Umschlag

Frank Schätzing, Jahrgang 57, Studium der Kommunikationswissenschaften, beschäftigt sich mit Werbung, Chaostheorie und Zukunftsforschung. 1995 erschien im Emons Verlag sein Roman »Tod und Teufel«, der vom Start weg ein Bestseller wurde. Wei­tere Publikationen: »Lautlos« (2001), »Mordshunger« (1996), »Keine Angst« (Kurzkrimis, 1997), »Die dunkle Seite« (1997), »Tod und Teufel« (Das Hörbuch, 1999), »Keine Angst« (Das Hörbuch, 2001). Frank Schätzing lebt in Köln.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind rein zufällig.

© 1997 Hermann-Josef Emons Verlag
überarbeitete Ausgabe
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Genehmigung des
Wilhelm Goldmann Verlags, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Yvonne Eiserfey
Umschlagfoto: Paul Schmitz
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-051-3
Originalausgabe

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Für meine Eltern
 
Schön, dass ihr es nicht
bei einer Kurzgeschichte
belassen habt

Vorwort

 

In Makedonien lebte einst ein Bildhauer von großer Berühmtheit. Wie kein anderer vermochte er es, dem blanken Stein Odem einzuhauchen, so dass man jeden Augenblick erwartete, seine Figuren von den Sockeln steigen und marmorn einherschreiten zu sehen. Seine gelungenste Skulptur aber war ein gewaltiger Löwe. Um seinetwillen kamen die Menschen von überallher und stellten dem Bildhauer die immer gleiche Frage: »Wie schaffst du es bloß, aus einem groben Marmorblock einen so wunderbaren Löwen zu hauen?« Woraufhin der Bildhauer lächelte, einige Sekunden verstreichen ließ und dann sagte: »Ganz einfach. Ich nehme mir einen Meißel und haue alles weg, was nicht nach Löwe aussieht.«

Nur ein einziges Mal wurde der makedonische Bildhauer von einem Sammler gefragt, was er denn mit dem weg geschlagenen Marmor gemacht habe, der ja von einigem Wert sei. Da führte der Bildhauer den Sammler in sein Atelier und zeigte ihm allerlei kleine Skulpturen, manche nicht größer als ein Daumen, andere armeslang. Er hatte sie aus den Resten geschliffen, und sie waren schön und wunderlich genug, dass der Sammler einige von ihnen kaufte.

Die Geschichte vom makedonischen Bildhauer habe ich verschiedentlich auf die Frage erzählt, wie meine Romane entstehen. Dass ich die Handlung weniger erfinde als vielmehr freilege. In der Gesamtheit aller möglichen Welten ist jede Geschichte bereits verborgen. Ebenso wie Wissen nicht durch die Anhäufung von Information entsteht, sondern durch deren gezielte Vernichtung, ist der Roman das, was bleibt, nachdem man alles Überflüssige eliminiert hat. Weiß man erstmal, was man nicht schreiben will, wird der Löwe sichtbar.

Jedes Mal, wenn ich einen Roman beginne, finde ich mich vor einem Block aus Information. Jedes Mal schlage ich etliches weg, oft viele Monate lang, bis die Handlung langsam Gestalt annimmt. Das meiste des Abgeschlagenen wird hinterher zusammengefegt und dem kreativen Chaos überantwortet. Mitunter bricht jedoch ein größerer Brocken weg, der seine eigene kleine Geschichte zu bergen scheint. Mit der Zeit kumuliert ein wahrer Lagerbestand solcher Brocken, bis ich darangehe, sie auf dramaturgische Tauglichkeit zu untersuchen. Die meisten bleiben, was sie sind, nämlich Abfall. Aus anderen aber werden kleine Löwen.

Auf diese Weise entstanden zwischen 1995 und 1997 die vorliegenden Kurzgeschichten. Mehr oder weniger alle sind im Kölner Milieu angesiedelt, wenngleich die meisten auch sonst wo spielen könnten. Nur eine – »Ertappt!« – fordert Vertrautheit mit der Kölner Prominenz, die sich leider nicht nachträglich ergoogeln lässt, da größtenteils Bezug auf Personen der Neunziger genommen wird. Manche sind verstorben, andere nicht mehr im Amt. Zum besseren Verständnis will ich darum einige Abkürzungen entschlüsseln, was Sie in die Lage versetzen sollte, den Protagonisten auch ohne Intimkenntnis näher zu kommen.

B. steht für Dr. Norbert Burger, lange Jahre Kölns hoch geschätzter Oberbürgermeister. A. verkörpert den Franz-Josef Antwerpes, ehedem Kölner Regierungspräsident, zu dessen Usancen es gehörte, höchstpersönlich Alkoholkontrollen durchzuführen und ein ums andere Mal die Autobahnen wegen angekündigten Nebels sperren zu lassen. Hinter Dr. P. verbirgt sich Dr. Werner Peters, ein Kölner Philosoph und Gastronom, der lange Jahre über ein Restaurant mit dem kryptischen Namen O.T. herrschte. Tatsächlich entstand O.T. aus dem Unwillen, dem Laden überhaupt einen Namen zu geben, denn unabgekürzt entfaltet sich das Kürzel zu »Ohne Titel«. E. bezeichnet den Kölner Verleger Hejo Emons, in dessen Verlag »Keine Angst« ursprünglich erschien und der als Erfinder des Köln-Krimi gelten darf. In der Reihe haben bis heute Dutzende mordbewusster Kölner Schriftsteller veröffentlicht, darunter Edgar Noske, Christoph Gottwald und Rolf Hülsebusch. W.M. schließlich ist unser seliger Willy Millowitsch, der in seinem letzten Lebensjahrzehnt auch als weiser, alter Fernsehfahnder zu bewundern war.

Tünnes und Schäl schlussendlich sind Kölner Originale, Protagonisten unzähliger Witze und ebenso unzertrennlich wie Laurel und Hardy, Hanni und Nanni, Bush und Blair. Wenn Sie nach der Lektüre des Prologs Fragezeichen in den Augen haben, nur Geduld. Nach »Ertappt!« werden Sie klüger sein. Beide, Tünnes und Schäl, gehören darüber hinaus zum Ensemble des Kölner Hänneschen, eines traditionellen Stockpuppentheaters, in dem u. a. auch das liebreizende Bärbelchen, das Hänneschen selbst und der bucklige Speimanes auftreten. So weit der Crash-Kurs.

Was bleibt? Eine Haxe ist ein gegrilltes Schweinebein, ein Köbes ein Mensch, der Durstige mit Bier versorgt, und alles andere sollten Sie in Köln persönlich recherchieren. Die Stadt wird Sie in ihre Arme schließen. Falls Sie nicht sowieso hier leben.

Frank Schätzing

März 2007

Prolog

Der Tünnes sitzt im Frisiersalon und
lässt sich von zarter Hand rasieren.

