Umschlag

Rainer Dissars-Nygaard, Jahrgang 1949, studierte Betriebswirtschaft und war als Unternehmensberater tätig. Er lebt als freier Autor auf der Insel Nordstrand. Im Emons Verlag erschienen unter dem Pseudonym Hannes Nygaard die Hinterm Deich Krimis »Tod in der Marsch«, »Vom Himmel hoch«, »Mordlicht«, »Tod an der Förde«, »Todeshaus am Deich«, »Küstenfilz«, »Todesküste«, »Tod am Kanal«, »Der Inselkönig«, »Der Tote vom Kliff«, »Sturmtief«, »Schwelbrand«, »Tod im Koog«, die Niedersachsen Krimis »Mord an der Leine«, »Niedersachsen Mafia« und »Das Finale« sowie der Kurzkrimiband »Eine Prise Angst« und die beiden »Tatort«-Krimis »Erntedank« und »Borowski und die einsamen Herzen«.
www.hannes-nygaard.de.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-067-4
Hinterm Deich Krimi
Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur
EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel, Lille, Frankreich
(www.editio-dialog.com).

Für Birthe

Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort' und Werke
merkt ich und den Brauch,
und mit Geistesstärke
tu ich Wunder auch.

Johann Wolfgang von Goethe
 (aus dem »Zauberlehrling«) 

EINS

In der Nacht hatten die ersten Herbststürme vom Land Besitz ergriffen. Der Wind hatte sich in der Traufschalung verfangen, das lose Brett am Schuppen hatte geklappert und der Regen gegen die Dachschrägenfenster getrommelt. Es war eine stürmische Nacht gewesen.

Georgios Tsakalidis hatte keine Ruhe gefunden, und als er schließlich doch in einen unruhigen Schlaf gefallen war, hatte ihn der Wecker aus Morpheus' Armen gerissen. Daphne, seine Ehefrau, hatte nur kurz die Augen geöffnet und »Sei vorsichtig« gemurmelt, bevor sie sich auf die andere Seite gedreht und die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte.

Tsakalidis war das frühe Aufstehen gewohnt, auch wenn es ihm nach einer Nacht wie dieser schwerfiel. Er hatte Kaffee gekocht, stark und süß, eine Tasse getrunken und den Rest in die Thermoskanne eingefüllt. Die Plastikdose mit dem Brot und die zweite mit dem Salat lagen schon griffbereit im Kühlschrank. Nach dem Bad und dem Ankleiden hatte er eine Zigarette am Küchentisch geraucht und anschließend sein Fahrrad aus dem Schuppen geholt. Das klappernde Brett, so nahm er sich vor, würde er heute nach Dienstschluss befestigen.

Es war kurz vor fünf Uhr früh, als er sich aufs Fahrrad schwang und die menschenleere Fährstraße entlangradelte. Wütend zerrte der Wind an seiner Kleidung, der Regen peitschte ihm ins Gesicht. Nur mühsam kam er voran. Wie gut, dachte Tsakalidis, dass er den Plastikumhang angelegt hatte. Sonst wäre er völlig durchnässt an seinem Arbeitsplatz angekommen.

Seit sechsundzwanzig Jahren war Georgios Tsakalidis als Busfahrer beim Stützpunkt Rendsburg der Autokraft tätig. Im Sommer, wenn es schon hell war um diese Zeit, machte es ihm Freude, in aller Herrgottsfrühe mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Aber an Tagen wie heute war es kein Vergnügen, ebenso wenig im regnerischen November oder während der Wintermonate, wenn Schnee und Eis auf den Straßen lagen. Dann waren an ihn, den Busfahrer, nicht nur im Beruf besondere Anforderungen gestellt, auch der Weg zur Arbeit erwies sich als beschwerlich.

Tsakalidis musste stets lachen, wenn er im Winter die Aufforderung im Radio vernahm, witterungsbedingt das eigene Fahrzeug stehen zu lassen und auf Bus und Bahn auszuweichen. Und wer brachte das Personal des Nahverkehrs zum Arbeitsplatz?

Eine Windbö erfasste ihn, und er strauchelte fast, konnte sich aber noch fangen und strampelte mit zusammengepressten Lippen weiter. Hoffentlich flaute der Wind etwas ab, bevor Aliki den gleichen Weg zurücklegen musste, um zum Helene-Lange-Gymnasium zu gelangen, das ebenso wie das Busdepot, das in der Aalborgstraße angesiedelt war, auf der anderen Seite des Nord-Ostsee-Kanals lag.

Es lebte sich gut in Osterrönfeld. Der aufstrebende Ort lag am südlichen Ufer des Kanals und war durch eine Schwebefähre mit der regionalen Metropole Rendsburg verbunden.

Rendsburg war nicht nur als bedeutender Werft- und Handelsplatz bekannt, sondern genoss auch wegen seines Wahrzeichens, der Eisenbahnhochbrücke, weit über die Landesgrenzen hinaus Aufmerksamkeit. In einer Schleife schraubte sich die wichtige Nord-Süd-Verbindung um den Stadtteil, der nach diesem technischen Meisterwerk auch »Schleife« hieß, auf eine Höhe von zweiundvierzig Metern, um die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt zu überqueren. Unter dem Mittelteil der Brücke hing die Schwebefähre an zwölf Seilen und überquerte an dieser Stelle in etwa zwei Minuten den Kanal, und das seit gut einhundert Jahren. Nur sieben Fähren dieser Art gab es auf der Welt, und eine war Teil von Tsakalidis' Arbeitsweg. Da nur vier Pkws und etwa sechzig Passanten auf die Fähre passten, hatte er es sich angewöhnt, unabhängig vom Wetter mit dem Rad zu fahren und das Auto seiner Frau Daphne zu überlassen.

Heute hatte Tsakalidis keinen Blick für die Brücke. Manchmal sah man vom Ort aus die Aufbauten der großen Schiffe, die über den Dächern Osterrönfelds zu schweben schienen. Bei dieser Witterung konnte man allerdings nicht die Hand vor Augen erkennen. Er bog um die Ecke und sah die hell erleuchtete Fähre, die Schranke, die noch senkrecht stand, und das eine Fahrzeug, das sich zu dieser frühen Stunde aufs Deck verirrt hatte.

Zwei Radfahrer hatten ihre Räder neben dem Pkw fast bis an die vordere Schranke geschoben, zwei weitere Fahrgäste, die zu Fuß unterwegs waren, versuchten, hinter der Plastikabdeckung notdürftig Schutz vor Regen und Wind zu finden.

Er rollte auf die Planken, zwischen deren schmalen Ritzen man auf das gurgelnde Wasser blicken konnte, das etwa vier Meter unter dem Deck bei dieser Beleuchtung nur zu erahnen war.

Tsakalidis nickte den anderen Fahrgästen zu. Man kannte sich von der gemeinsamen Benutzung der Fähre. Oder man traf sich im Ort, grüßte, ohne dabei weitere Worte zu wechseln. Die Wohnung der Familie nahe dem Lebensmittelmarkt war zudem prädestiniert dafür, dass man zahlreichen Bewohnern des Ortes begegnete.

