Gibt es auch nur einen Grund, das Reisen nicht zu lieben? Unterwegs sein, das ist Sehnsucht: nach Aufbruch, Abenteuer oder Ruhe, danach, sich zu finden oder sich endlich einmal zu verlieren. Manchmal wissen wir gar nicht, was uns treibt; und manchmal ist es der Wunsch, wieder nach Hause kommen zu wollen, der uns in die Ferne zieht. So ist der Aufbruch meist geprägt von nervöser Neugier: Was werden wir sehen, erleben, empfinden? Die Antworten auf diese Fragen sind vor allem bestimmt von den Menschen, die uns unterwegs begegnen – Menschen, die uns fremd sind, selbst wenn sie dieselbe Sprache sprechen oder zumindest die gleiche Kleidermarke tragen. Im Umgang mit ihnen merken wir: So klein ist es doch gar nicht, unser globales Dorf. Was ist höflich, was ist angebracht, wie funktioniert Miteinander, wie Konflikt? Unterwegs gelten plötzlich andere Regeln.
Ratgeber für interkulturelle Kompetenz gibt es viele, doch echtes Entdeckertum kommt mit Listen zum Do and Don’t allein nicht aus. So will Die Kunst des höflichen Reisens nicht nur vom Glück des Unterwegsseins berichten, sondern auch Hilfestellungen für gelingenden Umgang mit kulturellen Unterschieden geben. Dafür brechen die Autoren auf zu unseren europäischen Nachbarn ebenso wie ins ferne China oder nach Indien und widmen sich auch der vielleicht größten Herausforderung: dem Reisen im eigenen Land – mit Kindern. Wohin die Reise auch geht: Ein besonderes Augenmerk legt das Buch auf einen gepflegten Umgang mit fremden Hygienekulturen – sind es doch nicht selten gerade die Fragen der Hygiene im Alltag, an denen sich Respekt im Miteinander festmacht.
»Denn wer auf Reisen wirklich etwas entdecken will, der muss das Leben und die Menschen ein klein wenig mögen«, schreibt Moritz Freiherr Knigge in diesem Buch – und das bedeutet: der muss die Menschen nehmen, wie sie sind, und ihren Eigenheiten mit Respekt begegnen. Ganz in diesem Sinne geht es in diesem Buch um gepflegten Umgang unterwegs: um die Kunst des höflichen Reisens. »Hygiene als Höflichkeit«, so hat Freiherr Knigge seinen Aufsatz überschrieben und damit gleich klargemacht: Manieren zeigen sich eben und gerade auch in einem der menschlichsten Bereiche des Miteinanders.
Dass ein gepflegter Umgang auch in Armut nicht nur möglich, sondern ganz wesentlicher Bestandteil der Würde ist, beschreibt Gesa Borgeest in ihrer Reportage zu »Von Sauberkeit und Armut«. Sie hat in Indien gelebt und ein Land entdeckt, das »chaotisch, ordentlich und bunt, dreckig, sauber und würdevoll«, außer Atem und gleichzeitig gelassen, kurzum: voller faszinierender Widersprüche ist.
Derweil hat Reisejournalist Stephan Burianek ausgerechnet dort Gemeinsamkeiten gefunden, wo er nur Unterschiede erwartet hatte: im scheinbar so fremden China. Für ihn liege der Schlüssel zum höflichen Reisen im achtsamen Umgang miteinander, der wichtiger sei als starre Regeln aus klugen Handbüchern, schreibt er in seinem Beitrag »Der Wert der Harmonie«. Wer sich solcherart auf das Land einlasse, der stoße auf eine gemeinsame Basis, die beide Kulturkreise verbinde, so seine Beobachtung.
Die Nachbarn Deutschland und Frankreich dagegen trennt bei vielen Gemeinsamkeiten gerade auch die Bedeutung, die der Konversation beigemessen wird, beobachtet Autor Maximilian Dorner in »Beschreib sie mir!«. Den Franzosen ist die Konversation eine Kunst, der sie mit Leidenschaft und Leichtigkeit nachgehen. Diese Lust an der Gesprächskultur zu teilen fällt den Deutschen bisweilen schwer – sie zu verstehen schafft jedoch die Voraussetzung für gelingendes Miteinander. Hemmungen, beobachtet Dorner, sind dabei völlig unnötig: Mitplaudern darf jeder – selbst wenn er des Französischen nicht mächtig ist.
Berührungsängste sind auch in dem Ungarn unangebracht, das Autorin Petra Thorbrietz skizziert, denn hier wird mit Hingabe geküsst – auch der Fremde. Wer ohne Vorbereitung in die Donaurepublik komme, werde überwältigt von so viel Herzlichkeit, die jede Distanz überwinde – eben auch die körperliche, so Thorbrietz in »Küssen auf Ungarisch«.
Distanzierter – gerade auch körperlich – wird gepflegter Umgang im angelsächsischen Raum gelebt. Die spezifisch angelsächsische Umgangsform, schreibt Essayist Philipp Tingler in »Keep clean and carry on«, sei von »politeness, distance, and moderation« und einer besonders zurückhaltenden Körperlichkeit geprägt. Sein Tipp für alle Reisenden: Form wahren, Irritierendes ignorieren – und gelegentlich lustvoll die Regeln brechen.
Derer gibt es übrigens auch unterwegs in Deutschland viele zu beachten – vielleicht besonders viele, wenn es nach Bayern geht. Krimiautor Jörg Steinleitner hat vor Ort recherchiert und in seiner »Vermessung der Weißwurst« lebenswichtige Grundregeln für das Reisen im Freistaat zu Tage gefördert. Dies sei eine Kunst, die gelernt sein wolle, schließlich sei dem Bayern Gastfreundschaft per se suspekt – am schönsten sei es doch schließlich daheim.
Oder auf der Straße, würde Journalist Michael Köckritz vielleicht ergänzen, dessen Text »Nichts wie weg« eine Ode an das Unterwegssein in seiner reinsten Form ist: das klassische Roadmovie. Im Roadmovie verändert sich der Held in und durch Bewegung – in Köckritz’ Fall sind die Helden Kinder, und sie lernen unterwegs: Geglücktes Reisen lebt von respektvollem Miteinander.
Also brechen wir auf – auf Lesereisen ganz unterschiedlicher Art: mal fröhlich, mal bewegend, mal feinsinnig, mal spitzzüngig. Eben ganz im Sinne des Reisens, wie John Steinbeck es sah: »Jede Reise«, schrieb der Nobelpreisträger, »ist ein eigenständiges Wesen. Keine gleicht der anderen.« In diesem Sinne: Viel Freude beim Reisen – und beim Lesen.