Peter Prange
Roman
Kathi wartete draußen. Denn die Stadt Belgrad am Josefstädter Glacis war eine Wirtschaft, die ein Mädchen wie sie nicht betrat. Kein Mensch hätte einen vernünftigen Grund sagen können, weshalb jeder Musiker Wiens, der dazugehörte oder dazugehören wollte, ausgerechnet in dieser Kaschemme sein Bier trank. Doch aus welchem Grund auch immer: im Belgrad traf sich die musikalische Elite der Stadt. Hier wurde über das Wohl und Wehe ganzer Schicksale entschieden.
Schani öffnete die Tür. Drinnen empfing ihn das blühende Serbien. Das Stimmengewirr war so laut, dass er sich die Ohren zuhalten musste. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute sich um. In dem dichten Nebel von Tabak und Kochschwaden sah er viele bekannte Gesichter, nur das eine nicht, nach dem er suchte. Am Tresen stand Amon und war in ein Gespräch mit Lanners neuem Primgeiger vertieft, während am Stammtisch unter anderem Reichmann und Sedlacek saßen. Der eine erzählte mit ausholenden Gesten von seinen Erfahrungen am englischen Königshof, der andere trank mit hervorquellenden Augen und ruckendem Adamsapfel seinen achten Krug Hütteldorfer Bier und dachte dabei wahrscheinlich mit schlechtem Gewissen an seine Frau, die daheim zu seiner eigenen und jedermanns Verwunderung Abend für Abend auf ihn wartete.
Ein Kellner kam vorbei mit einer Schürze, die ahnen ließ, dass sie zur Zeit der Franzosenkriege einmal weiß gewesen war. Schani hielt ihn am Arm fest und schrie ihm seine Frage ins Ohr. Der Kellner zeigte auf einen Ecktisch am Ende der Wirtschaft.
Ganz allein saß Lanner dort mit zerzausten Haaren und stierte ins Leere. Auf dem Weg zu ihm musste Schani aufpassen, um nicht auszurutschen. Denn das Bier floss hier in solchen Strömen, dass es sich in großen Pfützen auf dem Boden verteilte.
»Herr Lanner ...«, sagte er, als er den Ecktisch erreicht hatte, »es ist Zeit, dass Sie heimgehen.«
Mit sichtlicher Mühe drehte Lanner sein aufgedunsenes Gesicht zu ihm herum und versuchte, ihn zu fixieren.
»Wer zum Teufel bist du denn?«
»Der Schani Strauß, Herr Lanner.«
»Strauß?«, lallte Lanner. »Strauß? Der Name wird nicht erwähnt in meiner Gegenwart.« Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, fragte er: »Weißt du, wer ich bin?«
»Ja, Herr Lanner ...«, antwortete Schani geduldig, denn er wusste, dass hier nur Geduld helfen konnte.
»Ich bin der Hofballmusikdirektor!« Dabei schlug er mit der Faust so laut auf den Tisch, dass sich ein paar Köpfe zu ihnen herumdrehten. »Das ist auf jeden Fall mehr als man von diesem Herrn Strauß sagen kann, wer immer das ist.« Dann stutzte er und schaute ihn an. »Wie hast gesagt, heißt du?«
»Schani ...«
»Und du kennst diesen Strauß?«
Schani schüttelte den Kopf. »Nein, nie gehört.«
»Gut. Ich auch nicht. Und was macht er? Ist er auch ein Musiker? Weil« – Lanner machte eine Armbewegung über das ganze Lokal – »da sind ja nur Musiker herum. Verstehst?«
»Ich weiß. Kommen S’ jetzt. Wir gehen...«
Mit Schanis Hilfe stemmte Lanner sich auf der Tischplatte hoch. Als er auf schwankenden Füßen zu stehen kam, brüllte er plötzlich los:
»Kennt irgendwer hier einen Musiker namens Strauß?«
An den Tischen ringsum wurde Gelächter laut, und mehrere Dutzend Augenpaare schauten nach ihnen. Sedlacek schielte traurig über den Rand seines Bierkrugs, und sogar Reichmann hatte seine Erzählung unterbrochen. Um ihn vor den Blicken abzuschirmen, schob Schani sich vor Lanner, der wieder wie ein Sack auf seinem Stuhl saß und in sich hineinkicherte, als sei ihm der Witz seines Lebens geglückt.
»Kathi wartet draußen, Herr Lanner«, drängte Schani. »Trinken S’ aus, und dann gehen wir.«
Lanner verzog das Gesicht, während ein aus tiefer Kehle heraufgerollter Rülpser auf seinen Lippen zerplatzte. »Kathi ist meine Tochter.«
»Ich weiß ...«
»Und wer bist du?«
»Ein Freund von ihr ...«
Lanners Gesicht verzog sich zu einem schlauen Grinsen, und mit drohendem Finger sagte er: »Nicht mich anlügen. Du bist der Schani Strauß!«
Doch von einer Sekunde zur anderen löste sich das Grinsen in tausend Kummerfalten auf, und aus seinen Augen quollen zwei dicke Tränen.
»Ich hätt dein Vater sein können«, schluchzte er mit einem Mal und tätschelte Schanis Wange. »Deine Mutter ... sie war eine wunderbare Frau. Und du – du wärst mein kleiner Bub, mein kleiner Schani.«
Während er in immer heftigeres Schluchzen ausbrach, versuchte Schani, ihn vom Stuhl hochzuziehen. Als Lanner wieder glücklich stand, umarmte er Schani und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
»Ich liebe dich, mein Bub ... Annas Bub ... Aber ich hätte nie Schani zu dir gesagt, niemals! Ich hätte immer nur gesagt« – wieder quollen zwei Tränen aus seinen Augen hervor – »mein kleiner Hurensohn!«
Schani lief puterrot an. Er schämte sich in Grund und Boden. Aber das half jetzt auch nichts. Sie mussten fort von hier, und das so rasch wie möglich! Also versuchte er, die Worte zu überhören, und auch das irre Lachen, das darauf folgte, während er sich Lanners schweren Arm um die Schulter legte, um ihn zur Tür zu schleppen. Aber Lanner war noch nicht fertig. Er hatte noch etwas auf dem Herzen, was er der Welt mitteilen musste – heute noch, hier und jetzt! Er machte sich von Schani frei, und in kerzengerader Haltung, als hätte er in seinem Leben noch keinen Tropfen Alkohol gesehen, verkündete er dem ganzen Lokal:
»Das, Herrschaften, ist der Sohn vom Strauß! Und ich, ich bin der Lanner. Ich werd aus dem Buben einen bessern Geiger machen, als es sein Vater je war.« Und während er wieder so heftig schwankte, dass Schani ihn auffangen musste, fügte er kichernd hinzu: »Es wird gar nicht so schwer sein ...«
Auch nüchtern hätte Lanner sich für seine Erklärung keinen geeigneteren Ort einfallen lassen können als das Belgrad. Am nächsten Morgen wusste halb Wien, dass der Hofballmusikdirektor dem Sohn seines Erzrivalen Privatunterricht gab. Hirsch erreichte die Katastrophenmeldung beim Frühstück. Seine Wirtin hatte sie vom Hausmeister erfahren und der wiederum von einem Cousin zweiten Grades, der ein gefragter Posaunist war und jeden Abend im Belgrad saß.
