Petra Ramsauer
DIE
DSCHIHAD
GENERATION
WIE DER
APOKALYPTISCHE KULT DES
ISLAMISCHEN STAATS
EUROPA BEDROHT
Anmerkung: Bei Namen und Begriffen aus dem Arabischen wurde die in den Medien geläufigste Transkription gewählt, auch wenn diese nicht immer als „richtig“ im Sinne sprachwissenschaftlicher Vorgaben gilt. Bei den Namen von Betroffenen wird bei Minderjährigen immer nur der Vorname genannt. Bei Volljährigen wird der Familienname abgekürzt, der volle Name wird bei jenen genannt, die ob ihrer Taten als Personen des öffentlichen Interesses gelten.
ISBN 78-3-990-40384-6
Wien – Graz – Klagenfurt
© 2015 by Styria premium in der
Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG
Alle Rechte vorbehalten.
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Lektorat: Elisabeth Wagner
Covergestaltung: Bruno Wegscheider
Layout: Alfred Hoffmann
Coverfoto: IMAGO/Xinhua
1. digitale Auflage:
Zeilenwert GmbH 2015
Cover
Titel
Impressum
VORWORT
1. DSCHIHADMANIA
Warum Tausende europäische Jugendliche von der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ fasziniert sind
2. „MAMA, ICH BIN IN SYRIEN!“
Die Psychotricks des IS-Kults, seine Ideologie und wie die Rekrutierung der Fangemeinde läuft
3. APOKALYPSE NOW!
Wie der Krieg in Syrien den IS zu dem machte, was er ist: Dschihadisten-Großmacht mit Endzeitfantasie
4. ALLTAG IM ALBTRAUM
Realverfassung des Kalifats: Die Bürokratie des Terrors und der Krieg der Kämpfer
5. FRAUEN DER TAT
Die IS-Dschihadistinnen: Welche Rolle sie im Kalifat spielen und warum Europäerinnen so fasziniert sind
6. DIE PROPAGANDAKRIEGER
Das Internet als Terror-PR-Hochburg: Ein Österreicher und ein Deutscher erfinden den Pop-Dschihad
7. UNSICHTBARES TERRORNETZ
Wie der IS-Terror in Österreich, Deutschland und dem übrigen Europa Fuß fassen konnte und Einzeltäter zur größten Bedrohung werden
8. ORTE DER BEGEGNUNG
Gefängnisse sind Risikozonen weiterer Radikalisierung: Ein dänisches Modell zeigt Alternativen im Umgang mit Syrien-Rückkehrern auf
ANMERKUNGEN
Kurz bevor ich begonnen habe, diesen Text zu schreiben, hörte ich im Radio, dass die Miliz des Islamischen Staates in der syrischen Stadt Palmyra den hiesigen 82-jährigen Chefarchäologen exekutiert hat. Er wollte sie davon überzeugen, dass es ein Verbrechen wäre, die Kunstschätze dieser antiken Stadt zu zerstören. Der alte Mann wurde enthauptet und sein Torso ist jetzt an einen Pfahl im Zentrum der Stadt gebunden. Oft hatte ich in den vergangenen Monaten, während ich an diesem Buch gearbeitet habe und über den unfassbaren Horror las, ein Gefühl wie jetzt: Mein Herz rast und mein Atem stockt, weil ich es nicht fassen kann, wozu diese jungen Menschen fähig sind. Ich hoffe, ich kann Ihnen trotz meiner Fassungslosigkeit kompetente Antworten darauf liefern: warum diese Terrorgruppe nicht bloß massiven Zulauf von Jugendlichen aus Europa erhält, warum sie schon über ein Jahr ein Gebiet in der Größe von Großbritannien halten kann, welche Rolle apokalyptische Visionen spielen und vor allem, wie man das neu entstandene Terrorrisiko in den Griff bekommt. Vor allem geht es um Jugendliche, die sich von der abstrusen Welt des „Pop-Dschihadismus“ angezogen fühlen und nicht abgeschreckt werden von den unfassbaren Gräueltaten.
Heute ist auch der Todestag von Jim Foley, der ebenfalls brutal ermordet wurde. Schon deshalb, weil wir Journalisten auch direkt bedroht sind, ist dies ein sehr persönliches Buch. Es ist vor allem von meiner Wahrnehmung dieser Terrorgruppen von meinen Reisen nach Syrien, in den Irak, nach Libyen und zu den Hochburgen von Europas Dschihadisten geprägt. Um zu betonen, dass ich nicht ansatzweise den Anspruch stelle, die Wahrheit beschreiben zu können, sondern eben meine Wahrheit zu Papier gebracht habe, werden Sie häufig das Wort „ich“ lesen. Ich bin in erster Linie Reporterin und der zentrale Teil meines Berufes ist es, mitunter sehr komplizierte Zusammenhänge in lesbare Geschichten zu übersetzen. Der Konflikt in und um Syrien, eigentlich im gesamten Nahen Osten, und seine Folgen für den globalen Terror sind so unübersichtlich und bedrohlich geworden, dass viele davor zurückschrecken, sich noch mit dem Thema zu befassen. Deshalb habe ich dieses Buch behutsam geschrieben und wann immer ich es für möglich hielt, vereinfachte ich die Darstellung von Entwicklungen im Sinne dieser Lesbarkeit und Verständlichkeit. Es gibt zahlreiche Quellenangaben, die die Möglichkeit bieten, vertiefende Texte zu finden. Fast alle sind online abrufbar, die Aktualität der Links wurde vor Drucklegung überprüft (Stand August 2015).
Unser Umgang mit dem Phänomen des „Islamischen Staates“ samt seiner internationalen Terrormiliz ist noch so neu, dass heute nicht einmal ein Rohentwurf einer späteren Geschichtsschreibung vorliegt. Mit jedem Tag kommt eine Flut neuer Informationen dazu, und immer wieder gilt es, den Wissensstand anzupassen. Seit 1999 arbeite ich als Reporterin im Ausland, seit 2011 fast ausschließlich im arabischen Raum. Vor fast einem Vierteljahrhundert, 1992, habe ich meine Diplomarbeit im Fach Politikwissenschaft „Osama bin Ladens Terrorkrieg“ gewidmet. Damals gab es noch keine al-Kaida, „nur“ eine erste Generation von Gotteskriegern, die in Afghanistan kämpfte.
