Stefan aus dem Siepen
Das Buch der Zumutungen
Deutscher Taschenbuch Verlag
Stefan aus dem Siepen wurde 1964 in Essen geboren, studierte Jura in München und trat in den Diplomatischen Dienst ein. Über Stationen in Bonn, Luxemburg, Shanghai und Moskau führte ihn sein Weg nach Berlin, wo er seit 2009 im Auswärtigen Amt arbeitet. Nach ›Luftschiff‹ (2006) und ›Die Entzifferung der Schmetterlinge‹ (2008) veröffentlichte er 2012 ›Das Seil‹ und zuletzt ›Der Riese‹ (2014). Stefan aus dem Siepen lebt mit seiner Familie in Potsdam.
Warum soll man nicht Auto fahren? Was hat ein deutscher Omnibus mit der Antike zu tun? Was ist der Unterschied zwischen Fußball und Stierkampf? Wie bringt man es fertig, stilvoll zu sterben? Warum ist Hirnforschung bedenklich? Wie wurde Che Guevara zum obersten Volkswirt? Und wie poetisieren Friseure das Leben?
Amüsant und feinsinnig richtet Stefan aus dem Siepen den Blick auf unsere moderne Existenz. In kurzen Betrachtungen und Anekdoten hält er fest, warum uns ein angenehmes Dasein unmöglich ist. Alltagsleben, Zeitgeschehen, Kunst und Literatur, Sport, deutsche Sprache, letzte Dinge– überall spießt aus dem Siepen mit einem Augenzwinkern »Zumutungen« auf. Das Notizbuch eines kritischen Zeitgenossen– voller Esprit, angriffslustig und immer elegant.
Originalausgabe 2015
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-42871-2 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28061-7
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ISBN (epub) 9783423428712
»Warum willst du dich von uns allen
Und unsrer Meinung entfernen?«
Ich schreibe nicht, euch zu gefallen;
Ihr sollt was lernen!
Goethe, Zahme Xenien
Es handelt sich um eine einfache, vorwiegend körperliche Tätigkeit, für die keine besonderen Fähigkeiten erforderlich sind. Bereits dies sollte das Autofahren dem geistig anspruchsvollen Menschen verdächtig machen und ihm nahelegen, sich nach anderen Methoden der Fortbewegung umzuschauen. Merkwürdigerweise sieht man dennoch viele kluge Köpfe, die keinerlei Scheu empfinden, an einem Lenkrad zu sitzen, zwei oder drei Pedale zu bedienen, gelegentlich auf einen Knopf zu drücken – und sich dabei auch noch beobachten zu lassen.
Sozialgeschichtlich betrachtet, stellt der Übergang von der Reisekutsche zum Automobil einen Niedergang des Reisenden dar: Er wird zum Postillon.
Die Umgangsformen unter Autofahrern entsprechen denen, die früher zwischen Fuhrknechten üblich waren. Kaum jemand zögert, mit der flachen Hand auf das Lenkrad zu schlagen, allerlei Gesten der belehrenden, rügenden oder drohenden Art zu vollführen, ja sogar den Zeigefinger an die Stirn zu legen. Auch das Hupen ist ein Verständigungsmittel, das man schwerlich als kultiviert bezeichnen kann – es entspricht dem Anschreien. Welch eigentümlicher Widerspruch: Ein zivilisierter Mensch, dem es außerhalb seines Autos nicht im Traum einfiele, die Stimme zum Brüllen zu erheben, erachtet es als eine legitime Form der Meinungsäußerung, seine Hupe zu betätigen. Am Lenkrad darf sich jedermann von den Gepflogenheiten des guten Benehmens entbunden fühlen: Autofahren macht frei.