Das hatte gerade noch gefehlt! Hirsch ließ Ei und Kaffee stehen und fuhr mit dem erstbesten Fiaker in die Kumpfgasse. Als er den Hutsalon betrat, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Hier war offenbar die Welt noch in Ordnung. Mit hochgezogenen Brauen und einem Blick zur Treppe erkundigte er sich bei Emmi, die gerade an der Theke bediente, ob Strauß oben sei. Sie nickte, aber bevor er hinaufgehen konnte, entschuldigte sie sich bei der Kundschaft, um ihn aufzuhalten.
»Ich bitt Sie«, flüsterte sie. »Lassen S’ ihn ...«
»Lassen, Frau Emmi?«, zischte Hirsch zurück. »Wenn Sie wüssten, was jetzt wieder passiert ist ...«
Er wurde von Reichmann und Amon unterbrochen, die eben in den Laden kamen und mit einem flüchtigen Kopfnicken in Emmis Richtung die Treppe hinauf verschwanden. Verdutzt schaute Hirsch ihnen nach.
»Er ist zufrieden und ruhig«, flüsterte Emmi weiter. »Keine Red mehr von Amerika. Es hat ja keiner begriffen, was das für ein Schlag für ihn war. Wie er sich im Stich gelassen gefühlt hat. Jetzt geht’s ihm wieder gut, er beschäftigt sich ...«
»Ich glaub, ich nehme die da«, rief die Kundin zu ihnen herüber und hielt eine Schleifenhaube hoch.
»Bin schon da«, rief Emmi zurück, doch bevor sie wieder zur Theke eilte, flüsterte sie Hirsch mit flehenden Augen zu: »Ich bitt Sie, lassen S’ ihn!«
Als Hirsch die Tür zum Wohnzimmer aufmachte, traf ihn fast der Schlag. Drinnen sah es aus wie in einem zweiten Belgrad! Das halbe Orchester war hier versammelt. Auf der Kommode, auf der sonst immer eine Vase mit frischen Blumen stand, drängte sich eine Batterie leerer und halbleerer Flaschen, und am Tisch wurde gewürfelt und Karten gespielt. Sogar ein Roulette drehte sich in der Mitte. Damit beschäftigten sich also die Herren Künstler in der vielen Freizeit! Jetzt wusste Hirsch auch, weshalb Strauß seit Wochen keinen Walzer mehr geliefert hatte, geschweige denn eine Polka oder einen Galopp ... Kein Wunder, wenn der Maestro neuerdings statt Geige lieber Karten spielte.
»Aufpassen, Meister, der Sklaventreiber!«
Wer hatte das gerufen? Blitzschnell wanderten Hirschs Augen durch das Zimmer, aber wohin er sah, blickte er in unschuldige Gesichter. Mit einer Zigarre im Mund und einem Macao-Blatt in der Hand drehte Strauß sich im Sessel zur Tür herum.
»Ah!«, begrüßte er ihn. »Mein besseres Ich, mein Lebensretter. Wollen S’ mitspielen, Hirsch?«
»Ich schau lieber zu ...«
»Dann trinken S’ was«, forderte Strauß ihn auf, während er mit einer Handbewegung von Reichmann, der die Bank hielt, eine weitere Karte verlangte.
»Nein, danke. Ist mir ein bissl zu früh.«
»Schauen S’ nicht so grantig, Hirsch, sonst krieg ich noch ein schlechtes Gewissen.«
»Gestern hätten S’ den Lanner sehen sollen«, mischte Reichmann sich ein, »für den ist es nie zu früh.«
Strauß schüttelte den Kopf. »Dass der Kaiser einen Säufer als Hofballmusikdirektor aushält«, sagte er und trank einen Schluck. »Ich versteh das nicht. Der Lanner soll sogar einem Erzherzog Geigenunterricht geben ...«
»Ganz schön viel Stunden, was der zurzeit gibt«, nickte Amon, der eben die Kugel in den Roulettekessel warf.
»Wahrscheinlich braucht er’s Geld«, meinte Strauß.
»Beim Stundengeben?«, fragte Reichmann mit interessierter Miene. »Was nimmt er denn für eine Stunde?«
»Wie zum Teufel soll ich das wissen? Ich nehm keine Stunde bei ihm!«
Paffend blickte Strauß in die Runde. Seine Musiker bogen sich vor Lachen. Hirsch fand das gar nicht komisch. Doch die Witze würden dem Maestro noch früh genug vergehen. Das war nur eine Frage der Zeit ... Und als Hirsch sah, dass der lange Sedlacek den Mund aufmachte, wusste er, dass der Augenblick bereits gekommen war.
»Natürlich, Sie nicht«, sagte Sedlacek mit todernstem Gesicht, »aber Ihr Sohn. Und die werden doch sicher Sie zahlen ...«
Hirsch verfluchte Sedlacek und seinen verdammten Familiensinn und hielt sich innerlich die Ohren zu, denn in der nächsten Sekunde würde es einen fürchterlichen Knall geben. Doch zu seinem grenzenlosen Erstaunen beugte Strauß sich nur zu seinem Klarinettisten herum und fragte:
»Wie ist das? Mit meinem Sohn?«
Sedlacek begriff offenbar, dass er besser den Mund gehalten hätte, und versuchte zu retten, was zu retten war.
»Na, ja«, stotterte er, »der Lanner war im Belgrad. Besoffen, das heißt, stockbesoffen. Er dürft schon den ganzen Tag dort gewesen sein. Und dann ist der Schani reingekommen, um ihn heimzuholen ...«
»Und bei der Gelegenheit«, unterbrach ihn Reichmann, der als Wahl-Brite Umstandskrämerei auf den Tod nicht ausstehen konnte, »hat der Lanner lauthals verkündet, dass er dem Sohn von Johann Strauß halt Geigenunterricht gibt.«
»Das haben wir beide gehört, aufs Wort«, beeilte Sedlacek sich zu bestätigen. »Und der Amon ebenfalls.«
Auch jetzt ließ Strauß sich nichts anmerken und verlangte von Reichmann nur eine weitere Karte. Doch Hirsch wusste es besser. Denn er stand hinter ihm und konnte ihm in die Karten schauen. Automatisch hatte er mitgezählt und gesehen, dass Strauß mit seinen dreizehn Augen schon lange tot war.
»Es ist genug für heut«, flüsterte er ihm über die Schulter zu. »Wollen S’ nicht ein bissl was arbeiten?«
»Verschwinden S’, Hirsch«, zischte Strauß, ebenso ruhig wie gefährlich. »Ich spiel jetzt Karten!«
»Das seh ich«, murmelte Hirsch und wandte sich ab.
Na, dachte er, während er zur Tür hinausging, das würde verschiedene Herrschaften teuer zu stehen kommen. Eine solche Blamage, die schrie ja nach Rache ...
»... und außerdem«, erklärte Strauß, »da ich meinen Alimentationsverpflichtungen pünktlichst nachkomme, habe ich das Recht, die von mir gestellten Bedingungen erfüllt zu sehen.«
»Jetzt red doch nicht so geschwollen daher«, fuhr ihm Anna über den Mund, die, eingerahmt von ihren Kindern und dem Hausherrn Dr. Halmi, am Kopfende des Esstischs saß. Um sich Luft zu verschaffen, zog sie an der Schleife, die unterhalb des Busens an ihrem Kleid saß und mit deren Hilfe sich die Schnürung ihres Patentmieders öffnen ließ, ohne dass jemand etwas merkte.