Seither arbeite ich vor allem als Journalistin immer wieder zu dem Thema. 2001 habe ich vom Krieg aus Afghanistan gegen die al-Kaida-Stellungen und die Taliban berichtet und recherchiere immer wieder in diesem Land. 2003 war ich im Süden des Irak, als die Invasion der USA und ihrer Verbündeten begann und Saddam Hussein gestürzt wurde. In den darauffolgenden Jahren habe ich vor Ort für mehr als ein Dutzend Reportagen recherchiert.
All dies fließt in dieses Buch ein, das hoffentlich trotz der vielen unfassbar schlimmen Details, die ich erwähnen muss, „verdaubar“ bleibt. Diese Details habe ich bewusst nicht ausgespart, denn die Wahrheit über das Unrecht, das diese Gruppe begeht, muss zumutbar sein. Schon aus Respekt vor den Opfern.
Wien, im August 2015
Über Syrien, vor allem über den „Islamischen Staat“ (IS), dessen Sympathisanten und Fans zu schreiben, führt mich als Journalistin und Autorin an viele Grenzen. Zuerst einmal an die Grenze des Erträglichen: Seit sechzehn Jahren recherchiere ich in Krisen- und Konfliktgebieten. So gut es geht, musste ich mich daran gewöhnen, nach Bombenanschlägen die Toten und Verwundeten zu sehen, mit Folteropfern zu reden, mit Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden. Mittlerweile kann ich dabei ruhig und empathisch bleiben und professionell als Reporterin agieren. In Syrien allerdings gab und gibt es Momente, in denen ich fast scheitere. Mit Ausbruch der Revolution 2011 und dem darauf folgenden Bürgerkrieg setzte sich eine Spirale fürchterlicher Gewalt in Gang, die ich bei meinen Reisen in das Kriegsgebiet mit jeder neuen, horrenden Drehung erlebe. Menschen, die ich interviewte, sprachen nicht nur mit mir, manchmal brüllten sie mich an, etwa nach ziellosen Bombenangriffen auf die Stadt Aleppo durch die Armee von Baschar al-Assad. „Wie könnt ihr das zulassen? Wieso?“ Es waren Väter, die neben ihren eben getöteten Kindern standen, deren Blut in den Staub sickerte. Und ich stand daneben und zitterte. Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Weil ich eben noch die Kinder beim Spielen gesehen hatte, in Fußballdressen, lachend. Weil ich Angst hatte: vor der nächsten Bombe, vor den Insassen des nächsten Autos, die es vielleicht darauf angelegt hatten, mich zu entführen. Stück für Stück rückte ich selbst ins Visier. Journalisten gelten als „wertvolle Beute“ für die Terrormilizen. Lösegeld in zweistelligen Euromillionen sind sie wert. Oder sie werden brutal ermordet, dabei auf „IS“-Propagandavideos global vorgeführt.
Dieser Konflikt schien und scheint aussichtslos. Mit geradezu entfesselter Gewalt agieren in Syrien alle Konfliktparteien, besonders aber die Miliz des IS. Mit dem Elend als Nährboden wurde sie von einer von vielen Rebellenfraktionen zur globalen Terrorgroßmacht. Im Juni 2014 rief der Führer des IS das „Kalifat“ aus, das sich mit Stand Sommer 2015 – dem Redaktionsschluss dieses Buches – auf die Hälfte Syriens und weite Teile des Irak erstreckt. In der Region, die etwa die Größe Großbritanniens hat, leben etwa acht Millionen Menschen. Dazu schlossen sich in über zwanzig Ländern Terrorgruppen der Organisation an, gliederten sich dem „Kalifat“ ein. In Libyen hielt im Sommer 2015 eine „Filiale“ des IS mehrere Städte und regierte hier mit derselben Grausamkeit wie ihre Verbündeten in Syrien und im Irak. Wie brutal sie agieren, kann jeder und jede via Internet täglich mitverfolgen. Mit modernstem Equipment und Medien-Know-how werden Propagandafilme und Fotos produziert, die steinzeitliche Barbarei als Errungenschaft im Namen einer Religion vermarkten, Massenexekutionen zeigen und lächelnde „Gotteskrieger“, die stolz darauf sind, zu morden.
Dieses Material zu sichten bedeutet für mich, einen Blick in menschliche Abgründe zu tun. Die rituelle Tötung von Journalistenkollegen bekomme ich da vorgeführt. Oder Kreuzigungen. Kinder, wie sie die Leichen der Exekutierten auf den öffentlichen Plätzen anstarren. Den blutenden Stumpf einer amputierten Hand eines Diebes, der Rest des Armes noch in einen azurblau lackierten Schraubstock gezwängt. Ein Maschinengewehr, das eine Frau stolz neben ihr Baby in den Kinderwagen legt, die ersten Betonklötze, die während einer Steinigung auf eine Frau geschleudert werden. Ihre Schreie.
