Illustrationen von Stefani Kampmann
KOSMOS
Umschlagsillustrationen Stefani Kampmann, Berlin
Umschlaggestaltung von Michael Kimmerle, Stuttgart
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© 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-13806-9
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Es war ein nasskalter, grauer Tag.
Addi Felsfisch und seine Freunde Jenny Schneider und Ağan Enc schlurften gegen den Wind gebückt über den Mehringdamm und versuchten, nicht zu viel von dem Nieselregen, der seit ein paar Stunden ununterbrochen fiel, ins Gesicht zu bekommen.
Addis kleiner Affe Goffi dagegen saß hocherhobenen Hauptes auf Ağans Schulter und verfolgte mit seinen Blicken neugierig die wild umherwirbelnden Blätter und Papierfetzen auf dem Bürgersteig.
„Echt, ey!“ Jenny sah durch den Niesel zum Himmel. „Hoffentlich bleibt das nicht den ganzen Tag so.“
Ağan lachte. „Ja, heute herrscht wahres Fieswetter.“
„Halt du bitte Goffi gut fest“, brummte Addi. „Nicht, dass uns der noch wegfliegt!“
Seine Sorge war nicht unbegründet. Mit dem Regen jagten kalte Windstöße durch die Berliner Straßen, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten, als die Menschen frösteln zu lassen und Chaos zu stiften. Zwischen den Häusern pfiff und jaulte der Wind wie ein junger Höllenhund und zerrte an Markisen, Ästen und allem, was nicht niet- und nagelfest war. Die drei Freunde waren unterwegs zu Addis Lieblingscurrywurststand in Kreuzberg, wo er Ağan und Jenny eine Runde ausgeben wollte.
„Ein wirklich grausames Wetter, um meine erste Zwei in Mathe zu feiern! Dabei ist es so unglaublich!“, sagte Addi. „Mein Vater hat sogar gedacht, ich hätte bei der Arbeit geguttenbergt!“
„Wie bitte?“ Jenny sah Addi fragend an. „Was heißt das denn?“
„Ach, das weißt du nicht?“ Addi grinste zufrieden und leckte sich etwas Regen von der Oberlippe. „So nennt das mein Vater, wenn man abschreibt! Das hat mit irgend so einem Politiker zu tun, der mal fast ein ganzes Buch abgeschrieben und dann noch behauptet hat, es wäre von ihm.“ Addis Grinsen wurde noch breiter. „Wusste ich doch, dass dieses coole Wort dich beeindrucken würde, Jennymädchen!“
Jenny verzog den Mund. „Da musst du aber früher aufstehen. Bei mir heißt abschreiben nämlich immer noch abschreiben. Das versteht wenigstens jeder. Aber du hast ja wohl hoffentlich nicht abgeschrieben, oder?“
„Nein!“ Addi strahlte. „Das war eine original blitzblanke Zwei!“
Jenny klatschte in die Hände. „Bravo! Allerdings könntest du auch mal Danke sagen, dass Ağan und ich so viel mit dir geübt haben.“
„Aber Jenny!“, mischte sich Ağan ein. „Genau darum will Addi uns doch jetzt einladen, aus Dankbarkeit.“
„So ist es, meine Freunde!“, rief Addi.
In diesem Moment fegte mit lautem Heulen ein mächtiger Windstoß durch die Straße und traf Goffi so heftig, dass er sich an Ağans Haar festkrallte und aufgebracht jaulte.
Ağan hielt sich die Ohren zu. „Uh, Goffi! Das klingt ja schrecklich.“
Der kleine, in Kirgisistan als Taschendieb ausgebildete Geoffroy-Klammeraffe schnatterte zustimmend.
„Leider kann ich keine Affensprache“, lachte Jenny. „Aber der Wind scheint Goffi echt aufzuregen.“
„Das macht er manchmal, wenn es so bläst“, erklärte Addi. „Ich glaube, er macht das Windjaulen nach.“
„Er spricht mit dem Wind!“ Ağan strich dem Äffchen sanft über den Kopf. „Er macht es genau wie die Wind-Dschinns. Die jaulen auch mit dem Wind um die Wette. Manchmal hält man sie sogar für den Wind selbst. Jedenfalls in sehr dunklen Nächten.“
Jetzt drückte Jenny ihre Hände auf die Ohren und stöhnte übertrieben. „Bitte, nun nicht auch noch Dschinns zu diesem Höllenwetter! Bei aller Liebe, Ağan, aber kannst du einmal einen Tag ohne deine ganzen Geister auskommen?“
„Nein“, entgegnete Ağan gelassen. „Und außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich einen Dschinn gesehen habe, sondern nur, dass Goffi genau wie einer klingt.“ Er breitete die Arme aus und sah Jenny aus seinen großen, dunklen Augen an. Im selben Moment flappte ihm etwas ins Gesicht.