Man kennt die folgende Geschichte: Ödipus, auf dem Bock eines Fuhrwerks sitzend, traf in einem engen Hohlweg auf einen entgegenkommenden Wagen. In diesem saß sein Vater Laios, der König von Theben. Keiner der beiden wollte den Weg freimachen, so kam es zum Streit; und Ödipus erschlug, ohne zu ahnen, mit wem er es zu tun hatte, seinen Vater. – Sigmund Freud ist es gelungen, diese Geschichte für sich in Beschlag zu nehmen, sie mit seiner Theorie des Vater-Sohn-Konflikts scheinbar unauflöslich zu verknüpfen. Dies ist bedauerlich, denn sie lässt auch eine andere Deutung zu, die ich als nicht weniger überzeugend empfinde, ja die mir sogar um vieles näherliegend scheint: Wer ein Gefährt lenkt, verwandelt sich zum Rohling. Selbst edle Prinzen werden auf dem Bock zu Totschlägern. Der Ödipus-Komplex des Autofahrers.
Erinnerung an meine Zeit in Shanghai. – Die chinesischen Taxifahrer hupen munter und häufig, um sich im Straßengewimmel den Weg freizumachen. Nicht nur Autos, auch Fahrradfahrer und Fußgänger werden akustisch von ihnen bedrängt. Als westlicher Fahrgast betrachtet man dies Gebaren nicht ohne ein Stirnrunzeln; doch sagt man sich zur eigenen Beschwichtigung, dass man das Verhalten des Fahrers nicht ändern könne, dass es den Sitten oder Unsitten des Landes entspreche und einen, alles in allem, nichts angehe. Einmal hatte ich ein Erlebnis, das mich an dieser Sichtweise irre werden ließ. Ich war eine längere Strecke durch die Stadt gefahren, und der Chauffeur hatte dutzendfach gehupt. Am Fahrtziel angekommen, stieg ich aus und knöpfte mir, für einige Sekunden vor der Motorhaube stehen bleibend, den Mantel zu; sogleich hupte der Fahrer mich an, denn ich war für ihn nun kein Fahrgast mehr, sondern ein Hindernis wie tausend andere. Dies belehrte mich, dass die Gleichmütigkeit, mit der ich das Hupen bisher hingenommen hatte, eine Rohheit gewesen war. Jeder Fußgänger, den der Fahrer vor mir bedrängt hatte, war ein Mensch wie ich. Was dem einen angetan wird, richtet sich gegen alle. Die Menschen stehen, auch wenn sie einander nicht kennen, in moralischer Gemeinschaft. Dies lässt sich ins Metaphysische steigern: Die Seelen der Menschen sind zwar getrennt, doch gehören sie auf wesenhafte Weise zusammen. Man kann nicht die eine Seele beleidigen, ohne sich gegen alle übrigen zu wenden.
Die buddhistische Lehre von der Seelenwanderung kennt den Satz: »Du wirst einst als der, den du jetzt verletzt, wiedergeboren werden und die gleiche Verletzung erleiden.«
Das Hupen nahm in den chinesischen Städten so sehr überhand, dass ein gesetzliches Hupverbot erlassen wurde. In Shanghai habe ich beobachtet, dass auf dem Lenkrad eines jeden Taxis ein roter Aufkleber prangte: Hupen verboten! Nicht selten war der Aufkleber sogar mitten auf dem Hupknopf angebracht, was von praktischem Sinn zeugte. Freilich ließ die Wirkung, welche das Gesetz und die ihm dienenden Aufkleber erzielten, zu wünschen übrig. Die meisten Taxifahrer hupten ungerührt weiter, und auf manchem Lenkrad war der Aufkleber bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen.
