Joseph Zoderer
Das Schildkrötenfest
Roman
Mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Sieglinde Klettenhammer und Andrea Margreiter
Mit einem heißen Fladenbrot aus der Backstube traten sie hinaus auf die Plaza, auf die rote, bröselige Erde voller Spalten und feiner Risse, in denen die Hitze nistete unter einem wolkenlosen Himmel. David, der junge Dorfschneider, lehnte im Türrahmen seiner Hütte, stierte sie an und rief ihnen einen Gruß nach. Sie wollten auf einem Feldweg hinunter zum Meer, ohne an Steves Wohnzelt vorbeigehen zu müssen. Beim Überqueren der Plaza sahen sie vor dem Sanchez-Haus Kinder, die hinein und heraus rannten. In der Tür stand Ivo.
Sie haben eine Jahrhundertschildkröte an Land gezogen, Tom und El Loco haben sie heute Morgen in der Flussmündung zu fassen gekriegt.
Nives und Loris gingen durch das Haus in den Garten; unter einem Mangobaum lag das Riesentier, eingesperrt und geschützt in seinem Panzer, der knapp einen Meter lang sein mochte. Die Kinder sprangen um die Schildkröte herum und ließen ihr keinen Fluchtweg, Steve lehnte an der Hausmauer, am Gürtel hing ihm ein riesiges Fahrtenmesser, das fast aussah wie ein Bajonett, El Loco versuchte den alten Herd im Hängemattenraum anzumachen, werkelte und fluchte und ließ die Kinder trockenes Bruchholz herbeischaffen; tatsächlich flackerte bald ein Feuer auf, und es kroch dicker Qualm durchs Haus. Ivo schleppte aus Quadelupes Küche einen riesigen Topf herbei, der aussah wie ein alter Waschkessel, und Jerry mischte sich ein: Can I help you. Er und Tom waren die einzigen, die Nives begrüßten; die anderen taten, als ob ihre Anwesenheit immer schon selbstverständlich gewesen wäre oder sie im Gegenteil Grund hätten, sie nicht zu bemerken. Loris klinkte die Schlaufen der Hängematte aus den Haken. Das Sanchez-Haus und vor allem der Garten waren inzwischen zum Dorfmittelpunkt geworden; am Anfang kamen die Neugierigen noch über den Rasen der Nachbarn Quadelupe und Jaime, doch nun liefen sie ungeniert durch die offenstehenden Türen, von der Plaza zum Garten und zurück. Unter dem Mangobaum aber lag noch immer die gewaltige Kröte im Grasgestrüpp, ohne den Kopf oder ein Flossenbein aus dem Panzer zu strecken, eine Festung mit feinen Linien entlang der Schildpattquadrate. Steve schlug mit einem Stock auf den Panzer ein. No, no, schrie El Loco und hüpfte mit bockigen Bewegungen zwischen dem Tier und Steve auf und nieder. Quadelupe brachte ein dünnes Seil und meinte, damit müssten sie den Kopf aus dem Panzer ziehen und abschnüren, doch Jerry stellte sich zwischen Quadelupe und El Loco und protestierte, nein, dieser Tortur könne er nicht zustimmen.
Wer redet von Tortur, ärgerte sich Ivo, wenn die Kröte nicht einmal den Kopf rausstreckt, also, bleib ruhig, Jerry, niemand steckt den Kopf freiwillig in die Schlinge.
Nives hatte sich auf das Blätterbett in Ivos Raum geschwungen, ich hol uns Zigaretten, rief Loris ihr zu und stieß vor der Tür auf Tomas, der ihm aus dem Laden gleich ein Päckchen herüberbrachte. Tom bot Nives einen Joint an, den sie schelmisch zurückwies und an Jerry weiterreichte. Plötzlich tauchte El Loco mit einem glühenden Eisen zwischen einer Zange auf und schabte damit mehrmals über den Rückenpanzer der Schildkröte.
Mann!, schrie Jerry, hör auf mit dieser Folter.