Ağan keuchte auf. „Ein Wind-Dschinn!“
Goffi jaulte.
„Nein!“, widersprach Jenny ruhig. Im Gegensatz zu ihrem Freund konnte sie sehr gut erkennen, was ihm ins Gesicht geflogen war. Es handelte sich um einen lindgrünen, ziemlich aufgeweichten Briefumschlag, der sich wie eine Maske quer über Ağans Augen gelegt hatte und dort vom Wind angepresst kleben blieb.
„Was ist das denn?“, rief Ağan.
„Ein echt nasser Fetzen Papier“, verkündete Addi.
„Ich kann es also anfassen?!“ Vorsichtig streckte Ağan die Hand aus und zog sich den Umschlag von den Augen. „Wirklich“, meinte er dann und betrachtete das seltsame Flugobjekt. „Das sieht tatsächlich aus wie ein Brief!“
„Luftpost!“, grinste Jenny. „Komm, mach schon auf! Mal sehen, wer dir da geschrieben hat.“
Ağan schüttelte entschieden den Kopf. „Das geht nicht, Jenny. Das dürfen wir nicht!“ Er drehte den Umschlag um, sodass Jenny und Addi die Vorderseite sehen konnten. „Dieser Brief ist nicht an mich adressiert, seht ihr? Ich darf ihn nicht öffnen, sonst würde ich das Briefgeheimnis verletzen.“
„Briefgeheimnis? Bei so ’nem durchgeweichten Lappen?“ Addi grunzte vergnügt.
„Aber ja!“, behauptete Ağan fest. „Das ist ein ganz normaler Brief. Er hat eine Briefmarke und eine Adresse vorne drauf. Nur der Absender ist leider zerlaufen, aber er steht immer noch da. Und deswegen unterliegt dieser Brief wie jeder Brief dem Briefgeheimnis. Yildiz hat mir mal erzählt, dass das sogar für Postkarten gilt. Nicht mal die Polizei darf einen Brief öffnen, sondern nur ein Richter.“
Yildiz war Ağans ältere Schwester und Streifenpolizistin. Die drei Freunde hatten ihr und ihrem Kollegen Knopik in den vergangenen Monaten zu einigem Ruhm verholfen. Denn Jenny, Addi und Ağan arbeiteten seit einer spektakulären Begegnung mit einem Drachen als Detektive in Berlin. Das durfte natürlich niemand wissen. Immer, wenn es darum ging, einen Fall zum Abschluss zu bringen, benötigten sie als Kinder die Hilfe der Polizei. Und die holten sie, indem sie Yildiz anriefen, ohne sich zu erkennen zu geben. Auf diese Weise hatte Yildiz schon mehrere Verbrecher festgenommen und wurde in der Presse als Star-Polizistin gefeiert, die über eine besonders feine Nase für die Untaten der Berliner Unterwelt zu verfügen schien.
Natürlich wusste Yildiz, dass in Wirklichkeit ihre anonymen Helfer dafür verantwortlich waren. Aber sicherheitshalber behielten sie und ihr Kollege Knopik dieses Geheimnis für sich. Sie wollten selbst herausfinden, wer ihnen da half, und auch, warum.
Das aber würde so schnell nicht geschehen.
Jenny, Addi und Ağan war vollkommen klar, dass die Erwachsenen, die sie kannten, niemals erfahren durften, dass sie geheime Ermittler waren und sich Unsichtbar-Affen nannten. Erwachsene waren einfach viel zu schnell der Meinung, dass es für Kinder zu gefährlich war, die gemeine, skrupellose und schlechte Seite der Erwachsenenwelt aufzudecken und dafür zu sorgen, dass sich da etwas änderte. Und deswegen mussten die Unsichtbar-Affen auch weiterhin für allzu neugierige Augen unsichtbar bleiben.