„Das Fürchterlichste, was bisher geschehen ist, war diese Steinigung“, erzählte mir ein junger Mann, der in der Hauptstadt des Kalifats, der syrischen Stadt Raqqa, lebt und mir unter Lebensgefahr half, die Hintergründe solcher Videos zu verstehen: „Eine Frau namens Fadda soll ihrem Mann untreu gewesen sein. Sie haben sie auf einen Platz in der Nähe des Sportstadions gezerrt. Ein Mann las das Urteil vor: Nach den Gesetzen Gottes müsse diese Ehebrecherin gesteinigt werden. Mit einem Lastwagen brachten sie schwere Steine. Viele waren da. Hundert oder so. Aber von den Menschen aus Raqqa nahm niemand einen Stein. Da brüllten die Milizen herum. Aber die Leute rührten sich nicht. Nur die ausländischen Kämpfer griffen zu. Sie lachten, als sie die Steine warfen. Mein Freund Mohammed war dort. Wie Tiere, sagte er, hätten sie sich benommen. Und er sei starr geworden. Er habe sich gefühlt, wie wenn seine Organe zu Eisklumpen geworden wären. An diesem Abend war es heiß, 40 Grad. Aber Mohammed glaubte zu erfrieren.“1
Wie der Mann betonte, zählen zu den besonders brutalen Mitgliedern der Miliz Jugendliche, die aus Europa nach Syrien und den Irak ziehen, um sich als folternde und kaltblütige Gotteskrieger zu profilieren. Seine Beobachtung deckt sich mit vielen anderen Augenzeugenberichten. Und so stoße ich hier an meine nächste Grenze: Es ist schlicht unfassbar, warum sie das tun: Wieso stürzen sich junge Europäer in Kampfmontur auf wehrlose Menschen, werden zu Selbstmordbombern in irakischen Städten und verschlimmern damit das Leid in der Krisenregion, treiben noch mehr Menschen in die Flucht? „Hier in Europa geboren zu sein kommt einem Lottosechser gleich“, betont Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary, der in einem Buch Schicksale von Flüchtlingen aufzeichnete, die versuchen, in klapprigen Booten übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen.2 Viele stammen aus Syrien, von wo laut Angaben der Vereinten Nationen im Sommer 2015 bereits die Hälfte der Bevölkerung im In- und Ausland auf der Flucht war. So wie Husam, ein Teenager aus Raqqa. Er würde Karim El-Gawharys Aussage, wie Millionen andere Menschen, sofort unterschreiben. Drei seiner Finger wurden von Schergen des IS amputiert, weil er eine Zigarette geraucht hatte. Husam gelang die Flucht nach Österreich und dann in Wien in einer Wohngemeinschaft unterzukommen. Hier zu sein nennt Husam „Glück“. Andere Jugendliche, die in demselben Wien leben – oder leben könnten –, werfen dieses „Glück“ weg, verbrennen ihren EU-Pass und machen daraus ein weiteres der unzähligen IS-Propagandavideos.
Dies tat im März 2013 auch der damals 28-jährige Mohammed Mahmoud. Er zündete seinen Pass an und quasselte dazu wilde Terrordrohungen in die Kamera. Er ist in Österreich geboren und aufgewachsen, seine Eltern stammen aus Ägypten. Seit dem Sommer 2014 dürfte er in der Hauptstadt des Terrorstaates für Propaganda in Europa zuständig sein. Bereits 2007 war er in Österreich als Drahtzieher der „Globalen Islamischen Medienfront“ verurteilt worden. Schon damals hatte er sich als PR-Mann in Sachen Terror positioniert und dürfte seine Zeit im Gefängnis dazu genutzt haben, am Konzept globaler PR-Offensiven zu arbeiten. Im vierten Kapitel dieses Buches analysiere ich, warum er so „erfolgreich“ sein konnte und wie er zu einer der führenden Figuren des IS wurde.
Möglicherweise ist es ein grundlegender Fehler, „nur“ wegen der Terrorbedrohung durch den IS vor Figuren wie diesem Mohammed in Panik zu geraten. Tausende Europäer und Europäerinnen haben sich der Gruppe angeschlossen. Hunderte kehren und kehrten bereits zurück: Das macht Angst. Aber ebenso gefährlich scheint es zu sein, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Zehntausende mehr oder weniger heimlich mit der Gruppe solidarisieren und mitten in Europa Pläne schmieden, den „Heiligen Krieg“ – den Dschihad – hier auszutragen.
Dieser Begriff kursiert mittlerweile geradezu inflationär in der Alltagssprache, wobei ihn viele Muslime ganz anders verwenden würden. Vereinfacht lässt sich Dschihad folgendermaßen definieren: Im islamischen Religionsverständnis gibt es den „großen“ und den „kleinen Dschihad“. Dabei bezeichnet der „große Dschihad“ den inneren Kampf eines Menschen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, sich gegen Verlockungen zu wehren, die einen von einem tugendhaften Weg abbringen. Mit dem „kleinen Dschihad“ ist der bewaffnete Kampf gemeint, der unter bestimmten, in islamischen Rechtsquellen sehr klar definierten Voraussetzungen zur Verteidigung von Muslimen geführt werden darf. Den Krieg, den der IS führt, würde deshalb kaum ein Muslim als „legitimen Dschihad“ bezeichnen.
Der Begriff hat sich aber verselbstständigt und beschreibt als „Dschihadismus“ eine Strömung des ultrakonservativen Islam, die jegliche Abweichungen von ihrer strengen dogmatischen Lehre als Blasphemie verurteilt, die Welt in Schwarz und Weiß einteilt und sich mit ihr im Kriegszustand befindet. Das Feindbild sind die „Kuffar“ – die „Ungläubigen“. Es ist ein Wort, das in vielen Statements von IS-Anhängern vorkommt und zentral deren Ideologie beschreibt. Es ist ein Weltbild, das von so viel Gewaltbereitschaft, Hass und Fanatismus geprägt ist, dass selbst die berüchtigte Terrororganisation „al-Kaida“, aus deren Reihen die Gruppe hervorging, sich von ihr lossagte.
Doch der IS ist schon lange mehr als nur eine weitere Terrorgruppe. Es ist ein Staat, eine Ideologie und zu einem beträchtlichen Teil eine Protestbewegung von Jugendlichen. Er hat ein Paralleluniversum aufgebaut – vor allem online. Die Gruppe verfügt über ein eigenes Branding und Merchandising. Ihre Insignien werden zum Logo, das auf T-Shirts, Kaffeetassen und Baseballmützen prangt. Wichtige Werbeträger der Bewegung, quasi ihre Ikonen, sind die ausgereisten europäischen Dschihadisten, besonders Frauen, die sich dem IS anschließen. Nur warum scheint es für viele Jugendliche, die in Europa aufgewachsen sind, trendig, sich mit den Codes einer Terrorgruppe zu schmücken, die Menschen quält, ermordet und brutal erniedrigt?