Strauß hatte gar nicht erst abgelegt. In seinem beigen, bis oben zugeknöpften Ulster marschierte er im Esszimmer seiner alten Wohnung auf und ab. Es war seit Monaten das erste Mal, dass er das Hirschenhaus betrat. In der Zwischenzeit hatte er mit seiner Frau nur über Hirsch in Verbindung gestanden, der am Türpfosten lehnte und den gesegneten Zeiten nachtrauerte, in denen er und Frau Anna noch miteinander im Geschirr gingen.
»Mir liegen beglaubigte Aussagen vor«, fuhr Strauß fort, »dass mein ältester Sohn Musikunterricht erhält ...«
»Beglaubigte Aussagen?«, unterbrach ihn Anna, die trotz der physischen Erleichterung immer mehr nach Luft schnappte. »Was fragst denn nicht mich? Was fragst nicht den Schani? Was brauchst denn beglaubigte Aussagen? Hättst dich mehr kümmert um deine Kinder, anstatt Gesetze zu erlassen wie ein alttestamentarischer Despot ...«
»Aber Gnädigste, sehen S’ das doch ein«, versuchte Hirsch zu vermitteln. »Er zahlt für Sie und die Kinder. Da darf er doch ein Wörtl mitreden bei der Erziehung. Das ist doch selbstverständlich.«
»Nein«, widersprach ihm Anna, »und selbstverständlich find ich das schon überhaupt nicht!«
»Darf ich was sagen?«, meldete sich nun Dr. Halmi zu Wort, der bislang schweigend seine goldgelben Koteletten zwischen den Fingern gezwirbelt hatte.
Sein Gesicht drückte immer noch dieselbe Milde aus wie vor anderthalb Jahrzehnten, als er die Straußsche Wohnung gegen die Cholera imprägniert hatte, und er hatte sich auch ansonsten so wenig verändert, dass man glauben konnte, die Zeit sei für ihn stehengeblieben.
»Ich bin Anwalt«, sagte er. »Aber ich werde auch, so hoffe ich, als Freund der Familie betrachtet. Und wenn schon nicht als Freund, so zumindest als Hausherr, als Vermieter dieser Wohnung. Ich bin also Partei«, erklärte er dann ohne ersichtlichen Zusammenhang, »oder, wenn Sie lieber wollen ...«
»Jetzt tun’s doch weiter«, forderte Strauß ihn irritiert auf. »Was wollen S’ sagen damit? Sind Sie als Anwalt da?«
»Auch«, sagte Halmi.
Und im Stillen fügte er hinzu: als Anwalt des Herzens. Denn ohne dass je ein Sterbenswörtchen über seine Lippen gedrungen war, hegte er tief in seinem Innern eine heimliche Liebe für Anna, die er auch sich selbst nur in Stunden einsamer Leidenschaft eingestand. Laut sagte er:
»Da Sie, Herr Strauß, hier nicht mehr leben, muss Ihre Frau Gemahlin die Entscheidungen selber treffen ...«
»Jetzt seid’s doch alle miteinander still!«, rief Anna dazwischen. »Was sind wir denn? Dressierte Viecher, die Männchen machen sollen und betteln? Müssen wir ihn fragen, wen wir treffen, mit wem wir reden, wie wir uns die Zeit vertreiben, was wir mit unserem Leben anfangen?«, fragte sie und nahm dabei ihren Mann ins Visier, der mit einem Mund, der so verschlossen schien wie ein zugeschnürter Geldbeutel, weiter im Zimmer auf und ab marschierte. »Ich hab nie was von ihm erbettelt, und ich weiger mich, jetzt damit anzufangen!«
Abrupt unterbrach Strauß seine Wanderung.
»Was hast du nie? Ein kurzes Gedächtnis hast du, das muss ich schon sagen. Du hast immer nur verlangt, gemeckert, angeschafft!«
»Du wirst uns deinen Willen nicht aufzwingen!«, schrie sie.
»Ich bitte Sie«, warf Hirsch sich erneut ins Mittel. »Lassen Sie uns doch in Ruhe darüber ...«
»Nichts da, in Ruhe! Er wird uns nimmer herumschubsen!«
»Ich schubs euch nicht herum«, schrie nun auch Strauß. »Aber ich bestehe darauf, dass meine Anordnungen befolgt werden. Es ist mein Geld!«
»In Gottes Namen, nimm dein Geld und fahr zur Hölle damit!«
Erschrocken über ihre eigenen Worte, verstummte Anna für eine Sekunde. War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Wo das Geld doch so schon vorn und hinten nicht langte! Ihr wurde fast schwindlig ... Doch für ein Zurück war es zu spät.
»Ich nehme keine Befehle mehr von dir entgegen. Von jetzt an brauchen wir dich nimmer!«
»Dann musst du auch die Folgen tragen!«
»Raus!«, brüllte sie. »Raus aus meiner Wohnung!«
Das ließ sich Strauß nicht zweimal sagen! Die Türklinke schon in der Hand, blieb er nur noch einmal stehen, um seine Söhne anzuschauen, die im Verlauf des schlimmen Streits stumm und starr neben ihrer Mutter am Tisch gesessen hatten. Schani zitterte am ganzen Leib und musste sich mit seinen Händen an der Stuhlkante festklammern, damit man nicht sah, wie sehr. Doch er hielt dem Blick seines Vaters stand. Endlich wandte Strauß sich ab und rauschte hinaus, gefolgt von Hirsch, der ohnmächtig die Arme hob.
Kaum hatte ihr Mann das Zimmer verlassen, brach Anna in Tränen aus. Mit dem Kopf auf der Tischplatte weinte sie so bitterlich, dass Dr. Halmi an sich halten musste, um nicht seine weiße, weiche Hand auf ihren von Schluchzern geschüttelten Rücken zu legen. Da das aber unmöglich in Frage kam, stand er von seinem Platz auf. Das war das Einzige, was er tun konnte, um seinem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen.
Plötzlich hörte Anna auf zu weinen. Sie hob den Kopf, und mit geröteten Augen blickte sie Schani an.
»Wer ist der beste Kompositionslehrer in Wien?«
»Der Drechsler«, antwortete Schani verwundert. »Professor Drechsler.«
»Dann müssen wir zu dem ...«
»Sie verzeihen schon, Gnädigste«, mischte Halmi sich ein, denn er ahnte, was sie vorhatte, und war froh, wenn schon nicht mit Taten, so doch wenigstens mit seinem Rat helfen zu können. »Als praktischer Mensch möchte ich mir erlauben zu fragen: wer wird das zahlen? Die Stunden?«
Anna wischte den Einwand mit einer Handbewegung fort.
»Vielleicht wird der Schani nachts arbeiten müssen«, sagte sie. »Aber am Tag gibt’s nur Musik. Eigentlich solltest du deinem Vater dankbar sein, Schani, weil – der hat dir gerad einen Mordsgefallen getan.« Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzte sich. »Wo finden wir diesen Drechsler?«
Wie jeder Musiker in der Stadt wusste, war Professor Josef Drechsler Organist und Chorleiter der Kirche Am Hof, die Anna zusammen mit Schani und Edi noch am nächsten Tag aufsuchte. Die prächtige Barockfassade flößte Schani ziemlichen Respekt ein. Anna dagegen trat ohne zu zögern durch das Portal, tauchte ihre Hand in das Weihwasserbecken, und nachdem sie das Kreuzzeichen gemacht hatte, befahl sie Edi, in einer der hinteren Bänke zu warten.