Es ist üblich, das allzu große, auf protzigen Effekt berechnete Auto mit amüsierten oder missfälligen Blicken zu betrachten, seinen Fahrer für einen Aufschneider zu halten. Dabei vergisst man, dass jedem Auto, selbst dem zurückgenommensten, ein Element von Prahlerei eigen ist. Der Fahrer hat, sobald er sich ans Steuer setzt, die angenehme Empfindung, zu einem größeren zu werden: Sein Körper verbindet sich mit der Karosserie und gewinnt eine imposantere Ausdehnung. »So gehört das Auto, das ich lenke, wenn ich es ganz beherrsche, zum Eigenraum und ist wie ein erweiterter Körper, in dem ich mit meinem Empfinden überall anwesend bin.« So Karl Jaspers in seiner »Allgemeinen Psychopathologie«. Ähnliches ließ Goethe auch seinen Mephisto sagen, fünfundsiebzig Jahre vor Erfindung des Automobils: »Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken. / Setz dir Perücken auf von Millionen Locken, / Du bleibst doch immer, der du bist.«
Nach einer alten abendländischen Vorstellung ist Gott das einzige Wesen, das nicht von anderen Mächten bewegt wird, sondern sich selbst bewegt. Die Fähigkeit zur Auto-Mobilität ist also ein Kennzeichen des Göttlichen. Selbst in unseren Zeiten lebt dieser Gedanke fort: Zwar hat der moderne westliche Mensch den Glauben an Gott verloren, doch im Auto empfindet er ein Gefühl der Gottähnlichkeit. Sobald er am Steuer Platz nimmt, entfesselt er gewaltige, über das Maß eines Sterblichen hinausgehende Kräfte, besiegt die hemmenden Grenzen des Raumes, zieht mit überirdischer Leichtigkeit und Schnelligkeit durch die Weite, ja besitzt die Macht, über Sein oder Nichtsein anderer Menschen zu entscheiden.
Das Auto zeigt eine Lücke im modernen Atheismus an.
Wenn der Autofahrer sich wie ein Gott fühlt, ist es nur folgerichtig, dass er seinem Automobil die Formen eines Tempels verleiht. Der Kunstgeschichtler Erwin Panofsky wies darauf hin, dass der Kühlergrill des Rolls-Royce die Villenarchitektur Palladios und damit die Säulenfront eines griechischen Tempels nachahme. Der Automobilist als Zeus der Moderne.
Kühlergrill eines Rolls-Royce
Akropolis in Athen
Die Psychologie weiß, dass schnelles Autofahren zu den sexuellen Ersatzbefriedigungen gehört. Der Rausch der Geschwindigkeit ähnelt der geschlechtlichen Extase. Von »Sublimation« zu sprechen, dürfte angesichts der wüsten Rücksichtslosigkeit, die dem Vorgang meist zu eigen ist, eine Beschönigung darstellen. Der lustvolle Raser vollzieht in aller Öffentlichkeit einen Geschlechtsakt mit der unbelebten Materie. Wer schreitet ein?
Es gibt auf der Erde sieben Milliarden Menschen, und wenn jeder von ihnen ein Auto besitzt, wird es ungemütlich – das hat sich herumgesprochen. Das Autofahren bedeutet einen fundamentalen Verstoß gegen die Idee der Gleichheit: Nicht jeder darf es tun, sondern nur die Erwählten. Alle sehnen sich nach Auto-Mobilität, und ebendarum wäre nichts fataler, als wenn die Sehnsucht sich erfüllte. Autofahren ist ein allgemeines Recht, das bei Strafe des Untergangs nicht allgemein werden darf.
Hermann Hesse lässt im »Steppenwolf« jemanden die simplen, doch visionären Worte sagen: »Ja, es gibt eben gar viele Menschen auf der Welt. Früher merkte man es nicht so. Aber jetzt, wo jeder nicht bloß Luft atmen, sondern auch ein Automobil haben will, jetzt merkt man es eben.«
Abends auf dem Heimweg vom Büro. In der Friedrichstraße leuchtet mir, festlicher als sonst, die gläserne Fassade eines Autogeschäftes entgegen. Durch die Scheiben sehe ich Männer in dunklen Anzügen und mit gedeckten Krawatten, die Häppchen essen und Sekt trinken. Ein neues Luxusmodell wird vorgestellt! Da stehen sie in fachsimpelnden Grüppchen beisammen, werfen kennerhafte Blicke unter Motorhauben, stecken den Kopf durch herabgelassene Seitenfenster, streifen mit den Fingern über hölzerne Armaturenbretter und lederbezogene Lenkräder. Es handelt sich, nach den Gesichtern zu schließen, um intelligente Vertreter des modernen Deutschland, studiert und erfolgreich und gesättigt. Tagsüber haben sie hart gearbeitet, jetzt widmen sie noch eine Stunde oder zwei den Dingen, die im Leben wirklich zählen und für die all das Rackern sich lohnt.