Aber in diesem Moment stieß die Schildkröte den Kopf hervor und spreizte gleichzeitig die Flossenbeine. Mit einem Satz war El Loco bei dem erstaunt dreinschauenden Steve, schob ihn zur Seite und riss seine Machete aus dem Gürtel. Mit schnellen, präzisen Schlägen hackte er zuerst den Kopf, dann die Vorderflossen und den Schwanz der Schildkröte ab. Während Ivo zwei Haken in den Türsturz schlug, schlang El Loco das dünne Seil um die Hinterflossen, machte zwei Schlaufen, und Tom und Ivo hängten das schwere Tier an die Haken. Die Schildkröte muss bis zum Abend baumeln, krähte El Loco, je länger das Fleisch ausblutet, desto besser die Suppe. Quadelupe hatte eine große Blechschüssel unter das Tier gestellt. Das Blut sei das Beste, besonders mit Essig, wiederholte sie mehrmals, Blut und Essig, das sei das Beste.
Im niedergetretenen Gras lagen der runzelige Kopf und die Flossenbeine, Loris bemerkte, wie Nives darauf starrte, als würde sie das Geschwätz und das Herumlaufen der anderen gar nicht wahrnehmen. Auch der alte Reyes hatte sich inzwischen eingefunden, er stocherte im Gras herum und riet dringend, beim Auslösen des Fleisches ja darauf zu achten, die Galle nicht zu verletzen. Tom hatte eine Flasche Tequila herbeigeschafft.
Die Tür zum Garten war wie zugehängt von dem großen Körper, Loris roch das Blut, das in die Schüssel auf der Türschwelle tropfte. Nives berührte seinen Arm, lehnte sich an ihn, er begegnete Ivos Blick und sah Tom lächeln, als Nives ihren Kopf zu ihm hochhob und ihn auf den Mund küsste. Maria aus Steves Zelt kam mit zwei Pappbechern auf sie zu: Tequila?, blinzelte sie Nives an, wir werden das ganze Dorf einladen, wer kommt, kann mit uns zwei Tage lang Schildkröte essen. Ivo nickte Loris fast gönnerhaft zu: Ein Fest für alle. Nives zog Maria mit einer Hand an sich heran und strich ihr über die Stirn, dann wandte sie sich an El Loco, der vor dem Herd kauerte: Leg Holz nach, wir brauchen sehr bald eine Unmenge heißes Wasser; schmaläugig nahm sie ihm die Machete aus der Hand, schwang sie ein paarmal über ihrem Kopf und machte dazu ein paar tänzelnde Schritte. Mit zwei, drei Hieben durchtrennte sie plötzlich ein Flossenbein und gleich darauf mit einem Schlag auch das andere, der dreißig oder vierzig Kilo schwere Rumpf des Tieres krachte in die daruntergestellte Schüssel, das Blut spritzte nach allen Seiten, auch auf Nives, ihr Gesicht war rot getupft, El Loco wollte ihr die Machete entreißen, aber Loris fing seinen Arm ab und hielt ihn einen Augenblick lang fest, bis Nives sich umgedreht und El Loco die Machete mit einem Danke zurückgegeben hatte. Quadelupe jammerte über das verschüttete Blut, der alte Reyes, der auf dem Stuhl in Ivos Zimmer thronte, entschied, dass nun der Bauchschild sofort abgelöst und das Fleisch herausgeholt werden müsse. Während Quadelupe die Schüssel mit dem restlichen Blut in eine sichere Ecke schaffte, schleppten Steve und El Loco die Schildkröte in den Garten und legten sie mit dem Rücken ins Gras, gleich neben die Brunnenröhre, unter die Loris immer wieder einen Eimer stellte, um ihn dann in den Topf über dem Herdfeuer zu gießen. Er bot El Loco eine Zigarette an, die dieser mit majestätischem Ernst entgegennahm. Während Steve sich über den Tierrumpf beugte, nahm El Loco zwei lange Züge, schnellte unerwartet jäh in die Luft und umkreiste mit wilden Sprüngen Steve, die Brunnenröhre und die Schildkröte, zuletzt zerdrückte er die Zigarette auf dem Schildpatt des Tieres. Der alte Reyes hatte sich indessen Nives genähert und ließ sich von ihr in den Garten hinausführen, obwohl er sichtlich gut zu Fuß und ohne Stock war. El Loco zog seine Machete aus dem Stoffgürtel, aber Reyes machte ihn mit seiner Raucherstimme auf Steves langes, spitzes Messer aufmerksam. Ja, nickte er, das sei das richtige für diese Arbeit.
