Kurt Lehmkuhl
Ein Sarg für Lennet Kann
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-digital.de
Gmeiner Digital
Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH
© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlagbild: © Eisenglimmer / photocase.de; © Petair – Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Simone Hölsch
ISBN 978-3-7349-9358-9
Ich muss nicht ganz bei Verstand gewesen sein, als ich die scheinheilige Frage meines Chefs ohne Ausbedingen einer Bedenkzeit bejahte. Andererseits war er halt auch mein Chef und Brötchengeber und konnte quasi kraft Amt bestimmen, was ich zu tun und zu lassen hatte.
»Kommst du mit zur Karnevalssitzung am morgigen Samstag?«, hatte mich Dr. Dieter Schulz, seines Zeichens Rechtsanwalt für Familienangelegenheiten aller Art in Aachen, an jenem Freitagabend Anfang Januar beinahe beiläufig gefragt, kurz vor unserem späten Feierabend, als schon alle anderen Kollegen die Kanzlei verlassen hatten. Schulz war unbemerkt und obendrein noch unangemeldet in mein Büro gekommen und hatte mir von hinten die Hand auf die Schulter gelegt. »Ich habe vier Karten für Do und Sabine, für mich und für dich.«
Damit war sämtlicher Widerstand, der sich zwischenzeitlich langsam in mir hätte aufbauen können, endgültig zerstört. Die beiden Frauen hätte ich nie alleine mit diesem Chaoten in der abendlichen Dunkelheit durch Aachen gehen lassen dürfen.
Also willigte ich notgedrungen in den Vorschlag ein, gegen meine Überzeugung und voller Vorurteile über den Sinn und den Unsinn im Karneval. Und über die Narretei lässt sich gerade in Aachen, wie ich in den letzten Jahren erfahren hatte, trefflich streiten; in der Kaiserstadt, in der der Orden Wider den tierischen Ernst bisweilen einen höheren Stellenwert zu genießen scheint als der internationale Karlspreis.
»Okay«, sagte ich meinem Freund und Arbeitgeber, während ich mich im Schreibtischsessel zu ihm drehte. »Ich freue mich riesig. Was wird denn gespielt?«
Das irritierte Blinzeln in seinen Augen verriet mir, dass Dieter mit meiner Bemerkung nicht viel anfangen konnte. »Bist du so blöd oder tust du nur so, Tobias?«
Eigentlich hätte sich Schulz diese dumme Gegenfrage sparen können. Er war kein Deut besser oder schlechter als ich. Es gab sogar nicht wenige Menschen, die uns bisweilen verwechselten, zumal wir beide nicht nur ziemlich gleich alt, ziemlich gleich blond, ziemlich gleich groß und ziemlich blauäugig, sondern auch noch mit Zwillingsschwestern liiert sind.
Dieter fest und mit amtlicher Beglaubigung mit Do und ich weniger amtlich und eher heimlich mit Sabine, die noch einen lästigen Ehegatten mit sich herumschleppte, der sich bislang allen juristischen Trennungsversuchen durch Dieter widersetzen konnte.
Mir machte der vorübergehende familiäre Zustand von Sabine nicht allzu sehr zu schaffen, ich konnte derzeit gut damit leben, zumal unsere Beziehung ohnehin mehr platonisch und beruflich war. Wir sahen uns während der Bürozeiten in der Anwaltskanzlei von Dieter an der Theaterstraße, ab und zu bei Dieter und Do in ihrem Reihenhaus an der Gulpener Straße, dort auch häufig beim Beaufsichtigen meines Patenkindes Tobias junior, oder halt in meiner kleinen Wohnung am Templergraben, die ich nach meiner mehrjährigen, unfreiwilligen Stippvisite in der Justizvollzugsanstalt Rheinbach nun schon seit geraumer Zeit besaß. Äußerst selten hatten wir uns auch bei ihr getroffen. Wenn Sabines Macker es wieder einmal zu bunt trieb und sie sogar in ihrem Appartement am Adalbertsteinweg belästigen wollte, dann zog die Geplagte die idyllische Zweisamkeit mit mir allemal der nervigen Einsamkeit vor.