Das kannte Edi schon. Immer wurde er irgendwohin mitgeschleppt, wo er dann warten musste ... Diesmal aber fühlte er sich doppelt unwohl in seiner Haut. Denn so eine halbdunkle, verlassene Kirche war etwas ziemlich Unheimliches, fand er, während er auf den Hochaltar starrte. Und wenn alle die Heiligen, die so finster auf ihn herabschauten, plötzlich lebendig würden und von ihren Sockeln und Podesten auf ihn zukämen? Außer den knarrenden Schritten seiner Mutter und seines Bruders, die zur Orgelempore hinaufstiegen, war kein einziger Laut zu hören. Sicherheitshalber fasste er in seine Hosentasche, in der er immer seine Schleuder und ein paar glatte Kieselsteine bei sich trug.
Edi hatte vielleicht eine Viertelstunde gewartet, als er mit einem Mal fürchterlich zusammenschrak. Von der Orgel brausten kurz hintereinander drei so gewaltige und gleichzeitig schräge Akkorde auf, als hätte Goliath mit seiner Faust in die Tasten geschlagen. Während die Töne zwischen den hohen Mauern nachhallten, schielte Edi zur Empore hinauf.
»Nein, nein, nein«, rief Drechsler dort oben und hämmerte erneut in das Manuale. »Ich geb keinen Unterricht mehr!«
Der Professor, der mit krummem Rücken auf seiner Bank an der Orgel hockte, war so alt wie der Tod und schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen, die ein speckig glänzender Bratenrock zusammenhielt. Woran Schanis Blick aber immer wieder hängenblieb, war seine Nase, die so groß und zerfurcht wie eine Essiggurke aus seinem hageren Gesicht hervorsprang und an der ein dicker Tropfen hing.
»Geld! Geld!«, krächzte Drechsler und fuhr sich mit seiner riesigen Hand durch das Haar, das ihm in gelben Strähnen auf die Schultern fiel. »Wenn mir Geld wichtig wär, wär ich Bankier geworden! Zeit ist mir wichtig. Weil ich alt bin und wenig davon habe. Deshalb will und kann ich sie nicht an untalentierte Würmer vergeuden ...«
Schani fuhr zusammen, als hätte Drechsler ihm mit seiner Pranke eine Ohrfeige verpasst. Anna warf ihm einen beschwichtigenden Blick zu.
»Es ist kalt hier«, sagte sie.
»Ich sehe«, höhnte der Professor, »Sie sind eine Frau von einer gewissen Wahrnehmungsgabe.«
»Ihre Hände müssen ja erfrieren.«
»Meine Hände sind meine Angelegenheit!«, rief er und zog sie an sich, als wolle man sie ihm stehlen. »Ich möchte Sie jetzt höflich bitten zu gehen. Ich muss üben. Sogar in meinem Alter muss man noch üben.«
»Wie wär’s mit denen?«, fragte Anna und holte ein Paar fingerlose Handschuhe aus dem Korb hervor, den sie zufällig von zu Hause mitgebracht hatte. »Oh, ach ja, die Pelzjacke«, fügte sie ganz überrascht hinzu, als Schani sie in die Seite stieß, »die hätt ich fast vergessen. Ich wollt sie hergeben.« Sie stand auf und legte sie Drechsler über die Schultern. »Gut warm, nicht?«
»Natürlich ist sie warm«, knurrte er und wischte sich mit dem Ärmel den Tropfen von der Nase. »Ist ja aus Fell. Was wär denn das für ein Fell, wenn’s nicht warm wär?«
»Wollen S’ die nicht probieren?«, fragte sie dann und hielt ihm die Handschuhe hin. Da er sie nur unwillig ansah, nahm Anna seine großen, blauroten Hände und streifte sie ihm über.
»Auf diese Weise kriegen Sie mich nicht herum«, sagte er.
»Was Sie gleich denken, Herr Professor! Nein! Auch wenn Sie nicht mehr unterrichten – Ihre Meinung über die musikalische Begabung meines Sohnes hätte ich gern gehört.«
Drechsler ließ prüfend seine Finger spielen. »Musikalische Begabung? Man könnt meinen, Sie wären die Frau Bach und der da der kleine Johann Sebastian«, sagte er und blies in die Handschuhe hinein. Plötzlich lehnte er sich zurück, griff in die Tasten, und im nächsten Augenblick erscholl das majestätische Thema einer Fuge. Nachdem es in der Tonika beendet war, drehte Drechsler sich zu Schani herum. »Also gut. Variation mit Vorspiel und Abwandlung in drei Tonarten!«
Er rückte auf der Bank beiseite und ließ seine Hände knacken. Schani hatte das Thema schon einmal gehört. Es war so erhaben, so majestätisch, dass ihm ehrfürchtige Schauer den Rücken hinunterliefen, wie früher als Kind in der Christmette. Mit Herzklopfen begann er zu spielen. Wie es sich gehörte, nahm er das Thema in der Dominante auf und entwickelte in der ersten Stimme den Gegensatz, der jedoch ganz von allein, ohne dass Schani es verhindern konnte, nach wenigen Takten vom vorgeschriebenen Pfad abirrte und sich bald anhörte, als würde eine lateinische Messe mit Wiener Zungenschlag gelesen.
»Halt! Halt!«, rief Drechsler. »Sonst muss ich mich runterstürzen da. Genau, wie ich mir’s vorgestellt hab. Ohne Seele, oberflächlich, süßlich. Nichts als Effekte.«
»Ich weiß«, sagte Schani mit hängendem Kopf.
»Spielt so eine billige Theatermusik! In einer Kirche! Das ist eine Sünde! Ich verabscheue das Theater! Es ist die ordinärste und verderblichste Kunstform der Menschheitsgeschichte!«
»Ja!«, rief Schani plötzlich so laut, dass seine Stimme von den Wänden widerhallte. »Deshalb will ich ja bei Ihnen studieren! Ich weiß, dass meine Musik nichts heißt, dass nichts dahinter ist bei dem, was ich schreib ...«
Mit jedem Wort legte sich die Stirn des Professors in tiefere Falten, und die Gurke in seinem Gesicht begann zu rucken.
»Liebe Frau«, sagte er zu Anna, nun eine Spur versöhnlicher. »Sind S’ so freundlich und gehen S’ runter zu Ihrem Fratzen. Ich möchte ein wenig reden mit diesem Wunderkind, das erkannt haben dürfte, dass seine Musik nichts ist als ein picksüßes Lakritzenstangerl.«
Nachdem Anna gegangen war, rückte Drechsler so dicht an Schani heran, dass dieser ganz deutlich den dicken Tropfen sah, der sich erneut an der Nasenspitze des Professors gebildet hatte.
»Wie hast du das gemeint: bei deiner Musik ist nichts dahinter?«, wollte Drechsler wissen.
Schani wusste selber nicht so genau, was es war. Er hatte das Gefühl, dass die Melodien aus ihm herausflössen wie Wasser, und dass es vielleicht gerade daran lag, weshalb er keine zwei Töne hintereinander setzen konnte, die so erhaben klangen wie das Thema, das der Professor gespielt hatte. Denn seine Melodien flossen nicht in einem breiten, majestätischen Strom aus ihm heraus, sondern eher wie zu Hause das Wasser aus der neu installierten Leitung, wo man nur den Hahn auf- und zumachen musste.