Wollust

Ah! Sie!

Ganz ohne Zweifel von jener Makellosigkeit und Schönheit, dass ihr nichts weniger gebührt als dein bedingungsloses Waterloo, liegt sie vor dir, nackt und braungebrannt, die üppig schwellenden Formen ein Bacchanal der Moleküle, schamlos dir entgegengereckt und doch ganz unschuldiges Opfer, deine Fleischeslust hinauf und immer höher auf den Gipfel der Versuchung peitschend, einen Gipfel, so unvorstellbar weit ausgreifend in den Sternenregen, dass die Luft kaum noch zu atmen ist und es dir das Herz abschnürt und du dennoch weiterklettern willst, wo gar nichts mehr zu klettern ist, dorthin, wo du das Verlangen nicht mehr fühlst, sondern selber pures, glühendes Verlangen wirst, eins wirst mit ihr und ihrer Herrlichkeit, den guten, zimmertemperierten Rat der Freunde und der Ärzte unter dir lassend wie tief hängende Gewitterwolken, trunken von der Möglichkeit des Unmöglichen, kurz: das Ende eines jeden logischen Gedankens in deinem unbedeutenden synaptischen Mangrovensumpf, so ist sie, wartet sie auf dich, erwartet dich und keinen anderen als dich!

Die ewig Lockende, nimm sie! Bist du nicht ein Kind dieser verzauberten Stadt, von der sie sagen, dass Italien hier sein Revier markiert hat mit dem süßen Duft der ars vivendi? Was kann einer, der das Erbe der Cäsaren in sich trägt, in dessen Adern Blut vom Blute jener fließt, die einst ihr Heimweh an den feuchtkalten Gestaden der neuen Colonia in melancholischen Exzessen zu betäuben suchten, so dass sich in ihrem Stöhnen Lachen und Weinen mischte wie der adriatische Himmel mit dem Meer an dunstigen Tagen, was also kann einer wie du anderes wollen als diesen einen Augenblick, um sich dem Opfer zu opfern und der Hingabe hinzugeben? Schau sie an, Enkel des gottgleichen Gaius, Sohn des Epikur, und wage zu behaupten, dass dein aufgewühltes Inneres sie nicht begehrt, gleich hier und jetzt, vor allen Leuten, hier auf diesem Tisch! Ja, ebenso exzessiv und orgiastisch, wie es deine Ahnen mit ihresgleichen trieben, ist, was du nun mit ihr tun willst, Abkömmling Neros. Kaum dass du dich zu zügeln vermagst, deiner Begierde die Besitzergreifung folgen zu lassen, aber …

Warte!

Ja, warte! Halte dich zurück, nur noch ein wenig, zögere es den Herzschlag einer Ewigkeit hinaus. Sie ist ja dein, will zu dir, bietet sich dar. Sieh nur, wie ihr erhitztes Fleisch nach dir verlangt. Du aber liebkose sie mit Blicken, einstweilen noch. Denn es ist ja gerade die hinausgezögerte, die kundig angestaute Lust, die sich dann umso wilder ins Becken aller Sinnlichkeit ergießt.

Wie lange hast du auf sie gewartet? Wie lange sie ersehnt? Aus einer Rippe soll sie kommen, die Versuchung? Einer Rippe? Was weiß denn einer von der Lust, der sie sich aus den Rippen schneiden muss? Nein, Rippe ist sie nicht, wenngleich sie dir, da sie nun endlich – endlich! – hingestreckt dort liegt, anmutet wie die himmlische Verheißung, ungeachtet jener Pölsterchen, die ein gewisses Defizit an Leibesübung nicht verleugnen, auch nicht die Reichlichkeit der zugeführten Speisen. Doch kommt dem Ideal nichts näher als das Idealisierte. Wird das Schöne schön erst durch den schönen Geist. Lässt schließlich erst der Blick des Liebenden das Unvollkommene vollkommen werden, bis es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern – honigschwere Tragik aller Liebe – nur noch zu zerstören: die letzte, höchste Lust.

Drum nicht zu hastig, Freund. Liebkose schauend ihre Nacktheit. Ist sie, die mehr als üppige, in ihrer Fülle nicht umso schöner und betörender, Spross des Caligula? Derart, dass du deine Augen nicht mehr von ihr lassen kannst, während dich ein Schauer nach dem anderen erbeben lässt und deine Mundhöhle der endlosen staubigen Sahara zu ähneln beginnt und es dich nur noch danach verlangt, sie hier und jetzt zu nehmen, ohne dass du ihren Namen wissen willst und ob sie einen hat, noch ihre Herkunft, noch, wo sie die Blüte ihrer Jugend hingebracht hat und auf welchen Pfaden sie gewandelt ist, bevor das Schicksal sie für dich bestimmte, hierher vor deinen voluptiven Blick.

Und so, wie dir die Augen aus den Höhlen treten, schließt sich deine Hand um einen Messergriff, und keuchend rammst du ihr den Stahl ins spritzende Fleisch. Du schnaufst und sabberst vor Begierde und drehst das Eisen rum, Muskeln, Sehnen und Bänder zerfetzend, bis die Klinge hörbar am Knochen entlang schabt, und dann beginnst du, sie genüsslich zu zerstückeln.

Denn sie ist schön. Aber sie ist ein Schwein!

Wer will da kommen, dich zu richten? Mach mit ihr, was du willst. Sie wird dir im Magen liegen, so oder so.

Die Haxe.

Der Puppenspieler

»Zum Beispiel Shakesp…p…p…peare!«

Speimanes träumte von den großen tragischen Rollen.

»Nicht so, wie ihn jeder x-beliebige Arsch inszenieren würde, Koch, das musst du wissen, davon halt ich überhaupt nichts. Geh mal ins Kölner Schauspielhaus und guck dir den Dreck an. Die stecken alle Schauspieler in weiße Anzüge, egal, wann’s spielt. Hab Caligula gesehen, römische Senatoren in weißen Anzügen, und der Kaiser nackt wie ’n Pavian. Ich meine, was soll das, der läuft da mit baumelnder Banane über die Bühne, und das kaiserliche Fest spielt sich auf einem Klettergerüst ab. Einem Klettergerüst, Koch! Und wir reden hier von der Blüte des römischen Reiches!«

»Caligula ist, wenn ich mich recht entsinne, nicht von Shakespeare«, gab Koch zu bedenken.