»Ein Mann wie du, Mitte Dreißig, wird doch wohl wissen, wie eine Karnevalssitzung abläuft«, polterte Dieter los und verunsicherte mich damit. Meinte er es ernst oder wollte er mich jetzt hochnehmen? Vorsorglich schaute ich ihn mit großen Augen fragend an. »Und so etwas ist bei mir Bürovorsteher«, schimpfte der Uraachener Schulz weiter. »Doof wie Bohnenstroh und keine Ahnung vom Öcher Fastelovend.«
Ich sei ja nun auch nicht dafür eingestellt, ihn und seine Mitarbeiter über den Karneval in Aachen aufzuklären, entgegnete ich umgehend. Ich sähe meine Aufgabe darin, ihn und seine Mitarbeiter mit Arbeit zu versorgen und unseren Mandanten die Rechnungen zu servieren. Und die waren durchaus nicht unbeachtlich. Bei Erbschaftsstreitigkeiten oder Scheidungen fiel so manche Mark für unsere Kanzlei ab. Davon ließ es sich gut leben und ich musste Dieter insgeheim dankbar sein, dass er mich an diesem Leben teilhaben ließ. Ohne ihn und Do hätte ich wahrscheinlich nicht den Sprung zurück in den Alltag geschafft und hätte nicht wieder mein Jurastudium aufgenommen. Unseren Traum, einmal gemeinsam eine Anwaltskanzlei zu betreiben, den träumten Dieter und ich immer noch, und er würde in einigen Jahren auch einmal wahr werden.
Dieter winkte ab. Er wollte sich nicht von mir belehren lassen. »Mit dir ernsthaft zu reden, hat doch gar keinen Zweck. Wir treffen uns morgen um achtzehn Uhr bei mir.«
Da blieb mir nur noch eines zu sagen.
Doch Dieter kam mir zuvor. »Sabine holt dich um halb sechs ab.« Er verabschiedete sich mit dem dezenten Hinweis: »Übrigens: Der Letzte macht das Licht aus und schließt die Tür ab!«
Ich konnte ihm gerade noch ein höfliches »Viele Grüße an meine Liebste und an mein Patenkind!« hinterherrufen, da war mein Freund auch schon in Richtung Familie verschwunden.
Brav und gehorsam kam ich dem Befehl meines Chefs nach. Ich hatte gerade die Bürotür ins Schloss geworfen und den Schlüssel gezückt, als das Telefon klingelte. ›Warum lässt du es nicht einfach klingeln?‹, schimpfte ich mit mir, als ich die Tür wieder öffnete und an der Rezeption nach dem Hörer langte.
In aller Regel verhießen Anrufe in der Kanzlei am Abend und speziell am Freitagabend nichts Gutes. Meistens war der Mann durchgebrannt oder die Frau hatte Prügel bezogen oder es war wegen einer Erbschaft der Familienkrieg ausgebrochen.
Ich hatte mich schon auf ein menschliches Drama eingestellt, als ich mich mit einem mürrischen »Grundler« meldete.
»Hallo, Tobias, schön, dass ich dich noch erreiche«, hörte ich die immer fröhliche Stimme meiner Sekretärin Sabine. »Hast du Lust auf einen Abend mit mir? Dann brauche ich dich nicht morgen abzuholen.«
Der Vorschlag gefiel mir ausgesprochen gut. Ich willigte spontan ein und lehnte zugleich ihr Angebot ab, mich mit dem Wagen abzuholen. Ich wollte zu Fuß zu Sabine kommen, einige Minuten die Beine vertreten nach dem langen Bürotag.
»Dann bin ich wieder frisch«, sagte ich.
»Und zu allen Schandtaten bereit?«, fragte sie lockend.
Da wollte ich Sabine wirklich nicht widersprechen, zumal unsere gemeinsamen Schandtaten vergleichsweise harmlos waren. Wir gingen zusammen essen, tanzen, ins Kino und verbrachten die Nächte in getrennten Betten, selbst, wenn wir einmal in einer Wohnung waren. Schließlich wollten wir ihrem Noch-Macker ja nicht auch noch Argumentationshilfe leisten.
Mir war dennoch bisher unerklärlich geblieben, warum Sabine trotz allen Ärgers mit ihrem Gemahl immer noch fröhlich war.
»Das liegt an meinem optimistischen Naturell«, hatte sie mir lachend erklärt.