Als ich begonnen habe, an diesem Buch zu schreiben, hat sich vermutlich fast jeder irgendwann einmal diese Frage gestellt. In Österreich sorgten damals, im Frühling 2014, die Abschiedsbriefe der beiden sogenannten „Dschihad-Bräute“ für Aufregung: „Sucht nicht nach uns. Wir dienen Allah und werden für ihn sterben.“ Diese Worte hinterließen die 16-jährige Samra und die 15-jährige Sabina3 ihren Eltern und machten sich aus Wien gen Syrien auf. Die Fotos der Schülerinnen kursierten weltweit: in westlicher Kleidung mit langen offenen Haaren. Lebensfroh, modern, fröhlich. Sie waren vielleicht nur zwei Mädchen, die sich in eine Idee verrannt hatten, sich dabei selbst überholten und nicht mehr den Weg zurück fanden. Anhaltspunkte wie das Geschmiere von „I love al-Kaida“-Slogans auf die Wände der Klassenzimmer hatten wenige Monate zuvor den Schuldirektor ihrer Schule auf den Plan gerufen. Gespräche mit Eltern, Versuche, sie zu disziplinieren, halfen nicht. Vielleicht war es nur eine hochgradige pubertäre Verirrung. Nur ändern solche Motive nichts daran, dass sie zur Avantgarde einer gefährlichen Bewegung hochstilisiert wurden.
Viel hatte die PR-Abteilung des IS nicht zu tun, um aus ihnen Ikonen zu machen. Da halfen viele westliche Medien unfreiwillig, aber tatkräftig mit. In großen Lettern und mit ganzseitigen Fotos wurde die äußere Metamorphose der Teenager – aus den Slim-fit-Jeans in den schwarzen Umhang, der Niqab – illustriert. Es wurde und wird übersehen, dass solche Geschichten nicht nur empört rezipiert werden, sondern von manchen Lesern – und vor allem Leserinnen – als Bestätigung einer Ideologie verstanden werden. Jede unreflektierte Schlagzeile, jedes Titelbild aus den Archiven des IS verstärkt deren Botschaft. Es sei so vor allem eine Form der Jugend-Protestbewegung geworden: „Der Punk des 21. Jahrhunderts trägt eine Niqab“, sagt Olivier Roy, Professor an der Universität Florenz und Autor zahlreicher Bücher zu islamistischem Extremismus. Er will das Phänomen IS nicht vorrangig als religiösen Wahn, sondern als neuen Kult definieren: „Die Fans haben ihre eigene Ausdrucksweise, einen eigenen Dresscode.“ Maßgeblich sei dabei das Image: „Sie wollen Helden sein, darum ist die Darstellung ihrer Vertreter in den Medien besonders brisant.“4
Jene, die nach Syrien ausreisen, werden so zum doppelten Problemfall: Die Verrohung durch den Alltag im IS, die Ausbildung zu Terrorkämpfern kann selbst aus harmlosen, sozialromantischen Verirrten indoktrinierte Extremisten machen, die nach ihrer Rückkehr ein gewaltiges Risiko darstellen. Die pausenlose Selbstdarstellung in Heldenpose nährt dazu einen Mythos und wird zur Werbesendung für die Gruppe. Anders als die „al-Kaida“, die sich als elitäre Vorhut empfand, will der IS eine Massenbewegung sein. Die Faszination der Gegenkultur des Dschihad sei ein viel größeres Problem, als man vermuten würde, betont Nazir Afzal. Der ehemalige britische Staatsanwalt ortet eine regelrechte „Dschihadmania“: „Buben wollen so sein wie die IS-Kämpfer, genauso wie die Mädchen. Sie bauen ein Image auf, das sie wie ein Magnet anzieht, glamourös erscheint.“ Dabei sei die Realität eine gänzlich andere: „Es sind narzisstische mordlüsterne Cowboys. Dieses Bild sollten wir in der Öffentlichkeit vermitteln, nicht jenes von Popidolen.“5
Diese Forderung zeigt mir wieder eine Grenze auf: Ein Buch über die Fans des IS zu schreiben darf der Gruppe kein Forum bieten. Deshalb wird man hier vergebens nach unreflektiert übernommenen Schilderungen von „Gotteskriegern“ und „Dschihadisten-Bräuten“ suchen und ich werde auch das Material von ausführlichen journalistischen Berichten, die in Kooperation mit dem IS entstanden, nicht als Quelle verwenden. Vielmehr soll dieses Buch helfen, die Bewegung zu „entzaubern“, und den Horror, für den sie steht, offenlegen. Ihre Anhänger sollen als das gezeigt werden, was sie sind: gestrandete Existenzen. Jugendliche in Europa, die meinen, dort ihr Glück zu finden, müssen daran erinnert werden, mit wem sie gemeinsame Sache machen. Nicht mit glorifizierten Märtyrern, sondern mit Menschen, die ihre Widersacher kreuzigen; mit Männern wie Seifeddine Rezgui, der im tunesischen Badeort Sousse am 26. Juni 2015 mit einem Maschinengewehr 38 europäische Touristen eiskalt erschoss. Am Strand. Beim Baden. In der Sonnenliege.