»Weiß ich, weiß doch jedes Kind. Ich wollte dir nur klarmachen, Koch, wo wir kulturell stehen. Mal ehrlich, was ist denn passiert, seit Mephisto das erste Mal in Anzug und Krawatte auf die Bühne fuhr, he? Oder meinetwegen nimm die Oper, Wagner, Götterdämmerung. Da läuft’s doch auch nicht anders. Wotan als Göring, gut, das hatte wenigstens noch was von dieser irritierenden Substanz, da wurde aufbegehrt, aber wie lange ist das her? Und heute? Schockieren um jeden Preis! Wenn heute auf der Bühne nicht gevögelt wird, war das nicht gut. Hab ich ja nichts gegen. Lustig, lustig. Aber bitte, Koch, dann frag dich in vollem Ernst, was hat das noch mit jungem, aufbegehrendem Theater zu tun? Wo bleiben die Impulse, die Aussagen, die Neuerungen? Warum wird jedes Stück der Selbstgefälligkeit drittrangiger Intendanten geopfert?«

Koch zuckte die Achseln.

»Was beklagst du dich? Wir lassen im Hänneschen die Puppen tanzen, da ist noch nie gevögelt worden.«

»Wart’s ab, Koch. Wart’s ab.«

»Was? Dass sie anfangen zu vögeln?«

»Dass ich was anderes mache. Ich hab seriöse Angebote.«

»Hm.« Koch legte die Stirn in Falten und nahm einen tiefen Zug aus seinem Kölsch. »Ich weiß nicht, Schlemmer. Was hast du plötzlich dagegen, im Hänneschen den Speimanes zu spielen? Du bist ein guter Puppenspieler.«

Schlemmer machte eine Handbewegung, als wolle er einen Schwarm Mücken vertreiben.

»Ich rede nicht vom Hänneschen.«

»Wovon dann?«

»Echte Kunst, davon rede ich. Richtiges Theater! Mann, Koch, will ich enden wie du? Achtzehn Jahre lang die Puppe vom Schutzmann schwenken!«

»Ist nicht das Schlechteste.«

»Pah. Du hast eben keine Ambitionen.«

Schlemmer stellte fest, dass sich unter den Augen des Alten mehr Ringe versammelt hatten als in den Auslagen von Gold Krämer. Koch wirkte traurig und verbraucht.

»Vielleicht hast du recht«, sagte er.

»Was? Das gibst du auch noch zu?«, entrüstete sich Schlemmer.

»Was soll ich mit Ambitionen? Ich bin fast sechzig.«

»Koch, enttäusch mich nicht. Für Ambitionen ist man nie zu alt! Schau mich an. Schauspielschule, Gesangsunterricht, kleine Rollen hier und da, Filmdose, Rocky Horror Picture Show, Carmen vom Klapperhof, jetzt Hänneschen, okay, in Köln nicht schlecht fürs Renommee. Mittlerweile sind sie auf mich aufmerksam geworden. Als Nächstes kommt die große Bühne, das sag ich dir, und dann geht’s ab zum Film. Gib mir fünf Jahre, und ich bin berühmt.«

»Das kann keiner wissen.«

Schlemmer lächelte versonnen.

»Und wenn ich gestern nacht auf dem Nachhauseweg drei alten Frauen begegnet wäre, die mir zuriefen: Heil dir, Schlemmer, Heil, Heil dir?«

Koch verzog das Gesicht.

»Hör mir auf mit dem Nazikram.«

»Das ist aus Macbeth«, entsetzte sich Schlemmer. »Nazikram! Heil dir, Macbeth, dir, künft’gem König, Heil! Der Hexen Prophezeiung. Heil dir, Than von Glamis, Than von Cawdor! Nie gehört?«

»Doch.«

»Macbeth, mein Höchstes! So, wie ihn Orson Welles gespielt hat.« Schlemmers Faust knallte auf den gescheuerten Holztisch. »Mann, das war noch was! Das war eben wirklich große Kunst. Weißt du, Koch, dass ich mich manchmal ein bisschen sehe wie er? Als Universalist, ich meine, was so die Grundlagen angeht. Hab schauspielerisches Talent und den dramaturgischen Überblick, ich könnte also durchaus inszenieren. Tanzen und singen ist eh kein Problem.«

»Tja, Schlemmer«, sagte Koch mit ernster Miene. »Wirst wohl deinen Weg machen. Reich und berühmt werden.«

Sein Gegenüber lachte.

»Zweimal gesprochene Wahrheit, als Glücksprologen zum erhab’nen Schauspiel von kaiserlichem Inhalt – Freund, ich dank Euch!«

Sie stießen an. Schlemmer warf den Kopf mit der edlen Nase und der breiten Stirn nach hinten, als er sein Glas in einem Zug leerte. Blonde Locken fielen über seine Schultern. Koch, in sich zusammengesunken, sah ihm zu und wünschte, einmal im Leben so ausgesehen zu haben wie dieser hünenhafte, gnadenlos von sich überzeugte junge Mann.

Aber er war nur ein krummbeiniger Glatzkopf, der die Menschen nicht liebte und folglich nicht geliebt wurde.

Oder auch umgekehrt.

Als Schlemmer durch die Nacht heimwärts schlenderte, hatte er den alten Mann fast schon vergessen.

Sicher, er mochte Koch. Weil der Alte klein und fahl und einsam war, tat er ihm sogar ein bisschen leid. Eine Regung, die allerdings zum Äußersten zählte, was Schlemmer für andere zu empfinden bereit war. Seit frühester Kindheit wusste er über seine Mitmenschen nicht viel mehr zu sagen, als dass sie auf der Welt waren, um ihn großartig zu finden oder wenigstens auf beeindruckende Weise arrogant. Wer Schlemmers Nähe suchte, verkümmerte zum Stichwortgeber. Schlemmer hielt großartige Monologe, sang Arien und rezitierte die Klassiker, und weil er das eine wie das andere leidlich gut konnte, verzieh man ihm, dass seine Jovialität oft an Beleidigung grenzte. Wer ihn hingegen ablehnte, den verstand Schlemmer so konsequent zu übersehen, dass die Betreffenden oft an ihrem eigenen Vorhandensein zu zweifeln begannen.

Im Grunde interessierte sich Schlemmer für niemanden als sich selber.

Dennoch sah es so aus, als sei er Kochs einziger Freund. Sie hatten sich kennen gelernt, als Schlemmer ins Hänneschen-Ensemble eingestiegen war, als dreißigster Spieler, was ihn dreißig Kölsch kostete. Er fühlte sich wohl in der bunt zusammengewürfelten Truppe aus Schauspielern, Musikern, Masken- und Bühnenbildnern, die Kölsch nach dem Reinheitsgebot sprachen und auch dann noch Spaß untereinander hatten, wenn Hänneschen, Bärbelchen und der Rest der Lindenholzbande den Schlaf des Pinocchio schliefen.

Nur Koch erwies sich als schweigsamer, sonderlicher alter Knochen, über den man trotz der vielen Jahre, die er schon dabei war, wenig wusste. Den Schutzmann spielte er nicht ganz von ungefähr. Schlemmer erfuhr in den ersten Wochen, dass Koch früher bei der Polizei gewesen war, in irgendeiner Spezialeinheit. Der Alte sprach nie darüber. Seine Frau war tot, Kinder hatte er keine. Er war zu jedermann höflich, ohne freundlich zu sein. Etwas an ihm hielt alle auf Distanz, und genauso schien er es zu wollen. Gut, sagten die anderen, wenn er nicht will, muss er nicht wollen. Wenn seine einzigen Freunde die Puppen sind, um die er sich so närrisch kümmert, soll er sich halt in Holz und Stoff verlieren. Jeder Jeck ist anders, und in Köln sind Toleranz und Ignoranz Geschwister.