»Und daran, dass du ihr das Gefühl gibst, geachtet und als gleichberechtigte Partnerin gesehen zu werden«, hatte ihre Schwester Do mir einmal im vertraulichen Gespräch zugeflüstert.
Ein Kinobesuch im Elysée stand heute auf dem Programm von Sabine und mir. Den Filmtitel hatte ich vergessen, kaum dass der Streifen begonnen hatte. Mir gefiel der Film nicht besonders, mir gefiel es hingegen, dass Sabine meine Hand in ihre genommen hatte und mich festhielt.
In der Nacht in ihrem Appartement hätten wir glatt als Bruder und Schwester durchgehen können. Unsere gemeinsamen Stunden bis zum Samstagmorgen vergingen viel zu schnell.
Der große Augenblick, meine erste Karnevalssitzung in Aachen, kam immer näher. Schlichtweg von den Socken war ich, als Sabine kurz vor fünf in großer Abendgarderobe aus ihrem Schlafzimmer auf mich zutrat.
»So willst du dahin?«, fragte ich sie entgeistert.
»Aber sicher doch«, antwortete sie unbekümmert. »Immerhin ist die Sitzung ein Großereignis in einem festlichen Rahmen.« Da wären Anzug, Schlips und Hemd mit Sicherheit nicht die schlechtesten Kleidungsstücke, meinte sie mit einem spöttischen Blick auf mein Äußeres.
Im Gegensatz zu meiner Umgebung habe ich nichts daran auszusetzen, wenn ich mit Jeans und Sweatshirt bekleidet durch das Leben laufe und allenfalls noch meine schöne, abgewetzte Lederjacke trage.
»Du meinst doch nicht etwa, …?, wollte ich Sabine mit einem zweifelnden Blick fragen.
Sie nickte nur. »Das wäre dem Anlass entsprechend schon angebracht«, unterbrach sie mich. Sie lachte: »Aber lass’ es gut sein. Wenn du dich in deinen Klamotten wohlfühlst, dann ist das schon in Ordnung.« Nur ihr Schwager und mein Chef, der würde sich wahrscheinlich wie immer über mein unpassendes Erscheinungsbild mokieren und eine Bekanntschaft mit mir weit von sich weisen, vermutete Sabine. »Aber das ist dein Problem, das ist dein Problem, und das ist sein Problem.«
Sie behielt recht mit ihrer Vermutung. Schulz wollte sich zuerst weigern, mich überhaupt in seinem Daimler mit zur Karnevalssitzung zu nehmen. Erst die massive Intervention von Sabine und Do brachte ihn zur Vernunft. Auch das Argument von Do, man könne meine saloppe Kleidung durchaus als postmodernes Karnevalskostüm deuten, stimmte ihn versöhnlich.
»Dann brauche ich wenigstens keine Narrenkappe oder Pappnase mehr«, frohlockte ich.
Auf der Fahrt nach Eilendorf klärte mich mein Freund endlich über die vermeintlich unübertroffene Sitzung auf. Wie so viele Veranstaltungen fand auch die närrische Zusammenkunft des Polizei-Sport-Vereins im Saaltheater Geulen statt.
»Warum müssen wir denn ausgerechnet zu einem Sportverein und nicht zu einer Sitzung eines ordentlichen Karnevalsvereins?« Bislang hatte ich Karneval nicht als Sportart abgesehen. Aber offensichtlich hatte ich bisher den falschen Blickwinkel gehabt.
»Ich möchte zum PSV, weil der Sitzungspräsident ein ehemaliger Studienkollege von mir ist«, antwortete mein Freund. »Der Doc hat mich eingeladen.«
»Weil du eingeladen bist, muss ich leiden?«, folgerte ich prompt. Das war mal wieder typisch für Schulz. Er ließ keine Gelegenheit aus, mich zu quälen und zog sogar die Frauen mit in den Narrensumpf.
»Sei still, Tobias!«, fuhr mich Do an, die zu meiner Überraschung Partei für ihren Gatten ergriff. »Karneval gehört zum Brauchtum und ist Bildungsgut. Da kannst auch du noch etwas lernen.«
Ich zog es vor, dazu zu schweigen. Jede weitere Bemerkung hätte garantiert auch noch Sabine gegen mich auf den Plan gerufen.