»Na ja«, sagte er und schaute auf seine Finger. »Leicht fallen tut’s mir. Ich könnt’s im Schlaf schreiben. Es geht alles wie von selbst, wie bei einem Jahrmarktzauberer. Was ich komponier, die Geigentechnik, die ich hab – es ist alles so oberflächlich, ohne Tiefgang, ohne Seele ...«, erklärte er bedrückt.
»Freilich, freilich«, ereiferte sich Drechsler. »Weil du nicht weißt, wer du bist. Es ist nun einmal so: die traurige Tatsache, dass deine Musik ohne Seele ist, gründet darin, dass du noch gar nicht weißt, ob du eine Seele hast!«
»Und wie komm ich drauf?«, fragte Schani und blickte zögernd zu Drechsler auf. »Ich hab nie jemand gehabt, mit dem ich über so was hätt reden können. Und wenn ich dabei ungeschickt bin, müssen S’ das entschuldigen. Aber ich spür was da drin, tief darunter, da will was raus. Nur, ich weiß nicht, wie ich’s rauslassen soll ...«
Drechsler legte ihm seine große Hand auf die Schulter. »Weißt du, was das Problem ist?«, fragte er, und als Schani den Kopf schüttelte, antwortete er für ihn: »Das Problem ist: Gott ist unsichtbar!«
Das sagte er mit einer Stimme, als stünde er auf dem Berg Sinai und verkündete die Zehn Gebote. Er sah Schanis ratlose Miene und nickte.
»Das ist ein schreckliches Problem. Und weißt du, was ich glaube?« Er hob seine struppigen Augenbrauen. »Ich glaube, er wird es auf ewig bleiben. Was meinst du?«
»Ich ... ich hab noch nie nachgedacht darüber ...«
»Du wirst darüber nachdenken müssen.« Drechsler schaute sich geheimnisvoll um, als könne sie jemand belauschen, und so leise, dass Schani die Worte fast erraten musste, flüsterte er: »Musik, und kaum einer weiß das, lässt Gott sichtbar werden. – Pssst«, machte er und legte einen Finger an die Lippen. »Zu niemandem ein Wort. Es ist ein großes Geheimnis. Aber wenn du ein wirklicher Komponist werden willst, musst du daran arbeiten, Gott sichtbar zu machen ...!«
»Und ... wie soll ich das anfangen?«
Drechsler schniefte mit der Nase, und mit einer Stimme, die plötzlich frei von jedem Geheimnis war, knarrte er:
»Indem du mit Fugen beginnst!«
»Mit Fugen ...?«
»Du bist doch nicht schwerhörig, oder?«
»Nein«, antwortete Schani, obwohl er sich da im Moment gar nicht so sicher war.
»Das wäre ein großes Hindernis«, meinte Drechsler. »Sicher, Beethoven war eine Ausnahme. Stocktaub. Aber er hat Gott gesehen, täglich, ein Leben lang ... Jawohl, Fugen!« sagte er abschließend. »Fugen, Harmonielehre, Kontrapunkt! Damit fangen wir an.«
»Heißt das«, fragte Schani verdutzt, »das Sie mich unterrichten?«
Statt ihm zu antworten, beugte Drechsler sich über Schanis Schoß. »Was ist noch in dem Korb?«
Schani lüftete das Tuch, das darüber gebreitet war, und sah nach. »Marillenmarmelade, Wurst, ein bissl was Eingemachtes ...«
Drechsler beugte sich noch weiter über ihn, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. »Es geht nichts über einen Schüler, dessen Mutter Marillenmarmelade machen kann«, erklärte er mit einem heiseren Kichern. Dann fügte er hinzu: »Morgen. Punkt acht! Wir beginnen mit der Fuge. Und jetzt Abmarsch!«
Sobald er allein war, tauchte er seinen knochigen Finger in den Marmeladentopf. Während er ihn abschleckte und dachte, dass etwas mehr Zucker auch nicht geschadet hätte, gelangte Schani über die enge Stiege in das Kirchenschiff, wo ihn seine Mutter zusammen mit Edi erwartete.
»Ja, hat er gesagt!«
Anna runzelte die Stirn. »Und was verlangt er?«
Bevor Schani den Mund aufmachen konnte, hallte es von der Empore: »Ich bin teuer! Ich hoffe, Sie können sich mich leisten!«
Ein paar Sekunden lang war nur Drechslers heiseres Kichern zu hören. Dann aber brauste die Orgel mit einer solchen Macht los, dass die ganze Kirche darunter erbebte wie einst die Mauern von Jericho beim Erschallen der Posaunen.
Die runde Scheibe des Mondes schien auf das Apollo herab und tauchte das Gebäude in ein silbernes Licht, während die Blätter der Pappeln leise im kühlen Nachtwind raschelten. Doch rollten keine Kutschen und Equipagen mehr die Auffahrt hinauf, um festlich gekleidete Menschen in den einst prächtigsten Tanzpalast des Kontinents zu entlassen. Nur ein paar Hunde und Katzen streunten umher. Denn längst waren die Plakate, die die großen Konzerte von Joseph Lanner und Johann Strauß angekündigt hatten, vergilbt und zerrissen, und statt von Musik und Lachen, von Besteckklappern und Gläserklingen hallten die riesigen Säle nun von Maschinenlärm wider.
Schani spannte die Muskeln an, und mit einem Ruck wuchtete er den Kohlensack von dem Fuhrwerk, das an der Rückseite des Gebäudes stand, um ihn über der Schulter in den Gewölbekeller zu schleppen, in dem einmal Tausende Flaschen Wein und Champagner gelagert hatten. Nachdem er den Sack ausgeschüttet hatte, wischte er sich mit dem Arm über die rußverschmierte Stirn und streckte seinen Rücken, der ihn so sehr schmerzte, dass er sich fast nach dem Polytechnikum und Professor Prechtl zurücksehnte. Der Traum von einem eigenen Orchester erschien ihm in diesem Augenblick ungefähr so wahrscheinlich wie die Aussicht, dass im Apollo wieder getanzt würde.
Ein blasser Streifen am Himmel ließ den baldigen Sonnenaufgang ahnen, als eine aufheulende Sirene das Ende der Nachtschicht ankündigte. Während die Maschinen weiterstampften, stellte Schani sich in die lange Reihe der Männer, die todmüde vor dem Büro der Kerzenfabrik warteten und Schritt für Schritt vorantrotteten, um von dem Vorarbeiter, der drinnen an der Kasse saß, ihren Wochenlohn in Empfang zu nehmen.
Ein Versprechen hatte Drechsler gehalten: teuer war er! Das jedenfalls dachte Schani, als er später am Morgen im Kaffeehaus saß und versuchte, sich auf das Blatt Papier zu konzentrieren, das vor ihm auf dem Tisch lag. Subjekt, Kontrasubjekt ... Exposition, Zwischenspiel, Engführung ... Um sich wachzuhalten, trank er einen Schluck von dem schon kalten Kaffee. Plötzlich spürte er, wie jemand auf ihn herabschaute.
»Wieder eine Fuge?«, fragte Kathi mitleidig.
