Autorenvita

Gaby Hauptmann

© Dieter Wehrle

Gaby Hauptmann ist eine Vollblutjournalistin: Nach einem Volontariat bei der Tageszeitung SÜDKURIER (Konstanz) hatte sie ein eigenes Pressebüro in Lindau, war Chefredakteurin der Ersten Stunde von seefunk radio bodensee, wechselte zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk (SWF 1 u. SWF3) und begann gleichzeitig fürs Fernsehen (HR u. SWF, Unterhaltung und Dokumentationen) zu arbeiten. Sie war Regisseurin, Produzentin und Moderatorin, unter anderem moderierte sie 2002/03 mit Lea Rosh die Literatursendung »Willkommen im Club«. 1995 erschien mit »Suche impotenten Mann fürs Leben« ihr erster Bestseller, seitdem hat sie über 30 Bücher (darunter das Kinderbuch »Rocky – der Racker« und die beiden Jugendreiterserien »Alexa – die Amazone« und »Kaya«) geschrieben, wurde in 35 Ländern verlegt, hat allein in Deutschland knapp über 8 Millionen Bücher verkauft, wovon sechs Bücher bisher verfilmt wurden und viele als Hörbücher zu haben sind.

Buchinfo

Die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier sind gerade in vollem Gange, als plötzlich ein Anruf der Polizei den Reiterhof erreicht: Fünf freilaufende Pferde wurden auf der Landstraße gesichtet und die Experten vom Reiterhof sollen sie einfangen und unterstellen – bis der Besitzer ermittelt ist. Kaya ist sofort Feuer und Flamme und schließt sich mit Freundinnen dem Suchtrupp an. Doch was die Helfer wenig später vorfinden, wirft viele Fragen auf, denn die entlaufenen Pferde sind völlig abgemagert und verwahrlost. Wo kommen sie her? Und warum hat sie keiner als vermisst gemeldet? Irgendetwas stimmt hier nicht!

Titelseite
Titelseite

Für Caroline, unseren wilden Feger

»Liebet eure Pferde, sorget für sie, sie verdienen

eure Zärtlichkeit. Behandelt sie wie eure Kinder

und ernähret sie wie Freunde der Familie

und kleidet sie mit Sorgfalt. Um der Liebe Gottes willen, seid nicht nachlässig,

denn ihr würdet es bereuen,

in dieser Welt und in jener.«

Sidi-Aomar, Gefährte des Propheten Mohammed

Die Hektik war wieder unbeschreiblich und alles schien absolut schiefzulaufen. Die Erwachsenen-Quadrille war eine Katastrophe! Wie die das bis zum Weihnachtsreiten auf die Reihe kriegen wollten, war allen ein Rätsel.

Kaya und die anderen hatten ihre Ponys für die Springquadrille schon gerichtet, ließen sie aber noch in ihren Boxen stehen und standen nun, wartend und bibbernd vor Kälte, draußen vor der Hallentür.

»Wie lang soll das denn noch dauern?«, fragte Minka unwillig und strich sich eine ihrer dunkelbraunen Locken aus dem Gesicht. Sie war dreizehn Jahre alt und hatte eine schmale Figur, aber jetzt stand sie breitbeinig und mit verschränkten Armen da wie ein Preisboxer.

Kaya stand auf einem umgestülpten Eimer und spähte über die breite Flügeltür hinweg in die Bahn hinein. »Sie verreiten sich andauernd«, sagte sie nach hinten. »Das ist das Problem! Und jeder schimpft auf den anderen!«

»Erwachsene eben!« Reni runzelte die Stirn. »Was erwartest du!«

Fritzi bibberte: »Ich werde hier gleich zum Eiszapfen! Lasst uns doch so lange ins Reiterstüble gehen!«

Dort war es schon ziemlich voll, und viele hatten auch noch ihre Hunde mitgebracht, die nun ihr nasses Fell in der Nähe der Heizung trockneten, wo auch schon die feuchten Pferdedecken hingen und einige Reitstiefel herumstanden. Diese üble Geruchsmischung aus Mensch, Klamotten und Tier schlug Kaya entgegen, als sie die Tür öffnete. »Puh!«, sagte sie und hielt sich die Nase zu – aber das brachte nichts. Ihre Freundinnen drückten schon von hinten kräftig nach.