Dem IS geht es längst nicht mehr darum, im Bürgerkriegsland Syrien und im chronisch instabilen Irak als neue Ordnungsmacht zu reüssieren oder die Utopie eines „Kalifats“, eines transnationalen Staates aller Muslime, zu realisieren. Es geht um die Errichtung einer Ordnung, die auf roher Gewalt basiert und den Rest der Welt terrorisiert. So rief Abu Mohammed al-Adnani, der Sprecher des IS, im Herbst 2015 „alle Muslime im Westen dazu auf, einen Ungläubigen zu finden und seinen Schädel mit einem Stein zu zertrümmern, ihn mit dem Auto zu überfahren, seine Ernte zu vernichten“.6 Jugendliche wie die jungen Wienerinnen Sabina und Samra glaubten in einer Gedankenwelt, wie sie Adnani vertritt, eine neue Heimat zu finden. Warum das möglich war, darum geht es vorrangig in diesem Buch. Oder wie aus einem jungen Mann, wie dem 26-jährigen Mohammed Emwazi, ein graduierter IT-Experte, der in geordneten Verhältnissen am Stadtrand Londons groß wurde, ein sadistischer Mörder wurde, das als „Jihadi John“ bekannt ist. Er sorgte dafür, dass dieses Thema mich auch an eine Grenze meines Berufes führt: Kann ich angesichts der Bedrohung durch den IS in den Regionen, wo meine Berichterstattung vor Ort am wichtigsten wäre, etwa in Syrien, noch weiterarbeiten?
Der amerikanische Journalist Jim Foley wurde von Mohammed Emwazi am 19. August 2014 enthauptet. Ich kannte ihn, ebenso die anderen Journalisten – Kenji Goto und Steven Sotloff –, die ebenso brutal getötet wurden. Steven wurde im Sommer 2014 direkt an der türkisch-syrischen Grenze entführt. Ich hatte damals nur wenige Tage vor ihm die gleiche Route genommen. Er war mit jenen Übersetzern unterwegs, mit denen ich kurz vor seiner Entführung zusammengearbeitet hatte. Um illegal nach Syrien zu gelangen, in die von Rebellen gehaltenen Territorien, ist man auf die Hilfe solcher „Übersetzer“ angewiesen. Geht etwas schief, stehen die Chancen auf Rettung gleich null. Es war Zufall, dass er und nicht ich in die Hände der IS-Miliz geraten war.
Fast dreißig Reporter waren Mitte 2014 in der Gewalt des IS. Aus Beobachtern des Konfliktes wurden Akteure. „Eine Nachricht an Amerika“ nannte der IS das Video über die Hinrichtung Jim Foleys. Er trug eine orange Uniform wie die Häftlinge aus dem US-Gefangenenlager Guantanamo. Sein Tod wurde als Racheakt auf den damals eben begonnenen Luftkrieg durch die USA und seine Alliierten gegen Stellungen des IS inszeniert. „Ich starb an dem Tag, als deine Kollegen begannen, Bomben abzuwerfen“, wurde er gezwungen zu sagen, adressiert an seinen Bruder, der US-Soldat ist. „Ihr bekämpft nicht länger einen Aufstand. Ihr bekämpft eine islamische Armee“, verkündete sein schwarz gekleideter Henker Mohammed Emwazi, bevor er begann, Jims Kopf abzutrennen.
Es waren stumpfe Klingen, die – wie immer im IS – bei den Enthauptungen verwendet werden: „Um den Schmerz zu erhöhen“, gab ein von einer kurdischen Miliz gefangen genommener IS-Kämpfer zu Protokoll. Zuvor würde die Hinrichtung in zahlreichen Scheinexekutionen mit den Gefangenen „geprobt“, wie ein Mann namens „Saleh“, der sich in die Türkei abgesetzt hatte, erzählt.7 Er behauptet, bei mehreren Videos von Enthauptungen im Hintergrund mitgewirkt zu haben. „Die Geiseln wirken auf den Videos alle so ruhig, weil sie glauben, es würde sich nur um die Drohung einer Exekution handeln“, so „Saleh“. Ein anderer Augenzeuge, der sich „Adnan“ nennt und vor seiner Flucht beim IS Gefängniswärter war, erlebte dies bei einem Häftling: „Die Kämpfer haben wieder und wieder Kinder kommen lassen, die eine Pistole an seinen Kopf richteten und abdrückten. Es wiederholte sich jeden Tag. Immer filmten sie mit. Die Pistole war nie geladen. Bis auf den letzten Tag seines Lebens.“8
„Er strich mit der Klinge zart über meinen Nacken, hörte dabei nicht auf zu reden: ‚Fühlst du es? Kalt, nicht wahr? Kannst du dir den Schmerz vorstellen, wenn es dich schneiden wird? Den unerträglichen Schmerz.‘ Dann ließ er das Schwert bis zu meiner Halsschlagader gleiten. ‚Mit dem ersten Schnitt werde ich deine Adern durchtrennen. Dein Blut wird sich mit deinem Speichel vermengen‘ sagte dieser Jihadi John dann.“ Dies sind die Erinnerungen von Javier Espinosa, einem spanischen Journalisten, der diese Scheinhinrichtungen erlebte.9 Von September 2013 bis April 2014 war er Geisel des IS, wurde dabei auch gemeinsam mit Jim Foley festgehalten. „Die ‚Beatles‘, wie wir die drei britischen Kämpfer nannten, die uns bewachten, liebten dieses Theater“, so Espinosa. „Und sie wiederholten es wieder und wieder. Emwazi suchte die exzessivste Inszenierung dieses Dramas. Dazu brachte er ein antikes Schwert, eines, das muslimische Heere im Mittelalter benutzt hatten. Die Klinge war einen Meter lang, der Griff aus Silber. ‚Mit dem zweiten Schlag werde ich deinen Nacken durchtrennen. Ab diesem Moment wirst du nicht mehr durch die Nase atmen können, nur noch durch den Mund. Du wirst lustige Gluckslaute von dir geben. Ich habe das schon erlebt, ab dieser Phase hört ihr euch alle an wie Schweine‘, sagte er, und dann: ‚Mit dem dritten Schlag des Schwertes wird dann dein Kopf abgetrennt. Den lege ich dir dann auf den Rücken.‘ Er und die anderen Aufpasser nötigten mich, dabei auf dem Boden zu sitzen, barfuß. Wenn sie mit der Schwertszene fertig waren, nahmen sie eine Pistole aus dem Halfter, eine Glock. Sie drückten sie mir gegen die Schläfe. ‚Klick.‘“ Niemals, so Javier Espinosa, hätte er den Eindruck gehabt, dass sie diese horrende Einschüchterung zufriedenstellte: „Hätte ich jemals Zweifel gehabt: Diese Szenen bestätigten, dass unsere Geiselnehmer Psychopathen waren.“