Auf der nach Aachener Vorstellung längsten bis zweitlängsten Straße der Welt nach oder vor dem Adalbertsteinweg; je nachdem, ob man nämlich Eilendorf zur Stadt oder zu den unbedeutenden Vororten zählt, der Von-Coels-Straße nämlich, staute sich schon weit vor Geulen der Verkehr. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, dass sich so viele Aachener diesen organisierten Frohsinn antaten.
»Die Sitzung ist ausverkauft«, klärte mich Dieter auf. »Alle Karnevalssitzungen in Aachen sind ausverkauft.« Stolz fügte er hinzu: »Der Öcher Karneval hat ja auch viel zu bieten.«
Mangels eigener Erfahrungen zog ich es wiederum vor, diese Behauptung zunächst unwidersprochen zu lassen.
Beim Humor ist es wie beim Geschmack. Man kann trefflich darüber streiten und sollte es deshalb bleiben lassen. Manch einer konnte wohl deshalb auch darüber lachen, dass ein Karnevalsfreund mit einem Leichenwagen nach Eilendorf gekommen war. Wir hatten das Vergnügen, direkt daneben auf dem Parkplatz gegenüber dem Saaltheater den Daimler abstellen zu dürfen.
Wenn ich das Naserümpfen und die gestrengen Blicke meiner Umgebung richtig interpretierte, gab es zu dieser Sitzung nur zwei Möglichkeiten der angemessenen Bekleidung. Entweder trug der Narrenfreund die große Abendgarderobe oder das bunt neckische Kostümchen und war in diesem zweiten Falle obendrein auch noch größtenteils geschminkt. Als einzig normal gekleideter Mensch kam ich mir ziemlich unnormal in dieser Gesellschaft vor.
Kaum hatten wir uns durch den Eingang gedrängt und die drei Mäntel an der Garderobe abgegeben, da empfing uns auch schon vor dem Saal ein stämmiger, gedrungener Karnevalist, der Schulz freudestrahlend die Hände entgegenstreckte. Mit einer silbernen Pickelhaube auf dem Haupt und in eine grüne, altertümliche Polizeiuniform aus preußischen Zeiten gezwängt, begrüßte der offensichtliche Kommandoführer meinen Chef.
»Das ist Dr. Manfred Kockeroll«, stellte uns Dieter den Karnevalistenboss vor, »mein guter Freund aus gemeinsamen Studientagen in Köln.«
Freundlich reichte uns Dieters guter Freund zum Gruß die Hand und wünschte uns einen unterhaltsamen Abend. Ich konnte ihm noch nicht einmal eine Frage zum zu eng um den Bauch geschnürten schwarzen Ledergürtel stellen, da hatte sich Kockeroll auch schon von uns abgewandt und den nächsten Besuchern freudestrahlend die Hände entgegengestreckt. Vermutlich hatte er mich in seiner Begrüßungsorgie gar nicht bemerkt.
»Welche Rolle spielt der denn hier?«, fragte ich Dieter flüsternd, während wir uns auf die Suche nach dem uns zugewiesenen Tisch machten.
»Das ist der Sitzungspräsident, der jüngste, den es je in der Geschichte des PSV gegeben hat. Manfred macht das heute zum ersten Mal.« Schulz pflanzte sich auf einem Stuhl nieder und sah gelassen zu, wie ich galant unseren beiden Damen behilflich war.
Wir würden noch vier Tischnachbarn bekommen, was mir überhaupt nicht gefiel. Da waren dann bestimmt wieder so Typen dabei, die den Blick nicht mehr von den attraktiven Dekolletés meiner beiden Liebsten lassen würden. Der Abend schien wirklich zu misslingen, ärgerte ich mich schon, bevor er überhaupt begonnen hatte.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sich ein Quartett zu uns gesellte. Als Clowns kostümiert, bis zur Unkenntlichkeit grimassenmäßig geschminkt und mit dicken roten Knollennasen mitten im Gesicht grinsten die vier Typen uns frech und unhöflich an. Sie hatten eine große Tasche bei sich, aus der sie Luftschlangen holten, die sie ungefragt über den Tisch, in den Saal und über uns pusteten.