Es war mit Schlemmers Eitelkeit unvereinbar, dass er nicht wenigstens versuchte, den Alten zu knacken.

Anfangs gab er sich unterwürfig und appellierte an Kochs reichhaltige Erfahrung. Koch brachte ihm ein paar Tricks bei, und ziemlich schnell zeigte sich, dass die beiden miteinander konnten. Schlemmer, der Aufschneider, und Koch, der Sonderling, zwei Egomanen vor dem Herrn, begegneten einander mit Respekt und einer gewissen Neigung, dem anderen zuzuhören. Kochs Bereitschaft erwies sich letzten Endes als die größere, und nachdem Schlemmer einmal gewonnen hatte, verfiel er wieder in sein altes Muster und folgte dem leuchtenden Pfad der Selbstverehrung. Sie machten einige Abende miteinander nieder, in deren Verlauf Koch alles über Schlemmer und Schlemmer nichts über Koch erfuhr, weil er ihn nach nichts fragte. Nach einer Weile äußerte sich Koch in unbestimmter Weise darüber, einen Freund gefunden zu haben, was Schlemmer großmütig verbuchte, ohne sich im mindesten verpflichtet zu fühlen.

Jetzt, als er unter der Glocke aus Zwielicht, die Köln gegen den Himmel warf, nach Hause trabte, beschäftigten Schlemmer andere Dinge. Beispielsweise, dass sich seine Kontakte zur großen Bühne in einer Kneipenbekanntschaft erschöpften, die er bis heute nicht hatte aktivieren können. Dass er bei der Bank mit dreißigtausend in der Kreide stand und ihm das Geld durch die Finger rann. Dass er offenbar nicht die Voraussetzungen mitbrachte, seinen eigenen Ruhm noch zu erleben, weil er vorher Opfer des Geldverleihers werden würde, der ihm vergangenes Jahr aus der Patsche geholfen hatte. Mittlerweile, da Schlemmer das Geld zwar ausgegeben, aber nicht zurückgezahlt hatte, wurden ihm Gerüchte von zwei Jugoslawen zugetragen, die Schlemmers schöne gerade Nase in eine Serpentine verwandeln sollten. Dass seine Herzallerliebste überdies die Koffer gepackt hatte, was Schlemmer erst nach einer Woche aufgefallen war, spielte da schon keine Rolle mehr.

Das Geld. Das raubte ihm alle Lebensfreude. Klamm war er immer schon gewesen. Aber nicht pitschnass mit Haien drumherum. Er musste sich irgendwas einfallen lassen, oder der Speimanes würde bald stottern, weil dem Mann unter der Puppe die Zähne fehlten.

Im günstigsten Fall.

Zwei Wochen vergingen, in denen Schlemmer auf fünf Partys eingeladen war. Er lernte eine Sängerin kennen, beschloss, sich zu verlieben und verliebte sich. Ansonsten tat sich nichts.

Im Hänneschen spielten sie zwei Stücke, »Sand für den Sandmann« und »Butz widder Butz«. Über Langeweile konnten sich die Spieler kaum beklagen. Fünf Tage die Woche volles Programm, vormittags um elf Proben, sechzehn Uhr Kindervorstellung, abends dann die großen Kinder. Der Applaus war gewaltig. Schlemmer rechnete zehn Prozent davon für die anderen und den Rest für sich. Schleierhaft, warum man ihn so schlecht bezahlte bei so viel Applaus.

Als er in seinen Mantel schlüpfte, um zu seiner Neuerwerbung zu entwischen, kam ihm Koch mit schlurfenden Schritten hinterher.

»Hast du ein Stündchen Zeit?«, fragte er tonlos.

Hoppla, dachte Schlemmer.

»Bisschen schlecht, Koch. Ganz schlecht.« Er kehrte entschuldigend die Handflächen nach außen. »Die Liebe. Mich hat’s erwischt. Volle Breitseite.«

»Ja«, sagte Koch. Er schöpfte tief und entschlossen Atem. »Mich auch.«

Schlemmer kam zu der Überzeugung, dass Koch mit einem Problem aufwartete. Das war lästig. Vor Verlegenheit wurde ihm ganz kalt.

»Tut mir wirklich leid. Du warst doch auch mal jung, oder?«

Koch zögerte, dann nickte er kurz und heftig, den Blick abgewandt. Schlemmer fühlte sich immer unbehaglicher.

»Nun, morgen Abend?« Er grinste. »Oder Dienstagmorgen, zu Mittag oder Abend – Mittwoch früh? – O nenne mir die Zeit, doch lass es höchstens drei Tage sein!«

»Was?«, fragte Koch verwirrt.

»Othello, dritter Aufzug, dritte Szene, Desdemona. Im Ernst, was hältst du von morgen Abend nach der Vorstellung? Wir gehen in die Keule.«

Dann sah er Kochs Hände zittern.

»Schlemmer«, flüsterte der Alte. »Nicht wenigstens ein paar Minuten?«

Schlemmer erstarrte, den Mantel halb übergezogen, den linken Arm abgewinkelt, um in den schlaff herunterbaumelnden Ärmel schlüpfen zu können. Bleib doch noch ein bisschen, hörte er seine Mutter sagen, das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte, bevor sie gestorben war. Damals war er nicht geblieben.

Er zog den Mantel vor der Brust zusammen.

»Ein Viertelstündchen kann ich erübrigen. Wohin?«

»Egal.«

»Also in die Keule?«

»Meinetwegen.«

Schlemmer betrachtete den Alten ratlos. Dann holte er ihm seinen Mantel und bugsierte Koch nach draußen.

Schweigsam trotteten sie die paar Schritte hinüber zur Tränke, setzten sich an die Theke und bestellten Kölsch. Koch sah elend aus. Zwischen den mageren Schultern ruhte sein Kopf wie in einer Hängematte, die verhindern sollte, dass er sich zu den Füßen gesellte.

»Ich war heute beim Arzt«, sagte der Alte. »Ergebnisse abholen.«

»Hm.« Schlemmer drehte sein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger. »Und? Was hat der Doc gesagt? Dass du hundert Jahre alt wirst?«

Koch starrte in sein Glas.

»Er hat gesagt, ich habe Krebs.«

Schlemmer drehte sein Glas weiter. Er wollte das nicht hören.

»Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Die ständigen Bauchschmerzen, weißt du?«

»Nein. Du hast mir nie was von Bauchschmerzen erzählt, verdammt!«

»Ach ja.« Koch lächelte schwach. »Nicht mal dir.«

Schlemmer straffte sich. Er legte Koch den Arm um die Schulter und zog ihn an sich.

»Das wird schon wieder, Koch«, verkündete er im Brustton der Überzeugung. Perlweißes Lachen spaltete sein Gesicht. »Ich hab von Leuten gehört, die …«

»Nichts hast du gehört. Trotzdem lieb von dir.«

»Mensch, Koch. Das ist nicht das Ende!«

Koch schwieg eine Weile. Dann ließ er einen Fünfer über den Tresen rollen und stand auf.

»Doch«, sagte er ruhig. »Danke für deine Zeit, Schlemmer. Das ist das Ende.«

Übertrieben zu sagen, dass Schlemmer sich in den folgenden Tagen um Koch bemühte. Bemühungen lagen ihm fern. Aber die Zeitbombe in Kochs Bauch tickte auch in seinem Kopf. Der Alte trudelte einem elenden Ende entgegen, während Schlemmer sich seltsam ausgehöhlt und hilflos fühlte. Er versuchte, Trauer zu empfinden, aber die Landschaft seiner Emotionen lag flach vor ihm, und nicht mal der Gedanke an sein eigenes Sterben ließ ihn darauf hoffen, dass er für den Tod je mehr aufbringen würde als peinliches Unbehagen.

Koch ließ einige Vorstellungen platzen, schickte eine offizielle Kündigung und kam dann gar nicht mehr. Einmal wählte Schlemmer noch seine Nummer und war froh, dass niemand dranging.

Nach einer Weile gewöhnte er sich an den Gedanken, dass sich Koch in die Nichtexistenz verflüchtigt hatte. Weder hörte er, dass der Alte lebte, noch, dass er tot war. Andere Mitglieder des Ensembles wussten auch nicht mehr, als dass Koch sich endgültig in die selbst gewählte Isolation zurückgezogen hatte. Der Schutzmann war längst neu besetzt worden, ein viel jüngerer Mann aus Nippes, der seine Sache gut machte und jede Menge Blondinenwitze kannte. Malchers, der Leiter des Theaters, bemühte sich noch einige Male, Koch zu erreichen, aber jedes Mal empfing ihn die Computerstimme des Anrufbeantworters, mit dem der alte Mann auf Kontaktaufnahmen zu reagieren pflegte. Wahrscheinlich würde irgendwann in der Zeitung stehen, die Nachbarn seien durch den Geruch aufmerksam geworden.

Irgend so was.

Es war zwei Monate nach Kochs Verschwinden, als Schlemmer nach Hause kam und das Telefon klingeln hörte. Weil er sich eben von der Sängerin getrennt beziehungsweise zugelassen hatte, dass sie sich von ihm trennte, gab er der spontanen Vermutung nach, sie habe sich besonnen und versuche nun, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Prompt fühlte er sich einige Zentimeter wachsen und griff nach dem Hörer.

»Das kannst du dir abschminken«, sagte er.

»Schlemmer?«

Schlemmer zuckte zusammen und hielt unwillkürlich den Hörer ein Stück vom Ohr.

»Koch?«, fragte er ungläubig.

»Ja.«

Er hatte nicht geglaubt, dass der Alte noch lebte. Genauer gesagt hatte er ihn so gut wie vergessen.

»Mensch, Koch!«, brüllte er. »Wie geht’s dir?«

Am anderen Ende war einige Sekunden lang nur Rauschen zu hören.

»Gut«, erklang Kochs Stimme schließlich wieder. »Danke. Mir geht’s eigentlich ganz gut.«

»Ganz gut, sagt der Kerl! Gott und alle Menschen machen sich Sorgen! Warum hast du dich nie gemeldet? Ich hab endlos oft versucht, dich zu erreichen.«

Das war eine so unverschämte Lüge, dass Schlemmer sich wunderte, Koch ruhig und freundlich weitersprechen zu hören.

»Ich hatte damit zu tun, meine Krankheit in den Griff zu kriegen. Ich meine, da oben.«

Vor seinem geistigen Auge sah Schlemmer, wie der alte Mann sich an die Stirn tippte.

»Und was heißt das?«, fragte er vorsichtig.

»Das heißt verschiedenes«, kam die unverbindliche Antwort. »Dinge, die man nicht am Telefon bereden sollte. Hast du nicht mal Lust, mich zu besuchen?«

»Was, bei dir zu Hause?«

»Na ja«, sagte Koch etwas unsicher. »Wo denn sonst?«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals eine Menschenseele zu dir eingeladen hättest.«

»Soll auch nicht einreißen. Aber dich würd ich schon ganz gern mal wieder sehen. Wenn du magst, natürlich nur.«

»Natürlich, Koch, natürlich.« Schlemmer schüttelte das Unbehagen aus seinen Gliedern. »Wie schön. Sag nur wann. Ich hab dir eine Menge zu erzählen, die Theaterleute sind ganz geil auf mich.«

»Ah! Das klingt ja prächtig. Also, sagen wir … Wie war das noch? Lasst es nicht länger als drei Tage dauern?«

Schlemmer glotzte verständnislos in den Hörer.

»Was meinst du?«

»Shakespeare, Othello. Dritter Akt, glaube ich.«

»Ach so«, rief Schlemmer begeistert. »Ja, ja! So bald als möglich, deinethalb! Gleiche Szene. Warte mal, heute kann ich nicht, wichtige Termine nach der Vorstellung. Morgen ist auch vertrackt, zu blöde, aber übermorgen. Was hältst du von elf Uhr, da können wir noch einen heben.«

»Gut. Einverstanden.«

Koch gab ihm seine Adresse in der Aachener Straße, gleich neben Millowitsch, und legte auf. Schlemmer starrte vor sich hin und schüttelte dann den Kopf.

»Tja«, sagte er. »Tja.«

Eine Weile lief er wie aufgescheucht durch seine Wohnung und betrachtete sich mehrfach im Spiegel. Dann saß er rund zwanzig Minuten auf der Kante seines viel zu teuren Wohnzimmersofas, bereit zum Sprung.

Die Wohnung war still wie ein Grab. Nur in der Heizung knackte es von Zeit zu Zeit unerträglich laut.

Endlich ging er mit Riesenschritten zum Telefon und wählte eine Nummer. Es tutete, knackte und rauschte, dann meldete sich ein Anrufbeantworter mit karibischer Musik im Hintergrund. Die Sängerin sang auswärts. Mit wem auch immer.

»Das kannst du dir abschminken«, schnauzte er ihr aufs Band und knallte den Hörer auf die Gabel.

Im Übrigen konnte von wichtigen Terminen keine Rede sein, was Schlemmers Zeit betraf. Es war nur so, dass er wenig Lust verspürte, Koch zu besuchen. Weil er aber auch nicht rundheraus ablehnen wollte, hatte er den übernächsten Tag vorgeschlagen, der weit genug weg lag, um ihn erst mal verdrängen zu können, und nah genug, um sich nicht hinterher Vorwürfe machen zu müssen, Koch sei mittlerweile verstorben.