Es ertönte das Signal, das die Abfahrt der Fähre ankündigte und in das sich der etwas andere Ton der Warnung mischte, mit dem das Herabsenken der Schranke auf Land begleitet wurde.

Mit einem leichten Ruck setzte sich die Schwebefähre fast lautlos in Betrieb und überquerte den Kanal, der mit etwa einhundert Metern Breite hier die engste Stelle seines gesamten Verlaufs aufwies. Große Schiffe konnten sich hier nicht begegnen.

Tsakalidis zog den Kopf zwischen den Schulterblättern ein. Mit zusammengekniffenen Augen sah er nach links, wo hell erleuchtet die Kais des Rendsburger Kreishafens lagen und im Scheinwerferlicht Kräne die Ladung von kleineren Frachtschiffen löschten. Durch den Regenschleier hoben sich gegen die Lichtkuppel Rendsburgs, die sich schwach vor dem dunklen Himmel abzeichnete, die hohen Silos der Getreide AG ab.

Er sah nicht nach oben. Wenn der Wind die Geräusche nicht davontrieb, konnte man manchmal das Rumpeln der Züge hören, die vierzig Meter höher auf dem metallenen Viadukt den Kanal überquerten.

Die Uferbeleuchtung des Kanals deutete die Konturen des Schifffahrtsweges an, der, heute kaum wahrnehmbar, nach etwa zwei Kilometern einen sanften Bogen nach links machte, um nach weiteren sechzig Kilometern an den Schleusen in Brunsbüttel in die Elbe zu münden.

Tsakalidis warf einen Blick in Richtung des südlichen Ufers. Unwillkürlich blieb er bei einer Welle haften, die die Fähre hinter sich herzog. Es sah aus wie ein Schiff, das das Wasser teilte. Zunächst schenkte er dem Phänomen keine Aufmerksamkeit, bis sein Auge erneut darauf fiel. Das konnte nicht sein. Die Schwebefähre war kein Wasserfahrzeug und konnte auf der Kanaloberfläche keine Bewegung erzeugen. Neugierig machte er ein paar Schritte bis zur hinteren Schranke und blinzelte ins Wasser. Tatsächlich. Die Fähre zog ein Seil hinter sich her. Er folgte dem Tau bis ans Ende.

Es war, als hätte ihn der Schlag getroffen. Trotz der fast alles verschlingenden Dunkelheit waren die Konturen eines Menschen ersichtlich. Tsakalidis rieb sich die Augen. Nein! Das Bild verschwand nicht. Die Schwebefähre zog einen Körper hinter sich her, der mit einem Seil an dem Fahrzeug befestigt war.

In diesem Moment verringerte sich unmerklich das Tempo der Fähre, und kurz darauf stieß sie mit einem leichten Ruck ans Ufer. Automatisch hakte sich der Haken des Schwebepontons an der Halterung an Land ein und verriegelte sich.

Das gelbe Blinklicht ging an, die Schranke wurde geöffnet, und die Ampel sprang von Rot auf Grün und gab die Ausfahrt frei.

Noch einmal beugte sich Tsakalidis über den rot-weißen Balken auf der Wasserseite. Jetzt war nichts mehr zu sehen.

Er zitterte vor Aufregung. Es waren nicht das unwirtliche Wetter, Wind und Regen, die ihn frösteln ließen. Er versuchte, dem Maschinisten, der hoch oben über Deck in seinem achteckigen Fahrstand saß, ein Zeichen zu geben. Aber der Mann sah ihn nicht, sondern konzentrierte sich auf die Entladung.

Tsakalidis überquerte das Deck und stieg beherzt die steile Leiter zur Brücke empor. Mit beiden Händen klammerte er sich am Geländer fest und achtete darauf, dass er auf den regennassen Sprossen nicht abrutschte. Endlich hatte er das kleine Brückendeck erreicht und klopfte an die Tür. Der Schwebefährenführer zuckte zusammen und erschrak. Fast böse kam er zur Tür und öffnete sie.

»Das Betreten ist streng verboten –«, begann er, wurde aber von Tsakalidis mit einer Handbewegung unterbrochen.

»Da hängt einer am Seil hinter der Fähre«, stammelte der Grieche.

»Wo?«, fragte der Mann von der Besatzung und schob gleich hinterher: »Das kann nicht sein.«

»Doch, ich bin mir ziemlich sicher.«

»Ganz bestimmt?«, fragte der Maschinist.

Tsakalidis nickte heftig. »Ich bin mir ziemlich sicher. So sehr kann ich mich nicht täuschen.«

Der Mann von der Fähre griff sich seine wetterfeste Jacke, schnappte sich eine Taschenlampe und folgte Tsakalidis auf das Brückendeck.

»Rückwärts runter«, rief er Tsakalidis zu, der unsicher an der steilen Leiter stand, sich krampfhaft an die Holme klammerte und vorsichtig die glitschigen Stufen hinabtastete. Er folgte dem Fährmann, der über den Anleger zu dem kleinen Wartehäuschen ging, daneben eine Sperrkette aushakte, sich unter einem Geländer durchzwängte und über die feuchte Wiese zur Fähre stapfte, die hier mit ihrer vollen Länge von vierzehn Metern über Land schwebte. Mit der Taschenlampe leuchtete der Mann die Fähre, die Träger und die Halterungen für die acht leuchtend roten Rettungsinseln ab, die auf der Unterseite des Schwebepontons angebracht waren.

»Da ist nichts«, sagte der Fährmann. Deutlich war der Ärger aus seiner Stimme zu hören.

»Doch«, behauptete Tsakalidis. »Hinten.«

Der Mann von der Fähre ging an seinem Gefährt entlang und lenkte den Strahl der Taschenlampe auf die hintere Halterung der Rettungsinseln. Der Lichtkegel fing ein Tau ein, das dort verknotet war. Langsam ließ er den Strahl an dem Nylonseil entlangwandern, das über den Uferrand verschwand. Vorsichtig näherten sich die beiden Männer dem glatten Rand. Viel war nicht zu erkennen, und näher durfte man nicht herantreten, um nicht Gefahr zu laufen, abzurutschen und in das kalte und brackige Wasser zu stürzen.

Der Fährmann kratzte sich den Kopf. »Und nun?«, fragte er.

»Wir können am Seil ziehen«, schlug Tsakalidis vor.

Beherzt packten die beiden Männer an. Das raue Nylon riss ihnen im Nu die Handflächen auf. Es war schwerer als erwartet. Tsakalidis atmete schwer und wollte schon aufgeben, als über dem Uferrand der Kopf eines Menschen auftauchte. Vor Schreck ließ er das Seil los.

»Verdammte Scheiße!«, schrie der Fährmann, der die Last nicht allein halten konnte und dem das ins Wasser zurückgleitende Seil die Handflächen noch tiefer aufriss und verletzte.

»Das … war … ein … Mensch …«, stammelte Tsakalidis. »Wir müssen die Polizei anrufen.«

Er wusste nicht, dass die Sonne erst um acht Uhr und sieben Minuten aufgehen würde. Theoretisch. Doch bei dem trüben Wetter am heutigen Tag war das nur ein statistischer Wert. Tsakalidis sah auf die Uhr. Eigentlich sollte er schon bald mit seinem Setra auf der Linie 3250 von Rendsburg Richtung Todenbüttel unterwegs sein.