Addi sah Ağan auffordernd an. „Dann schmeiß den nassen Brief eben weg und lass uns jetzt endlich eine Currywurst essen. Ich will feiern!“ Schnell ging er weiter.
Ağan entgegnete erst mal nichts und eilte mit Jenny seinem launigen Freund hinterher. Nach einer Weile aber seufzte er tief. „Also, Addi. Du weißt doch, dass ich kein Schweinefleisch esse. Und deswegen nehme ich keine Currywurst, sondern Pommes. Und was den Brief angeht, habe ich auch einen anderen Vorschlag.“
„Und der wäre?“, wollte Jenny wissen.
Ağan lächelte. „Dass wir ihn zustellen.“
Addi prustete so heftig los, dass ihm dabei etwas Spucke aus dem Mundwinkel flog und im Nieselregen verschwand. „Du willst den Brief zustellen? Aber du hast doch eben noch gesagt, das heilige Briefgeheimnis gehe über alles!“
Die Unsichtbar-Affen hatten den Currywurststand erreicht. Eine junge Frau mit blonder Mähne, die an einem Stehtisch einen Zwiebelspieß verspeiste, während sie in ihrer freien Hand einen grauen Regenschirm balancierte, warf Addi einen missbilligenden Blick zu.
„Geht’s auch etwas leiser? Von deinem Gebrüll wird man ja taub!“
Empört sah Addi die Frau an. „Das ist ein wichtiges Thema, das wir hier besprechen. Es geht um Recht und Unrecht!“
Die Frau tat so, als habe sie nichts gehört, und schob sich einen weiteren Brocken Fleisch samt einer dicken Zwiebelscheibe in den Mund.
Addi stellte sich direkt vor sie. „Eben war es Ihnen noch zu laut und jetzt sind Sie taub? Ist auch alles in Ordnung?“
Die Frau wedelte mit ihrem Regenschirm. „Kein Mensch braucht aufdringliche und vorlaute Kinder.“
„Aha.“ Addi musterte das Gesicht der Blonden. „Hm“, machte er dann. „Ich glaube –“
Die Frau warf ihre Plastikgabel auf ihren soßenverschmierten Teller und schob diesen in die Tischmitte auf Addi zu. „Ist ja gut, Knabe“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Überanstreng dich bloß nicht, die richtigen Worte zu finden. Es wird sowieso nichts Gescheites dabei rauskommen. Und jetzt halt hier keine Maulaffen feil und mach den Mund wieder zu, sonst fliegt dir noch ’ne Fliege rein!“
Addi ließ seine Augen noch größer werden. Dann sagte er laut und deutlich: „Aber jetzt hab ich’s! Wenn ich Sie mir nämlich ganz genau ansehe, wird mir auch klar …“ Er legte eine kunstvolle Pause ein und fuhr dann fort: „Der Mensch stammt doch vom Affen ab!“
Jenny, Ağan und ein paar Leute, die an der Currywurstbude in der Schlange standen, brachen in schallendes Gelächter aus.
„Der blonde Affe!“, grölte ein Mann in einer blauen Latzhose. „Junge, der war nicht von schlechten Eltern.“
Die Frau schnappte nach Luft. Sie war knallrot angelaufen. „Und Sie unterstützen diese Frechheiten auch noch“, zischte sie dem Mann zu.
„Na klar“, grinste der Mann. „Ich liebe blondes Affentheater!“ Er warf der Frau einen Luftkuss zu, bevor er sich umdrehte, um seine Bestellung aufzugeben.
„Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!“ Die Blonde schüttelte wütend den Kopf, packte ihre Handtasche und ging weg.
Die Unsichtbar-Affen kicherten. Dann stellte sich Addi an und holte für alle etwas zu essen.
Als sie ihre Currywürste und Pommes verdrückten, legte Ağan den Brief zwischen sie.
„Also“, nahm er den Faden ihres Gesprächs wieder auf. „Einen verlorenen Brief dorthin zu bringen, wo er eigentlich hinsollte, ist eine gute Tat und verletzt bestimmt nicht das Briefgeheimnis, denn dazu müssen wir den Brief ja nicht öffnen.“
„Und warum geben wir ihn nicht einfach einem Briefträger?“, schlug Jenny vor.
