt und ebenfalls gelächelt. Arglos.

Noch eine halbe Stunde früher war es einfach ein strahlend schöner Junitag gewesen, der wie geschaffen dafür schien, diesen besonderen, runden Ehrentag zu begehen. Wir hatten uns Zeit genommen, sogar mein Mann Martin hatte Termine im Krankenhaus verschoben, um pünktlich beim Festessen dabei zu sein. Zu sechst drängten wir uns in das Wohnzimmer meiner Eltern.

»Alles Gute zum Geburtstag!« Ich hielt den großen Strauß mit den bunten Sommerblumen weit von mir weg, damit ich meinen Vater umarmen konnte.

»Herzlichen Glückwunsch, Apukám! Ich hoffe, du lebst noch viele Jahre in Zufriedenheit und Gesundheit.« Ich drückte ihm einen Kuss auf seine perfekt rasierte, faltige Wange. Ganz offensichtlich hatte er sich heute besondere Mühe mit seinem Aussehen gegeben. Die scharfen Bügelkanten seiner feinen dunkelgrauen Anzughose waren mir sofort ins Auge gestochen. Das seidene Einstecktuch passte zur Krawatte und aus der Westentasche hing die goldene Uhrkette. Bevor er etwas erwidern konnte, löste mich Martin schon ab.

»Meine Gratulation, Tibi!« Er schüttelte seinem Schwiegervater kräftig die Hand und übergab ihm die Flasche mit Barack Pálinka, einem ungarischen Aprikosenschnaps. Seiner »Medizin«, wie mein Vater sich immer auszudrücken pflegte.

Dann drängelten sich die Mädels vor. Tibor von Markovics’ graue Augen leuchteten. Lilli, Susa und Vicky umarmten und herzten ihren geliebten Opa. Zur Feier des Tages hatten sie ihre zerrissenen Jeans gegen Röcke und Sommerkleider eingetauscht. Ihre blonden Haare waren zu sittsamen Frisuren gebändigt, und ihre Füße bekleideten Ballerinas anstatt Hip-Hop-Sneakers. Adrett sahen sie aus. Wie Mädchen seiner Meinung nach auszusehen hatten. Sie legten ihm ihre selbst gemachten Geschenke in den Schoß. Während wir schon die Oma begrüßten, die strahlend danebenstand, trat Linus vor. Ungelenk hatte er seine Rechte zur Gratulation ausgestreckt. Tibor hatte sie genommen und seinem Enkel verschmitzt zugezwinkert. Dieser hatte seinen Mund zu einem halben Lächeln verzogen, froh, vom Opa auch wortlos verstanden worden zu sein.

Aber jetzt kehrte ich ohne Vase zurück. Ich war etwas zittrig auf den Beinen. Der Schreck über meinen grausigen Fund wartete lauernd darauf, aus mir herausbrechen zu können. Ich befahl mir, Ruhe zu bewahren und einfach zu funktionieren.

Das Leben liebt jedoch Gegensätze. Und so hörte ich aus dem Zimmer meiner Eltern fröhliches Stimmengewirr. Anscheinend waren noch mehr Gratulanten eingetroffen. Ich atmete ein paarmal tief durch, um mich etwas zu beruhigen. Dann öffnete ich vorsichtig die Tür, um sie niemandem in den Rücken zu rammen. Das war gut so, denn der Raum war überfüllt mit Leuten. Inzwischen schien auch der Fotograf der Passauer Neuen Presse angekommen zu sein. Der Mann mit dem beeindruckenden Fotoapparat war gerade damit beschäftigt, alle Enkel samt drittem Bürgermeister um den Jubilar zu drapieren. Bei all dem Trubel achtete niemand auf mich, wie ich auf Zehenspitzen in der Tür stand und winkend versuchte, Martins Blick auf mich zu lenken. Es dauerte eine ganze Weile, bis mein Ehemann auf mich aufmerksam wurde. Er zog seine Augenbrauen in die Höhe. Ich verstärkte mein Winken. Endlich bahnte er sich einen Weg zu mir.

»Was ist denn?« Er trat hinaus auf den Gang.

Möglichst schnell und leise schloss ich hinter ihm die Zimmertür. »Los! Komm mit! Ich habe eine Leiche gefunden!« Ich packte ihn am Arm, Martin blieb jedoch wie angewurzelt stehen.

»Was? Karin, das gibt’s doch nicht! Soll das ein schlechter Scherz sein?« Ungehalten schaute er von seinen eins neunzig auf mich herab.

»Nein! Komm schon, dann kannst du dich selbst überzeugen!« Der Skeptiker! Ich ließ ihn los und eilte davon. Widerstrebend folgte er mir durch den langen Gang zur Abstellkammer.

Die alte Dame von vorhin hatte sich vorsichtig näher an die Tür gerollt und schien nach Geräuschen im Zimmer zu lauschen. Als sie uns hörte, schrak sie auf und schaute mich mit beinahe ängstlichen Augen an.

»Ich hab nix g’macht.« Sie schüttelte den Kopf. »Es is keiner eini.«

»Prima. Danke. Aber jetzt müssten wir hier mal bitte durch.« Sie zog sich von ihrem Wachposten zurück, und ich öffnete für Martin die Tür, so weit es eben möglich war. Er schlüpfte vorbei. Ein leises »Oh mein Gott!« entfuhr ihm und rasch kniete er sich nieder, um bei Elvira den Puls zu suchen. Vergeblich.

Ich schaute ihm zu und versuchte, meine Übelkeit zu ignorieren. In Elviras Gesicht konnte ich nicht sehen. Sie war schon zu Lebzeiten keine Schönheit gewesen. Viel zu maskulin und plump. Der Todeskampf hatte noch sein Übriges getan. Ich wandte meinen Blick ab und ließ ihn durch den Raum schweifen. Bis auf Elviras unappetitliche Leiche konnte ich allerdings nichts Ungewöhnliches entdecken. An den Wänden ragten Metallregale bis zur Decke hinauf. Auf ihnen stapelten sich die unterschiedlichsten Dinge. Auch Blumenvasen wären darunter gewesen. Links befand sich ein Schrank, eine Tür war geöffnet. Ich erkannte Leintücher und Bettwäsche. Möglicherweise hatte die Pflegerin gerade frische Wäsche holen wollen. Einige Sachen lagen auf dem Boden neben dem skurril verdrehten Körper. Diese schien Elvira in ihren letzten Minuten unkontrolliert aus den Regalen gewischt zu haben. Laken, ein Aschenbecher, alte Kippen, blaue Tassen aus Plastik, Packungen mit Inkontinenzwindeln und seltsamerweise ein paar Weihnachtsgirlanden, die aus einem Pappkarton lugten. Am Oberlicht summte es wütend. Ich schaute hinauf. Eine Wespe versuchte vergebens, in die Freiheit zu gelangen.