Steve reichte dem Narren das Messer, und El Loco prüfte es, indem er seinen Blick langsam der Schneide entlang wandern ließ und es schließlich an seinem Ärmel abwischte, dann erst fuhr er mit der Spitze an den Außenlinien des Bauchschildes entlang und klappte schließlich die Hornplatte auf. Mit der Behutsamkeit eines Chirurgen löste er die Haut vom Fleisch, schälte die Masse mit blitzartigen Messerstrichen aus der schützenden Hülle und warf die schrumpeligen Fetzen hinter sich, noch flinker zertrennte er den Rumpf; Haut und Gedärme warf Quadelupe über den Zaun ihren Schweinen zu, Jerry wollte für die Galle ein Loch schaufeln, aber El Loco lachte wütend auf und zerstampfte sie mit seinen bloßen Fersen. In einem Plastikbottich, den Tomas leihweise zur Verfügung stellte, brühte Maria auf Quadelupes Geheiß das Fleisch mit heißem Wasser ab, und schließlich stellten sie das Schaff mit den Fleischbrocken unter die Brunnenröhre und ließen frisches Wasser darüberfließen. Die Hitze war unerträglich geworden, Maria sagte: Am Haken hätte die Kröte zu stinken begonnen.
Zu verwesen, verbesserte Ivo.
Und während Steve auf dem Spirituskocher Kaffeewasser zum Sieden brachte, warteten alle auf die Erlösung des Nachmittagsregens.
Komm, sagte Loris, ich zeig dir ein moorschwarzes Süßwasser, sogar El Locos Pferd trinkt dort von Zeit zu Zeit. Sie stapfte durch den Sand der Baya Escalinata hinter ihm her, und als er kopfüber in das Mündungsbecken des Baches tauchte, sprang sie hinterher. Sie war eine gute Taucherin und entkam ihm, er schwamm ein Stück gegen die Bachströmung in den immer dunkler werdenden Schatten hinein, plötzlich stürzte sie von der Uferböschung auf ihn herunter und hängte sich an seinen Hals, als wollte sie ihn sofort ertränken. Er küsste sie mit aufgerissenen Augen, bis er ohne Atem war und sie von sich wegstoßen musste, um aufzutauchen, und während er noch nach Luft schnappte, funkelte sie ihn an: Du brauchst mich nicht. Und er schrie: Nein, ich brauche dich nicht, ich brauche dich nicht, und tauchte wieder unter. Um zu wissen, dass ich lebe, brauche ich dich, dachte er, ich weiß, du würdest mir auf jeder Land- oder Schnellstraße ins Lenkrad greifen, du hast schon von Anfang an mit meinem Leben gespielt und mit deiner Angst. Der Nachmittagsregen überraschte sie noch im Bachdelta, es war ein Wolkenbruch ohne Donner und Blitz. Es rauschte und platschte, der Regen traf sie mit voller Wucht, die herunterstürzenden Wassermassen schlugen auf sie ein, sie flüchteten sich unter Jerrys Baum mit der weit ausholenden Blätterkrone; ganz nahe am Stamm konnten sie sich mit den Händen eine noch fast trockene Mulde graben, darin lagen sie aneinandergepresst und sahen in die immer dichter werdende Wasserwand: Wir haben uns ein Regengrab geschaufelt, sagte Loris und küsste sie auf die Nasenflügel.
Weißt du, warum ich hier in diesem Wasserloch liege?, fragte sie. Weil mir das nur mit einem Irren wie dir möglich ist. Eigentlich möchte ich alles ausprobieren, verstehst du, aus Neugier, und du denkst natürlich: wie naiv, aber ich pass gut auf mich auf. Sie huschte mit den Lippen über sein Gesicht, er hätte nach ihr schlagen können wie nach einer Fliege.
Eine halbe Stunde vielleicht hatte der Regen gedauert, doch der Strand war in weniger als zehn Minuten wieder trocken und sah wie gefegt aus. Weder Loris noch Nives wollten jetzt zurück zum Sanchez-Haus und wanderten in Richtung San Blas, aber die Hitze nahm so schnell zu, dass sie, als hätten sie es verabredet, in das Wasser hineinstapften mit ihren Kleidern, bis sie von der ersten Welle überschwemmt wurden.
Ich kenne und mag dein Wünschen, hörte er Nives später sagen, es ist bei mir fast genauso, du bist die einzige Person – aber ich will nicht mehr leiden.