Mit zittriger Hand wählte er die Eins-Eins-Null und wurde mit der Leitstelle Kiel verbunden. Umständlich berichtete er von dem Fund. Der Beamte fragte nach seinem Namen, dem genauen Fundort und sicherte zu, dass die Einsatzkräfte in Kürze eintreffen würden.

Wenig später tauchten die ersten Blaulichter auf. Der Streifenwagen kam vom Rendsburger Polizeirevier aus der Moltkestraße. Von der Osterrönfelder Polizei am anderen Ufer konnte er keinen Beamten entdecken. Vermutlich war die Station zu dieser frühen Stunde noch nicht besetzt.

Tsakalidis hatte den Leiter des Betriebshofs angerufen und ihn darüber informiert, dass er heute später kommen würde. Zunächst musste er seine Personalien angeben und von seiner Entdeckung berichten. Das Ganze durfte er ein weiteres Mal erzählen, als ihn ein freundlich auftretender Zivilist befragte. Sie hatten sich vor dem Regen in einen Steifenwagen zurückgezogen. Den Namen hatte Tsakalidis nicht verstanden, nur dass es sich um einen Oberkommissar handelte. Woher hätte er wissen sollen, dass inzwischen die Beamten der Kriminalpolizeistelle Rendsburg mit dem »ersten Angriff« begonnen hatten, während sie auf das K1 aus Kiel warteten?

***

Auch den Bewohnern des älteren Einfamilienhauses im Kieler Stadtteil Hassee war der erste Herbststurm des Jahres nicht verborgen geblieben.

»Hoffentlich hat es nicht wieder durchgeregnet«, sagte Margit und sprang zur Seite, als das Glas mit Kakao umkippte, der Inhalt sich über den Tisch ergoss und ihr trotz der artistischen Übung zum Großteil in den Schuh lief.

»Mensch, Sinje, pass doch auf!«, schimpfte sie.

»Jonas hat mich angestoßen«, erwiderte die Fünfjährige und holte zu einem Schlag aus, als ihr Bruder das bestritt.

»Doofe Ziege. Ich hab dich gar nicht berührt.«

»Doch.«

»Nein.«

»Doch.«

»Schluss jetzt!«, rief Margit dazwischen. »Jonas. Hast du deine Sachen für die Schule zusammen?«

»Ich weiß nicht, wo meine Turnsachen sind.«

»Wo hast du die gestern gelassen?«

»Weiß nicht.«

»Der weiß nie, wo seine Sachen sind«, mischte sich Sinje ein.

»Ohne Weiber wie dich wäre die Welt viel gemütlicher«, stellte Jonas fest.

»Und wer würde dir die Sachen hinterherräumen?«, erschallte von der Tür eine sonore Männerstimme.

Lüder Lüders stand im Türrahmen und sah auf die Familie, zumindest auf den anwesenden Teil. Jonas, sein Sohn aus erster Ehe, Sinje, die gemeinsame Tochter, und Margit, die er als »seine Frau« bezeichnete, obwohl sie noch keine Zeit zum Heiraten gefunden hatten.

»Wenn die Schicksen nicht da sein, ich mein … es sie nicht geben würde, wär das alles viel besser«, erklärte Jonas.

»Nimm dir Zeit beim Sprechen«, mahnte sein Vater. »Dein Deutsch ist katastrophal.«

»Brauch ich nicht«, sagte Jonas keck. »Ich mach sowieso was mit Computern.«

»Du und dein iPhone«, lästerte Sinje und sah ihren Vater an. »Ich will auch eins.«

»Sieh zu, dass du fertig wirst, damit Papi dich in die Kita mitnehmen kann«, mischte sich Margit ein.

»Das regnet«, erklärte Jonas. »Wir haben in der Schule über die Gleichberechtigung von Mann und Frau gesprochen. Da will ich auch gefahren werden.«

»Nimmst du mich auch mit?«, meldete sich hinter Lüders Rücken Viveka.

»Ich muss jetzt los. Wer nicht fertig ist, muss per Anhalter fahren«, sagte Lüder und sah sich um. »Wo ist Thorolf?«

»Keine Ahnung.« Viveka zuckte mit den Schultern und bekundete damit das Desinteresse an ihrem Bruder, den Margit ebenso wie sie mit in die Patchworkfamilie eingebracht hatte.

Plötzlich entstand in der kleinen Küche Gedränge, als die Kinder hinauseilten.

»Wer wischt das auf?«, rief Margit hinterher und sah resigniert auf die Flecken auf Tisch und Fußboden.

»Frauenarbeit«, ertönte irgendwo aus den Tiefen des Hauses Jonas' Stimme.

»Keine zwanzig Jahre mehr, dann sind die Kinder aus dem Haus«, tröstete Lüder Margit und nahm sie in den Arm.

»Das halte ich bis dahin nicht aus«, klagte sie gespielt theatralisch und schmiegte sich an ihn. Dann sah sie zu ihm auf, fuhr mit der gespreizten Hand durch seinen blonden Wuschelkopf und fragte: »Was hast du heute vor?«

»Nichts, Büroarbeit. Wie immer.«

Ein Seufzer der Erleichterung kam über ihre Lippen, bevor ihr Blick auf die Wanduhr fiel. »Beeil dich, damit die Rasselbande pünktlich zur Kita und in die Schule kommt.« Sie gab ihm zum Abschied einen Kuss. »Soll ich den Dachdecker bestellen? Das Loch«, rief sie ihm hinterher.

»Warte damit noch«, erwiderte er vom Hauseingang. »Es wird eng diesen Monat. Wir haben wieder viele Kosten gehabt.«

Auf dem Beifahrersitz des BMW hatte sich Viveka niedergelassen, Sinje war in den Kindersitz gekrabbelt, während Jonas am Steuer Platz genommen hatte.

»Wann darf ich mal fahren?«

»Wenn du den Führerschein gemacht hast«, erwiderte Lüder und zog seinen Sohn aus dem Fahrzeug.

»Sonst kommt die Polizei«, meldete sich Sinje zu Wort.

»Die richtige«, lästerte Jonas. »Nicht so eine Schreibtischpolizei wie Lüder.« Dann schien ihm etwas einzufallen. »Darf ich deine Knarre mal mit zur Schule nehmen? Ich mein, so ohne Munition und so. Das wäre richtig geil.«

Lüder antwortete nicht darauf. Zu oft hatte er Jonas schon erklärt, dass eine Diskussion über diesen Wunsch überflüssig war.

Er reihte sich in den morgendlichen Stau ein, der bei regnerischem Wetter in allen Städten dieser Welt noch stärker als gewöhnlich ausfiel, lieferte Sinje in der Kita und die beiden Älteren vor der Schule ab. Wenig später fuhr er auf das Gelände Eichhof im Westen der Landeshauptstadt, auf dem zahlreiche Polizeidienststellen untergebracht waren. Sein Ziel war das Landeskriminalamt. Dort tat Kriminalrat Dr. Lüder Lüders in der Abteilung 3, dem polizeilichen Staatsschutz, Dienst.