Mit lautem Trara und Tschingbum wurde das karnevalistische Spektakel eröffnet. Kockeroll marschierte unter den schmissigen Klängen einer lärmenden Kapelle und unter ständigen »Oche Alaaf!«-Rufen mit zehn Begleitern im Schlepptau durch den närrisch dekorierten Saal auf die Bühne und bezog Position in der Mitte einer erhöhten Sitzreihe auf einem Podium.
Kockeroll versprach alles Mögliche. Er begann bei guter Laune, begrüßte eine elend große Schar von Ehrengästen, ohne uns zu erwähnen, verhieß ein grandioses Programm mit Höhepunkten am laufenden Band und endete bei einem unvergesslichen Abend für jedermann.
Die Narrenschar im Saal glaubte dem Polizisten-Präses wohl, sie jubelte und applaudierte, was das Zeug hielt.
Auch wenn ich es meinen Begleitern niemals eingestehen würde, ich hatte durchaus meinen Spaß an den dann folgenden Darbietungen. Ob nun die Original Mennekrather, die Mundartgruppe Flax aus Hückelhoven, »Et Zweijestirn« aus Erkelenz oder »Et Sonneblömke« aus Wassenberg, die Auftritte reizten durchaus zum Schmunzeln, und ich erwischte mich sogar dabei, zwei- bis dreimal herzhaft zu lachen und vergnügt zu klatschen.
Nur einmal wurde meine durchaus heitere Grundstimmung getrübt, als ich ein Getränk bestellen sollte und auf meinen bescheidenen Wunsch nach einem Mineralwasser mit einem »Herrengedeck« konfrontiert wurde. »Ich will keine Drogen, weder Alkohol noch Nikotin«, beharrte ich auf meinem Standpunkt, während mir die Bedienung unbedingt ein alkoholisches Getränk aufnötigen wollte.
Ich beendete die fruchtlose Diskussion mit einem »Dann eben gar nichts«, was meine Umgebung wiederum mit Unverständnis quittierte und mir letztendlich doch das Mineralwasser einbrachte.
Mein Unmut über den Zwischenfall wurde noch größer, als mir Sabine zuraunte, bei Geulen gäbe es gar keinen Gedeckzwang. »Aber bei einer Sitzung gehört Alkohol dazu«, ergänzte sie und prostete mir mit ihrem Weinglas schelmisch zu.
Schnell war das Thema abgehakt.
»Das Programm ist zwar schön und gut«, flüsterte ich in einer kurzen Umbaupause Dieter zu, »aber kannst du mir vielleicht verraten, wo ich in Aachen Mennekrath, Hückelhoven oder Wassenberg finde?«
Das dürfe ich nicht so eng sehen, erhielt ich zur Antwort. Der Öcher Karneval wirke eben weit über die Grenzen der Stadt hinaus. »Es ist doch schön, dass es auch außerhalb von Aachen ausgezeichnete Karnevalisten gibt, die inzwischen gut genug sind, um bei uns aufzutreten.« Schulz warf einen raschen Blick auf den Programmzettel. »Jetzt kommt aber ein echtes Öcher Original.«
Mit einem dreifachen Tusch zog der Narrenchef auf der Bühne alle Aufmerksamkeit auf sich. »Und nun meine lieben Närrinnen und Narren, der absolute Höhepunkt vor unserer Pause. Erheben Sie sich von Ihren Plätzen«, forderte er auf, »und begrüßen Sie mit mir Lennet Kann!«
Ein Jubeln und Tosen, ein hundertfaches Schwenken von schwarz-gelben Papierfähnchen begann. Die Menschen waren von ihren Sitzen aufgesprungen und hüpften aufgeregt hin und her. Die Stimmung auf dem Tivoli nach einem der seltenen Siege der Alemannia konnte nicht besser sein. Und das alles wegen eines einzelnen spindeldürren, elend langen, ganz in schwarz gekleideten, alten Männleins mit einer ordensgeschmückten Brust und einem Gesicht, das von einem weißen Rauschebart verdeckt wurde.
»Hier ist er«, brüllte der Oberpolizist begeistert und laut, um sich in der enthusiastischen Menge überhaupt bemerkbar machen zu können. »Hier ist er, unser Lennet Kann!«
Es hatte den Anschein, als wollten sich die Karnevalsfreunde überhaupt nicht mehr beruhigen. Sie begannen zu singen; ein Liedchen mit einer ungewöhnlichen Melodie und mit einem mir unverständlichen Text in Öcher Dialekt. Der staksende Riese auf der Bühne hatte erst erstaunt dem vielkehligen Gesang zugehört, hatte dann die Melodie aufgenommen und begonnen, sich zu drehen und zu hüpfen.