Mit meinem Körper verdeckte ich den Türspalt vor den neugierigen Blicken der alten Frau. »Was is passiert?«, wollte sie wissen. Um eine Antwort drückte ich mich und tat so, als ob ich sie nicht gehört hätte.

Martin drehte sich zu mir um. Er zeigte auf Elviras rechte Hand, die sie zu einer Faust zusammengepresst hatte. Sie hielt etwas fest. Einen länglichen Behälter mit einem schnabelartig gebogenen Aufsatz. »Weißt du, ob sie Asthma hatte?«

Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Es ist wohl am besten, wenn du die Polizei rufst. Ich halte hier die Stellung.«

»Gut!« Damit sauste ich wieder zurück. In meinem Rücken vernahm ich, wie mein Mann vor der Zimmertür beruhigend auf die Rollstuhlfahrerin einredete. Als Arzt wird er die richtigen Worte finden, dachte ich mir.

Um nicht jetzt schon die ganze Geburtstagsgesellschaft aufzuscheuchen, nahm ich nicht den Telefonapparat im Zimmer meiner Eltern, sondern schaute ins Schwesternzimmer. Keiner da. Na, dann musste es ohne Fragen gehen. Ich wählte die Nummer der hiesigen Polizei. Seit den Aufregungen im letzten Jahr kannte ich sie auswendig.

»Polizeiinspektion Kirchmünster. Polizeiobermeister Grieshuber.«

Oh nein, nicht der schon wieder! Ich stöhnte innerlich auf. Sofort erschien vor meinem geistigen Auge die etwas plumpe Figur des Polizisten. Wahrscheinlich trug er seine spärlichen Haare nach wie vor sorgsam über die Glatze gekämmt.

»Grüß Gott, Herr Grieshuber. Hier ist Schneider, Karin Schneider.« Ich überhörte den Schnaufer auf der anderen Seite der Leitung und sprach fix weiter. »Ich bin im Altenheim, also Haus Sonnenhügel, und muss eine Leiche melden. Kommen Sie schnell!«

»Ah, d’ Frau Schneider, wir kennen uns, ned?«

»Ja, wir hatten letztes Jahr einige Male das Vergnügen …« Weiter ausholen wollte ich nicht. Denn dann hätte ich ihn daran erinnern müssen, dass er damals auch schon schwer von Begriff war und mir nichts geglaubt hatte. Bei der Sache mit dem Kirchplatz und dem Landrat.

»Und Sie sogn, es gibt im Sonnenhügel a Leich? Pardon, aber is des dort ned normal?«

Ich stutzte. Ach so. Sehr witzig. »Nein, nicht so eine Leiche.« Ganz langsam, jedes Wort einzeln betonend, fuhr ich fort: »Ich habe die Pflegerin Elvira von Station zwölf tot in der Abstellkammer gefunden!« Herr im Himmel, schick mir Geduld!

»Des is unguad.«

»Ja, kann man wohl sagen. Übrigens hat mein Mann eindeutig den Tod festgestellt.«

»Aha. Der Herr Doktor. Ja dann. Bleiben S’ dort und halten S’ earna zur Verfügung. Mir san glei do.«

Na also. Ich wusste ja, dass das Ärzteargument immer zieht.

Zwölf Uhr zwanzig

Kerstin Schmalhofer und Adam Hecker, die beiden Pflegekräfte, die heute für die Frühschicht eingeteilt und somit voll in das Tohuwabohu des Leichenfundes geraten waren, waren von Schwester Sieglinde ins Schwesternzimmer gerufen worden. Sie hatte die Leitung der Station zwölf und stellte etwas Grundsätzliches klar:

»Ich möchte nicht, dass ihr mit den Bewohnern über Elvira sprecht. Kein Getratsche. Das schadet nur dem Ruf unseres Hauses.«

Kerstin war ein wenig blass geworden. Sie ließ sich auf den nächstbesten Stuhl nieder. Adam Hecker brütete missmutig vor sich hin.

»Ihr habt mich verstanden. Kein Wort!« Schwester Sieglinde klopfte mit ihrem Kugelschreiber auf den vor ihr liegenden Dienstplan. »Wer von euch geht übrigens zur Trauerfeier von Frau Bründl? Die ist heute um vierzehn Uhr.«

»Das kann ich machen«, bot sich Kerstin an. »Das letzte Mal, beim Herrn Berghauser, ist die Marion gewesen, und davor beim Herrn Woitaschek der Adam. Es sterben ziemlich viele im Moment.« Sie war recht niedergedrückt.

»So ist das nun mal in einem Altenheim. Geht wieder an eure Arbeit.« Damit waren sie entlassen.

Zwölf Uhr dreißig

Es wurde für meinen Vater ein chaotischer Geburtstag. Sie können sich sicherlich vorstellen, was im Sonnenhügel los war, nachdem die Polizei samt Spurensicherung in die Station zwölf eingefallen war und die Ermittlungen aufgenommen hatte. Zu allem Überfluss bekam der Reporter, der eben noch den Jubilar fotografiert hatte, Wind davon. Hätte mich auch gewundert, wenn es nicht so gewesen wäre. Er konnte sein Glück gar nicht fassen, als erster Zeitungsmensch am Tatort zu sein und Fotos zu schießen. Die Polizisten scheuchten ihn immer wieder weg und sperrten den Bereich um die Abstellkammer großräumig ab. So ein Journalist muss allerdings hartnäckig sein, sonst kann er gleich Artikel für die Apotheken-Rundschau verfassen.

Er nutzte die Gunst der Stunde, um mich, meinen Mann, die Schwestern und Pflegerinnen auf der Station, die Dame im Rollstuhl sowie andere Heimbewohner und Besucher zu interviewen. Allerdings waren alle viel zu aufgeregt, um mehr als nur »wie schrecklich« von sich zu geben. Zu guter Letzt wurde es der Polizei zu bunt und gegen den Reporter erging die dringende Aufforderung zu verschwinden. Anscheinend hatte der Zeitungsmensch fürs Erste auch genug Informationen zusammengetragen, denn er trollte sich ohne großen Protest.