Im Holland der Renaissance traf sich die bessere Gesellschaft in feierlichem Rahmen, um neu gezüchtete, eben aufgeblühte Tulpen zu bewundern. Es war die Zeit des sogenannten Tulpenfiebers: Die sinnliche Freude an Blumen, die Bewunderung einer Blüte in ungewöhnlichen Farben, das Auskosten eines erlesenen, von Meistergärtnern komponierten Dufts wurde zum gesellschaftlichen Spiel, und mancher zahlte für eine Tulpenzwiebel ein kleines Vermögen … Über derlei staunen wir heute nicht weniger, als es künftige Jahrhunderte tun werden, wenn sie von einer Auto-Präsentation hören.
Der italienische Dichter Filippo Marinetti verkündete 1909 in seinem viel zitierten »Futuristischen Manifest«: »Ein Rennautomobil, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen (…), ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.« Mit derlei konnte man damals noch Anstoß erregen, denn die Grenze zwischen Kunst und Alltagsgegenständen, zwischen Oben und Unten war noch intakt; sie brauchte nicht einmal verteidigt zu werden, denn niemand kam auf den Gedanken, sie anzugreifen. Heute sind in bedeutenden Kunstmuseen Autos, Fernsehapparate und andere Emporkömmlinge aus niederer Sphäre zu besichtigen; sie beanspruchen denselben Rang wie Gemälde und Skulpturen, und niemand kommt auf den Gedanken, sie hinauszuwerfen. In früherer Zeit fanden Utensilien des täglichen Lebens, vorausgesetzt sie waren einige Jahrhunderte alt, den Weg ins Völkerkundemuseum; heute öffnet man ihnen, kaum dass sie produziert worden sind, die Tore der Kunsthallen.
Friedrich Hebbel besuchte 1844 die Pariser Industrie-Ausstellung. Über die dort präsentierten technischen Geräte notierte er in sein Tagebuch: »Alle diese Dinge sind mir nicht allein gleichgültig, sie sind mir widerwärtig. Je mehr sie sich der Kunst nähern, umso mehr ekeln sie mich an. Es ist ganz dasselbe Gefühl im Künstler, das man als Mensch hat, wenn man den Affen sieht.«
»Ich glaube an das Pferd, das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung.« So Kaiser Wilhelm der Zweite gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Hier nicht spöttisch zu lächeln, über die Blindheit des auch sonst gelegentlich irrenden Mannes den Kopf zu schütteln, fällt schwer. In jeder Sammlung verfehlter Prognosen dürfte sein Ausspruch einen Ehrenplatz in Anspruch nehmen. Und doch: Man sollte sich nicht verführen lassen, wegen einer misslungenen Vorausschau in die Arroganz des Rückblicks zu verfallen. Der vollständige Sieg, den das Auto errungen hat – war es wirklich möglich, ihn vorauszusehen? Konnte man sich vor hundert Jahren die Verheerungen ausmalen, die das Auto den Menschen, den Städten, den Landschaften zufügen würde? Aus dem Zitat Wilhelms spricht die Treuherzigkeit des deutschen Menschen, der tapfer die Hoffnung aufrechterhält, dass die Dinge nicht so schlimm kommen werden, wie sie sich abzeichnen. Das kennt man.