Warum machst du es dir so schwer, Nives?, dachte er und blieb doch stumm, machte Schritte neben ihr her, einmal im Uferwasser, dann wieder im Sand. Nives redete wie in Trance: Und trotzdem kann ich nichts bereuen, im Gegenteil, ich bin mit und wegen Marcèl von Nordafrika nach Italien gekommen, er war mein erstes Glück, obwohl wir beide fast immer eher unglücklich waren, jedenfalls in Bergamo und dann in Mailand, wo er sich umbrachte. Er war schön, fast mädchenhaft, ja, er war tatsächlich beides – Mann und Frau, du kannst mich ruhig für verdreht halten, aber er war so anders als alles, was du dir vorstellen kannst. Sie schlüpfte aus ihrer Leinenbluse, zog sie sich über den Kopf: Versteh mich bitte nicht falsch, das alles ist lange her, ich erzähle dir meine kaputte Vergangenheit, die manchmal schlimmer nicht hätte sein können. Wir hatten bald kein Geld mehr, und es dauerte eine Weile, bis ich die Stelle als Assistentin bekam. Marcèl und ich wohnten in Mailand, getrennt, weil wir uns keine gemeinsame Wohnung leisten konnten, und irgendwie kam es Marcèl auch entgegen, er wohnte lieber bei dem Freund, dessen Lyrik er übersetzte; getrennt sind wir uns am nächsten, sagte er scherzhalber, aber es war sein Ernst. Er oder sein Freund fanden für mich eine Unterkunft, ich weiß nicht, inwieweit Marcèl über die Eigenarten des Hauses informiert war, es war ein Appartementhaus für alleinstehende Frauen, ich hatte ein winziges Zimmer, vermutlich duldete oder akzeptierte mich der Padrone als Alibiperson für die Behörde. Ich konnte ein und aus gehen, ohne behelligt zu werden von dem, was in diesem Haus vor sich ging, das einzige Problem war der Padrone. Die Frauen liebten, verwöhnten und beschützten mich, manchmal brachte ich ihnen Kaffee oder Getränke aufs Zimmer, ja, auch während der Arbeit, ich war ihr Mädchen, beinahe ihr Serviermädchen. Trotzdem fuhr ich jeden Morgen mit dem Lokalzug nach Bergamo und kam meist erst am Abend wieder zurück. Es war jedes Mal eine Befreiung, wenn mich Marcèl am Bahnsteig erwartete. Mit ihm zu gehen, neben ihm herzugehen war aufregend, die Leute drehten sich nach uns um.
Die Abendsonne wurde mild. Nives betrachtete Loris’ Gesicht und ließ kleine Sandstreifen auf seine Stirn, seine Wangen, seinen Mund rieseln.
Warum bist du hier bei mir?, fragte Loris, nachdem er den Sand weggeschüttelt hatte.
Weil du von meiner Vergangenheit frei bist, sagte sie, und ich dir gerade eben begegnet bin.
Ich war mit Rey zusammen, als sich Marcèl vergiftete, sagte sie plötzlich mit sehr klarer Stimme. Ich weiß nicht, ob wir unterwegs waren oder in Reys Mansarde in Mailand. Ich habe Rey in einer Diskussionsrunde kennengelernt, er war noch Architekturstudent, vor allem aber faszinierte ihn die Studentenbewegung in Italien und insbesondere die Hochburg Mailand. Ich habe Marcèl nicht mit Rey betrogen, ich merkte, dass ich zwei Menschen gleichzeitig lieben kann. Marcèl wusste von Rey, ich hatte ihm alles erzählt, er war ganz anders als Rey. Mit Marcèl zu leben war unmöglich, und doch werde ich ihn immer lieben. Ich weiß, dass er mich vor seinem Tod gesucht hat, in Bergamo und in Mailand, alle Telefonnummern, die er von mir wusste, hat er gewählt.
Loris ließ sich in den Sand zurückfallen, er wollte nichts mehr hören, obwohl er sie anspornte: Erzähl weiter.
Mit Rey bin ich durch halb Europa gefahren, und in Mailand haben wir unzählige Häuserwände rot angepinselt mit revolutionären Sprüchen: Wir wollen alles! Vogliamo tutto!