Am folgenden Morgen fand Schlemmer einen Zettel in seinem Briefkasten, dessen Inhalt sehr knapp gefasst war und dennoch keinerlei Zweifel an der Entschlossenheit des Absenders ließ. Eine fünfstellige Zahl, ein Datum – Ende kommender Woche – sowie eine hingekritzelte geballte Faust.

Ohnehin erstaunlich, dass ihn der Wucherer zwei weitere Monate lang in Ruhe gelassen hatte. Jetzt käme also der Auftritt der Jugoslawen. Schlemmer war lang und stark, aber was nützte das gegen Brecheisen und Schlagringe?

Er überstand den Tag und die anschließende Vorstellung mit Magenschmerzen, setzte sich später zu Hause auf das teure Sofa, verfluchte es und machte eine Flasche Roten auf. Auch der Wein war teuer. Aber Schlemmer konnte nicht anders, als für jede Mark, die er verdiente, zwei auf den Kopf zu hauen, das war immer schon so gewesen.

Nacheinander ging er seine Möglichkeiten durch.

Von der Bank hatte er nichts mehr zu erwarten. Er konnte froh sein, wenn sie ihm nicht das Konto sperrten. Reiche Freunde gab’s nicht, und sein Vater verfügte zwar über beträchtliche Summen, hatte ihm jedoch vor einem knappen Jahr die notarielle Mitteilung seiner Enterbung zukommen lassen und jeden Kontakt abgebrochen. Schlemmer dachte, dass er den Alten vielleicht mal hätte anrufen sollen in den letzten Jahren, wenigstens während der Zeit, da er ihm die Schauspielschule bezahlt hatte. Nach Aufkündigung der Erbschaft war er allerdings derart gekränkt, dass er nun erst recht nicht mehr anrufen mochte. Zuvor nicht und erst recht nicht ergaben unterm Strich eine glatte Null und kaum eine Basis, die väterliche Verzeihung zu suchen. Keine Chance.

Vorschuss vom Hänneschen, noch eine Möglichkeit. Auf die erforderliche Summe würde er dabei nicht kommen. Aber selbst wenn, wovon sollte er leben? Der Gedanke fuhr ihm so sehr in die Glieder, dass er geneigt war, den Wein wieder zu verkorken, um ihn für schlechtere Zeiten aufzusparen. Dann überlegte er sich’s anders und trank die Flasche leer.

Etwas am Gefüge seiner Selbstsicherheit bröckelte. Rieselte davon wie feine weiße Bäche aus einer Sandburg, nachdem die Sonne den letzten Rest Meerwasser herausgesaugt hat. So saß er da, und seine Gefühle waren trübe wie der feine Nebelschleier, der in dieser Nacht über den Rhein und durch die Straßen Kölns trieb. Er musste sich was einfallen lassen. Und wenn es noch so abwegig war. Er hatte Angst um sein schönes Leben und sein schönes Gesicht. Kurz fiel ihm Koch ein, der sterben würde, wenn nicht ein Wunder eingetreten war. Beinahe hasste er Koch dafür, so alt geworden zu sein.

Er war jung. Er gehörte in den Olymp, nicht in die Ambulanz mit gebrochenen Knochen oder – noch schlimmer – in einen Bleisarg. Zu allen Zeiten waren Künstler knapp bei Kasse gewesen. Wo lag das Problem?

Die Welt war ungerecht. Das war das Problem. Die Ignoranz der anderen war schuld.

Der Weg zu Koch führte unter einer hohen düsteren Einfahrt hindurch. Darüber bröckelte ein Altbau vor sich hin. Schlemmer, der mittlerweile hinter jeder Ecke Unheil bringende Schatten zu sehen glaubte, beschleunigte seinen Schritt, drückte sich in den erleuchteten Hauseingang und studierte mit zusammengekniffenen Augen die Klingelschilder. Koch wohnte ganz oben. Schlemmer warf einen Blick auf die Uhr. Fünf vor halb zwölf. Bisschen spät vielleicht. Gut möglich, dass Koch schon schlafen gegangen war. Man könnte also ebenso gut hinüber ins Königswasser gehen und jemand anderen treffen, mit dem es was zu lachen gäbe.

Schäm dich, dachte er im gleichen Moment, dem alten Furz geht’s schlecht, er hat keine Freunde und will quatschen. Vor lauter Reue drückte er gleich dreimal auf die Klingel. Der Summer antwortete prompt. Schlemmer fügte sich und erklomm krumm getretene Holzstiegen in einem zugigen Treppenhaus, dessen Beleuchtung etagenweise ausgefallen war. Wieder ängstigten ihn die Schatten, so dass er froh war, sich plötzlich Koch gegenüberzusehen, der oben am Geländer lehnte und zusah, wie er mühsam an Höhe gewann.

»Ich dachte, du kommst nicht mehr«, sagte Koch. Es klang nicht enttäuscht oder böse, eher schwang ein feiner ironischer Unterton mit.

So schlecht sah er nicht mal aus, der Alte. Auf alle Fälle besser als am Tag, da sie das letzte Mal zusammen in der Keule gewesen waren.

»Aber Koch!« Schlemmer nahm beherzt die letzten Stufen, breitete jovial die Arme aus und drückte den Alten an sich. Koch reichte ihm gerade bis zur Brust, so dass er auf den furchigen, kahlen Hinterkopf herabsehen konnte. »Du kennst mich doch.«

Koch löste sich und lächelte.

»Ja, eben. Komm rein.«

Neugierig sah sich Schlemmer um, während Koch voranging. Sie durchschritten einen kafkaesken Schacht von Diele, in dem sich nichts befand als ein dunkler Teppichboden und ein schmales Bücherregal. Koch stieß eine Tür am anderen Ende auf und trat unter verlegenem Räuspern beiseite, um seinen Besuch an sich vorbeizulassen.

Schlemmer wollte seinen Augen nicht trauen.

Dicht bevölkert, war sein erster Eindruck. Dutzende, wenn nicht Hunderte menschlicher und menschenähnlicher Wesen, die sich auf engstem Raum zusammendrängten, sitzend, stehend, neben- und aufeinander, von den Wänden herabglotzend, reglos und dennoch auf unheimliche Weise belebt, so, als habe hier eben noch eine bizarre Party stattgefunden, bis zum Augenblick, da der Herr und Meister – Koch – das Zimmer betrat und alles verstummte und erstarrte. Unzählige Augenpaare starrten die Eintretenden an oder knapp an ihnen vorbei, breit lachende Münder öffneten sich neben spitzen Schnauzen. Es hätte ein Höllenspektakel herrschen müssen, aber alles Hörbare beschränkte sich auf das hohle Ticken einer Uhr und Kochs Hüstelei.