Er suchte das Geschäftszimmer auf, das gleichzeitig auch Vorzimmer des Abteilungsleiters, Kriminaldirektor Dr. Starke, war, und wechselte ein paar Worte mit der Sekretärin Edith Beyer, besorgte sich einen Becher Kaffee und zog sich in sein Büro zurück. Er gönnte sich einen Blick in die Morgenzeitungen, bevor er sich mit spitzen Fingern einen der Aktendeckel zur Hand nahm und mit dem Studium begann.

Nach zwei Stunden Schreibtischarbeit wurde Lüder durch das Klingeln seines Telefons unterbrochen.

»Vollmers«, meldete sich der bärtige Hauptkommissar der Bezirkskriminalinspektion Kiel. Dort war er Leiter des ersten Kommissariats, des K1, das unter anderem für Straftaten gegen Leib und Leben zuständig war. Der Volksmund nannte diesen Bereich schlicht »Mordkommission«.

»Moin, Herr Vollmers. Laufen die Geschäfte gut?«, fragte Lüder.

»Im Unterschied zur Wirtschaft würden wir über eine rückläufige Auftragsquote nicht klagen«, erwiderte Vollmers. »Aber vielleicht können wir Sie an unseren Aktivitäten beteiligen.«

Sie hatten in der Vergangenheit bereits einige Fälle gemeinsam bearbeitet. Obwohl Vollmers anfangs kritisch die Zusammenarbeit mit dem Landeskriminalamt beäugt hatte, war Lüder nicht überrascht, dass sich der erfahrene Kriminalist bei ihm meldete.

»Wir haben heute Morgen eine Leiche aus dem Kanal gefischt.« Wenn jemand vom »Kanal« sprach, wusste jeder Einheimische, dass damit der Nord-Ostsee-Kanal gemeint war. »Bei Rendsburg«, ergänzte der Hauptkommissar.

Vollmers legte eine Pause ein. Lüder wusste, dass er keine Fragen stellen musste. Vollmers würde ihn knapp, aber präzise informieren.

»Nach den Umständen des Funds liegt eindeutig Fremdverschulden vor. Das Opfer war mit einem Strick an der Schwebefähre befestigt. Es sieht so aus, als hätte man den Mann, das Opfer ist männlich, während der nächtlichen Ruhepause an der Fährbühne angebunden. Als diese in Betrieb gesetzt wurde und ihre erste Fahrt unternahm, wurde er hinterhergezogen und tauchte ins Wasser des Kanals ein. Wir konnten noch nicht exakt rekonstruieren, ob er am anderen Ufer unter Wasser blieb oder Boden unter den Füßen hatte. Das ist noch alles sehr vage.«

»Und was veranlasst Sie, mich zu informieren?«, fragte Lüder, da Tötungsdelikte, mochten sie noch so bizarr erscheinen, grundsätzlich von den vier Bezirkskriminalinspektionen des Landes verfolgt wurden. Lüder lächelte. Eine Ausnahme waren die Husumer, Christoph Johannes und Große Jäger, die, obwohl es nicht zu ihrem Kompetenzbereich gehörte, sich immer wieder bei den Ermittlungen von Mordfällen einschalteten.

»Es ist nicht die außergewöhnliche Weise der Tatausführung, beim Opfer handelt es sich vermutlich um einen amerikanischen Staatsbürger. Ein Student der Kieler Uni. Das lässt sich aus den aufgefundenen Personendokumenten herauslesen.«

»Damit fällt es immer noch nicht in unseren Aufgabenbereich.« Lüder war skeptisch.

»Wie ein Student sieht das Opfer nicht aus.«

»Haben Sie einen Namen?«

»Sicher.« Aus Vollmers' Antwort war ein leichter Vorwurf herauszuhören.

Wenn er Lüder berichtete, dass es sich um einen amerikanischen Studenten handelte, mussten die Beamten Hinweise auf die Identität gefunden haben. Insofern, registrierte Lüder, war seine Frage überflüssig gewesen.

»Das Opfer heißt vermutlich Dustin McCormick und ist zweiunddreißig Jahre alt. Er ist an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel eingeschrieben, genau genommen an der Technischen Fakultät.«

»Sind die Ermittlungen vor Ort abgeschlossen?«

»Ja«, bestätigte Vollmers. »Ich lasse Ihnen den Bericht zukommen, sobald er vorliegt. Das Opfer ist zur Rechtsmedizin überführt. Wie wollen Sie vorgehen? Und wollen Sie sich überhaupt einschalten?«

»Ich muss darüber nachdenken«, wich Lüder aus.

Dann wählte er die Nummer des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, und ließ sich mit dem Oberarzt verbinden.

»Moin, Herr Dr. Diether«, begrüßte Lüder den Privatdozenten.

»Ach, Sie«, knurrte der Pathologe in den Hörer. »Lassen Sie mich raten?«

»Lieber nicht. Das würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen.«

»Die Wasserleiche aus Rendsburg?«

»Genau. Liegen schon erste Ergebnisse vor?«

Dr. Diether lachte auf. »Haben Sie schon einmal an einem Sonntag Ihre Brötchen im Ofen aufgebacken?«

»Das ist schon vorgekommen.«

»Als die Aufbackzeit vorbei war, haben Sie noch an der Ofenklappe ins Brötchen gebissen.«

»Sicher nicht. Die müssen zunächst ein wenig abkühlen.«

»Sehen Sie«, erwiderte der Arzt, »genauso machen wir es mit den frisch angelieferten Leichen. Aber woher wollen Sie das als Nichtakademiker wissen.« Es sollte wie ein Trost klingen, obwohl der Spott unüberhörbar war.

»Ich habe Jurisprudenz studiert«, warf Lüder ein.

»Eben. Sagte ich doch.« Dr. Diether lachte herzhaft. »Ich melde mich, wenn ich den Dosenöffner in Betrieb nehme. Wollen Sie dabei sein? Und wenn ja, wie möchten Sie Ihren Kaffee? Mit Milch? Zucker?«

»Das ist das Schöne an Ihrem Beruf. Sie könnten ohne Übergang einen Job auf dem Schlachthof antreten.«

»Das ist ein Vorteil. Da ich mich sechzehn Semester mit Anatomie beschäftigt habe, bin ich Ihnen zudem beim Verzehr eines Grillhähnchens haushoch überlegen.«

»Ihre größte Tat war es, sich für die Rechtsmedizin entschieden zu haben«, schloss Lüder das Gespräch. »Wenn ich mir vorstelle, dass Sie mit Ihrer Passion im Operationssaal gelandet wären, graust es mir.«

»Über Sie spricht oder schreibt niemand«, antwortete der Arzt, »aber meine Biografie ist schon verkauft.«

»Ich habe den Titel gelesen: ›Leichen pflastern seinen Weg‹. Bis später.« Dann legte Lüder auf.

Er überlegte eine Weile sein weiteres Vorgehen, stand auf und ging die wenigen Schritte bis zum Geschäftszimmer. Dort zeigte er auf die verschlossene Zwischentür.

»Ist er da?«

Edith Beyer nickte.