Alle zwei Jahre organisierte Claudia in ihrem kleinen Reitstall ein großes Weihnachtsreiten mit vielen verschiedenen Programmpunkten, mit Jugendlichen, Erwachsenen und Kindern, und zum Schluss kam sogar der Nikolaus, der durfte natürlich nicht fehlen. Und jedes Mal gab es eine rührende Geschichte um ein Pferd oder einen Menschen, und jedes Mal gab es einen besonderen Programmhöhepunkt, und jedes Mal ging bei den Proben alles so schief, dass keiner mehr an eine Aufführung glauben wollte.

Und heute, ausgerechnet bei der Generalprobe, war es besonders schlimm. Die 16 Reiter in der Bahn konnten sich einfach nicht aufeinander einstellen. Mal kamen sie mit ihren Pferden nicht zusammen, dann wieder hatten sie die nächste Figur vergessen, es war ein heilloses Durcheinander. Und während es im Reiterstüble schon lustig zuging, wurde die Stimmung in der Halle immer gereizter. Schließlich brach Claudia alles ab. Das hatte es noch nie gegeben!

Die Mädchen schauten sich mit erstaunten Gesichtern an. Sollten sie jetzt ihre Ponys in die Halle führen? Oder war der ganze Abend gelaufen? Eventuell sogar die Feier? Im Reiterstüble war es still geworden, selbst die Erwachsenen waren verunsichert und schauten ratlos zu, wie ein Reiter nach dem anderen die Halle verließ.

»Und jetzt?«, fragte Minka in die Stille.

Die unschuldige Frage kam wie ein Signal: Plötzlich redeten alle durcheinander, einige drängten ins Freie hinaus, die Hunde kläfften, und das ganze Durcheinander wurde komplett, als sich in der Halle auch noch ein Pferd von seinem Besitzer trennte und wild buckelnd durch die Bahn sprang. Claudia stand mit hängenden Armen in der Mitte, selbst auf diese Entfernung und durch die staubige Fensterscheibe des Reiterstübles hindurch war ihr anzusehen, dass sie sich gern weggebeamt hätte.

»Ja, dann gehen wir mal«, sagte Kaya.

»Und was machen?«, wollte die rothaarige Cindy wissen und kratzte sich an der Nase, auf der Hunderte von kleinen Sommersprossen blühten.

»Fragen!«, sagte Kaya und zuckte die Schultern. Dass Claudia alles absagen würde, glaubte sie nicht. Dafür waren ihre Weihnachtsfeiern zu berühmt, weil sie so gemütlich und eben einfach gut und kostenlos waren. Dass niemand etwas bezahlen musste, war sicherlich mit entscheidend. Wo wurde einem noch etwas geboten, ohne dass man dafür blechen musste? Claudia brachte ein solches Kunststück noch fertig. Die Leute saßen auf Heuballen, die auf der kurzen Seite der Halle zu einer Art Tribüne aufgeschichtet wurden, tranken Glühwein, aßen Würste und genossen die feierliche Stimmung, die Darbietungen und anschließend den Tratsch. Claudias Weihnachtsfeier war ein echtes Ereignis in der kleinen Gemeinde und daran konnten 16 planlose Erwachsene nun auch nichts ändern.

Kaya ging hinaus und stieß mit Trix zusammen, die mit ihrem Andalusierhengst Brioso abwartend unter dem Vordach stand.

»Was ist denn los?«, fragte Trix, und Brioso warf seinen schwarzen Kopf nach oben, sodass die dichte Mähne flog.

»Panik auf der Titanic«, grinste Kaya. Und als Trix sie schräg anschaute, fügte sie hinzu: »Claudia hat eben die Erwachsenen-Quadrille abgebrochen. Ich wollte sie gerade fragen, was nun wird!«

»Ganz schön mutig für eine Generalprobe«, sagte Trix und grinste auch. Mit ihrer Größe, den langen dunklen Haaren und der gertenschlanken Figur passte sie extrem gut zu ihren Andalusiern, die sie in einem eigenen Stall hielt. Hier trat sie nur bei Veranstaltungen auf oder gab Kurse in Bodenarbeit.