Oswald Spengler stellte dem Automobil eine düstere Prognose. Er beobachtete den anschwellenden Verkehr auf den Straßen und gelangte zu dem Schluss, das Auto habe »sich in den großen Städten durch seine Massenhaftigkeit um die Wirkung gebracht«. Es sei zum Stillstand verurteilt und besitze keine Zukunft. Heute wissen wir, dass Spengler mit seiner Prognose wenig Glück hatte: Das Auto ging ebenso wenig unter wie das Abendland. Die Menschen nahmen den Stillstand ihrer Gefährte nicht hin, sondern verfielen auf den Ausweg, mehr und breitere Straßen zu bauen. Dabei gingen sie mit einer Entschlossenheit zu Werke, wie man sie müden Abendländern, die ihrem Untergang entgegentaumeln, schwerlich zugetraut hätte. Sie schlugen Schneisen durch ihre jahrhundertealten Städte und verdarben noch die malerischsten Viertel mit Asphalt und Gestank. So kam es, dass am Ende doch etwas unterging, die schönen Städte nämlich. Aber auch dies sah Spengler nicht voraus.
Wer in Russland Auto fährt, sieht am Straßenrand oft Blumengebinde liegen, die an die Toten von Unfällen erinnern, sogar Kreuze oder veritable Grabsteine, die mit Fotografien der Verstorbenen geschmückt sind. Aus den schwarzen Bilderrahmen werfen die Toten Blicke auf den Verkehr, ernst und leidend, als könnten sie es nicht fassen, dass noch immer Menschen sich ans Steuer setzen, obwohl sie doch durch die Kreuze gewarnt sein müssten; oder als hätten sie bereits im Augenblick des Fotografiertwerdens geahnt, welches Ende sie einmal nehmen würden. Auf der Landstraße, die von Moskau nach Kiew führt, sah ich so viele Steine und Kränze, dass der Eindruck eines Friedhofs entstand.
Die Straße als Schlachtfeld der Moderne. Der gefräßige Gott Beweglichkeit. Die Toten warnen die Lebenden, doch diese schenken ihnen kein Gehör, sind so gleichgültig und optimistisch, dem raschen Vorwärts! ergeben, wie es früher die waren, die nun warnen.
Der Kontrolleur in der Berliner S-Bahn trägt Zivil. So kann er zusteigen, ohne dass man ihn erkennt; erst wenn die Türen sich hinter ihm schließen, ruft er in ominösem Ton: »Die Fahrscheine bitte!« Wer jetzt einen solchen nicht besitzt, gerät in die Mühlen der Obrigkeit. Zwar pflege ich nicht schwarzzufahren und könnte daher gelassen sein, trotzdem sehe ich den Kontrolleur mit Unbehagen. Seine Tarnkleidung ist auf die Spitze getrieben, er ähnelt in erstaunlicher Weise, bis zur Ununterscheidbarkeit den am wenigsten Einnehmenden unter den Passagieren. So muss der zahlende Fahrgast eine doppelte Last erdulden: Erstens vermehrt sich die Zahl der Unerfreulichen, mit denen er den Waggon teilt; zweitens ist der neu Hinzugekommene im Besitz der Macht, verwandelt alle Übrigen in peinlich Subordinierte, die in ihren Taschen nach dem Fahrschein graben.
Lese ein Schild in der S-Bahn: »Schwarzfahren kostet 40 Euro. Ein Fahrschein ist günstiger.« Das klingt plausibel, entspricht dem lockeren Ton der Zeit, und natürlich stößt es mir übel auf. Dass man eine Fahrkarte zu lösen hat, scheint nicht mehr Pflicht: Jeder mag selbst wählen, ob er es tut oder lieber schwarzfährt. Allenfalls verliert er, wenn er sich für Letzteres entscheidet, ein wenig Geld.