Ağan deutete auf den Brief. „Der Brief ist für einen Max Krause, Kurfürstendamm Nummer neun. Die Postleitzahl ist nicht mehr zu lesen, aber in Berlin gibt es ja nur einen Ku’damm. Wenn wir den Brief jetzt zur Post bringen und alles erklären, dann dauert es mindestens einen Tag länger, als wenn wir ihn gleich selbst vorbeibringen. Dieser Max Krause wird sich bestimmt freuen.“
„Meinetwegen.“ Addi wischte sich den Mund ab und zwinkerte Jenny zu. „Und als Dankeschön für eure Hilfe in Mathe überlasse ich euch die Ehre, diesen verlorenen Brief an seinen wahren Besitzer zu übergeben.“
„Toll!“, meinte Jenny und kräuselte die Nase. Aber dann lachte sie. „Ich finde, das ist eine schöne Idee!“
Die Unsichtbar-Affen machten sich auf den Weg und fuhren mit der U-Bahn bis zum Bahnhof Zoo. Dort angekommen schoben sie sich durch die üblichen Nachmittagsmassen, die sich durch die Innenstadt drängten, und bogen, als sie den Ku’damm erreichten, in Richtung Breitscheidplatz ab.
Goffi verhielt sich ganz still, so wie die drei Freunde es ihm in den vergangenen Monaten immer besser beigebracht hatten. Dennoch spürte Ağan, auf dessen Schulter er saß, wie das Äffchen ab und zu unruhig zusammenfuhr, wenn es eine gute Gelegenheit erspähte, jemandem das Portemonnaie zu stehlen. Der kleine Geoffroy-Klammeraffe war nun einmal ein ausgebildeter Taschendieb und war es lange gewohnt gewesen, anderen Leuten ihr Hab und Gut aus der Tasche zu ziehen.
Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen und auch der Wind blies nicht mehr ganz so ungemütlich wie zuvor.
Ağan wies auf einen CD-Shop im letzten Haus vor der Gedächtniskirche. „Da ist die Nummer elf.“
„Es kann nicht mehr weit sein“, sagte Jenny. „Die Nummer neun muss auf der anderen Seite vom Breitscheidplatz liegen.“ Sie blickte über den Platz an der Gedächtniskirche vorbei.
Vor dem großen halbrunden Brunnen, den die Berliner Wasserklops nannten und der wirklich aussah wie eine Bulette, aus der aus allen Seiten Wasser herausgelaufen kam, fuhren ein paar Skateboarder und auf der Treppe vor der kaputten Kirche hockte eine Gruppe Punks.
„Komisch“, fand Jenny. „Da kommen doch gleich das Europacenter und noch so ein riesiges Gebäude.“ Sie zeigte auf das Hochhaus, auf dessen Dach sich ein großer Mercedes-Stern drehte, und den dahinterliegenden Kasten. „Da drin soll unser Max Krause wohnen? Das sieht aus, als ob da nur Läden und ein paar Restaurants und jede Menge Büros sind.“
„Vielleicht ist er ja der Hausmeister?“, meinte Addi. Aber auch er sah skeptisch aus. „Steht da wirklich eine Neun auf dem Umschlag, Ağan? Oder hast du den vielleicht falsch rum gehalten und es ist in Wirklichkeit eine Sechs?“
„Es ist eine Neun“, antwortete Ağan. „Und jetzt lasst uns gucken. Irgendein Klingelschild wird da ja wohl sein.“
Doch als die Unsichtbar-Affen den Breitscheidplatz überquert hatten, erwartete sie eine viel größere Überraschung als ein fehlendes Klingelschild.
Es war Jenny, die es zuerst bemerkte. Während Addi und Ağan sich noch suchend umsahen, rief sie: „Hier ist ja gar nicht mehr der Ku’damm! Hier ist der Tauentzien!“
Und wirklich stand auf dem Straßenschild, das die Lage des Europacenters bezeichnete, in dicken schwarzen Buchstaben Tauentzienstraße.
„Seltsam“, meinte Addi. „Was ist das überhaupt für ein komischer Name? Hat man hier früher Tauziehen gespielt?“
Ağan lachte. Aber dann las er ein kleines Schild, das unter dem eigentlichen Straßennamen angebracht war: „Tauentzien war ein General, der …“
„Ist doch egal!“, unterbrach ihn Jenny. „Kann mir dafür mal einer erklären, warum der Ku’damm erst mit der Nummer elf anfängt und die Nummern davor fehlen?“