Das Orchester stimmte ein und mit einem Fingerzeig des Schwatten war es mucksmäuschenstill im proppenvollen Saal. Der Senior, bei dem die ständige Gefahr bestand, er könne in der Mitte durchbrechen, öffnete den Mund und sang, vielmehr versuchte er zu singen. Aber das tat der Qualität seines Auftritts keinen Abbruch.
Das Publikum hing wie gebannt an den Lippen des vergreisten Derwischs und wartete nur auf sein Zeichen. Sofort fielen alle in den Refrain des Liedchens ein, den der PSV vorsorglich als Hilfestellung für Nicht-Öcher auf die Rückseite des Hinweisblattes abgedruckt hatte. »Ja, das ist Lennet, ja das ist Lennet Ka-a-a-an, ja das ist Lennet, von Oche der schönste Mann.«
Und weil’s so schön war, gab’s dasselbe noch einmal von vorne, noch lauter, noch schöner, noch begeisterter. »Ja, das ist Lennet, ja, das ist Lennet Ka-a-a-an, ja das ist Lennet, von Oche der schönste Mann.«
Der Saal tobte, der ungelenke Riese auf der Bühne konnte tun und lassen, was er wollte, die Blicke hingen an ihm, die Ohren nahmen jeden Ton auf, den er sang, ob nun bei seiner Hymne, oder beim Liedchen von Mathilde, Franz und der zerknüllten Bluse, bei dem das Publikum auch noch schunkelte.
Man war verzaubert, ganz in den Bann dieses Mannes geschlagen, dem Reiz von Lennet Kann erlegen.
Kockeroll hatte nicht übertrieben. Dieser Auftritt war tatsächlich der Höhepunkt der bisherigen Sitzung gewesen. Das Publikum hatte sich die viertelstündige Unterbrechung verdient, als Lennet Kann nach langanhaltendem Beifall, Jubelrufen, Raketen und dem dreifachen »Oche Alaaf!« die Bühne verlassen hatte.
Mit glänzenden Augen, ganz der Wirklichkeit entrückt, erhoben sich die Menschen und drängelten sich in der Pause ins Foyer. Besonders eilig schienen es dabei die vier Clowns zu haben, die bei uns am Tisch saßen und uns unverschämt anrempelten, als sie hinausdrängten. Ich verstand zwar die Begeisterung der Narren nicht, war aber fasziniert von dem Einfluss, den die Figur auf der Bühne auf die Menschen ausüben konnte.
Strahlend quetschte sich Kockeroll durch die Menge auf Dieter zu. »Na, habe ich dir zu viel versprochen? Der Lennet Kann ist einfach unbezahlbar.«
Sofort kam meine Zwischenfrage, ob denn der Narr da oben ohne Gage aufgetreten wäre, was mir einen bitterbösen Blick meines Chefs einbrachte.
Kockeroll erachtete meine Frage wohl als zu dämlich, um darauf überhaupt zu antworten. Er wünschte Dieter noch viel Spaß bei der weiteren Sitzung, warf den beiden Schönheiten an unserer Seite ein viel sagendes Augenzwinkern zu und achtete nicht auf mich, ehe er sich wieder durch die Besucherschar tanzte.
»Das ist ja wohl der letzte Schnösel«, bemerkte ich zu Dieter. »Was sind das bloß für Freunde, mit denen du dich abgibst?«
»Du bist auch so einer«, antwortete statt Dieter seine bessere Hälfte. Und darauf fiel mir nichts mehr ein.
Aber nicht nur ich verstummte für einen Moment. Mit einem dumpfen Knall wurde es stockfinster im Saaltheater. Nach einer Schrecksekunde fingen einige Frauen an zu kreischen. Ich wurde unsanft angestoßen und suchte tastend Sabine, um sie in der Finsternis festzuhalten. Ein Aufschrei ging durch die Masse, offensichtlich hatte es einen Schuss gegeben. Ein zweiter Schuss folgte und der laute Ruf nach Ruhe.