Solche moralische Verwaschenheit mutet modern an, doch gibt es sie schon länger. Der Jurist Otto von Gierke schrieb zu Anfang des letzten Jahrhunderts: »Wenn, wie ich in der Schweiz bisweilen gesehen habe, eine Polizeiverordnung lautet: ›Schritt fahren oder 20 Franken Buße zahlen‹, so widerspricht eine solche Fassung auch der unbedeutendsten Strafnorm dem Wesen des Rechts. Das Recht stellt nicht zur Wahl, sondern heischt unbedingt.«
Was aber geschieht, wenn der Staat sich das »unbedingte Heischen« nicht mehr zutraut? Das sprachliche Lavieren, die anheimstellende Geste deuten auf einen Mangel an Selbstbewusstsein. Die Obrigkeit hält es für geraten, ihre Forderungen in einem beiläufigen und saloppen Ton vorzutragen, ähnlich einem Vater, der seine Kinder nicht durch übertriebene Strenge zum Widerstand reizen will. Moralische Gebote stehen in dem Ruf, keine Beachtung zu finden, also werden sie durch ökonomische ersetzt.
Wie reden Ganoven untereinander? Ein »Ding« lohnt sich oder lohnt sich nicht.
Zum Vorigen eine Anekdote. Im alten Rom lebte ein gewisser Lucius Verratius, der die seltsame Angewohnheit hatte, durch die Straßen der Stadt zu spazieren und entgegenkommenden Passanten Ohrfeigen zu versetzen. Er tat dies ohne Anlass, allein aus Freude an der Sache. Um unliebsame Konsequenzen zu vermeiden, ließ er sich von einem Sklaven begleiten, der den Geohrfeigten, während sie sich noch die Wange rieben, aus einem Münzbeutel das gesetzlich vorgeschriebene Schmerzensgeld von 25 As auszahlte.
Die Lautsprecherdurchsagen in den Zügen der Deutschen Bahn fallen durch sprachliche Reize auf. So hört man etwa gewisse Doppelungen, die im alltäglichen Sprachgebrauch nicht vorkommen: »Das Lok- und Zugpersonal wünscht Ihnen eine angenehme Fahrt.« Oder: »Wir verabschieden uns von den aus- und umsteigenden Fahrgästen.« Soll man über derlei mit Nachsicht lächeln? Keineswegs! In kunstvollen Stilblüten wie »die Aus- und Umsteigenden« zeigt sich ein ernsthaftes, ja geradezu verzweifeltes Streben nach Genauigkeit. Der Sprecher möchte sich nicht die kleinste Nachlässigkeit erlauben, jede Personengruppe, die in Betracht kommt, korrekt und höflich erwähnen. Die Exaktheit ist so weit getrieben, dass sie sich der Sprachspielerei annähert, und diese wiederum ist eine Vorform der Literatur, oder nicht bloß eine Vorform. Da zögere ich nicht, mein Buch beiseitezulegen und aufmerksam zu lauschen.
Ich steige am Abend in die U-Bahn ein, und ein flüchtiger Blick belehrt mich, dass die Lage so ist, wie ich sie vorausgesehen habe: Im Wagen sind ausschließlich Passagiere anwesend, die sich nicht als ermutigend bezeichnen lassen. Während ich nach einem freien Platz Ausschau halte, fange ich mein eigenes Spiegelbild in der Scheibe auf. Ohne mich sogleich zu erkennen (zu derlei bin ich fähig), stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus: Gott sei Dank, wenigstens einer fährt mit, der einen passablen Eindruck macht.
Ich vermute, dass es Leser gibt, die hier mit einem gewissen Befremden zu kämpfen haben. Zu meiner Verteidigung erkläre ich, dass ich keine Neigung zum Narzissmus besitze. Im Gegenteil, gewöhnlich richte ich einen strengeren Blick auf mich selbst als auf andere. Was mich an jenem Abend daran hinderte, die Nase über mich zu rümpfen, war dies: Wer sich in einer Umgebung, von der er sich bedrängt fühlt, innerlich zu behaupten sucht, benötigt einen Rückhalt – und warum sollte er diesen nicht in sich selbst finden? Wenn ich mir den Glauben an meine eigenen Qualitäten nicht bewahrte, wäre ich verurteilt, früher oder später unterzugehen. »Wenn es irgendjemanden gibt, auf den ich mich verlassen kann, so bin ich es selbst« – das hat nichts mit Überhebung zu tun, sondern ist ein Grundimpuls moralischen Handelns. Das Naturgesetz, wonach niemand sich am eigenen Schopf aus dem Morast ziehen kann, gilt nicht für moralische Sümpfe.