Loris hörte ihre Stimme und jedes Wort, aber er nahm den Befehlston nicht ernst, als sie sagte: Gehen wir, es wird schnell finster. Stattdessen watete er in die Ruhe des zurückflutenden Abendmeeres und sprang in den ersten Wellenkamm. Als er wieder auftauchte, schwamm Nives ruhig neben ihm, immer weiter hinaus in den schwärzer werdenden Pazifik. Später, als sie wieder Sand unter den Füßen hatten und sich aneinander drängten, sagte Nives: Es ist ein Gefühl, als hätte ich dich schon als Kind gekannt, als ich noch auf den Bäumen saß, auf der verdorrenden Plantage meines Vaters, das dritte von fünf Kindern, das sie einfach vergessen hatten, sie lachte, und lachend küsste sie ihn quer über das ganze Gesicht.
Sie folgten der Linie des Meeres, stiegen nicht die Böschung hinauf zur Dorfstraße, sie wanderten über den Sand der Baya, dann über die Muschelhalde und schließlich in scharfem Bogen zum Flussdelta der Boca. Auf halbem Wege zurück – sie waren nur mehr wenige hundert Meter von Steves Wohnzelt entfernt – zog Loris sie an sich und ließ sich mit ihr fallen, aber plötzlich wehrte sie sich, boxte mit beiden Händen hart gegen seine Brust und schaufelte ihm zuletzt Steinchen darauf – sie habe Angst vor ihm, sagte sie, und noch mehr vor sich selbst, weil sie sich so naiv auf ihn einlasse.
Die Steine schmerzten nicht, wenn Nives und er sich bewegten, es war ein Scheuern, das kaum zu hören war und das trotzdem in seinem Gehör hängenblieb.
Vielleicht, sagte sie, waren es die schwarzen Kakteen vor dem Busfenster, ich weiß es nicht, oder das zugenagelte Fenster in Hermosillo, vielleicht aber auch deine Augen, die du tagsüber nie, wie jeder normale Mensch hier, hinter einer Sonnenbrille versteckst.
In der rasch einfallenden Dämmerung stießen sie manchmal mit den Füßen hart gegen Steine. Loris umklammerte ihre Hand und versuchte in dem Zwielicht etwas zu erkennen. Die Musik war nun gut zu hören. Bevor sie an Quadelupes Küche vorbeigingen, hielt Nives ihn jäh zurück: Bleib bei mir, sagte sie, und ihre Finger verkrochen sich in seinem Haar.
Die Plaza war beleuchtet. Es hingen jedoch keine Glühbirnen-Girlanden von Baum zu Baum, sondern es war ein Feuer, das Jerry und Tom in der Mitte des Dorfplatzes in Gang hielten; von irgendwoher hatten sie drei Eisenstangen organisiert, sie in die trockene Erde gerammt und am oberen Ende zusammengebunden, an dem Gestell baumelte nun der Riesentopf. Jerry zerkleinerte mitten auf der Plaza Holzklötze und Äste, die ihm Ivo und Tom und die Kinder des Dorfes herbeischleppten. Nives und Loris traten fast unbemerkt dazu, es roch nach scharfen Gewürzen und verdampftem Essig, im Topf brodelte, kleingehackt in mundgerechte Stücke, die Schildkröte in einer duftenden Brühe.
Hallo, schrie Tom, als er Loris entdeckte. Jerry warf singend Aststücke ins Feuer, Maria tauchte aus der hellen Tür des Sanchez-Hauses in das Halbdunkel des Platzes und trug einen übergroßen Suppentopf, sie stellte ihn, kaum dass sie Nives wahrgenommen hatte, auf den Erdboden, lief auf sie zu und hängte sich an ihren Hals, danach umarmte sie auch Loris.
Wo habt ihr euch denn versteckt? Den ganzen Nachmittag haben wir auf euch gewartet, ihr müsst euch mal den Tequila-Himmel da drin ansehen, sie lachte und deutete auf das Sanchez-Haus. Loris wollte ihr den Topf abnehmen, aber sie wehrte sich: Das ist meine Haute Cuisine! Ich bringe die Blutsoße, mit Essig aufgedünstet, auf dem Benzinkocher schön aufgeköchelt, mit Margarine, die Tomas spendiert hat, und Zwiebeln und Wurzelkraut, das nur Quadelupe kennt. Sie tanzte ausgelassen mit dem Suppentopf und kippte den köstlich riechenden Inhalt schließlich in den Kupferbottich, den Jerry sofort wieder mit einem hölzernen Deckel schloss. Das Feuer erleuchtete beinahe den ganzen Dorfplatz, und obwohl keine Lautsprechermeldung die Leute informiert hatte, kamen sie nun von allen Seiten, die Plaza füllte sich, die Kinder hopsten händeklatschend um das Feuer herum. Im Sanchez-Haus waren Stuhl, Blätterpritsche und Hängematte besetzt, die Indios hockten an den Wänden, auf der Fensterbrüstung, in den Ecken und Winkeln bis zum Garten hinaus; Maria und Nives schnitten das Brot, das Tomas aus der Backstube seiner Mutter auf einem Maulesel geholt hatte, Steve lehnte mit einem Joint im Mund neben dem Plattenspieler.