»Allein?«

»Ja, aber Sie können nicht ohne Weiteres …«

Lüder schenkte der Sekretärin ein Grinsen, pochte heftig gegen die Tür, dass man es noch drei Büros weiter hören konnte, und stürmte in das Allerheiligste. Der Vorgänger des jetzigen Abteilungsleiters, Kriminaldirektor Nathusius, hatte die Tür zu seinem Arbeitsraum fast immer offen gehalten, während Dr. Starke sich einigelte.

»Moin«, grüßte Lüder und nahm unaufgefordert auf einem der Besucherstühle Platz. Zwischen ihm und dem stets braun gebrannten Kriminaldirektor bestand eine abgrundtiefe gegenseitige Abneigung.

Dr. Starke unterließ es, Lüders Gruß zu erwidern. Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück, legte die Unterarme auf die Schreibtischkante und musterte Lüder.

»Es gibt einen ungeklärten Todesfall am Nord-Ostsee-Kanal mit merkwürdigen Begleitumständen. Den werde ich mir ansehen.«

Der Kriminaldirektor spitzte die Lippen. »Sie möchten den Fall begutachten«, betonte er. »Gibt es eine formelle Anfrage der zuständigen Dienststelle? Itzehoe oder Kiel?«, zählte er die beiden in Frage kommenden Inspektionen auf.

»Präventiv«, sagte Lüder, ohne Dr. Starkes Fragen damit beantwortet zu haben.

»Dann warten wir, bis mir ein entsprechendes Amtshilfeersuchen vorliegt oder sich die zuständige Staatsanwaltschaft gemeldet hat.«

Mehr gab es nicht zu sagen. Lüder wollte dem Kriminaldirektor weder seine Informationsquelle noch die wenigen Anhaltspunkte, die bisher vorlagen, nennen. Und Dr. Starke unterließ es, danach zu fragen. Er wollte sich nicht die Blöße geben, von Lüder die Verweigerung der Antwort erdulden zu müssen. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Abteilungsleiter Lüder gern auf eine andere Dienststelle hätte versetzen lassen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich solcher Mittel bediente. Frauke Dobermann, die aus Flensburg nach Hannover fortgemobbt worden war, war das wohl prominenteste Beispiel.

Lüder stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. In seinem Büro schloss er die Tür, kramte sein privates Handy hervor und wählte eine dort gespeicherte Nummer an. Kurz darauf meldete sich eine Männerstimme mit einem satten, vollen Klang.

»Ja? Moin, Herr Dr. Lüders. Wie geht's?«

»Danke, fast gut.« Bevor Lüder sein Anliegen vortragen konnte, musste er seinem Gesprächspartner auf dessen Nachfrage von seiner Familie und den Kindern berichten.

Lüder schmunzelte in sich hinein und schloss für einen Moment die Augen. Deutlich sah er den kräftigen Mann, der nur wenige Kilometer entfernt an seinem Schreibtisch mit Blick auf die Kieler Förde saß, sich vermutlich mit der Hand durch den dichten Vollbart strich, während ihm eine Strähne des schlohweißen Haares in die Stirn fiel.

Als der Ministerpräsident sein Amt antrat, hielten ihn viele für eine Übergangs- oder gar Notlösung. Er hatte viel Spott ertragen müssen, sich aber politisch in schwierigen Zeiten als der richtige Mann am richtigen Platz erwiesen. Insbesondere seine Art, auf die Menschen zuzugehen, ihnen zu zeigen, dass er einer von ihnen war, hatte ihm viele Sympathien eingebracht. Es störte ihn auch nicht, dass er im Stil eines echten Landesvaters von den Bürgern fast immer mit seinen beiden Vornamen genannt wurde.

Lüder hatte ihn während seiner Zeit beim Personenschutz persönlich kennen- und schätzen gelernt und danach einige Spezialaufträge ausgeführt, an deren Lösung der Regierungschef ein besonderes Interesse hatte.

»Wir haben einen Todesfall, der uns derzeit noch Rätsel aufgibt«, sagte Lüder und erläuterte in wenigen Worten die Fakten, die bisher bekannt waren. »Wenn es sich wirklich um einen amerikanischen Staatsbürger handelt, wäre es sinnvoll, wenn wir vom LKA einen Blick auf den Fall werfen. Ich erinnere an frühere Ereignisse, bei denen die Zusammenarbeit mit den Amerikanern nicht sehr erfreulich war. Wenn wir Sensibilität walten lassen, machen wir bestimmt nichts falsch.«

Ein dröhnendes Lachen drang aus dem Hörer. »Ich frage mich immer wieder, Herr Dr. Lüders, warum Sie mit Ihrer Art zu argumentieren Beamter geblieben und nicht in die politische Laufbahn eingestiegen sind.«

Lüder unterdrückte die Antwort, dass er Politik in vielen Fällen für ein schmutziges Geschäft hielt. Aber der Ministerpräsident fragte nicht nach und wollte keine weiteren Erklärungen hören.

»Ihr Dingsbums …«, sagte der Regierungschef.

»Richtig«, bestätigte Lüder. »Der Dingsbums, Kriminaldirektor Dr. Hemmschuh.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte der Ministerpräsident. »Übrigens, wenn ich demnächst in Pension gehe, müssen Sie mich mit Ihrer Familie einmal besuchen. Mich, meine Frau und meine Bienen. Den Weg kennen Sie ja, mitten im Wald …«

Lüder versprach es. Als er aufgelegt hatte, dachte er mit einem Hauch Wehmut, dass es für ihn eine andere, sicher nicht bessere Zeit geben würde, wenn der Regierungschef nicht mehr im Amt wäre. Er würde den Ministerpräsidenten vermissen. Und wahrscheinlich ging es vielen Bürgern im Land ebenso.

Lüder besorgte sich einen Becher Kaffee. Den hatte er noch nicht ausgetrunken, als Edith Beyer anrief und ihn zum Abteilungsleiter bestellte.

Lüder verzichtete aufs Anklopfen und blieb im Türrahmen stehen. Dr. Starke thronte hinter dem Schreibtisch. Das sonst fast arrogant wirkende Lächeln war einem zornigen Gesichtsausdruck gewichen, die Bräune hatte sich in ein Puterrot verwandelt. Der Kriminaldirektor bewegte drohend den Zeigefinger hin und her.

»Herr Lüders«, sagte er wutschnaubend, »ich habe Ihnen oft gesagt, dass Sie den Bogen maßlos überspannen. Heute sind Sie entschieden zu weit gegangen. Das wird Konsequenzen für Sie haben.«

Lüder wippte leicht auf den Zehenspitzen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er zog es aber vor, dem Abteilungsleiter nichts zu entgegnen.

»Ich glaube, Ihnen hinreichend klargemacht zu haben, dass ich«, dabei tippte sich Dr. Starke auf die Brust, »ich ganz allein die Entscheidungen treffe, wie diese Abteilung arbeitet und in welchen Fällen sie tätig wird.«

Lüder sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Sie wollen mit mir eine Diskussion über die Grundsätze der Arbeit des LKA führen, oder?«

»Herr Lüders …« Der Kriminaldirektor brach mitten im Satz ab. »Sie fahren jetzt nach Rendsburg und eruieren vor Ort, was dort passiert ist. Danach kehren Sie unverzüglich zur Dienststelle zurück und erstatten mir Bericht. Mir persönlich. Ist das klar?«

Lüder tat erstaunt. »Ach. Liegt jetzt doch ein Amtshilfeersuchen vor?«

Dr. Starke holte tief Luft, vermied es aber zu antworten.