»Wieder eine Fuge«, stöhnte Schani. »Das ist alles, was der Drechsler kann: Doppelfuge, Tripelfuge, Quadrupelfuge. Da kennt er sich wirklich aus. Nur, bei vier Stunden Schlaf fugt sich’s aus bei mir. Na«, lächelte er matt, »wenigstens kann ich mit Fug und Recht sagen, ich bin im Apollo engagiert und wandle auf den Spuren unserer Väter.«
Bei einem vorbeieilenden Kellner bestellte er einen Kaffee für Kathi, und nachdem sie sich gesetzt hatte, sagte er: »Schlimm, dass sie aus dem Apollo eine Fabrik gemacht haben. Aber so schaut sie aus, die neue Zeit. Profit ist alles. ›Der Nutzen der Kohle für die heimische Wirtschaft‹. Das ist so ziemlich das Einzige, was ich auf dem Polytechnikum gelernt hab. So eine Fabrik, die bringt natürlich mehr Geld als ein Tanzsaal. – Aber was ist denn daran so lustig?«, fragte er Kathi verwundert, die plötzlich so stark losprustete, dass sie offenbar Schwierigkeiten hatte, ihren Kaffee im Mund zu behalten.
»Der Vater«, sagte sie, als sie endlich geschluckt hatte. »Er ist heut erst um zwei heimgekommen. Kaum dass er die Stiegen raufkam ...«
»Und das findest ausgerechnet du zum Lachen?«
»Na, wart doch«, sagte sie und blies sich eine Locke aus der Stirn. »Wie ich ihn dann ins Bett bring, fängt er doch glatt an zu singen. Brüderlein fein. Kennst das?«
Sie summte ein paar Takte einer hübschen kleinen Melodie.
»Freilich«, sagte er und summte die nächsten Takte mit. »Kennt doch jeder. Aus irgendeinem Theaterstück. Der Drechsler tät sagen: ein picksüßes Lakritzenstangerl.«
Auf ihren Wangen erschienen wieder die zwei Grübchen. »Weißt, wer’s geschrieben hat?«
Als Professor Drechsler an diesem Nachmittag die dämmrige Kirche betrat, glaubte er im ersten Augenblick, der Teufel selbst sei in die Welt der sichtbaren Dinge getreten, und auch die steinernen Heiligen im Kirchenschiff schauten verwundert zur Empore hinauf. Ja, ordentlich eingerichtet war die Fuge zwar, die vierstimmig von dort oben herabbrauste. Subjekt, Kontrasubjekt ... Exposition, Zwischenspiel, Engführung ... Aber das Thema, dieses elende, ekelerregende, picksüße Thema! Gehetzt von allen Dämonen seiner unseligen Vergangenheit, stolperte der alte Professor die enge Stiege zur Empore hinauf.
»Aufhören! Sofort aufhören damit!«, krächzte er, nachdem er die Stufen keuchend erklommen hatte. »Ich sage: aufhören!«
Schani aber dachte nicht daran und spielte unbeirrt weiter. »Erkennen Sie’s?«, fragte er. »Es ist oberflächlich, picksüß, billige Theatermusik ... Aber eine wunderbare Melodie, finden Sie nicht?«
»Ich will nichts davon hören!«, schrie Drechsler und versuchte, ihn von der Orgel wegzuzerren.
Als er Anstalten machte, ihn zu schlagen, nahm Schani die Hände von den Tasten.
»Warum lassen Sie’s nicht gelten?«, wollte er wissen und blickte den Professor an, dessen gewaltige Nase vor Aufregung zu tanzen schien. »Es ist ein herrliches Stück Musik. Ich wäre stolz darauf, so was geschrieben zu haben.«
»Ja, das wärst du!«, nickte Drechsler heftig. »Aber es ist frivol, oberflächlich, bar des Göttlichen. Wie es entstanden damals war ich ein anderer. Einer wie du heute, mit einem Kopf voller Dummheiten. Ich hab nicht gewusst, wer ich bin, was ich kann. Die Melodien sind nur so rausgesprudelt aus mir.«
Und dreimal verfluchte er in seinem Innern den Tag, an dem er vor Jahren und Jahrzehnten diesem Schmierfink, diesem Ferdinand Raimund, seine Seele verkauft hatte, für ein paar lumpige Kreuzer, damit Komödianten seine Melodien auf der Bühne trällern durften. Nicht einmal die zwanzig Messen, die er seitdem komponiert hatte, konnten Buße sein für diese Vergangenheit.
»Aber ich habe dazugelernt«, erklärte er und wischte sich mit dem Ärmel seiner Felljacke den Tropfen von der Nase. »Bei Gott! Ich habe gelernt, dass keine Kunst ist, wo keine Plage war. Und das musst auch du lernen, sonst wird nie ein ernsthafter Komponist aus dir. Du Theatermusikant, du! Und jetzt«, befahl er, wobei er das Notenblatt vom Pult riss und in seiner riesigen Hand zerknüllte, »verschwinde und tritt mir erst wieder unter die Augen, wenn du etwas komponiert hast, das zählt!«
Wütend stand Schani auf und ging. Um ihn an seine Pflichten zu gemahnen, spielte Drechsler das Thema des Graduale, das er ihm zur Ausführung aufgegeben hatte, ein Werk für Chor und Orchester: Tu quis regis totum orbem – »Der Du die ganze Welt regierest«. Bei allen Erzengeln und Heiligen, dachte Schani, als er ins Freie trat und in den Himmel aufschaute, von dem die Frühlingssonne die ersten warmen Strahlen herabsandte: weshalb sollte ausgerechnet er, Schani Strauß, dem lieben Gott bescheinigen, dass Er die ganze Welt regierte? – Nur um kein »Sklave der Walzergeige« zu werden, wie Professor Drechsler höhnte?
»Hat er’s geschluckt?«, fragte Lewy, als Schani eine halbe Stunde später das Kaffeehaus betrat.
Wie jeden Nachmittag war fast die komplette Kaufmännische Abteilung des k.k. Polytechnischen Instituts in dem Kaffeehaus versammelt, und während die Kellner ihre Tabletts über die Köpfe hinwegbalancierten, wurden an den Tischen Formeln und Tabellen miteinander verglichen. Denn Ostern stand das Abschlussexamen bevor.
»Ähnlich begeistert wie von einer Flasche Rizinusöl«, sagte Schani und ließ sich an Lewys Tisch auf einen Stuhl fallen.
»So begeistert hat’s ihn?«
»Fast beim Dach ist er rausgefahren! Hast du vielleicht ein Zigarrerl für mich?«
»Mein lieber Schani«, sagte Lewy, während er eine Zigarre aus seiner Brusttasche zog und sie ihm reichte. »Jetzt ist er da. Ich spür’s im Hintern!«
»Wer ist da?«, fragte Schani und ärgerte sich mal wieder, dass sein Freund sich nie klar ausdrücken konnte.
»Der Moment, um eine Kapelle zu gründen«, sagte Lewy und schaute ihn an, als sei er begriffsstutzig. »Der Moment, um unseren Lebenstraum zu verwirklichen!«
Doch Schani paffte eine Weile nur stumm an seiner Zigarre. Dann nahm er einen tiefen Zug. »Weißt du, was der Drechsler gesagt hat?«, fragte er, wobei der Rauch in bläulichen Wolken zwischen seinen Lippen hervorquoll.