Loris hörte dem alten Reyes zu, der unter dem Dach der Witwe Sanchez eine Geschichte erzählte, es war die Geschichte des sprechenden Vogels, der die Ursache dafür gewesen sei, dass der junge Reyes die Kraft hatte, auf eigene Faust das Alphabet zu lernen. Nives küsste den alten Reyes auf die Glatze und tanzte vor ihm her durch den Pritschenraum, Ivo schenkte ihm ein Quäntchen Tequila ein, Reyes trank es aus, leckte auch den Rand des Glases ab und begann von der Zeit zu erzählen, in der er in der Sonora Goldstaub gewaschen habe. Loris hörte nurmehr mit einem Ohr zu, er suchte Jerry, er wollte wissen, warum er – ach was, vielleicht wusste Jerry tatsächlich nicht, wohin Rey gefahren war.
Ivo streifte an Loris vorbei und sagte: Nimm dich in Acht – oder auch nicht –, aber du musst auf alle Fälle die Kontrolle behalten.
Tom hatte mit El Loco zu tanzen begonnen, sie hopsten eine Weile ausgelassen hin und her, und als Loris den Raum durchquerte, um in den Garten zu gehen, kreischte Tom jubelnd auf und sang: This world is so confusing –.
Jerry schuppte unter dem dünnen Strahl der Wasserleitung inzwischen die Fische ab, die der alte Reyes mitgebracht hatte. Ein Fest der Gringos für alle! Jerry schien glücklich zu sein mit seinem Fisch, er hob die Hand mit dem Messer wie zur Rechtfertigung dafür, dass er so sein Teil beitrug zu dem Fest. Ivo kam aus dem Halbdunkel, legte Loris freundschaftlich eine Hand auf die Schulter und sagte: Nun hast du, was du immer schon haben wolltest – Bananenpalmen und Mangobäume vor deiner Schlafzimmertür.
Im selben Moment hörten sie ein Motorengeräusch, als ob ein Hubschrauber über ihnen kreiste oder zur Landung ansetzte, oder Hände irgendwo endlos klatschten. Ivo zog Loris unter den Mangobaum und hielt ihm seinen Pappbecher mit Tequila hin. Loris ließ das Getränk langsam die Kehle hinunterrinnen und genoss den körperlosen Geschmack der kalten Kaktusrinde. Nachdem sich sein Freund augenzwinkernd wieder davongemacht zu haben schien, versuchte Loris durch den Garten zur Plaza hinauszukommen, ohne noch einmal seinen Schlafraum durchqueren zu müssen, er spürte jedoch sofort Ivos Hand auf seiner Schulter: Bleib auf der Plaza, amüsier dich, aber lass dir nicht einfallen, jetzt zur Bucht zu gehen und aufs Meer zu glotzen.
Tom und Maria verteilten weiße Plastikteller und das dazugehörige Besteck. Ein Geschenk von Steve, sagten sie, er habe das Zeug aus San Diego mitgebracht bei seiner letzten Fahrt. Jerry schöpfte die Fleischstücke in die Teller, er war eingekreist von esslustigen, neugierigen Kindern, Erwachsene mischten sich wenige darunter, ein paar Mütter und Großmütter der Kinder. Eine öffentliche Speisung, strahlte der Graubart. Loris schob einen Bissen zwischen die Zähne und stöhnte: Scharf!, aber er hatte sich nur die Zungenspitze verbrannt. Außerhalb des Lichtkreises, den das Feuer warf, nahm er jetzt auch Männer wahr, die an den wenigen Bäumen der Plaza lehnten oder darum herum standen, einige hockten auf dem Boden und schauten den Gringos zu, die nicht besser wohnten als sie und offensichtlich verrückt waren, weil sie aus dem reichsten Teil der Welt kamen und hier lebten wie sie, ein wenig besser vielleicht, doch kaum der Rede wert, und sie schienen unbewaffnet zu sein.