Auch der französische Journalist Nicolas Hénin war eine Geisel des IS. Von Juni 2013 bis April 2014 wurde er festgehalten und wie alle anderen gefoltert. Am brutalsten quälte ihn sein Landsmann Mehdi Nemmouche, der ihm in den Pausen der Misshandlungen Ausschnitte einer französischen Fernsehserie zeigte, die er auf seinem Smartphone gespeichert hatte. Sie lief unter dem Titel „Faites entrer l’accusé!“ („Führen Sie den Angeklagten vor!“) und handelte von Massenmördern. Dabei vertraute Nemmouche seinem Opfer an, dass es sein größter Wunsch sei, selbst einmal in der Show aufzutreten. „Der Islam ist bei diesen Leuten nur ein Anstrich für abscheuliche Gewaltfantasien“, sagt Hénin heute. „Diese Folterer haben sicher mehr Horrorfilme gesehen, als Koranverse gelesen, und im Islamischen Staat nur einen Vorwand gefunden, um ihrer Neigung zu Gewalt freien Lauf zu lassen.“10
Die beiden Journalisten zählen zu den wenigen unabhängigen Augenzeugen, die über einen langen Zeitraum mit den IS-Dschihadisten konfrontiert waren. Sie erlebten, wie sie ticken, und sammelten so – trotz der fürchterlichen Erfahrungen – wertvolle Indizien, die helfen, den IS und seine Schergen zu verstehen. Doch auch wenn beide von den pathologischen Persönlichkeitsstörungen ihrer Folterer überzeugt waren, muss man davon ausgehen, dass nicht alle Dschihadisten schlicht krank sind. Manche waren hochtalentierte Schüler und Studenten, andere notorisch arbeitslos und Kleinkriminelle. Überraschend sei, wie extrem verschieden sie wären, betonen Fachleute unisono.
„Es gibt abgebrühte Extremisten genauso wie weinerliche Jammerer“, sagt etwa Shiraz Maher vom britischen Thinktank „International Centre for the Study of Radicalization“ (ICSR). Einem innovativen Forschungszugang verdankt er tiefe Einblicke in die Gedankenwelt der Dschihadisten: Über soziale Medien stehen Shiraz Maher und seine Kollegen seit 2013 kontinuierlich mit Dutzenden ausländischen Kämpfern des IS im Dialog.11 Schon deren bloße Selbstdarstellung spiegle die große Bandbreite an Persönlichkeiten, die in den IS gezogen sind, meint er: „Manche prahlen mit Fotos, die sie in Swimmingpools in Syrien zeigen, andere in Kampfmontur. Unter ihnen gibt es abgebrühte Dschihadisten, die so schnell wie möglich als Selbstmordbomber sterben wollen, aber auch weinerliche Sozialromantiker, wie ein Mexikaner, der darunter leidet, dass er in Syrien kein Restaurant mit mexikanischer Küche findet, oder ein junger Brite, der sich kurz vor seiner Abreise nach Syrien nervös erkundigt, ob es dort eh Haargel gäbe. Es gibt Körperbehinderte, die dazu angestachelt werden, in den Krieg zu ziehen, wie auch Familien mit Kindern.“ Gleichheit sei nur ein Leitmotiv: „Es geht darum, dass alle willkommen sind, weil man dabei ist, einen Staat aufzubauen.“
Auch wenn es zuvor bereits Protostaaten radikaler Islamisten – etwa die Taliban-Herrschaft in Afghanistan von 1996 bis 2001 – gab, ist der Anspruch des „Kalifats“ singulär. Seit dem Ende des osmanischen Kalifats im März 1924 war die Notwendigkeit der Wiedererrichtung dieses gemeinsamen Staates aller Muslime das Credo sämtlicher Bewegungen des politischen Islamismus – bis zu den Dschihadisten. Der IS kidnappte diese Utopie und erhob den Führungsanspruch der Sunniten, die circa 90 Prozent aller 1,7 Milliarden Muslime stellen. Inkludiert ist aus Sicht des IS, die einzig „korrekte“ Auslegung des islamischen Lebensstils zu verwirklichen. Dazu zählt, dass Schiiten genauso als Abweichler gebrandmarkt werden, wie Sunniten, die sich gegen diese Dogmen stellen. Die Folgen sind verheerend: Das Vergehen, „falsch“ zu glauben, rechtfertigt im Universum des IS, diese Menschen zu töten.
Dazu scheint die besondere Grausamkeit der Gruppe unvergleichlich. Systematische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und Sadismus von Milizen oder einzelnen Kämpfern sind an sich – leider – keine Markenzeichen, die nur für den IS typisch wären. Doch meist folgen diese Verbrechen einer kaltblütigen, aber doch rein militärischen Logik. Sie werden als Taktik der Einschüchterung eingesetzt und besonders bei ethnischen Säuberungswellen forciert. Eines der brutalsten Videos des IS dürfte beweisen, dass dies auch Teil der Propagandalogik der Gruppe ist. Fünf Gefangene wurden im Juni 2015 in einem Stahlkäfig in einen Pool getaucht und ertränkt. Die Botschaft zum Filmmaterial: „Dies zeigt Verräter, die den Amerikanern unsere Positionen verraten haben.“
Doch die Exzesse des IS erfüllen einen weiteren Zweck: Sie sichern die maximale und kontinuierliche Aufmerksamkeit in westlichen Medien. Es ist eine Machtdemonstration, eine auf die Spitze getriebene Provokation. „Der IS inszeniert sich als barbarischer Gegenentwurf zur westlichen Zivilisation, als das andere an sich“, analysiert Professor Lia Brynjar von der Universität Oslo: „Der IS ist omnipräsent, gewann so die Propagandaschlacht gegen andere islamistische Extremistengruppen, allen voran gegen die al-Kaida, von der sich die Anhänger des Kalifats nicht bloß abspalteten, sondern sie in Syriens Bürgerkrieg massiv bekämpften. Das half, Anhänger zu finden; vor allem unter den ausländischen Kämpfern.“12 Diese sind ein wertvolles Instrument: Kanonenfutter als Selbstmordattentäter, Werbefiguren und gehorsame Diener des Kalifen, die im Kriegsgebiet keine anderen Verbindungen und Interessen haben, als „Shahid“ – Märtyrer – zu werden.