»Nein, wie soll ich?«
»Er hat gesagt, aus mir wird nie ein ernsthafter Komponist.«
»Gott sei Dank!«, sagte Lewy, und über sein Gesicht ging ein Strahlen, als würde sich jede seiner tausend Sommersprossen einzeln freuen. »Denn die verdienen einen Dreck. Nein, nein, Schani, wir gründen jetzt eine Kapelle. Die Zeit ist reif. Sollst sehen: nächstes Jahr sind wir Millionäre!«
»Was ist denn los?«, fragte Kathi, die neben ihm über die Wiese ging. Es war Karfreitag, und sie trug noch ihr schwarzes Kleid vom Kirchgang. Doch hatte sie Schuhe und Strümpfe ausgezogen und lief mit nackten Füßen durch das junge Gras.
Schani blieb stehen und nahm ihre Hand. »Komm«, sagte er, »setzen wir uns.«
Warm strahlte die Mittagssonne auf die beiden herab, und die Luft duftete nach Erde und Gras. Schani, der in seinem dunklen Anzug zu schwitzen begonnen hatte, öffnete den Kragen seines Hemdes. Leise knurrte sein Magen, denn er hatte vor der Messe nicht gefrühstückt. Er lehnte sich zurück und schaute in den blauen Himmel.
»Ich ... ich geh nicht mehr zum Drechsler«, sagte er dann, fast trotzig, nachdem er eine Weile schweigend auf einem Grashalm gekaut hatte.
Die endgültige Entscheidung war erst an diesem Morgen gefallen, in der Kirche, als er von der Empore auf den schwarzgeschmückten Hochaltar hinabsah. Prälat Lebsanft hatte soeben die Gläubigen von der Kanzel zu Einkehr und Buße ermahnt, und Schani, der in Vertretung von Drechsler an der Orgel saß, wollte gerade in die Tasten greifen, um eine Fuge seines Lehrers zu spielen, als ihm mit einem Schlag aufging, dass er hier so fehl am Platze war wie ein Kirchenorganist im Tanzpalast. Die einzige Fuge, die er je mit Freuden gespielt hatte, war Brüderlein fein gewesen, ein Werk, das nicht unbedingt als Inbegriff dieser würdevollen Gattung galt. Ansonsten, so wurde ihm in diesem Augenblick klar, war die ganze Fugenschinderei im Grunde nichts anderes als eine besonders komplizierte Form von Mathematik. Und die hatte er auf dem Polytechnikum zur Genüge genossen!
»Kannst dir mich als Organisten vorstellen?«, fragte er, als er Kathis Blick spürte. »Ein Meister der Fuge, der enden wird wie der Drechsler, mit geflickten Hosen und einem Strick als Gürtel?«
»Du tätst herzig ausschauen!«, lachte sie.
»Ernst bleiben, Kathi«, sagte er. »Denn da ist noch was. Die ganzen Kerzen, der Weihrauch, die Kälte, das ist alles nichts für mich. Das riecht alles nach Sterben, nicht nur an Karfreitag. Ich brauch was anderes, was stärker lebt.« Er drehte seinen Kopf zu ihr herum. »Was sagst du? Du weißt doch immer alles. Was soll ich machen, du Obergescheite, du?«
»Schani«, sagte sie und zog nun wirklich ein ernstes Gesicht. »Du hörst doch sowieso nur auf das, was du hören willst.«
Er zuckte die Achseln. »Eins weiß ich sicher. Die Musik, die er von mir hören will, macht mir keine Freud.«
»Und was macht dir eine Freud?«
Er schaute sie an. In diesem Moment sah sie genauso aus wie das Bild, das jeden Abend vor seinen Augen schwebte, wenn er im Bett lag und an sie dachte, oft stundenlang, während Pepi und Edi links und rechts von ihm schliefen. Zum Greifen nah und doch unendlich fern ... Wie Korkenzieher kringelten sich ihre blonden Locken auf der Stirn, und er wartete nur darauf, dass sie die Unterlippe ihres Schmollmundes vorschob, um sie fortzublasen. Aber unter seinem Blick schlug sie die Augen nieder, und dort, wo sonst ihre Grübchen erschienen, breitete sich ein zartes Rosa aus.
»Du ...«, sagte er. »Du machst mir eine Freud.« Er griff nach ihrer Hand und versuchte, Kathi zu sich heranzuziehen. »Ich ... ich möcht, dass wir beide ...«
»Schani, nicht!« Sie zog ihre Hand zurück und richtete sich auf. »Ich krieg’s mit der Angst zu tun«, flüsterte sie.
»Weswegen denn Angst?«, fragte Schani. »Davor musst dich nicht fürchten.«
Kathi aber rückte noch ein Stückchen weiter von ihm ab, und eine Weile schaute sie nur stumm auf ihre nackten Füße, zwischen deren Zehen ein paar Ameisen krabbelten.
»Hast du das«, fragte sie schließlich, ohne ihren Blick zu heben, »hast du das schon mal mit einer Frau gemacht?«
Schani spürte, wie nun auch ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Nein«, sagte er zögernd.
Nachdem sie ein paar Minuten nebeneinander geschwiegen hatten, während es um sie herum im Gras summte und raschelte, gestand er mit belegter Stimme:
»Vor Jahren einmal, ich muss so dreizehn oder vierzehn gewesen sein, hab ich im Fenster gegenüber eine nackte Frau gesehen. Sie hat sich ausgezogen, um zu baden oder so. Das war wie ein Weltwunder für mich ...«
Er beugte sich über sie, um mit seinen Lippen ganz sanft ihren Mund zu berühren, dann ihre Wange, ihren Hals.
»Ich möcht dich auch so sehen ...«, flüsterte er und begann, ihr Kleid aufzuknöpfen.
»Aufhören! Was machst denn?«, rief sie, doch so leise, dass niemand außer ihm es hören konnte.
»Du bist so schön ...«
Durch die Millionen flimmernder Pünktchen, die vor seinen Augen tanzten, konnte Schani sie kaum sehen, während seine Hände mit all den Knöpfen, Bändern und Schleifen kämpften, deren Sinn er nur ahnte.
»So wunderschön ...«
»Ich bitt dich, Schani, hör doch auf ...«
»Nicht fürchten, Kathi«, versuchte er sie zu beruhigen, »nicht fürchten ...«
Dabei war ihm selbst vor Aufregung schon schwarz vor Augen, und sein Herz klopfte ihm bis in den Hals. Wie von allein tasteten sich seine Hände an ihrem Leib fort, suchten immer weiter, ohne eigentlich zu wissen, wonach, er spürte nur, dass es nicht ihr Hals war, und auch nicht ihre Schulter, und auch nicht ihr kleiner weißer Busen, der wie eine Taube zwischen seinen Händen zitterte, als sich die Schnürung ihres Mieders öffnete, während Kathi ihre Arme um ihn schlang und ihn zu sich herabzog ...
Und plötzlich war es wie vor vielen Jahren, an einem warmen Sommertag, als er bei offenem Fenster im Probenraum vor dem Spiegel stand und auf seiner Geige übte, übte bis zur Verzweiflung, weil die Töne, die er spielte, so schief und schräg aus dem Instrument krächzten, dass ihm ganz flau davon war, er aber immer weiterspielte, weiter und weiter, und auf einmal, ohne dass er selber wusste, woher, dieser Akkord im Raum schwebte, dieser zarte, süße Akkord, der zu pulsieren begann und langsam, langsam anschwoll, immer mehr, bis es nicht mehr ging, bis er es nicht mehr aushielt, so unerträglich schön war es, und der Akkord sich auflöste in einem rasenden Lauf, bei dem Schani das Gefühl hatte, gleichzeitig im Boden zu versinken und in den Himmel zu fahren.