»Jeder bleibt an dem Platz, an dem er gerade steht!«, dröhnte es aus einem Megaphon. »In wenigen Minuten ist alles vorbei. Dann sind die Sicherungen wieder eingedreht.«
Beklemmend still wurde es. Ich glaubte, einen dritten Schuss gehört zu haben, wahrscheinlich draußen vor dem Saal.
Endlich wurde es wieder hell. Kockerell betrat scheinbar ruhig und gelassen die Bühne und sprach ins Mikrofon. Es habe einen Kurzschluss gegeben, behauptete er. Das Knallen sei nicht weiter dramatisch gewesen, das sei eine Folge der Versuche gewesen, die Sicherungen wieder einzuschalten.
Die Karnevalsfreunde steckten die unerwartet lange Unterbrechung offenbar gleichgültig weg. Sie erfreuten sich am Programm. Jetzt hielt die Sitzung tatsächlich das, was Kockeroll versprochen hatte. Lediglich die vier Clowns von unserem Tisch, die waren gegangen, die hatten offensichtlich die Pappnasen voll und verzichteten auf die weitere lustige Unterhaltung. Es gab Öcher Karneval pur. Die drei Domspatzen, die Atömchen, Heini Mercks, Dr. Jürgen Linden, Die Doof Nuss und wie sie noch alle hießen einschließlich des von Kockeroll als die Neuentdeckung der Session gepriesenen Mullefluppet nahmen sich und die Aachener so richtig auf den Arm.
Was mich dabei am meisten wunderte, dass die Aachener auch noch darüber lachen konnten. Diese Selbsteinschätzung hätte ich ihnen beileibe nicht zugetraut.
Nur der Polizisten-Boss auf der Bühne, der gefiel mir von Ansage zu Ansage weniger. Er wurde immer unruhiger und nervöser, verhaspelte sich ab und an und diskutierte während der närrischen Auftritte heftig mit seinen Nachbarn im Elferrat.
»Der ist im Stress«, entschuldigte Dieter Kockerolls ungewöhnliches Verhalten. »Das ist gar nicht so einfach, so eine Sitzung zu leiten.«
Kockeroll schien froh, als er das Spektakel kurz nach Mitternacht beenden konnte. Er konnte gar nicht schnell genug von der Bühne verschwinden. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls, während die Menge um mich herum begeistert umher tollte. Mit einer Einladung zum Tanzball in den Räumen des Saaltheaters machte Kockeroll mit seinen Elferratsmitgliedern die Bühne frei.
Mit der Aufforderung zum Tanz hatte Kockeroll das richtige Kommando gegeben; jedenfalls für Do, die ihren bedauernswerten Gemahl sofort aufs Parkett schleppte.
»Ich weiß, das ist nichts für dich, Tobias«, beseitigte Sabine sofort meine Befürchtungen. »Du brauchst nicht zu tanzen«, sagte sie mir besänftigend und nahm gerne und grinsend die Aufforderung eines befrackten Lackaffen an, der sich mit ihr auf die Tanzfläche wagte.
Ziemlich müde und mit dem Ohrwurm von Lennet Kann im Kopf hockte ich mich an einen Tisch und betrachtete das ausgelassene Treiben. Das war nicht meine Welt. Ich wollte meine Ruhe, meine bescheidenen vier Wände, einen Block und einen Stift. Das reichte mir zu meinem Glück. Und vielleicht noch Sabine.
Ab und zu gab es sogar jemand, der meine Schreibversuche veröffentlichte und mir ein bescheidenes Honorar fast schon verschämt auf mein Konto überwies. Auch diese Verdienstquelle hatte ich Dieter zu verdanken, der damals, wohl auch aus Eigennutz, einen Verleger für meine Geschichten gesucht und gefunden hatte. Das Schreiben war mein Hobby geblieben und zugleich ein Ventil, um den Verdruss des privaten und beruflichen Alltags abzulassen. ›Vielleicht mache ich ja einmal eine Geschichte über Lennet Kann‹, dachte ich mir.
Ich beobachtete, wie Do mit Dieter und Kockeroll an meinen Tisch kam. Sie setzten sich, und Dieter forderte seinen Studienfreund auf, zu berichten.