Doch es geht nicht nur um Gewalt, wenn der IS die Werbetrommel rührt. „Die Marke ist komplex. Von einer Minute auf die andere schaltet die Gruppe von Massakern auf Blumenwiesen und Schulkinder um“, so Charlie Winter von der „Quilliam Foundation“, der für eine Analyse der Kalifats-PR 1700 ihrer Videos analysierte. Der Sozialpsychologe Arie W. Kruglanski, der an der University of Maryland in den USA lehrt und seit Jahrzehnten Motive von Terroristen erforscht, meint, dass die Ordnung der IS-Welt in klare Schwarz-Weiß-Strukturen einen beträchtlichen Teil der Faszination für Jugendliche erkläre, die versuchen, einen Sinn in ihrem als gescheitert empfundenen Leben zu finden. Eine wesentliche Rolle spiele dabei seiner Meinung nach aber auch das Versprechen der unbegrenzten Verfügbarkeit von Frauen: „Jungen, oft sexuell frustrierten Männern wird ein erotisches Shangri-La als Preis für ihre Tapferkeit in Aussicht gestellt.“13
Wie wichtig dieser vermeintlich nebensächliche Aspekt ist, zeigte sich bei fast allen Gesprächen, die ich mit IS-Fans für dieses Buch führte und die ich noch genauer wiedergeben werde. Auch die britische Dokumentarfilmerin Deeyah Khan entdeckte dieses Muster in ihrer Arbeit mit Dschihadisten:14 „Meist hatten sie Probleme mit ihren Vätern, die mit der offenen Sexualität im Westen nicht umgehen können und ihre Frustration auf die Kinder übertragen.“ Alyas Karmani, der mittlerweile als islamischer Prediger arbeitet und versucht, der Radikalisierung entgegenzusteuern, war selbst zuvor in den Fängen der Gruppe und meint, dass in dem Moment, in dem Jugendliche dem IS beitreten, ihre gröbsten Probleme mit einem Schlag vermeintlich gelöst seien: Sie entkommen den Eltern, die sie unterdrücken, fühlen sich zugehörig und können – dies sei ein wichtiger Punkt – ihre Sexualität leben. „Die Teenager bekommen Waffen, posieren mit der MP, die auf den Fotos meist wie eine Penisverlängerung aussieht“, so Karmani. „Sie haben das Gefühl, sexy zu sein in der Rolle als Gotteskrieger, dass sie nun Eindruck auf Mädchen machen.“
Doch es sind nicht nur sogenannte „freiwillige Dschihadisten-Bräute“, die diese Bedürfnisse erfüllen müssen. Abu Ibrahim al-Raqqawi, ein syrischer Aktivist, der gemeinsam mit einem Dutzend Gleichgesinnter Augenzeugenberichte aus Raqqa, der Hauptstadt des IS, sammelt, dokumentierte dazu schier unfassbare Details: „Die IS-Kämpfer sind geradezu sexbesessen“ , sagt er. „Ein nicht unbeträchtlicher Teil, vor allem unter den Ausländern, lebt horrende Fantasien mit Frauen aus, die sie als Sklavinnen kaufen. Zu den meist nachgefragten Medikamenten gehört Viagra.“ Immer wieder, erzählt er, müssten Frauen im Spital behandelt werden, so schlimm seien die Verletzungen, die sie dabei erleiden.
Ist es angesichts dieser Gräuel überhaupt denkbar, den IS im Rahmen seiner Religion zu definieren? Der Großteil aller Muslime, die ich für dieses Buch interviewte, weist jede Ähnlichkeit ihrer Einstellung mit jener des IS entrüstet zurück. Nichts habe das mit dem Islam zu tun. Auch US-Präsident Barack Obama charakterisierte den IS als gegen die Religion gerichtet, als völlig neuartige Bedrohung, als „das Böse an sich“.15
Trotz – oder vielleicht wegen – des Schreckens, den dieser real existierende islamistische Extremismus verkörpert, haben sich seit 2011 – inklusive der geschätzten Dunkelziffer – circa 7000 junge Leute aus Europa den Dschihadisten angeschlossen.16 Ein Zehntel davon sind Frauen, jeder, beziehungsweise jede Sechste ein Konvertit, eine Konvertitin. In Frankreich liegt ihr Anteil sogar bei einem Viertel.17
Somit liefern die unzureichenden Versuche, den Kindern muslimischer Zuwanderer gute Perspektiven zu bieten, nur den Ansatz einer Antwort auf die Frage, was nun die Faszination des IS für diese Jugendlichen ausmacht. Aber es ist eine wichtige Spur: „Es gibt unzählige Formen der Radikalisierung“, sagte Peter Neumann, Direktor des bereits erwähnten „ICRC“, in einem Statement vor dem UN-Sicherheitsrat im April 2015. „Doch etwas geht jeder Radikalisierung für den IS voraus: das Gefühl, ausgeschlossen zu sein.“
Und dies wird mitunter nicht bloß durch die Herkunft ausgelöst, sondern auch durch eine brüchige Biografie. Lisa-Maries Geschichte beweist dies: An einem verregneten Maitag 2015 stand die Sechzehnjährige leichenblass und verschreckt in Wien vor Gericht, alles bis auf ihr Gesicht ist verschleiert.