»Ich werde mich auf den Weg machen«, erklärte Lüder und schloss die Tür.

Edith Beyer, der kein Wort des Dialogs entgangen war, drehte die Hand im Gelenk und murmelte leise: »Oweia.« Dann hielt sie sich mit der Hand den Mund zu.

Lüder trat dicht an sie heran. »Wissen Sie, wo in diesem Haus der Defibrillator angebracht ist?«

Die junge Frau legte ihre Hand aufs Herz und wies mit dem Zeigefinger der anderen auf die Tür. »Braucht er den?«

Lüder nickte. »Hoffentlich«, flüsterte er und kehrte in sein Büro zurück.

Auf dem Flur begegneten ihm zwei Kollegen, die ihm verwundert hinterhersahen, als er sie fröhlich pfeifend passierte. Im Büro suchte er die Anschrift des Wasser- und Schifffahrtsamtes Kiel-Holtenau heraus und erfuhr, dass für die Schwebefähre der Außenbezirk Rendsburg zuständig sei. Man half ihm mit der Durchwahlnummer, und kurz darauf war er mit Herrn Thomsen verbunden, der sich sofort bereit erklärte, Lüder an der Fähre zu empfangen und ihm mit Auskünften behilflich zu sein.

 

Wenig später verließ er mit seinem BMW den Eichhof, fuhr über die »Stadtautobahn« zum Anschluss der Autobahn Richtung Hamburg und bog sofort wieder Richtung Rendsburg ab. Die A 210 hatte keinen Randstreifen. Deshalb gab es auf der nur mäßig frequentierten Straße eine Geschwindigkeitsbeschränkung. Zur Erheiterung seiner Familie nannte Lüder dieses Straßenstück stets »Billigautobahn«. Obwohl er sich selbst auch nicht an das Tempolimit hielt, wurde er ständig überholt. Ob die Kollegen der zentralen Verkehrsüberwachung aus Neumünster dieses Straßenstück kannten? Sicher, dachte Lüder.

Am Kreuz Rendsburg unterquerte er die Autobahn Richtung Dänemark und hatte kurz darauf sein Ziel am südlichen Kanalufer erreicht.

Dort, wo die Schranke die Weiterfahrt auf die Fähre versperrte, fand er neben der Straße eine Parkmöglichkeit.

Am Fähranleger wartete ein Mann mit hochgeschlagenem Kragen und Schirmmütze. Er musterte Lüder, nickte kurz und kam ihm entgegen.

»Sind Sie aus Kiel?«

Lüder reichte ihm die Hand. »Lüders.«

»Thomsen.« Es war ein kräftiger Händedruck.

Der Betriebsleiter der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung trug eine Warnweste in leuchtendem Rot-Orange. Er hatte sich in dem kleinen Wartehäuschen untergestellt, dessen Baustil deutlich die Herkunft aus den Anfängen des Fährbetriebs bekundete.

»Schietwetter«, sagte Thomsen. »Und dann so was.«

»Straftäter nehmen selten Rücksicht auf das Wetter«, erwiderte Lüder und suchte ebenfalls in dem kleinen Wartesaal Schutz vor dem Regen.

Schweigend warteten sie, bis die Fähre heranschwebte, andockte und ihre Last entladen war.

»Erzählen Sie mir etwas über die Fähre«, bat Lüder. Er wollte sich ein umfassendes Bild machen und verstehen, warum sich der oder die Täter diesen Ort ausgesucht hatten.

»Die Schwebefähre ist rechtlich kein Schiff, sondern eine Art ›Seilbahn‹. Deshalb muss der Schwebefährenführer«, Thomsen schmunzelte, »er heißt wirklich so, im Unterschied zu den anderen dreizehn Fähren am Kanal, kein nautisches Patent haben. Außerdem betreiben wir die Schwebefähre im Ein-Mann-Betrieb. Bis auf die Fähre in Breiholz haben alle anderen Fähren eine Zwei-Mann-Besatzung, neben dem Schiffsführer noch den Decksmann. Das ist vorgeschrieben, damit die Fähren auch bei Rettungseinsätzen eingesetzt werden können. Erst vor Kurzem gab es eine spektakuläre Aktion bei der Havarie mit dem polnischen Frachter.«

»Das ist kostspielig«, warf Lüder ein.

»Ja«, stimmte Thomsen zu. »Weil der Kanal aber eine Bundeswasserstraße ist, werden die etwa fünf Millionen Menschen pro Jahr kostenlos befördert.«

»Fünf Millionen? In Rendsburg?«, staunte Lüder.

Thomsen lachte. »Nein, insgesamt. Diese hier dient hauptsächlich der Schülerbeförderung, den Fußgängern und ist natürlich eine touristische Attraktion. Der Autotransport spielt eine untergeordnete Rolle.«

Jetzt hat die Fähre eine weitere Funktion erhalten, dachte Lüder. Sie ist als Mordwerkzeug missbraucht worden.

»Gibt es einen Vierundzwanzig-Stunden-Betrieb?«, fragte Lüder.

»Nein. Die Fähre nimmt um fünf Uhr früh vom südlichen Ufer aus, also hier von Osterrönfeld, den Betrieb auf. Sie fährt bis dreiundzwanzig Uhr, ab November im Winterbetrieb nur bis zweiundzwanzig Uhr, alle Viertelstunde nach Fahrplan, der natürlich abweichen kann, abhängig vom Verkehr auf dem Kanal. Wenn dort ein dicker Pott entlangläuft, muss die Fähre darauf Rücksicht nehmen und warten.«

Dann ist das Opfer nach zweiundzwanzig Uhr und vor fünf Uhr angebunden worden, überlegte Lüder. Die Tatausführung war in diesem Fall eine ganz andere, trotzdem gab es Parallelen zu dem grauenvollen Mord am Husumer Verkehrspolizisten Jörg Asmussen, den die Täter von einer Brücke bis kurz über die Gleise herabgelassen hatten, wo er vom ersten Zug überfahren wurde.

Lüder sah in die Höhe. Dort oben, genau über ihrem jetzigen Standort, hatte er Kummerow gejagt, der über die Hochbrücke flüchten wollte und dabei übersehen hatte, dass das zweite Gleis wegen Bauarbeiten gesperrt war. Während der Kindermörder abgestürzt und nur wenige Meter von Lüders jetzigem Standort aufgeprallt war, hatte Lüder sich in letzter Sekunde vor einem vorbeifahrenden Zug retten können.

Er verdrängte diesen Gedanken und fragte Thomsen: »Wie funktioniert die Schwebefähre?«

Sie hatten den Unterschlupf verlassen und waren auf die Fähre getreten, die sich kurz darauf in Bewegung setzte.