»Gibst du mir dann Bescheid?«

Kaya nickte und drängte durch das aufgeregte Gewühl von Menschen und Tieren zum Halleneingang. Claudia stand noch immer allein mitten in der Halle. Offensichtlich traute sich niemand zu ihr. War sie vorhin wirklich so extrem ausgeflippt? Es konnte schon mal vorkommen, dass sie etwas schrill aus der Haut fuhr, aber an sich war sie eine gutmütige Seele, die immer alles und für jeden richten wollte.

Kaya öffnete die Tür ein Stück und schlüpfte hindurch. Sie war, wie die meisten ihrer Freundinnen, 13 Jahre alt und durch den vielen Sport ziemlich gelenkig und muskulös.

»Darf ich stören?«

Claudia drehte sich zu ihr um. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben, aber als sie Kaya sah, die sonst immer forsch auftrat und nun so vorsichtig hereinschlich, musste sie lachen.

»Ich beiße nicht!«, sagte sie. »Noch nicht!«

»Gott sei Dank!«, erwiderte Kaya und lachte ebenfalls.

Claudia holte tief Luft.

»Also, um deine Frage gleich zu beantworten, es geht in ein paar Minuten weiter. Wir reduzieren auf acht Reiter, das ist alles!«

»Das ist alles?« Jetzt war Kaya doch ein wenig enttäuscht. Kein Skandal, keine Randale, kein gar nichts, eine ganz normale Generalprobe. Auch wenn alles ganz anders ausgesehen hatte.

»Na gut, dann warten wir noch!«, sagte sie und drehte sich wieder um.

»Darüber würde ich mich freuen«, erwiderte Claudia, und es war nicht herauszuhören, ob sie einen Scherz machte oder nicht.

Kaya informierte Trix gleich und zog sich dann auch schnell wieder ins Reiterstüble zurück. Das konnte ja noch dauern.

Ihr armer Flying Dream – da musste er sich nun getrenst und gesattelt die Beine in den Bauch stehen.

Ihre Freundinnen und auch die meisten anderen Leute hatten das Reiterstüble verlassen. Es war jetzt fast leer, dafür aber noch ungemütlicher. Überall standen leere Flaschen herum, halb volle Gläser und angebrochene Packungen mit Knabberzeugs. Kaya, die manchmal im Restaurant ihrer Eltern half, konnte so eine Unordnung nicht leiden, und so fing sie nach einer Weile tatsächlich an, zumindest mal den Müll wegzuräumen und die gebrauchten Gläser zusammenzustellen.

Das Radio dudelte, und als die ersten Reiter wieder in die Bahn kamen, wurde die weihnachtliche Musik für eine Meldung unterbrochen. Kaya hörte nur mit halbem Ohr hin, und so dauerte es, bis sie begriff, dass es um ausgebrochene Pferde ging, die irgendwo auf einer Landstraße herumlaufen sollten.

Gütiger Himmel, dachte sie. In den vergangenen Tagen hatte es viel geschneit, es war draußen eisglatt und stockdunkel, und kein Auto würde schnell genug bremsen können, wenn plötzlich ein Pferd aus der Dunkelheit auftauchen würde. Ärgerlich fand Kaya, dass sie nicht mitbekommen hatte, wo die rumliefen.

Sie überlegte, wie sie das am schnellsten herausbekommen könnte. Bis zur nächsten Meldung warten? Hier im Stall fehlten jedenfalls keine Pferde, das wäre sonst aufgefallen.

Sie überlegte noch, während sie durch die Scheibe sah, wie Claudia in die Tasche griff. Ihr Handy. Offensichtlich hatte sie vergessen, es auszuschalten. Das kam auch selten vor, es war tatsächlich ein denkwürdiger Abend. Claudia schaute kurz auf das Display, dann in die Runde – die Reiter formierten sich gerade wieder – und dann ging sie dran. Es dauerte nur einen kurzen Moment, da wurde sie total hektisch, und Kaya sah, wie sie die Reiter aufgeregt heranwinkte.

Was war denn jetzt schon wieder?