Der Flur mit den Sitznischen war an der Absperrung mit Schaulustigen übervölkert. Der Tod von Elvira hatte sich in Windeseile herumgesprochen, und so kamen alle, die sich noch selbstständig bewegen konnten. Diejenigen, die meinten, mehr zu wissen als ihre Nachbarn, ventilierten lautstark ihre Ansichten. Jeder, der neu dazugestoßen war, wurde über den aktuellen Stand der Mutmaßungen informiert. Auch mein Vater hatte sich mit meiner Mutter und seinen Gratulanten hierher begeben. Auf seinen schwarzen Spazierstock gestützt – seinen Rollator benützte er nur an schlechten Tagen – stand er aufrecht im guten Anzug zwischen den tratschenden Frauen und Männern in ihren abgetragenen Alltagskleidern. Ganz der Patriarch, der er immer sein wollte. Seine für sein Alter immer noch sehr fülligen weißen Haare fielen in herrschaftlichen Wellen um sein Gesicht. Sie verliehen ihm ein aristokratisches Aussehen. Dieser Eindruck wurde durch die leichte Hakennase in seinem schmalen Gesicht und das sehr ausgeprägte Kinn noch unterstrichen. Das verstärkte die natürliche Autorität seines Auftretens.

Er sah beobachtend von den Polizisten zu den Schwestern und den Gang hinunter zur Absperrung. Seine Miene blieb ausdruckslos, während meine Mutter an seinem Arm hing und sorgenvoll um sich blickte. Ich drängelte mich zwischen all den alten Leuten zu ihm durch. Dabei stellte ich überrascht fest, dass alle kleiner waren als ich. Eine Kunst bei meiner Größe von einem Meter sechsundsechzig.

Ich beugte mich hinüber. Den Lärm um uns herum so gut es ging übertönend, sprach ich laut und deutlich in sein rechtes, das heißt gutes Ohr: »Es tut mir leid, dass das hier deinen Geburtstag so durcheinanderbringt. Geh doch mit deinen Gästen ruhig schon hinunter ins Lokal zum Essen. Ich muss auf einen von der Kriminalpolizei warten, der mich befragen will. Das hat man mir mitgeteilt. Es wird also noch etwas dauern, bis ich kommen kann.«

»Stimmt es, dass die Tote die Elvira ist?« Gegenfrage statt Antwort. Das war ich jedoch schon seit vierundvierzig Jahren gewohnt.

»Ja«, gab ich als brave Tochter Auskunft.

»Und wie ist sie umgekommen?«

»Das weiß man noch nicht.« Ich würde jetzt keine Einzelheiten ausplaudern, auch wenn er das erwartete. Allzu gehorsam sollte man nie sein.

»Karin! Dein Mann hat sie doch untersucht!« Aha, er hatte es also gehört und ließ nicht so leicht locker.

»Ja, aber die Todesursache wird erst in der Obduktion festgestellt. Außerdem ist das hier nicht der richtige Ort, darüber zu reden.« Meine Hand beschrieb einen Bogen und machte ihn auf die Umstehenden aufmerksam. Mein Vater sagte nichts mehr. Für dieses Mal gab er sich zufrieden.

Er drehte sich um und ging mit seinem Hofstaat zum Essen. Ein paar Momente schaute ich ihm hinterher. Ein alter Mann, auf Haltung bedacht. Allerdings wusste ich, dass ihn der heutige Festtag mehr Kraft kostete, als er zugeben würde. Und jetzt noch das Schlamassel mit der toten Pflegerin! Ich seufzte.

Das Gemurmel um mich herum war lauter geworden. Eine Frau neben mir stieß ihre Nachbarin an und zischte: »Schau, noch mehr Polizei!« Da blickte auch ich wieder in Richtung Abstellkammer. Und richtig. Jetzt waren Beamte in Zivil eingetroffen und besprachen sich mit den Kollegen in Uniform. Ein jüngerer Mann mit einer zerknitterten beigen Popelinejacke und einer leicht windschiefen Haltung registrierte die Ansammlung der Bewohner und winkte Schwester Sieglinde zu sich. Ein knappes Gespräch, ein Telefonat und schon hörte man die Wagen mit den Mittagessentabletts aus dem Aufzug poltern. Die Altenpflegerin forderte die Senioren auf, sich für das Essen in ihre Zimmer zurückzuziehen oder in den Gemeinschaftsraum zu kommen. Manche murrten. Als die Schwester den ersten Rollstuhlfahrer jedoch resolut in das gemeinschaftliche Speisezimmer schob, gaben sich die anderen geschlagen und schlurften leise schimpfend von dannen.

Ich beobachtete, wie Martin herbeigerufen und zur Befragung in ein leeres Zimmer geführt wurde. Ein bisschen unschlüssig stand ich neben einer Couch herum. Wahrscheinlich würde ich auch gleich vernommen. Schließlich hatte ich die Leiche entdeckt. Da lohnte es sich wohl kaum, nach unten ins Lokal zu gehen und nach meinem Vater zu sehen. Also setzte ich mich hin. »Sitzen kostet genauso viel«, hat meine Oma immer behauptet.

Die Leute von der Spurensicherung packten ihre Koffer zusammen. Vermutlich würde auch bald die Leiche abtransportiert werden. Da musste ich nicht unbedingt zusehen. Mein Bedarf an Leichenschau war eindeutig gedeckt. Hoffentlich holte man mich bis dahin zur Befragung ab. Ja, die Tür ging auf, Martin und der Mann im Knitterlook kamen heraus. An wen erinnerte er mich bloß? Nun schaute er mich an und gab mir ein Zeichen. Aha, jetzt war ich wohl dran. Ich stand auf und begab mich in Richtung Vernehmungszimmer. Da fiel mir plötzlich ein, mit wem der Polizist eine Ähnlichkeit hatte. Mit Columbo! Natürlich! Der knuffige amerikanische Fernseh-Kommissar meiner Kindheit, klar. Wie von selbst musste ich schmunzeln – nein, das ging nicht. Ich biss mir auf die Lippen. Es war pietätlos, einfältig zu grinsen, wenn man über seinen Leichenfund befragt werden sollte. Martin hatte auch bereits tadelnd die Augenbrauen zusammengezogen.

»Ich gehe jetzt mal zu den anderen. Du kannst ja nachkommen.«

Ich nickte.

»Grüß Gott, Schneider«, stellte ich mich vor und gab dem Columbo-Double die Hand. Das machte man wohl auch nicht, wie ich aus seiner zögerlichen Reaktion schloss. Na, egal.