Er wollte mit Nives Schildkrötensuppe essen, kreiste um den Platz; die Männer lachten mit den Augen, veränderten aber kaum einmal ihre Körperhaltung, wenn er an ihnen vorbeikam, keiner von ihnen versuchte ihn anzureden.
Er ging ins Haus zurück, er hatte seit einer längeren Weile weder Nives noch Steve gesehen. El Loco tanzte mit bloßen Füßen über den erdigen Boden, übersprang – so schien es Loris – oft lange Musikpassagen, blieb aber doch immer im Rhythmus. Maria und Tom versuchten mitzuhalten, wohl um damit auch die anderen zu ermuntern, aber irgendwie verstellten sie El Loco stets den Raum, nur Jerry gelang es später, als Maria ihn zum Tanzen aufforderte, sich dem verrückten oder erleuchteten El Loco zu nähern, indem er die Füße in so wunderbarer Übereinstimmung mit dem Rhythmus bewegte, dass die Kinder bewundernd in die Hände patschten.
Schließlich sah er Nives und Maria vor dem offenen Fenster mitten auf der Straße tanzen, zwischen dem Sanchez-Haus und dem Laden, in dem Tomas das Licht brennen hatte. Loris sah ihnen längere Zeit zu, Maria lächelte, als wäre sie in die Luft und ihre schmalen Füße verliebt, und strahlte auch Nives an, die manchmal die Arme hochwarf und im Rhythmus wie Flügel schweben ließ. Als er vor die Tür trat, hob Nives kaum den Kopf, winkte ihm jedoch mit einer verdrehten Hand zu und tanzte weiter, und erst als er wieder im Haus war, neben dem Plattenspieler an der Wand lehnte und immer wieder einmal die Nadel aus der Leerrille hob, erst da tauchte Nives wieder auf und ließ sich neben ihn auf die Lehmerde sinken. Sie nahm seine Hand und führte sie an ihr Gesicht, presste seine Finger an ihre Wange, gegen ihre Augen, an ihren Mund und sagte plötzlich: Rey ist zurück.
Seltsam, dachte Loris, dass mir das egal ist.
Was hat das mit uns zu tun?, fragte er.
Nichts – im Grunde nichts, es ist nicht wichtig, sie begann hüstelnd zu lachen, aber es klang fast wie ein Weinen.
Wo ist er?
Wahrscheinlich da, wo vorhin der Hubschrauber runtergekommen ist, nicht weit von Steves Zelt, und dort steht inzwischen wohl auch Reys Lastwagen, ich kann’s dir später mal genau erzählen. Sie lachte wieder mit dieser verletzten Stimme.
Komm, bat sie ihn, tanzen wir, ich möchte mit dir tanzen.
Sie sah ihn mit schmalen Augen an, als nähme sie Maß an seinen Händen, seinen Schultern, seinem drei, vier Tage alten Bart, seinen Lippen, seiner Stirn, seinen in den Nacken fallenden Haaren, drückte sich im Tanzen immer mehr an ihn und sagte: Wir können heute in Tonys Hütte schlafen.
Und Rey?
Was hat das mit uns zu tun?
Inzwischen war das ganze Dorf auf der Plaza zusammengeströmt, und mit verlegenem Kichern ließ sich der eine oder andere einen Teller Suppe mit vielleicht einem Happen Schildkröte aushändigen.
In der Eingangstür zum Sanchez-Haus stießen sie auf Rey, der Nives an sein verschwitztes Hemd drückte. Sie drängelten sich zu dritt in Ivos Schlafraum; Rey schien sich erst in zwei Gedächtnisanläufen wieder an Loris zu erinnern: Der Mann in Jerrys Hütte, rief er fast fröhlich, was zu der halben Umarmung passte, in die er auch Loris kurz einbezogen hatte. Loris stieß ihn nicht zurück. Er war nur erschrocken über die Ähnlichkeit, die ihm erst hier in diesem Raum auffiel – die Ähnlichkeit mit ihm selbst.