Schlemmer drehte sich um und um.

»Verdammt«, flüsterte er. »Die hatten recht!«

»Wer hat recht?« wollte Koch wissen.

»Die vom Hänneschen.« Oh, das war peinlich! Vielleicht hätte er sich die Bemerkung verkneifen sollen. »Es heißt da – ich meine, einige sind der Ansicht – deine einzigen Freunde seien die Puppen. Und jetzt …«

Koch nickte.

»Da haben sie tatsächlich recht. Willst du was trinken?«

»Was hättest du denn anzubieten?«

»Verschiedenes. Setz dich.«

Schlemmer blickte sich ratlos um, weil sämtliche Plätze von Puppen aller Größenordnungen okkupiert schienen. Aber das war nur der erste Eindruck. Hatte man sich an die kuriose Versammlung gewöhnt, fielen gemütliche Sessel ins Auge, die offenbar den Lebenden vorbehalten waren. Schlemmer ließ sich in ein tief dunkelrotes Etwas fallen, das ihn liebevoll verschlang, so dass seine spitzen Knie vor ihm aufragten wie die Klippen der Skellig Islands.

Koch trat von einem Bein aufs andere. »Ich könnte dir ein Bier bringen.« Nun, da der Besuch da war, schien er nicht recht zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte.

»Ein Bier wäre fein«, nickte Schlemmer.

Der Alte betrachtete ihn gedankenverloren. »Nein, zu profan«, beschied er unvermittelt. »Bier trinken kann man immer. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, Schlemmer, vielleicht morgen, vielleicht nächstes Jahr. Weißt du was? Wir sollten uns was gönnen.«

Er öffnete ein Schränkchen und entnahm ihm eine große, grüne Flasche und zwei Whiskeygläser.

»Jameson 1780. Special Reserve. Gerade richtig, um sich in guter Gesellschaft zu betrinken.«

Schlemmer zuckte zusammen. Koch wollte sich betrinken? Das konnte ja heiter werden.

»Einen nehm ich gerne«, sagte er vorsichtig und bekam das Glas vollgeschenkt, dass ihn schwindelte. Koch nahm ihm gegenüber Platz und beließ die Flasche in Griffweite.

»Alsdann.«

Sie tranken und tauschten Belanglosigkeiten aus. Das Fatale war, dass Schlemmer nicht vorhatte, lange zu bleiben, andererseits diese alten irischen Whiskeys über alles liebte. Es kam, wie es kommen musste. Koch stemmte sich zwischen zwei Bemerkungen über das Unwesen der 0,3-Liter-Stangen in Altstadtkneipen hoch, griff nach der Flasche, und erneut entsprang dem dunkelgrün glänzenden Hals das Wasser des Lebens. Er schmatzte ein paar Mal genießerisch und blinzelte über den Rand des geschliffenen Kristalls in eine unbestimmte Ferne.

»Dieser Whiskey. Man schmeckt eine ganze Welt«, sagte er. »Ich bin so oft in Irland gewesen, so gerne. Tja. Da werd ich wohl kaum noch mal hinkommen. Bin mittlerweile selber so verfallen wie die aufgelassenen Häuschen an den Küsten Mayos und Sligos. Weißt du, auch die irischen Dörfer sind an einem Krebs gestorben, an der Verlassenheit.«

Er sah Schlemmers verständnislosen Blick und zuckte die Achseln.

»Wenn du über die Welt nachdenkst und dir bewusst machst, dass sie ohne dich nicht anders weiterexistieren wird als zu deinen Lebzeiten, das ist schon komisch. Du gehst am Dom vorbei und denkst, Mensch, der gehört ja irgendwie ein bisschen dir, weil seine Fundamente so tief in deinem Herzen wurzeln. Aber wenn du tot bist, wird er immer noch genauso dastehen. Und plötzlich kapierst du, dass dir gar nichts gehört. Es wird Leben und Treiben herrschen, aber ohne dich. Es wird Tag und Nacht werden, aber ohne dich. Es wird Krieg und Frieden geben, aber ohne dich. Ohne dein großes Herz. Nichts wird sich ändern. Ich muss sagen, dass mich der Gedanke anfangs sehr erschreckt hat. Sie werden diesen Whiskey destillieren. Leute werden ihn kosten. Die Welt wird schön sein. Ja, verdammt, sie wird kein bisschen weniger schön sein, bloß weil es dich nicht mehr gibt, kein kleines winziges bisschen! Du stirbst unbemerkt von allen, die dich nie gekannt haben und für die dein Tod bedeutungslos ist, und du fragst dich, ob du jemals bedeutungsvoll warst, für irgendwen oder irgendwas. Kannst du dir das vorstellen, Schlemmer? Du verreckst im Angesicht der Frage, ob du von Bedeutung warst, mit einem Nein!«

»Mein Gott, Koch«, sagte Schlemmer. »Wer redet denn vom Sterben?«

Koch schüttelte den Kopf.

»Ich rede nicht vom Sterben. Ich rede vom Dasein und Wegsein. Weißt du, in Irland gibt es alte keltische Hochkreuze, die messen viele Meter. Du setzt dich ins Gras und lehnst dich mit dem Rücken gegen so ein altes moosiges Steinkreuz mit seinen gelben Flechtenkulturen, um über alles Mögliche nachzudenken, was du noch tun musst und was wichtig ist, und du wirst immer ruhiger dabei. Du richtest deinen Blick über die See dorthin, wo du die Hebriden vermutest und an schönen Tagen vielleicht sogar siehst, und etwas sagt dir, dass dieses Kreuz schon da war, als du noch nicht mal die Möglichkeit hattest, geboren zu werden, nicht mal deine Ureltern die Möglichkeit hatten, geboren zu werden. Und dass es wahrscheinlich noch dastehen wird, wenn du eins geworden bist mit dem Humus unter dir. Die Welt ist so … so unbeeindruckt von einem Menschenleben und davon, dass es endet, sie geht so desinteressiert darüber hinweg, und ich frage mich, wie ich das finden soll. Wie findest du das?«

»Was?« Schlemmer schreckte auf. Er hatte nicht richtig zugehört. In seinem Kopf stritten jugoslawische Schlägertrupps und mitleidlose Bankbeamte um die Vorherrschaft. »Ich meine, du solltest mir erst mal erzählen, wie es dir überhaupt geht.«

Koch lächelte.