»Kriminalkommissar Braun«, stellte er sich mit einer leichten Verneigung des Kopfes vor, ließ mir den Vortritt und schloss die Tür. »Und das ist Kriminalhauptkommissarin Langenscheidt.«

Tatsächlich! Da war eine Frau. Welch positive Überraschung! An einem kleinen, lackierten Holztisch saß eine jüngere Polizistin mit blondem, akkurat fallendem Pagenschnitt. Jünger, na ja, wohl auch schon Anfang dreißig, aber halt einige Jahre weniger als ich. Tadellos gekleidet in Chino und hellgrauer Bluse. Sie notierte noch etwas auf ihrem Block, jetzt schaute sie auf und … Mein Gott, hatte die grüne Augen! Smaragdgrün. Sie erhob sich und streckte mir, im Gegensatz zu ihrem Kollegen, freiwillig ihre Hand entgegen. Ein fester Händedruck, nicht unangenehm. Man sagt ja immer, dass sich Menschen innerhalb von drei Sekunden taxieren und entscheiden, was sie vom anderen halten. Nun, mir war die Hauptkommissarin sympathisch.

Kommissar Braun setzte sich zu ihr an den Tisch, ich bekam den dritten Stuhl angeboten. Meine Personalien wurden aufgenommen, meine Verbindung zum Heim festgehalten. Dann musste ich schildern, wie ich Elvira gefunden hatte. Keine leichte Aufgabe, aber ich stand es durch.

»Nach dem jetzigen Kenntnisstand wissen wir nicht, ob Fremdverschulden vorliegt. Das wird erst die Sectio der Frau Böhm ergeben. Daher, Frau Schneider, vielen Dank für Ihre Hilfe. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, hier meine Karte. Scheuen Sie sich nicht mich anzurufen.« Kommissarin Langenscheidt sagte das sehr freundlich, und ich hatte den Eindruck, es sei ernst gemeint.

»Ja, danke, werde ich machen. Auf Wiedersehen.«

Vor der Tür hielt ich kurz inne und sammelte mich. Nach einem Unfall hatte das wirklich nicht ausgeschaut. Aber ein Mord im Heim? Konnte man eigentlich kaum glauben. Vor allem: Wer hätte wegen Elvira solch emotionale Flutwellen empfinden sollen, dass er sie tatsächlich umbrachte? Das war außerhalb meiner Vorstellungskraft. Jetzt musste ich jedoch zum ursprünglichen Plan zurückkehren und mit meinem Vater zu Mittag essen.

Ich eilte wieder die Gänge entlang, in denen es nach diesem typischen Gemisch von Desinfektionsmitteln, Inkontinenz und Essen mit Soße roch. Schon als Kind hatte ich diesbezüglich unter meinem ausgezeichneten Geruchsvermögen gelitten. Zwei meiner Großtanten hatten in ärmlichen Verhältnissen im Altersheim gewohnt. Bei jedem Besuch hatte ich versucht, die Luft anzuhalten oder andere Tricks und Kniffe ausprobiert, um nichts riechen zu müssen. Meine Bemühungen waren stets erfolglos.

Nun war ich älter, meine Nase vielleicht schon etwas abgestumpft und diese Seniorenresidenz hielt viel auf Sauberkeit. Trotzdem nahm mein Geruchssinn die Ausdünstungen auf, und mein limbisches System erinnerte mich an meine Kindheitsnöte. Automatisch atmete ich flacher und versuchte, mich abzulenken. Ich kam am Zimmer meiner Eltern vorbei und warf einen Blick hinein. Keiner drin. Mein Blumenstrauß prunkte auf der Kommode. In eine Vase gerettet und nur ein bisschen ramponiert. Schön! Tür zu und weiter. Ich ließ den Aufzug, der meine Geduld regelmäßig arg auf die Probe stellte, links liegen und nahm die Treppe.

Im Restaurant saßen noch die Geburtstagsgäste um meinen Vater am Tisch. Nur die Offiziellen, der dritte Bürgermeister, die Gratulantin der Caritas und die Vertreterin des VdK, waren nicht mehr da. Auch gut, dann waren wir unter uns. Soweit man das hier sein konnte. Denn der ungewöhnliche Todesfall schien alle durstig gemacht zu haben. Fast jeder Platz war besetzt und die Heimbewohner diskutierten über die Sensation. Ich schaute mich um und entdeckte einige, die ebenfalls auf Station zwölf wohnten. Sie waren Informanten der ersten Stunde und daher als Gesprächspartner natürlich besonders gefragt, genossen ihre Vorrangstellung. Manch schlaffe Wange hatte sich leuchtend rot gerundet.

Ganz hinten im Eck hockte allein der Hinterdobler in seinem Rollstuhl und schien aus dem Fenster zu blicken. Seit seinem Schlaganfall wusste man nicht so genau, wie viel er von seiner Umwelt mitbekam. Wegen seiner unrühmlichen Vergangenheit war unser ehemaliger Landrat unter seinen Mitbewohnern nicht gerade beliebt. Einem mutmaßlichen Mörder mochte man beim Mittagessen nicht unbedingt gegenübersitzen. Deshalb kümmerte sich keiner um ihn. Tief gefallen, der Herr Hinterdobler.

Ich wandte mich ab und setzte mich endlich zu meiner Familie. Sie hatten die Nachspeise schon beendet und waren bei Espresso und Schnaps angelangt. Das konnte ich jetzt gleichfalls vertragen und gab der Bedienung ein entsprechendes Zeichen. Lilli, meine Älteste, beugte sich zu mir herüber und fragte mich flüsternd, ob es etwas Neues gäbe. Ich schüttelte den Kopf.

Mein Vater erzählte gerade eine »Geschichte von früher«. Davon hat er einen erstaunlichen Vorrat und große Freude daran, ihn mit anderen zu teilen. »1942 wurde ich doch noch eingezogen. Da war ich Anfang zwanzig. Zu den Fliegern. Ich! Mit meiner Flugangst! Wir hausten in Baracken, zehn Mann in einem Raum, Feldbetten, provisorische Spinde, ein einziges Waschbecken, Toilette vor der Tür, sonst nichts. Am nächsten Morgen sollten wir zum ersten Mal fliegen. Ich hatte unglaubliche Angst und die Nacht nicht geschlafen. Als Appell war und wir auf dem Vorplatz antreten mussten, bin ich in die Baracke zurück, so als ob ich was vergessen hätte, und hab mich unter dem Feldbett ganz hinten in der Ecke versteckt. Dort hab ich gewartet, bis alle anderen in der Luft waren.«

Diese Story gefiel Linus besonders gut. Obwohl ich mich bemüht hatte, ihn pazifistisch zu erziehen – oder vielleicht auch gerade deswegen –, übten Geschichten über Soldaten, Kämpfe und Krieg auf ihn mit seinen fünfzehn Jahren eine geradezu magische Faszination aus. Ich wusste nicht, ob ich mir Sorgen machen sollte. Diese Begebenheit hatte er schon einige Male gehört und war deshalb ein prima Stichwortgeber.