In der U-Bahn setzt sich eine junge Frau neben mich, zieht ohne Umschweife einen Handspiegel und einen Augenbrauenstift hervor und beginnt sich zu schminken. Ich stelle mir vor, wie ich ihr einen Zettel schreibe: »Sehr geehrte Unbekannte! Erlauben Sie mir folgenden Vorschlag: Ich verspreche Ihnen, nicht in Ihr Badezimmer einzudringen, und Sie verzichten darauf, die U-Bahn in Ihr Badezimmer zu verwandeln.« Die nächsten Minuten verbringe ich damit, nicht etwa den Zettel zu schreiben, sondern mir angespannte und unfrohe Gedanken zu machen. Gebieten es die Gesetze der Höflichkeit, dass man die Unhöflichkeit anderer mit gefasstem Schweigen übergeht? Besteht zwischen den Menschen eine Art sozialer Waffenstillstand, der mich hindert, anderen Passagieren selbst dann meine Meinung zu sagen, wenn ich guten Grund dazu hätte? Und sind die Vorteile, die ein solcher Waffenstillstand bietet, nicht höchst ungleich verteilt, indem die einen sich unbehelligt ihren schlechten Gewohnheiten hingeben können, während die anderen gezwungen sind, die Faust in der Tasche zu ballen? Und so weiter.
Nach einer Weile steht die junge Frau auf und verlässt mit wohlgeschminktem Gesicht die Bahn. Ich blicke ihr nach und kann den Gedanken nicht unterdrücken, dass sie ihre Zeit sinnvoller verbracht hat als ich.
Nach einem Konzert in der Berliner Philharmonie. Die Besucher strömen nach draußen, sind in animierter und festlicher Stimmung, ganz vom Musikgenuss erfüllt. Einige begeben sich zu der nahen Haltestelle, um den Bus zu erwarten; sie bilden ein distinguiertes Grüppchen auf dem Trottoir, man sieht gute Erscheinungen des Bildungsbürgertums, die angeregte Gespräche führen, die laue Luft des Abends genießen … Da nähert sich der Omnibus, und mit den Kulturmenschen geht eine bemerkenswerte Veränderung vor. Die Gespräche brechen ab, man sucht sich am Bordstein in Position zu bringen, laviert an seinem Nachbarn vorüber, hat keine Scheu, diskret die Ellenbogen auszufahren. Als die Türen des Busses sich öffnen, kommt es vollends zum Gedränge, die Leiber pressen sich, jeder will einen der wenigen Sitzplätze ergattern …
Die kulturelle Kruste ist dünn und brüchig, nicht wahr? Eben lauschte man noch einer Symphonie von Mozart oder Bruckner, jetzt kehrt man in die ruppige Alltagswelt zurück. Die Kultur ist auf den Konzertsaal beschränkt; sobald man diesen verlässt, presst man die Zähne zusammen und setzt den Kampf ums Dasein fort. Dass der kultivierte Mensch jederzeit und überall der Gleiche zu sein hat, dass er die schönen Formen der Kunst in das praktische Dasein hineintragen soll – wer weiß davon?