»Ich bin ja dabei«, sagte er. »Aber egal. Erzähl du mir erst mal was. Vom Hänneschen. Und von dir.«

Das Glöcklein erklang, und Pawlow triumphierte: Schlemmer verfiel in den üblichen Erzählrausch, zitierte Shakespeare, gab seiner Meinung über Kunst und Kultur Ausdruck, beschrieb gestikulierend die Annehmlichkeiten der Liebe, dramatisierte, beschönigte und übertrieb, log und verbog und führte Koch durch Dutzendschaften potemkinscher Dörfer. Wie er es liebte, sich zuzuhören, während sich die Zeit davonmachte! Plötzlich hatte er keine Eile mehr wegzukommen. Über so vieles redete er, dass Koch mehrfach nachschenken musste, und plötzlich begann er sich wohlzufühlen in dieser Puppenhöhle, holte aus zu immer neuen Monologen und schaffte es, Stunden verstreichen zu lassen.

Koch hielt den Kopf leicht geneigt, hörte zu und schien im Ganzen zufrieden.

Dann, von einem Moment auf den anderen, passierte etwas Unerhörtes und nie Dagewesenes.

Schlemmer gingen die Worte aus.

Eine Weile herrschte Schweigen, segmentiert vom Ticken der Uhr.

»Du wolltest mir erzählen, wie es dir geht«, sagte Schlemmer schließlich. Der Whiskey hatte seine Zunge anschwellen lassen. Oder war seine Mundhöhle kleiner geworden?

»Wie es mir geht … Danke, im Moment nicht schlecht. Habe dich reden hören und hab’s genossen, Schlemmer. Du bist wie die Welt, von gleicher Belanglosigkeit und dennoch irgendwie bedeutungsvoll. Darum wollte ich, dass du kommst. Wenige Stunden mit dir, und man hat die Essenzen dutzender verpasster Festlichkeiten, Einkaufsbummel, Volkshochschulvorträge und intimer Rendezvous genossen. Ich wollte das alles noch mal für mich haben, bevor ich sterbe.«

Schlemmer sah den Alten unsicher an.

»Du wirst nicht sterben«, sagte er.

Koch stieß ein lautes, abgehacktes Lachen aus.

»Aber sicher werde ich das, und du wirst es auch. Kommt halt drauf an, ob du’s verstehst, dir den passenden Zeitpunkt auszusuchen und die Art und Weise. Ich denke heute, mein Krebstod wird wohl die Strafe für meine Sünden sein, und ich bin wirklich nicht übermäßig religiös. Trotzdem. Jeder stirbt so, wie er es verdient, und ich verdiene nun mal die Einsamkeit. Tja. Hab zu leben versucht, indem ich alles daransetzte, unerkannt zu bleiben, und unerkannt werde ich sterben. Jedem sein Los.«

Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas, starrte hinein, packte die Flasche und goss nach.

»Ich glaube nicht an einen Gott, wie ihn die Kirche predigt«, fuhr er fort, »Mir würd’s im Traum nicht einfallen, in ein Gotteshaus zu gehen, um einem Menschen hinter einen Vorhang zu folgen und ihm zu beichten.« Seine Stimme war von erstaunlicher Klarheit. »Und dennoch scheint mir, dass uns allen die Beichte fehlt. Ich meine, das, was ihr Sinn gibt, nämlich mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Mir fehlt sie sehr. Ebenso wie der Glaube, Schlemmer, ja, verzieh nur das Gesicht, der Glaube! Muss ja nicht der Gottesglaube sein – aber wär’s nicht trotzdem schön, an etwas Höheres glauben zu können, dass man sich nicht so umherwälzen muss in der Nacht? Früher war das anders. Gut, ich denke, der Mensch hat niemals wirklich an den Menschen geglaubt, aber wenigstens an einen Schöpfer oder das Schöpferische an sich. Er hat Ehrfurcht besessen, er wusste was mit dem Begriff Demut anzufangen. Wenn der Lebensinhalt eines Menschen darin besteht, über den Tod hinauszudenken, so mag das Pragmatikern wie dir und mir absurd erscheinen, na, wenn schon, es ist immerhin ein Inhalt. Verstehst du? Aber heute laufen sie sich selber hinterher, die Menschen, ich nicht weniger als alle anderen, weil es eben keinen Glauben und keinen Inhalt mehr gibt, dem wir folgen können. Wir sind alle wie Hunde, die ihrem Schwanz nachjagen.«

Er seufzte tief auf.

»Dachte mir also, wenn ich schon in keine Kirche gehe, dann beichte ich eben dir, Schlemmer.«

Schlemmer ruckte hoch und fühlte sein Gehirn langsam nachkommen.

»Du willst was?«

»Die Ärzte haben sich noch keine Meinung darüber gebildet, wie viel Zeit mir bleibt. Mit sehr viel Glück kann ich die Krankheit besiegen, mit außerordentlich viel Glück, sollte ich sagen. Du wirst dich doch bestimmt gefragt haben, warum ich inmitten all dieser Puppen lebe?«

»Na ja …«

»Und ich antworte dir, dass Menschen ohne Glaube und Inhalt in weit ausgeprägterer Weise Puppen sind als diese da.«

Sein Arm beschrieb eine umfassende Geste.

»Ich bin ein Menschenfeind geworden, Schlemmer, mein eigener Feind. So was bringt die Freundschaft zu den Puppen mit sich. Wir gehen ins Hänneschen und stellen uns vor, dass sie eine heilere Welt verkörpern als unsere, so, wie die Welt vielleicht sein sollte. Und wir, die Spieler – im Augenblick, da wir sie bewegen, dürfen wir selber einen Moment lang diesem Ideal entsprechen. Die Illusion, Herr einer Puppe zu sein, ist, Puppe zu sein. Was du hier siehst, ist vielleicht die größte Sammlung an Hand- und Stockpuppen der Welt. Es gibt noch angrenzende Zimmer, die Wohnung hat fast zweihundert Quadratmeter. Alles voller Puppen. Gesammelt wie andere Leute Briefmarken. Da bleibt keine Zeit mehr für die Menschen, Schlemmer. Noch ein Glas?«

Schlemmer nickte verwirrt. Großzügig wurde ihm nachgegossen.

»Was hast du da eben gemeint«, fragte er, »dass du unerkannt bleiben wolltest?«

Koch beugte sich vor und griff nach Schlemmers Hand.

»Ich habe meine Verfehlungen gemeint. Meine Sünden.«

»Was denn für Sünden, Herrgott noch mal?«

»Darf ich beichten, Schlemmer? Willst du mir zuhören?«

Schlemmer rutschte ein Stück tiefer in seinen Sitz und starrte mit Unbehagen auf die fleckige Kralle, die ihn umklammert hielt. Fast meinte er, die Ausdünstung des nahenden Todes riechen zu können.

»Ja«, sagte er schwer. »Sicher.«

»Gut!« Erleichterung zeichnete sich in Kochs Gesicht ab. Er ließ Schlemmer los und sank zurück. »Du musst wissen, dass ich damals, vor einer Reihe von Jahren, nicht einfach Polizist war. Ich gehörte einer Spezialeinheit an. Wir beschäftigten uns mit was Besonderem.«

»Das da gewesen wäre?«

»Sprengstoff.«

»Wow!«