»Bist du dann vors Kriegsgericht gestellt worden, Opa?«

»Die Deutschen hätten das gemacht, aber nicht die Ungarn, Linus. Die haben eingesehen, dass ich für die Luftwaffe nicht taugte.« Zur Bekräftigung dieser vernünftigen Vorgehensweise kippte er den Rest seines Verdauungsschnapses mit einer gekonnten Bewegung hinunter. Er beugte sich zu seiner Frau hinüber: »Muzikám, hast du vor, noch länger zu bleiben?«

»Ich wart ja nur auf dich.«

»Dann werde ich mich jetzt zurückziehen, ich bin müde. Vielen Dank für euer Kommen.«

»Und die zahlreichen Geschenke!«, fügte meine Mutter hinzu, schon im Aufstehen begriffen. Wenn mein Vater etwas wollte, musste es sofort geschehen. Auch ich sprang auf, um ihm beim Hochkommen zu helfen. Ein bisschen wackelig hielt er sich am Tisch fest, ich gab ihm seinen Stock. Mit Willenskraft richtete er sich auf und ging, auf meine Mutter gestützt, die Gäste verabschiedend, aus dem Lokal.

Vierzehn Uhr dreizehn

Die Kommissarin war mit ihrem Kollegen inzwischen in das Zimmer der Heimleitung im Erdgeschoss umgezogen. Auf der Station brachte ihre Anwesenheit zu viel Unruhe. Frau Imhoff, die Leiterin, trat ihren Raum allerdings nur sehr widerwillig ab. Sie hasste es, wenn jemand in ihr Territorium eindrang.

Im Moment studierte Kommissarin Langenscheidt die Personal-akte von Elvira Böhm. Frau Imhoff war gebeten worden zu bleiben, um Fragen beantworten zu können. Das behagte ihr ganz und gar nicht. Sie saß auf ihrem eigenen Besucherstuhl, die Beine übereinandergeschlagen, die spitze Nase provokant in die Luft gestreckt. Wenn die Polizei doch nur schon wieder draußen wäre aus ihrem Heim!

»Ich sehe, Frau Böhm war in den letzten Monaten häufig krankgeschrieben. Was waren die Gründe?«

»Da müssen Sie schon ihren Arzt fragen. Ich bekomme ja immer nur die Krankmeldungen. Dort ist kein Grund vermerkt.«

Kommissarin Langenscheidt schaute verblüfft von den Unterlagen auf. Der Ton war mehr als schnippisch. Nun gut, darauf konnte sie sich einstellen.

»Aber Sie als Chefin werden sich doch bei Ihrer Angestellten erkundigt haben, warum sie krank war.«

Frau Imhoff schlug ihre Beine in die andere Richtung übereinander. »Dazu ist hier keine Zeit. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Arbeit wir haben.«

Darauf ging die Kommissarin nicht ein. »Sicherlich haben Sie regelmäßig Mitarbeitergespräche geführt.«

»Das sieht meine Arbeitsbeschreibung nicht vor.«

»Aha.« Die beiden Frauen taxierten sich. Sie liebt Machtspielchen, dachte die Kommissarin. Laut sagte sie: »Bei Frau Böhm wurde ein Asthmaspray gefunden. Wissen Sie etwas über eine Asthmaerkrankung?«

»Natürlich.«

»Ah ja?«

Frau Imhoff beugte sich vor und blätterte in der Personalakte. »Das steht ja auch hier. Da ist der Bescheid des Versorgungsamtes. Es wurde ein Grad der Behinderung von zwanzig Prozent festgestellt.«

»Hatte Frau Böhm Anfälle?«

»Nicht, dass ich wüsste. Sie hatte ja ihr Spray. Am besten fragen Sie Schwester Sieglinde. Frau Schönhuber. Das ist die Stationsleiterin.«

»Dann holen Sie mal Frau Schönhuber.«

Frau Imhoff starrte die Kommissarin an. Schlussendlich griff sie über den Schreibtisch zu ihrem Telefonhörer und tippte eine zweistellige Nummer. Im Nebenzimmer läutete es.

»Frau Zwicknagl, sagen Sie doch der Schwester Sieglinde Bescheid, dass die Polizei sie sprechen möchte.« Sie legte wieder auf und lehnte sich zurück.

»Sie können einstweilen gehen, Frau Imhoff. Aber halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.«

Ohne ein weiteres Wort rückte die Heimleiterin ihren Stuhl geräuschvoll nach hinten und stolzierte aus dem Zimmer. Die beiden Polizisten schauten sich kopfschüttelnd an.

»Hans, ruf doch mal bei dem Hausarzt von der Frau Böhm an und bitte ihn, er soll uns die Liste der Erkrankungen und der verschriebenen Medikamente an die Dienststelle faxen. Und die sollen es mir sofort rüberschicken.« Damit schob sie ihm die Akte zu.

Kommissar Braun hängte sich ans Telefon. Es klopfte an der Tür. Schwester Sieglinde kam forschen Schrittes herein.

»Sie wollten mich sprechen?«

»Ja, grüß Gott, Frau Schönhuber. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Die Kommissarin zeigte auf den Stuhl vor ihrem Tisch. »Sie sind die Leiterin der Station zwölf?«

»Ganz richtig.«

»Gut. Was können Sie uns über die Asthmaerkrankung der Frau Böhm erzählen?«

Schwester Sieglinde setzte sich zurecht. »Meiner Meinung nach war es nicht so schlimm. Sie war ein wenig kurzatmig. Anfälle hatte sie allerdings keine. Zumindest nicht in der Arbeit. Wenn es mit dem Atmen mal schwerer ging, hat sie ihr Spray benutzt.« Sie faltete ihre Hände unter ihrem imposanten Busen. »Aber wenn Sie mich fragen, war das Show.«

»Show?«, hakte die Kommissarin nach.

Schwester Sieglinde nickte. »Sie war nicht eine der Fleißigsten. Und sie machte gern eine Pause. Da war so ein bisschen pfeifend atmen und demonstrativ sprayen ganz praktisch.«

»Aha. Frau Böhm war in letzter Zeit oft krankgeschrieben. Wissen Sie, warum?«

Die Schwester blinzelte und schaute in die rechte obere Zimmerecke. »Nein.«

»Sie haben sie nie danach gefragt?«, fasste die Kommissarin nach.