Die Zeiger auf der großen Standuhr im Esszimmer des Hirschenhauses rückten gleichmäßig voran. Auf dem Tisch war nur noch ein Gedeck, dessen Teller mit einem zweiten zugedeckt war.
»Jetzt ist es eiskalt«, sagte Anna, als Schani ins Zimmer kam. »So kannst du’s nicht mehr essen. Wo warst denn so lang?«
Er setzte sich an seinen Platz. Aus Angst, dass er sich etwas anmerken ließ, vermied er es, seine Mutter anzuschauen, die, immer noch im schwarzen Kirchenkleid, neben dem Tisch stand und ihn mit vorwurfsvollem Gesicht ansah.
»Ich hab die Kathi heimbegleitet«, sagte er.
»Weißt du, wie spät es ist? Nach vier!«
»Was?«, fragte er, selber überrascht. »Das tut mir leid. Wir haben uns vertratscht.«
Die Wahrheit war, dass er noch einen langen Umweg gemacht hatte, bevor er von Kathi nach Hause gekommen war. Denn als er sich von ihr verabschiedet hatte, fühlte er sich immer noch, als hätte er eine Flasche Champagner getrunken. Unterwegs hatte er so laut vor sich hin gepfiffen, dass die Gläubigen, die ihm auf ihrem Heimweg von der Kreuzwegandacht begegneten, mit den Köpfen schüttelten und ihm empörte Blicke zuwarfen.
»Köstlich« sagte er, nachdem er den oberen Teller herumgedreht und sich die erste Gabel von dem kalten Essen in den Mund geschoben hatte. Wie jedes Jahr an diesem Tag gab es Salzkartoffeln mit Spinat.
»Lass nur stehen ...«
»Nein, wirklich köstlich«, sagte er, mit beiden Backen kauend. »Ausgezeichnet. Ich hab so einen Hunger, ich könnt ein Pferd verschlingen.«
Anna schaute ihm eine Weile schweigend beim Essen zu. Schani sah ihr an, dass gleich etwas kommen würde. Vielleicht wunderte sie sich, dass er mit solchem Heißhunger den Spinat verschlang, den er sonst kaum anrührte. Er zügelte seinen Appetit und aß ein paar Takte langsamer.
»Ich glaub«, sagte sie nach einer Weile, »du musst dich langsam entscheiden.«
»Für was?«
»Was du machen wirst. Beruflich. So kannst du nicht weitermachen. Die ganze Nacht in der Fabrik und tagsüber lernen. Das haltst nicht aus. Du ... du musst dir eine Kirche suchen, wo’s einen Orgelspieler brauchen ...« Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, wie viel ein Organist verdient?«
»Keine Ahnung«, erwiderte er. »Ist doch egal!«
»Egal? Das darf dir aber nicht egal sein! Denn das heißt ein ganzes Leben in Armut.« Anna rang die Hände und schaute zur Decke. »Mein Gott, ich hätte nie geglaubt, dass einer meiner Söhne als Orgelspieler endet ...«
»Von welchem Sohn redest jetzt grad?«
»Von dir natürlich!«
Schani legte die Gabel beiseite.
»Ich? Ich werd kein Orgelspieler.«
»Von was willst dann leben?«, fragte Anna. »Willst Symphonien schreiben und Messen und Konzerte? In einem Dachkammerl? Als Hungerleider?«
Jetzt schüttelte er den Kopf und grinste sie an.
»Walzer werd ich schreiben!«, rief er. »Walzer!«
Es dauerte eine Weile, bis sie den Sinn seiner Worte begriff. Dann aber vollzog sich in ihrem Gesicht, aus dem eben noch das ganze Leid einer sorgenden Mutter gesprochen hatte, eine wunderbare Wandlung.
»Walzer?«, fragte sie mit einem hoffnungsfrohen Lächeln. »Und wann hast dich entschlossen dazu?«
»Heute ...«
»Hast mit dem Drechsler darüber gesprochen?«
»Nein«, sagte Schani. »Ich bin selber erst draufgekommen.« Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Der Drechsler hat immer gesagt, ich bin nichts als ein billiger Theatermusiker. Ich kann aber nicht anders. Das macht mir Spaß. Ich mag die picksüßen Lakritzenstangerln!«
Anna schlug die Hände zusammen.
»Noch ein Walzerkönig!«, rief sie, und ihr Gesicht strahlte wie das der Muttergottes am Tag der Auferstehung ihres Sohnes.
Kathi konnte sich nicht erinnern, je an einem Karfreitag so glücklich vom Kirchgang heimgekommen zu sein. »Mein Engel«, hatte Schani zu ihr gesagt ...
»Ich bin da, Vater!«, rief sie die Treppe hinauf, während sie im Flur vor dem Spiegel ihr Aussehen überprüfte. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.«
Ihre Wangen glühten noch, aber das konnte auch vom Laufen sein. Sie blies sich ein paar Locken aus der Stirn, strich mit raschen Bewegungen ihr schwarzes Kleid glatt, das wieder bis zum Hals geschlossen war, und zupfte einen Grashalm fort, der unter ihrem Kragen hervorschaute.
»Vater!«, rief sie dann ein zweites Mal, nachdem sie mit einem abschließenden Kopfnicken festgestellt hatte, dass nichts mehr sie verraten konnte. »Wo bist denn?«
Niemand antwortete ihr. Das ganze Haus schien verlassen. Seltsam, dachte sie, als sie sich vom Spiegel abwandte, um oben nachzusehen. Ihr Vater hatte doch den Tag zu Hause bleiben wollen, um die neuen Hofballtänze, mit denen nach Ostern die Frühjahrssaison eröffnet werden sollte, für das Orchester einzurichten. Sie wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als ihr Blick auf die halboffene Schlafzimmertür fiel. Vor Schreck hielt sie sich die Hand vor den Mund. Auf dem Boden lag ein Mann – ihr Vater! Im nächsten Moment verwandelte sich ihr Schreck in Ärger: aus dem Zimmer drang ein lautes Schnarchen ... So schlimm war es also wieder! Dabei war noch nicht einmal Abend.
»Jetzt hast wieder getrunken«, schimpfte sie, als sie die Tür aufmachte. »Und du hast mir doch versprochen ...«
Mitten im Satz verstummte sie. Nein, das Geräusch, das ihr Vater von sich gab, war kein Schnarchen, das war ein Röcheln! Schweiß stand in dicken Perlen auf seiner Stirn, und mit den Händen hielt er sich den Bauch vor Schmerzen. Mit flackernden Augen schaute er sie an. Was in aller Welt war passiert? Sie bückte sich zu ihm und knöpfte ihm Hemd und Hose auf. Um Gottes willen! Sein Leib war geschwollen, als hätte man ihn mit Luft aufgepumpt, und seine Haut war wie bei einem Aussätzigen mit kleinen roten Flecken übersät.
»Den Strauß«, keuchte er, so schwer atmend, dass Kathi ihn kaum verstehen konnte. »Den Strauß möcht ich sehen ...«
Kathi wusste nicht, was sie als erstes tun sollte. Mit aller Kraft, die sie hatte, schleppte sie ihren Vater ins Bett und deckte ihn zu. Dann lief sie hinüber zu Nachbarn und schickte nach einem Arzt.