Doch Kockeroll zögerte. Mit einem skeptischen Blick sah er in meine Richtung. Es war wohl das erste Mal, dass er mich bewusst registriert hatte.
»Das ist Tobias Grundler«, stellte Dieter mich noch einmal vor. »Was du mir sagst, kannst du auch ihm sagen. Er ist mein Bürovorsteher, und, was noch wichtiger ist, er ist mein bester Freund.«
Kockeroll blieb unschlüssig.
Do lächelte ihn auffordernd an. Tobias ist in Ordnung, wollte sie dem PSV-Präsidenten damit sagen.
»Also gut.« Endlich rückte der Schwarz-Gürtel-Träger mit der Sprache heraus. »Lennet Kann ist verschwunden. Inzwischen vermute ich, dass er entführt worden ist. Nach dem Auftritt bei uns sollte er zu einer Sitzung nach Laurensberg fahren. Aber dort ist er nicht angekommen. Er ist spurlos verschwunden.« Kockeroll schüttelte verständnislos seinen Kopf.
»Deshalb sind Sie so nervös, Herr Doktor Kockeroll?« Ich musste Kreide gefressen haben, so höflich und zuvorkommend war ich höchst selten.
Aber Kockeroll war offensichtlich meine Höflichkeit nicht wert. Er beachtete mich nicht und blickte unsicher zu Dieter, der seufzte: »Fragen, die mein Freund Tobias stellt, sind Fragen, die ich stelle, und umgekehrt. Hast du das verstanden, Doc?«
Doc hatte verstanden und er wandte sich mir zu. »Sie müssen wissen, dass wir die Verantwortung hatten.«
Das wiederum verstanden weder Dieter noch ich.
Doch klärte uns der Doc auf. »Normalerweise ist es bei den Künstlern üblich, dass sie auf eigene Rechnung von einem Auftritt zum anderen fahren. Bei unserem Lennet Kann allerdings haben wir uns als Veranstalter verpflichtet, dass er zum nächsten Termin transportiert wird. Der Mann ist nicht mehr der Jüngste und der Transport gehört mit zum Vertrag. Erst wenn wir ihn quasi übergeben haben, erlischt unsere Verantwortung. Dann ist der Nächste dran.«
»Aha«, folgerte ich, »dann hatten Sie also in gewisser Weise eine Bringschuld für Lennet Kann?«
»Ja«, bestätigte Kockeroll. »Wir hatten für Lennet Kann ein Taxi bestellt, das nach dem Auftritt auf der Von-Coels-Straße vor dem Eingang wartete. Aber Lennet Kann ist nicht eingestiegen. Der Fahrer ist mit seinem leeren Taxi zu seiner Zentrale zurückgefahren.«
»Dann haben Sie also mit dem Taxifahrer gesprochen?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Kockeroll. »Wir haben nur einen Anruf aus Laurensberg von der dortigen Sitzung bekommen, dass man Lennet Kann vermisst.«
»Hat sich denn der Taxifahrer nicht bei Ihnen gemeldet, als Lennet Kann nicht kam?«
Der Sitzungspräsident zuckte verlegen mit den Schultern. »Der hat seine Zeit gewartet und sich dann einen anderen Fahrgast genommen. Wahrscheinlich bekommen wir jetzt noch eine Rechnung über die vergebliche Wartezeit.«
»Welche Konsequenzen hat das Verschwinden von Lennet Kann denn für euch?«, meldete sich Schulz zu Wort.
»Schadensersatz, Imageverlust. Da kann ein ganzer Rattenschwanz auf uns zukommen«, erwiderte Kockeroll, der Dieter offen ins Gesicht sah. »Aber das ist eigentlich sekundär. Lennet Kann ist verschwunden und ich befürchte, es ist ihm etwas passiert.«
»Haben Sie die Polizei eingeschaltet?«, fragte ich.
»Noch nicht«, bekannte Kockeroll. »Das werden wir aber als nächstes tun. Das mit der Entführung, das ist mir erst später bewusst geworden. Es hat ja auch Schüsse gegeben. Ein Kellner hat einen Streifschuss abbekommen, als er hinter Lennet Kann hinterher wollte, der von Clowns begleitet zum Ausgang ging. So ist es mir jedenfalls zugetragen worden. «
›Und so schien es auch zu sein‹, dachte ich mir, ohne es laut zu sagen.