»Für großartige Privatgespräche fehlt uns die Zeit.«

»Nun gut.« Langsam bekam die Kommissarin ein Bild vom Arbeitsklima auf der Station. »Ist Ihnen heute Vormittag etwas Besonderes aufgefallen?«

»Heute war ein enormer Betrieb. Gerade als wir mit Aufstehen, Waschen und dem Frühstück fertig waren, kamen schon die ersten Gäste für Herrn von Markovics. Der feiert heute seinen Neunzigsten. Geburtstag«, schob sie zur Erklärung nach. »Alle fragten nach seiner Zimmernummer, mit dem Bürgermeister kam der Reporter von der Passauer Neuen Presse, sie brauchten zusätzliche Stühle, und so weiter. Zur gleichen Zeit vermisste eine Bewohnerin etwas und machte ein ziemliches Drama daraus. Die mussten wir beschwichtigen. Wir wollten ja nicht, dass die Zeitung davon Wind bekommt und einen Diebstahl vermutet.« Sie lachte. Von den Polizisten kam keine Reaktion.

»Ja.« Frau Schönhuber hüstelte. »Dann hatte ein Bewohner Magen-Darm-Grippe und dementsprechende Schwierigkeiten. Sie verstehen? Da mussten Herr Hecker und ich ihn nochmals waschen und umziehen.«

»Zu zweit?«

»Ja, er ist bettlägerig und zu zweit geht es mit dem Heben und Wenden schneller. Vor allem, weil ihm wieder schlecht geworden ist, als wir schon fast fertig waren. So ist das manchmal.«

Die Kommissarin nickte. »Wissen Sie, warum Frau Böhm in der Abstellkammer war?«

»Keine Ahnung. Sie wird etwas geholt haben.«

Das Handy der Kommissarin vibrierte. »Einen Augenblick bitte.« Sie berührte das Display und las. »Wissen Sie, dass Frau Böhm Diabetes hatte?«

Die Schwester schüttelte den Kopf.

»Allergien?«

»Wenn ich so darüber nachdenke: Im Frühjahr benutzte sie ihr Spray häufiger. Sie erwähnte auch mal, dass sie gegen Pollen allergisch sei. Ach ja, und Wespenstiche. Bei Wespen flippte sie aus.«

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Waren Fremde auf der Station?«

»Massenhaft. Die Gäste vom Markovics.«

»Ja, die Liste haben wir schon. Sonst noch wer?«

»Nein, mir ist niemand aufgefallen.«

»Gut, das wäre einstweilen alles.« Kommissarin Langenscheidt entließ sie, und die Schwester eilte aus dem Raum.

Fünfzehn Uhr vierzig

Zimmernummer 1203, das Wohnzimmer der von Markovics’. Es klopfte an der Tür. Keine Antwort. Heidemarie Wieland öffnete dennoch und blickte vorsichtig hinein. Sie blinzelte gegen die Helligkeit an, die die Nachmittagssonne durch die Fenster in das geräumige Zimmer schickte. Die Möbel aus den späten fünfziger Jahren hätten jeden Liebhaber dieser Zeit zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Vor dem Fernsehgerät standen zwei honigfarbene Cocktailsessel. Auf dem obligaten Nierentisch dazwischen lagen Fernsehzeitung und Fernbedienung. Eine Kombination aus Wohnzimmerschrank und Bücherregal fiel durch die luftig-leichte Konstruktion auf. Ihre filigranen Füße schienen die Ansammlung von Fotoalben, Blumenvasen, Zsolnay-Figürchen und Bertelsmann-Club-Büchern mühelos zu tragen. Selbst die Stores passten perfekt in dieses Bild. Ihre grafischen Muster harmonierten mit der Farbe der Sessel. Eine heile Welt aus dem Jahre 1958.

Vor dem Fenster saß Magdalena von Markovics in aufrechter Haltung an ihrem Esstisch. Die Einrichtung bildete den perfekten Rahmen für ihre zarte Gestalt. Ebenso feingliedrig wie ihr Mobiliar, besaß sie den anrührenden Charme vergangener Zeiten. Ihr graues Haar umrahmte in ordentlichen Wellen ihren Kopf. Eine Perlenkette schimmerte um ihren schmalen Hals und unterstrich die Eleganz ihres dunkelblauen Kostüms, dem man sein Alter zwar ansah, aber gerne vergab. Die achtzig Jahre ihres Lebens mochten nicht immer leicht gewesen sein für Magdalena, dennoch umspielte meist ein feines Lächeln ihre Lippen. Sie schaute auf ein Heft mit Kreuzworträtseln, den Stift schreibbereit in der Hand. Sie hatte die Besucherin noch nicht wahrgenommen. Obwohl Heidemarie schon in der Tür stand, klopfte sie nochmals dagegen. Deutlich lauter. Jetzt blickte Magdalena auf.

»Darf ich?«, fragte ihre Bekannte.

»Oh, Heidemarie. Natürlich. Komm nur rein.« Magdalena legte den Kugelschreiber und ihre Lesebrille beiseite, erhob sich und ging ihrer Besucherin entgegen.

Heidemarie schloss die Tür und schüttelte Magdalena herzlich die Hand. Auch sie schien einem Bilderbuch über gepflegte alte Damen entsprungen zu sein. Sie war vielleicht zehn Jahre jünger als Magdalena und konnte sich noch nicht dazu entschließen, sich zum Grau ihrer Haare zu bekennen. Deshalb schmiegten sich weiche blonde Löckchen um ihr Gesicht, das nahezu faltenlos und dezent geschminkt war. Heidemarie Wieland war in früheren Zeiten eine schöne Frau gewesen, und das stete Wissen darum hatte sich in ihre Züge eingeprägt. Ihre blauen Augen leuchteten vor Selbstbewusstsein.

»Ich möchte nicht stören. Aber ich wollte Tibor zu seinem Ehrentag gratulieren und ihm eine kleine Aufmerksamkeit vorbeibringen.« Sie hielt eine in weißes Seidenpapier gewickelte Flasche in die Höhe. »Ungarischer Rotwein. Den trinkt er doch so gerne.«

»Es ist ganz reizend von dir, dass du an seinen Geburtstag denkst. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.« Die üblichen Floskeln kamen Magdalena ohne großes Nachdenken über die Lippen.

Heidemarie drückte ihr die Flasche in die Hand. »Nun, man wird nur einmal neunzig Jahre alt. Schon eine beachtliche Leistung.« Sie zupfte an dem Seidentuch an ihrem Hals, das ganz selbstverständlich ihre adrette Erscheinung komplettierte und die Farben ihres weit schwingenden Rockes wieder aufnahm. »Wo ist er denn? Hält er seinen Mittagsschlaf?«

Magdalena gab beflissen Auskunft. »Ja, er hat sich hingelegt. Es war heute viel Trubel. Die zahlreichen Gäste, das gute Essen.« Es hörte sich fast entschuldigend an.