Rey bekam von Nives einen vollen Teller Schildkrötensuppe gebracht, er löffelte ihn stehend aus. Sie aber stellte einen Tellerstapel mitten ins Zimmer, so dass ihm alle ausweichen mussten, auch Rey, und ging ohne Hast in die Hocke und lehnte sich, kaum merklich, mit der Schulter an Loris. Er spürte ihre ruhige, drängende Kraft und wusste, dass sie jetzt alles herausfordern könnte, dass sie sogar auf eine Herausforderung lauerte. Und in dieses lustvolle Nichtreden hinein dröhnten plötzlich Wortfetzen aus den Lautsprechern der Plaza, gebellte spanische Worte, die Loris nicht verstand. Aber hier, in diesem Raum des Sanchez-Hauses, schien sich niemand darum zu kümmern.
Rey kreiste um den Tellerturm. Wie habt ihr dieses Suppenfleisch aus dem Meer gefischt?, fragte er. Mit einer Schlinge, antwortete Nives, unglaublich, nicht wahr? Sie sagte es ohne jeden Spott. Von Ivos Eisenbett kam unerwartet Jerrys vibrierende Stimme: Wer die Macht will, ist geisteskrank.
Mann, seufzte Tom, gibt es noch irgendwo einen Tropfen Tequila, der sich solidarisch von Mund zu Mund reichen ließe?
Augenblick, sagte Rey, rief Nives und bat sie, eine Flasche aus dem Lastwagen zu holen: Du weißt ja, wo. Doch sie bewegte sich nicht. Vom Platz her hörte man schrille Kinderrufe, und Rey machte ein paar Schritte auf Nives zu, die noch immer neben Loris saß. Auf einmal hörten sie, dass auch aus den Lautsprechern draußen Tanzmusik kam, die in kurzen Abständen von einer schnarrenden Ansagerstimme unterbrochen wurde.
Komm, sagte Rey, und Nives schüttelte den Kopf, komm, wiederholte Rey noch einmal, und Nives ließ sich hochziehen und folgte ihm auf den Dorfplatz hinaus.
Loris drückte seine Schultern gegen die Wand, sie kann sein, was sie vielleicht überhaupt nicht sein will, dachte er, sah ihren Kopf draußen auf dem Platz da und dort auftauchen, Rey tanzte mit ihr zu diesen schwindsüchtigen, herzkranken Latinoschnulzen; Tom schaufelte die letzte Glut in eine Pfanne, trug sie ins Haus und hockte sich dann neben den alten Reyes vor die Hüttenkirche; El Loco stampfte auf der anderen Seite der Plaza einen Beschwörungstanz, kaum noch von ein paar Kindern beachtet.
Auf einmal stand Nives vor Loris und sagte: Komm mit zu Tonys Hütte. Der Dorfplatz war nun voll von Leuten, alle drängelten oder schoben sich im Rhythmus der Lautsprechermusik von einem zum anderen Ende der Plaza, sie beide zwängten sich durch den hin und her wogenden Menschenteig dieses Dorfes, das statt zum Schlafen unerwartet zum Tanzen kommandiert worden war. Mitten in der Woche, schrie ihm Nives ins Ohr, wird das Dorf zum Tanzen eingeladen, denn am Sonntag ist Präsidentenwahl – ein Ball auf dem Dorfplatz ohne eine Wahlrede!
Endlich auf der kurzen Teergasse, erreichten sie schnell Tonys Hütte, sie war unverschlossen.
Es ist alles anders mit dir, sagte Nives.
Aber du lebst mit Rey.
Sie legten sich auf den Sandboden in der Mitte der Hütte.
Ich lebe nicht mehr mit Rey, flüsterte Nives.
Du bist mit mir, aber du bist auch mit ihm, du kannst zwei Menschen gleichzeitig lieben, hast du mir erzählt.
Das habe ich dir erzählt, ja, sagte sie, und doch ist alles anders, es ist etwas mit dir, was ich nicht verstehe, was ich auch nicht verstehen will, es ist ein Gefühl, das mich erschreckt und mich lähmt, weil ich nichts dagegen tun kann, ich habe Angst vor mir und könnte mich zugleich im Spiegel und auch ohne Spiegel dafür küssen, ununterbrochen, wie eine Verrückte, ich möchte mit dir sein, bei dir bleiben, aber dann diese Angst, ich weiß nicht, ob du das verstehst, dass ich Angst habe, wenn ich dich will.