Der Mann vom Wasser- und Schifffahrtsamt zeigte auf die Anlage. »Die Fährbühne, wir nennen sie auch Gondel, hat ein Eigengewicht von fünfundvierzig Tonnen. Sie hängt an den Seilen da oben«, er zeigte in die Höhe, »an der Stahlkonstruktion, die u-förmig ist und mit insgesamt acht Rädern auf zwei Schienen läuft, die beidseitig des Brückenträgers angebracht sind. Insgesamt vier Elektromotoren sorgen für den Antrieb jedes zweiten Rades.«

Die Anlage war nicht umsonst ein technisches Meisterwerk, ein Magnet für zahlreiche Besucher Rendsburgs. Warum hatten sich die Täter ausgerechnet diesen Ort ausgesucht? Was wollten sie damit bekunden?, fragte sich Lüder. Die Art der Tatausführung sollte möglicherweise ein Hinweis sein. Eine Warnung? Ein Zeichen?

In der Zwischenzeit hatten sie den Kanal überquert und waren auf der Rendsburger Seite angekommen.

Lüder sah dem Containerschiff nach, dass querab seine Bahn Richtung Brunsbüttel zog. Für einen Laien sah es gewaltig aus, was sich das Schiff an Kästen aufgeladen hatte. Es mussten mehrere hundert, wenn nicht gar tausend Container sein. Und dennoch war dieser schwimmende Koloss nur ein sogenanntes Feederschiff, ein Zubringer, der die Container in den Häfen der Ostsee einsammelte und nach Hamburg brachte, wo sie auf weitaus größere Schiffe verladen und in alle Welt verbracht wurden.

»Sieht gewaltig aus, was?«, erriet Thomsen Lüders Gedanken. »Wenn aber nicht bald was geschieht, dürften die Verkehre bald der Vergangenheit angehören. Die Schleusen an den Kanalenden sind marode und müssen dringend erneuert werden. Sie werden nur noch als Provisorium aufrechterhalten. Wenn der Kanal nicht grundsaniert und vertieft wird, ist er bald ein exklusives Paradies für Wassersportler. Ähnliches gilt für die Elbe.«

Lüder verzichtete auf eine Antwort. Der Mann hatte recht, aber eine Diskussion hätte sie nicht weitergebracht. Lüder war der falsche Ansprechpartner. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass dieser seltsame Mord aus einem Motiv heraus geschehen war, das in der Verkehrspolitik begründet lag.

Sie verließen die Fähre, und Lüder folgte Thomsen, der eine Absperrkette löste, sich durch ein Geländer zwängte, über eine Wiese ging und Lüder zur Unterseite der Fähre führte, die hier über Land parkte.

»Dort.« Thomsen zeigte auf die hinterste von vier roten Rettungsinseln dieser Seite. »Daran war das Seil befestigt.«

»Das wird nicht kameraüberwacht?«, fragte Lüder.

»Dies nicht«, erwiderte Thomsen. »Oben im Leitstand ist ein Monitor, auf dem der Fährmaschinist die Laderampen und das Deck beobachten kann. Er hat damit auch Einblick in die Ecken, die er von seiner Position sonst nicht sehen könnte. Die Kameras dienen aber nur der besseren Übersicht. Es wird nichts aufgezeichnet.«

»Das heißt, hier unten wird nichts überwacht?«

»Doch«, entgegnete Thomsen. »Vor Dienstantritt, also vor Beginn der ersten Fahrt, kontrolliert der Kollege von der Frühschicht die Rettungsmittel. Das ist vorgeschriebene Routine. Die Mitarbeiter sind zuverlässig. Sie können sich darauf verlassen, dass das auch gemacht wird.«

»Dann müsste der Mann doch das Seil entdeckt haben«, überlegte Lüder.

Thomsen schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Sehen Sie. Das Ganze geschieht drüben auf der südlichen Seite, in Osterrönfeld. Dort unten zwischen den mächtigen Fundamenten für die Brücke«, dabei zeigte er auf die leicht angeschrägten gewaltigen Klötze aus schweren Felssteinen, die als Träger für die Pfeiler dienten, die in schwindelnder Höhe das über einhundert Meter lange Mittelstück der Eisenbahnbrücke trugen. »Da ist es so finster, da kann Ihnen ein dunkles Seil entgehen. Es gibt da unten keine Beleuchtung. Lediglich den Schein der Taschenlampe. Und der Mitarbeiter konzentriert sich auf die Rettungsinseln und prüft, ob die vorschriftsmäßig vorhanden sind.«

Thomsen mochte recht haben, dachte Lüder. Niemand konnte erwarten, dass in dieser Dunkelheit der Fährmann die Umgebung rund um die Schwebefähre absuchen würde, um nach potenziellen Mordopfern Ausschau zu halten.

 

Er dankte Thomsen für die Unterstützung, reihte sich in die Warteschlange ein und fuhr mit der übernächsten Fähre ans nördliche Ufer. Telefonisch ließ er sich die Anschrift des Opfers durchgeben.

 

Der BMW rumpelte über das Kopfsteinpflaster der Straße, die sich zwischen Schuppen und Gewerbebetrieben langzog. Er musste halten, als ein großer Silosattelschlepper umständlich rangierte und dafür die gesamte Fahrbahn in Anspruch nahm. Überhaupt schien das Areal den Lastwagen zu gehören. Nach einem halben Kilometer bog Lüder ab, fuhr am Kreishaus vorbei und folgte der Straße bis zum Altstadtring. Auf der rechten Seite versteckte sich der Bahnhof hinter einem Flachbau. Über eine Hochstraße führte der Weg um die kleine, aber reizvolle Rendsburger Innenstadt herum und kurz darauf, am Ende des Obereiderhafens, bog er in die Straße Richtung Büdelsdorf ab.

Die beiden Städte waren miteinander verwachsen, und nur wer aufmerksam das gelbe Ortsschild suchte, erkannte den Übergang. Lüder war überrascht über den lebhaften Verkehr, der hier herrschte. Es ging nur mäßig auf der Straße voran, deren Fahrbahnen durch einen mit Granit gepflasterten Mittelstreifen getrennt waren. Zur Rechten lag das große Areal der Carlshütte, die der Gründer Holler nach seinem Förderer, dem Gouverneur von Schleswig-Holstein, benannt hatte und deren Geschichte nach einhundertsechzig Jahren zum Ausgang des letzten Jahrhunderts mit der Insolvenz endete. Heute präsentierten auf einem Teil des Geländes zeitgenössische Künstler in der viel beachteten Ausstellung »NordArt« ihre Werke.

Nach fast einem Kilometer bog Lüder in die Ulmenstraße ab. Ältere Mehrfamilienhäuser im für Norddeutschland typischen Rotklinker säumten die Straße, die am Ende nach links abknickte. Kurz darauf hatte er sein Ziel erreicht. In aufgelockerter Bauweise, von großzügigem Grün umgeben, lagen hier mehrere Wohnblocks. Die Straße war nach dem Dichter und Schriftsteller Gorch Fock benannt, der auch Namenspatron für das Segelschulschiff der Bundesmarine war.

Ein wuchtiger, weit ausladender Nadelbaum stand vor dem Gebäude und lenkte ein wenig von den Müllbehältern ab, die nur unzureichend von einem Flechtzaun verborgen wurden und das ansonsten gepflegte Bild der Anlage störten.