»Und dann noch der Todesfall.« Heidemarie hatte ihre Stimme etwas gesenkt und trat einen Schritt näher an Magdalena heran. »Gerade an seinem Geburtstag.«

»Ach, ja, natürlich.« Magdalena versuchte sich den Anschein zu geben, als wüsste sie, wovon ihre Bekannte sprach.

»Du erinnerst dich? Elvira.« Nachdem der Groschen immer noch nicht gefallen zu sein schien, führte Heidemarie weiter aus: »Elvira wurde doch von Karin tot in der Abstellkammer gefunden.«

»Oh. Ja. Die Arme.« Wen sie damit meinte, war nicht klar. Magdalena fingerte unsicher an der goldenen Brosche herum, die am Revers ihrer Kostümjacke steckte, und machte ein betroffenes Gesicht.

Heidemarie konnte sich wieder einmal davon überzeugen, dass Magdalenas Gedächtnis nur mehr sehr unzureichend funktionierte. So wechselten sie noch einige belanglose Sätze. Nach ein paar Minuten verabschiedete sie sich.

»Ich schaue die Tage wieder vorbei. Vielleicht habe ich dann mehr Glück und Tibor ist wach. Wir sehen uns, meine Liebe.«

»Ja. Danke für deinen Besuch. Komm gut nach Hause.« Erleichtert widmete sich Magdalena wieder ihren Rätseln.

Zweiundzwanzig Uhr

Erst abends im Bett kam ich dazu, mit Martin über den heutigen Vorfall zu reden. Der Tag war noch mit Dingen angefüllt gewesen, die alle zuerst erledigt werden wollten. Keine freie Minute, um mitein-ander zu sprechen.

Nachdem meine Eltern sich zurückgezogen hatten, waren wir eine Weile am Tisch sitzen geblieben. Viele Komplimente zum bemerkenswerten geistigen Zustand meines Vaters hatte ich entgegennehmen können. Ich war über seine körperlichen Leiden befragt worden. Dann hatte ich noch über unser Familienleben Auskunft geben müssen, und wir plauschten ein wenig über Schulprobleme und Alltagssorgen. Alle Gäste waren Bekannte und Verwandte »der zweiten Linie«. Da mein Vater nun schon neunzig war, hatte er keine gleichaltrigen Angehörigen mehr. Seine letzte Schwester war vor zwei Jahren gestorben. Ein einziger Freund aus Jugendtagen war ihm geblieben. Leider war er zu alt, um die weite Reise von München nach Kirchmünster auf sich zu nehmen. Er hatte nur angerufen und gratuliert. Und so waren die Kinder der Freunde meines Vaters gekommen, seine Nichten und Neffen. Musste schon seltsam für ihn sein. Der letzte Überlebende.

Als wir endlich zu Hause waren, mussten erst so Alltäglichkeiten abgearbeitet werden wie Vokabeln abfragen, mit dem Hund spazieren gehen oder Kind in die Dusche nötigen. Vicky hatte mit ihren zehn Jahren zwar ihre kleinkindhafte Wasserallergie überwunden, den letzten Anstoß brauchte sie allerdings doch immer noch von außen.

Die Kinder brachten seltsamerweise nicht die Rede auf den Todesfall im Altenheim. Vielleicht mussten sie die Info überhaupt erst mal an sich ranlassen, bevor sie weitere Fragen hatten. Und ich wollte nichts forcieren.

Deshalb saß ich also schon im Bett, als ich endlich mit Martin reden konnte. Er kam nur in Pyjamahose bekleidet aus dem Bad. Eine seiner netten Angewohnheiten, kein Oberteil anzuziehen. Da kann ich mich – by the way – an seinem immer noch sehr ansehnlichen Oberkörper erfreuen. Aber heute hatte ich keinen Sinn für Sinnlichkeit.

»Ich glaube ja nicht, dass sie zufällig gestorben ist. Du vielleicht?«

Martin setzte sich aufs Bett und schüttelte den Kopf. »Das kann man noch nicht sagen. Solange die Todesursache nicht festgestellt wurde, kann es alles sein. Eventuell war sie gegen etwas hyperallergisch, und da wäre es schon möglich, dass sie einen allergischen Schock bekommen hat und erstickt ist. Das ist jedoch pure Spekulation.« Damit legte er sich zurecht.

Seine vernünftigen Worte konnten mich nicht einlullen. »Also ich glaube ja, dass sie ermordet wurde.« Ich runzelte die Stirn und cremte mir schwungvoll die Hände ein. »Aber kannst du dir den Grund denken, warum einer Elvira umbringen sollte? Aus welchem Motiv? Eifersucht ja wohl bestimmt nicht! Habgier? Kann ich mir auch nicht vorstellen. Sie verdient wahrscheinlich nicht viel als Altenpflegerin, und wenn sie Geld hätte, würde sie dort nicht arbeiten. Also warum dann?« Ich blickte meinen Ehemann auffordernd an.

»Vielleicht sollte etwas vertuscht werden?« Ich konnte ihm ansehen, dass er lieber schlafen statt raten wollte.

»Du meinst, sie hat was gesehen? Und der andere wollte nicht, dass sie das sieht und weitererzählt?« Diese Idee könnte man weiterverfolgen. Die hörte sich interessant an.

Er hob zustimmend das Kinn. »Oder sie haben wüste Sexspielchen in der Abstellkammer getrieben und es ging schief.« Damit rückte er näher an mich heran.

»Ich bitte dich! Wer soll ausgerechnet mit Elvira Sex gehabt haben? Und ich habe heute auch keine Lust. Ich muss nachdenken!« Ich rutschte ein Stück von ihm weg.

Er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und löschte das Licht. Bald, sehr bald – wie schaffen Männer es nur, so blitzschnell einzuschlafen? – war sein gleichmäßiges Atmen zu hören. Er hatte es gut. Er konnte auf Knopfdruck abschalten. Ich dagegen zerknautschte mein heiß gedachtes Kopfkissen und strampelte meine Beine unter der Decke hervor. Immer wieder kreisten die gleichen Gedanken und Bilder durch mein Gehirn, brachten mich nicht weiter, sondern hielten mich bloß vom Schlafen ab.

Um halb drei hatte ich die Faxen dicke. Ich stand auf, ging nach unten zum Medizinschrank und holte mir – nein, keine Schlaftablette. Ich nahm homöopathische Globuli. Oft erprobt und für gut befunden. Die Kügelchen halfen auch dieses Mal. Das Gedankenkarussell verlangsamte seine Fahrt, mir gelang es auszusteigen und ich konnte endlich einschlafen. Eine Wohltat.