Den plötzlichen Umschlag vom Hohen ins Gewöhnliche, das Niederstürzen der Kultiviertheitsfassade, kann man schon im Konzert selbst beobachten, nämlich beim Applaus. Wenn das Publikum von der Musik begeistert ist, pflegt es in ein maßloses, lustvoll überzogenes, mit Bravorufen durchsetztes Klatschen auszubrechen – eine Beethoven-Symphonie wird kaum anders gefeiert als ein Tor im Fußballstadion. Solange das Orchester spielt, hält man seine Gefühle im Zaum, wahrt das Dekorum des Kulturbürgers, doch sobald der Schlussakkord erklingt, lässt man dem Hang zum Toben freies Spiel. Restbarbarei.
Die alten Griechen stehen im Ruf eines Kulturvolks, das die Welt mit geistigen Leistungen von einzigartigem Rang beschenkte. Doch zugleich begingen sie Untaten, die von monströser Rohheit zeugen und über die man noch nach Jahrtausenden erschrickt. Die Veredelungen, die das Bild der Griechen im deutschen Humanismus erfuhr, erweisen sich als zäh und hindern uns, gewisse Dinge ins Auge zu fassen, die weder gut noch wahr noch schön waren. Die Athener schufen den Fries des Parthenon und häuften Berge von Toten an. In den Kriegen, welche die Stadtstaaten gegeneinander führten, war es nichts Ungewöhnliches, dass die Sieger alle erwachsenen Männer der Gegenseite niedermachten. Die Frauen wurden in die Sklaverei verkauft, Mütter trennte man von ihren Kindern. Die Städte wurden geplündert und verwüstet, und oft blieb nichts als der sprichwörtliche Trümmerhaufen. Zuweilen fielen sogar die Pflanzen des Feindes, seine Olivenbäume zumal, in sinistrer Gründlichkeit der Vernichtung anheim.
Wie hätte sich der Schöpfer dieser Statue in einem deutschen Omnibus benommen?
Platon war nicht nur Philosoph, sondern auch Ringkämpfer. Der größte Denker der Antike nahm an zahlreichen Wettspielen teil, und es wird vermutet, dass »Platon« sein Ringername war, der sich von der Breite seiner Schultern herleitete (»platys« – breit). Den griechischen Ringkampf, Pankration genannt, hat man sich anders, will sagen um vieles grobschlächtiger vorzustellen als sein heutiges Pendant. »Man kämpfte mit jedem Teil des Körpers, mit Händen, Füßen, Ellbogen, mit Knie, Hals und Kopf, bei den Spartanern sogar mit den Zähnen. Ja, es war gestattet, dem Gegner die Augen auszudrücken (…). Beim Allkampf war ferner das Unterschlagen eines Beines erlaubt, auch durfte man Füße, Nase oder Ohren des Gegners erfassen, die Finger und Arme ausrenken, den Gegner würgen. War es einem Pankratiasten gelungen, den Gegner auf den Boden zu werfen, so konnte er sich auf ihn setzen, gegen dessen Kopf, Gesicht und Ohren schonungslos Schläge richten, ihn stoßen, ja auf ihm herumtreten. Es ist selbstverständlich, dass bei diesem rohen Kampfe die furchtbarsten Verwundungen vorkamen, ja oft hatten die Kämpfe tödlichen Ausgang.« (Franz Mezö, »Geschichte der Olympischen Spiele«.)
Die Kultur ist über einem Abgrund erbaut. Ob sie auch die Lust weckt, sich in denselben hineinzustürzen?
In deutschen Taxis läuft unentwegt das Radio, die Fahrer scheinen seichte Popmusik als Droge einzusetzen, um die Eintönigkeit ihrer Arbeit zu mildern. Wenn ein Fahrgast zusteigt, wird das Radio nicht etwa ausgeschaltet; auch die Frage, ob den Kunden das Radio störe, kommt nur in seltenen Fällen vor. Der Passagier befindet sich als Gast in einer fremden Sphäre, dringt in das rollende Zuhause eines anderen ein – also hat er nichts zu sagen. Der Kunde ist nicht König, sondern wird geduldet, und für die Duldung muss er zahlen. Wenn der Fahrer schon einen Dienst erbringt, so will er wenigstens zeigen, dass er kein Diener ist.