Lüder hielt neben dem Kombi der Spurensicherung, der auf dem Parkstreifen gegenüber Platz gefunden hatte. Er lächelte über eine einsam stehende Stele mit einem Telefon, an dem der magentafarbene Hörer leuchtete. Die Stele stand allein auf weiter Flur, ohne umschließende Zelle, nicht einmal ein kurzes Dach schützte vor dem Wetter.

Er traf die beiden Beamten in der Wohnung an.

»LKA?« Die Frage des jüngeren Spurensicherers im weißen Ganzkörperschutzanzug wurde durch ein die Geringschätzung ausdrückendes Schnauben unterstrichen. »Was will ›das Amt‹ hier?«

»›Das Amt‹«, äffte Lüder den Beamten nach, »ist die Hochleistungszentrale zur Kriminalitätsbekämpfung.« Lüder nutzte eine Formulierung, die nicht von jedem seiner Kollegen geschätzt wurde. »Haben Sie schon etwas entdeckt?«

Der Mann ließ als Antwort seinen Kopf kreisen, als würde er eine gymnastische Übung ausführen. »Wonach sollten wir suchen?«

Lüder wandte sich an den älteren Beamten, der dem Dialog stumm gefolgt war. »Ihr Lehrling da«, jetzt wies Lüder mit dem Kopf auf den jüngeren Beamten, »scheint noch neu im Geschäft zu sein. Plaudern wir unter Erwachsenen.«

»Von wegen Lehrling«, beklagte sich der Erste, zog sich dann aber in einen anderen Raum zurück.

»Es ist schwierig, Spuren, die wir nicht kennen, zu sichern. Wie eine typische Studentenbude sieht es nicht aus.«

Lüder sah sich um. Die Einrichtung wirkte altbacken, so als hätte Dustin McCormick die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung möbliert gemietet. Junge Leute pflegten sich anders einzurichten, selbst wenn sie als Studenten nur über begrenzte Mittel verfügten. Hier hatten zuvor andere Mieter gehaust. Im Wohnzimmer dominierte ein Buffetschrank in dunkler Nussbaumnachbildung. So etwas mochte vor vierzig Jahren vielleicht nicht chic, aber aktuell gewesen sein. Die Sitzgruppe aus dunkelgrünem Stoff wies deutliche Gebrauchsspuren auf und war zerschlissen. An der Wand stand ein Tisch mit zwei Stühlen, der als Ess- und Arbeitsplatz diente. Darauf deuteten der Collegeblock, ein Kugelschreiber, vor allem aber die beiden topmodernen Notebooks hin.

»Der Schreibblock ist unbenutzt«, erklärte der Spurensicherer. »Die Notebooks haben wir uns noch nicht angesehen. Merkwürdig erscheint mir, dass wir keine Studienunterlagen gefunden haben, keine Fachbücher, Datenträger oder sonst was. Was soll er studiert haben?«

»Informatik«, half Lüder nach.

»Dann sollte man doch erwarten, in seiner Unterkunft etwas zu finden, was im Zusammenhang mit dem Studium steht. Aber nix. Auch keine anderen Bücher. Nebenan im Schlafzimmer stehen in einem Regal eine Handvoll deutscher Bücher. Konsalik, Simmel, Willi Heinrich, Kishon. Leichte Unterhaltung, aber schon lange nicht mehr aktuell. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ein Amerikaner damit auseinandersetzt.«

»Und sonst?«

»Persönliche Ausstattung, Toilettenartikel, kaum Lebensmittel.«

»Hinweis auf Besuch? Eine Frau?«

»Nee. Keine Anzeichen. Was aber merkwürdig ist, das sind die Ladegeräte für mehrere Handys. Dies hier«, er zeigte Lüder ein weißes Kabel, »ist ziemlich neu. Ein iPhone. Dazu passt auch die Dockingstation für die Musikanlage. Auch der Laserdrucker ist ein Gerät, das nicht jeder Anwender zu Hause stehen hat. Sehen Sie mal«, der Finger des Beamten wanderte weiter zu einem mehrere Pakete Druckerpapier umfassenden Stapel. »Der wollte viel drucken. Dafür sprechen auch die fabrikfrischen Tonereinheiten für den Drucker als Reserve. Und dann haben wir noch zwei weitere Ladegeräte für Handys gefunden, ein Samsung und ein LG

»Nur die Ladegeräte?«

Der Beamte nickte. »Die Telefone sind weg. Nix.«

Warum wurde ein Mensch ermordet, dessen Ausweispapiere auf einen amerikanischen Informatikstudenten lauteten, dachte Lüder, und dessen Wohnung überhaupt nicht einer Studentenbude ähnelte? Lüder verstand auch nicht, weshalb jemand, der in Kiel studierte, sich eine Unterkunft in Büdelsdorf bei Rendsburg beschafft hatte. Immerhin waren es gut fünfunddreißig Kilometer zwischen Wohnung und Universität.

»Haben Sie einen Autoschlüssel gefunden?«, fragte Lüder.

Der Beamte nickte. »Ja. Den hat der Kollege Vollmers mit nach Kiel genommen.«

Lüder klingelte an der Nachbarwohnung. Die Mieterin musste hinter der Tür gelauscht haben, da sie sofort öffnete.

»Sind Sie auch vonne Polizei?«, fragte die ältere Dame mit dem Strickpullover und der Bernsteinkette auf dem ausladenden Dekolleté.

Lüder nickte.

»Komm Sie man rein. Wir, also mein Mann und ich, haben schon alles erzählt. Von welche Polizei sind Sie denn?«

»Von der Kriminalpolizei«, erklärte Lüder geduldig und folgte der alten Dame ins plüschig eingerichtete Wohnzimmer.

»Heinz, da ist noch so 'n Krimsche«, sagte sie zu ihrem Mann, dann zeigte sie auf das Sofa, auf dem bunte Kissen ordentlich ausgerichtet waren. Mit einem Schmunzeln bemerkte Lüder den Knick in der Mitte des Kissens.

»Nehm Sie man Platz, junger Mann.«

»Soso«, brummte der Mann mit der Wollweste, unter der die Hosenträger hervorlugten. Er wechselte seine Brille gegen eine andere aus, die auf dem Couchtisch mit der blütenweißen Tischdecke lag.

»Woll'n Sie 'nen Kaffee? Ich hab aber nur mit ohne.«

»Gern«, sagte Lüder, auch wenn ihm die Nachbarin soeben erklärt hatte, dass sie nur koffeinfreien Kaffee im Hause hatte.

»Ist wegen dem Herz von mein Mann.« Sie bewegte sich trotz der Leibesfülle sehr schnell und verschwand in der Küche, wo Lüder sie hantieren hörte. Dabei führte sie Selbstgespräche.

»Wo ist die Dose? Ach. Hier. Nun in den Filter. Eins. Zwei. Drei …«

Lüder wurde abgelenkt.

»Ist ja ein ordentlicher Trubel. So was erlebt man sonst immer nur in Fernsehen. Mann, ist das 'nen Ding. Bring die doch glatt den Nachbarn um.«

»Kannten Sie Herrn McCormick näher, Herr äh …«

»Riemenschneider«, stellte sich der ältere Mann vor.

»Aber nicht Tilman?«, versuchte Lüder scherzhaft zu sein.