Die Anklage gegen sie lautete: „Unterstützung einer Terrorvereinigung“, von diesem Verdacht wird sie freigesprochen. Zu offensichtlich ist, dass sie nicht kämpfen, sondern einen Sinn suchen wollte. Im Sommer 2014 war die nach einer abgebrochenen Lehre arbeitslose Wienerin zum Islam konvertiert und geriet in den Sog radikaler Kreise. Im Winter 2014 wollte sie in den „Islamischen Staat“ ziehen. Es scheint, als hätte sie ihrer Chancenlosigkeit den Ganzkörperschleier „Niqab“ umgeworfen, ihr so einen Namen, einen Grund gegeben.
„Eilt herbei! Muslime auf der ganzen Welt, kommt schnell in euren Staat!“ Am 4. Juli 2014 trat der selbst ernannte „Kalif Ibrahim“ mit diesen Worten zum ersten Mal öffentlich auf. Seine damalige Freitagspredigt in der wichtigsten Moschee der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul war eine Überraschung. Keine einzige Filmaufnahme war bis zu dem Zeitpunkt von ihm überliefert, einzig ein grobkörniger Screenshot aus einem Video kursierte. „Kalif Ibrahim“ war einst ein muslimischer Kleriker, der als Ibrahim Awad Ibrahim al-Badari 1971 in der irakischen Stadt Samarra auf die Welt kam. Unter dem Kampfnamen „Abu Bakr al-Baghdadi“ schloss er sich nach 2003 dem Terrorkrieg gegen die US-Besatzung an, ab 2010 war er Führer des „Islamischen Staates im Irak“ und so auch Boss des daraus entstandenen „Islamischen Staates“ sowie des Kalifats, das am 29. Juni 2014 ausgerufen worden war.
Ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar hatte die US-Regierung zu diesem Zeitpunkt bereits auf ihn ausgesetzt und al-Baghdadi zu einem der meistgesuchten Terroristen im Nahen Osten erklärt. Dies hatte aber auch einen kontraproduktiven Effekt: Der amtlich zum Erzfeind der USA deklarierte Iraker vermittelte mit Gestik, Outfit und Wortwahl eine klare, trotzige Botschaft.18 Seine Legitimität, als „Kalif Ibrahim“ Führer der sunnitischen Muslime zu sein, leitete er vorrangig daraus ab, aber auch von Rechtsquellen des Islam, die von führenden Klerikern allerdings völlig anders interpretiert werden. So betont Abdulfattah al-Owari, einer der führenden Experten der ägyptischen Universität Al-Azhar: „Sicher ist, dass ein Kalifat niemals durch die gewaltsame Okkupation von Land errichtet werden kann. Die Welt hat sich seit den Zeiten des Propheten Mohammed verändert, und heute gibt es Staaten mit klaren Grenzen, die zu respektieren sind.“ „Nichts im Islam würde einen solchen Herrschaftsanspruch rechtfertigen“, betont ein weiterer führender Islam-Gelehrter der al-Azhar-Universität, Ibrahim al-Hudud: „Dies gilt auch für Selbstmordanschläge, die das Leben von Unschuldigen fordern. Sie stehen im krassen Gegensatz zum islamischen Recht, der Scharia.“19
Im Universum des IS zählen solche Bedenken wenig. Die Schlagkraft des Kalifats erklärt sich vor allem daraus, dass Selbstmordattentäter als Teil eines eiskalten Kalküls im Angriffskrieg eingesetzt werden. Der „Blitzkrieg“ des Jahres 2014 war nur möglich, weil Dutzende Selbstmordattentäter die Reihen der Gegner sprengten. All dies vermittelte einen Mythos der Stärke, der noch mehr ausländische Kämpfer anzog, die darum wetteiferten, zu Märtyrern zu werden. Sprunghaft stiegen die Ausreisen ab diesem Moment an. Mindestens 20.000 Ausländer aus hundert Staaten der Welt kämpften Mitte 2015 bereits in den Reihen des IS. Da nach Beginn der Militärschläge der internationalen Anti-IS-Koalition pro Monat tausend neue Kämpfer kamen,20 blieb die Armee des Kalifats intakt, auch wenn bei Luftschlägen der internationalen Anti-IS-Allianz bis Juni 2015 laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums mehr als 10.000 ihrer Kämpfer getötet wurden.21
Neben der Zahl von 20.000 ausländischen Kämpfern, die Sicherheitskreise in Europa und den USA nennen, kursieren aber auch andere, wesentlich höhere Schätzungen. So meint Abdel Rahman vom „Syrischen Beobachtungszentrum für Menschenrechte“, dass allein in Syrien 50.000 Ausländer aufseiten des IS kämpfen würden; das russische Militär wollte Anfang 2015 gar von 70.000 wissen. Bereits Im Juli 2014 warnte der irakische Terrorexperte Hisham al-Hashimi vor „bis zu 100.000 ausländischen Dschihadisten“. In dieser Zahl sind bewaffnete Einheiten inkludiert, die nicht im eigentlichen militärischen Konflikt eingesetzt werden: Polizeieinheiten, Leibwächter, lokale Milizen in besetzten Städten sowie Paramilitärs, die zu den verschiedenen Sicherheitskräften des IS gehören.22 Wie viele es wirklich sind, weiß niemand mit Sicherheit, denn es gibt keine Chance, unabhängig im IS zu recherchieren. Dazu kommt: Meist beziehen sich die Zahlen über ausländische Dschihadisten, die in Syrien und dem Irak aktiv sind, auf alle Extremistengruppen, die in den Konflikt involviert sind. Nur drei Viertel davon – so meine Schätzung, die auf zahlreichen Analysen basiert – kämpfen tatsächlich für den IS. Andere sind für andere Dschihadistengruppen aktiv, die auch gegen den IS Krieg führen.
So muss man sich dessen bewusst sein, dass wir auch über die wahren Zahlen aus den einzelnen Staaten nur Schätzungen der jeweiligen Sicherheitsbehörden kennen. Die meisten Ausländer im Sold des IS – circa 3000 – stammen aus Tunesien, gefolgt von Saudis, die mit 2500