Mittwoch, den 17. Juni

morgens

Passauer Neue Presse

Kirchmünster

Im örtlichen Alten- und Pflegeheim Haus Sonnenhügel machte eine Besucherin gestern einen grausigen Fund. Auf der Suche nach einer Blumenvase entdeckte Karin S. (44) die Pflegerin Elvira B. (37) tot in einer Abstellkammer. Ob die Altenpflegerin Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist, ermittelt die Kriminalpolizei. Unser Reporter war zum Zeitpunkt der Auffindung der Leiche vor Ort. Ausführlicher Bericht auf Seite 3.

Acht Uhr fünf

Hauptkommissarin Langenscheidt und Kommissar Braun standen vor dem leeren Zimmer der Heimleitung. Sie waren überrascht, Frau Imhoff nicht anzutreffen.

Immerhin war deren Sekretärin, Frau Zwicknagl, schon an ihrem Arbeitsplatz.

»Wo ist denn Frau Imhoff?«, fragte die Kommissarin missgelaunt.

Der Frau Zwicknagl war es unangenehm, dass ihre Chefin noch nicht im Haus war. Unterwürfig entgegnete sie: »Frau Imhoff ist bedauerlicherweise noch nicht da. Sie kommt selten vor neun Uhr.«

»Na, dann rufen Sie sie bitte an und richten ihr aus, sie soll schleunigst hier erscheinen. Wir warten in ihrem Zimmer. Sie können uns einstweilen die Personalakten von allen Angestellten der Station zwölf bringen.«

»Das kann ich leider nicht.« Der Sekretärin wurde warm. »Alle Personalakten sind im Aktenschrank bei Frau Imhoff eingeschlossen, und nur sie hat einen Schlüssel.«

Die Laune der Kommissarin verschlechterte sich zusehends. »Das ist nicht Ihr Ernst?«

Frau Zwicknagl hob entschuldigend die Hände. »Doch. Tut mir leid.«

»Dann schaffen Sie uns Ihre Chefin her.« Und zu ihrem Kollegen gewandt: »Ich hätte angenommen, dass ein ungewöhnlicher Todesfall eine Heimleitung an ihren Schreibtisch treibt.« Damit schloss sie die Tür.

Nach zwanzig Minuten stöckelte Frau Imhoff zur Tür herein. Ihr Make-up war an diesem Tag noch greller ausgefallen als sonst. Die Heimleiterin legte für gewöhnlich großen Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Ihre Devise war, dass Schönheit zu zehn Prozent aus Veranlagung und zu neunzig Prozent aus Anstrengung bestand. Böse Zungen behaupteten, dass sie sich noch ein wenig mehr bemühen musste. Aber heute hatte sie eindeutig übertrieben.

Die Polizisten hatten sich in ihrem Büro ausgebreitet, sie verglichen gerade die bisherigen Protokolle der Befragungen. Frau Zwicknagl hatte ihnen Kaffee aufgebrüht. Die leeren Tassen standen auf der polierten Tischplatte von Frau Imhoffs heiligem Schreibtisch. Sie registrierte dies und musste tief Luft holen, um nicht mit einer pampigen Bemerkung herauszuplatzen.

»Da sind Sie ja endlich, Frau Imhoff. Zu ihrer Information: Solange wir ermitteln, beginnen wir um acht Uhr, und ich erwarte, Sie dann hier anzutreffen.«

Die Heimleiterin konnte nur nicken. Sie musste sich immer mehr um Beherrschung bemühen.

»Wir brauchen die Personalakten von allen Angestellten der Station.«

Immer noch ohne einen Ton von sich zu geben, holte Frau Imhoff einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche, ging zu dem Büroschrank, sperrte auf und holte die gewünschten Unterlagen. Bald türmten sich abgegriffene Hängeordner auf dem Schreibtisch.

»Brauchen Sie sonst noch was?«

Die Kommissarin griff nach dem ersten Ordner und deutete auf den Stuhl vor dem Tisch. »Bleiben Sie doch einen Augenblick hier.«

Frau Imhoff setzte sich widerwillig auf die ihrer Meinung nach falsche Seite des Tisches. Kommissarin Langenscheidt ließ sie nicht aus den Augen.

»Der vorläufige Obduktionsbericht geht von Fremdeinwirkung aus, das heißt, wir ermitteln jetzt in einem Mordfall.«

Die Heimleiterin rief entsetzt: »Das darf doch nicht wahr sein! Wer sollte Elvira umgebracht haben?«

»Das wollte ich Sie gerade fragen. Können Sie sich vorstellen, wer ein Motiv gehabt hätte, Frau Böhm zu ermorden?«

»Um Gottes willen! Nein!«

Neun Uhr dreißig

Der Morgentrubel war vorbei, die Kinder waren in der Schule, ich war mit dem Hund draußen gewesen und hatte so einige Sachen in meinem Haushalt erledigt. Jetzt fuhr ich ins Altenheim. Der Mord an der Elvira – ich persönlich ging jetzt mal von einem Mord aus – ließ mir keine Ruhe. Vielleicht würde ich ja was Brauchbares herauskriegen.

Polizeifahrzeuge standen vor dem Haus Sonnenhügel. Anscheinend waren die Frau Kommissarin und ihre Kollegen ebenfalls am Ermitteln. Außerdem parkte der schmutzige Lastwagen eines Sanitärbetriebes direkt vor der Haustür. Die Autotüren waren weit geöffnet, sodass ich im Vorbeigehen automatisch einen Blick hineinwarf. Auf der Ladefläche lagen Rohre in allen Größen und Längen, Kabel, Dämmmaterial, Werkzeugkästen, Leitern und für mich undefinierbare Dinge in schönster Unordnung. Ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren kramte darin herum. Anscheinend der Lehrling. Vor dem Wagen stand ein Brackel von einem Mann mit imposantem Schnauzer im blauen Arbeitsoverall. Er führte mit Frau Imhoff ein lautstarkes Gespräch, besser gesagt: sie mit ihm. Allerdings schaute sie etwas derangiert aus. An den eh schon dünnen Nerven der Imhoff zerrte wohl die Kombination von Polizeipräsenz und Reparaturfall. Mit vom Wind zerzausten Haaren und hektischen Flecken im Gesicht, die sich mit dem Rot ihres Lippenstiftes bissen, redete sie auf den Installateur ein. Der blickte auf die Rohrzange in seinen schwieligen Händen, schwieg und ließ die Tirade offensichtlich an sich abperlen. Als Handwerker musste man ein dickes Fell haben.

Ich murmelte einen Gruß, der von den beiden nicht beachtet wurde, und schaute, dass ich weiterkam. Das schrille Geschimpfe der Heimleiterin interessierte mich nicht im Mindesten.