Aber sie winkte nicht nur die Reiter heran, sie winkte auch ihr zu. Ganz eindeutig. Was konnte sie von ihr wollen? Hatte jemand seine Bandagen vergessen? Oder lagen wieder Pferdeäpfel rum, die den Hufschlag blockierten? Kaya winkte zurück und versuchte, keinen Unwillen zu zeigen. Draußen war Frost, und sie hatte keine Lust, aus dem warmen Stüble durch die Kälte in die eisige Halle zu müssen. Außerdem wurde es durch die ständigen Verzögerungen immer später und später, und gerade für heute Abend hatte sie sich ›Fluch der Karibik‹ ausgeliehen und sich auf Johnny Depp gefreut. Und nun war sie hier der Depp?!

Dreamy würde sie auch langsam für verrückt halten, er war schließlich kein Pony, das durch ewig langes Rumstehen munterer wurde. Er würde nachher bei der Springquadrille bestimmt in Tiefschlaf fallen und als Traumwandler über die Hindernisse gehen, das wusste sie schon jetzt. Und wo waren überhaupt die anderen, der Rest der Wilden Amazonen? Hatten die sich etwa mit Chips und Cola auf den Heuboden verkrümelt? Das dort oben über die Jahre gebaute Nest würde sie nun auch mehr locken als Claudias Winken.

Nun gut.

»Tür frei«, rief sie, bevor sie dann doch in die Reithalle trat. Der Ruf war Pflicht, damit keiner einen anderen über den Haufen ritt oder selbst unter die Hufe geriet. Claudia kam schon auf sie zugelaufen. Die Reiter standen in einer Gruppe zusammen und debattierten – das wurde ja immer besser!

Kaya blieb stehen, wo sie war.

»Ich bin eben von der Polizei angerufen worden«, sagte Claudia atemlos. »Fünf Pferde sind irgendwo ausgebrochen und machen nun die Landstraße unsicher. Wir müssen sie einfangen!«

»Wir?« Kaya schaute sich unwillkürlich um. »Warum denn wir?«

»Weil sich keiner gemeldet hat, keiner scheint sie zu vermissen, und keiner weiß, wo sie herkommen.«

Au! Das war ja eine Chance! Vielleicht waren es edle Springpferde und sie konnte gleich eines behalten. Oder Zirkuspferde à la Knie? Oder ein Europameisterschaftspony, wie kürzlich eines für Chris gekauft wurde, ein Achtzigtausend-Euro-Kracher?

»Wo sind die?«, fragte Kaya, alle Lustlosigkeit war von ihr abgefallen.

»Irgendwo zwischen hier und Dettingen!«

Das war kurvig und waldreich und völlig unübersichtlich.

»Du liebe Güte! Und wie sollen wir das jetzt anstellen?«

»Die Polizei wird die Strecke sichern, wir nehmen den Pferde-LKW, trommeln hier alle Erwachsenen zusammen und fahren los!«

»Und unsere Generalprobe?«

»Die machen wir dann während der Aufführung!«

Oje! Das konnte ja was werden! Kaya lief Claudia hinterher, und in null Komma nichts waren alle Erwachsenen und Jugendlichen zusammengerufen. Sie befreiten eilig ihre Ponys von Sätteln und Trensen, stellten sie in die Boxen zurück und verteilten sich auf die Autos, die noch im Hof standen.

Kaya wollte gerade bei Claudia einsteigen, als sie sah, wie Chris mit seiner Mutter um die Ecke bog. Diesen Jeep würde sie unter Tausenden erkennen, der war einfach unverwechselbar. Vor allem weil meist Chris drin saß, ihre heimliche Liebe, der 15-Jährige, der eher wie ein cooler Beachboy denn wie ein Springreiter aussah. »Komm gleich nach«, sagte sie fix zu Claudia und schlug die Wagentür wieder zu. Sie lief, mit beiden Armen winkend, auf Simone Waldmann zu, und die stoppte ihren Jeep auch gleich und blieb abwartend stehen, während sich Chris aus dem offenen Fenster hinausbeugte.

»Brennt’s oder was?« Er zeigte auf die vielen Autos, die sich alle in eine Richtung in Bewegung setzten, und jetzt kam auch der große Pferdelastwagen aus dem Hof, den Claudias Mann fuhr.

»So ähnlich«, sagte Kaya schnell. »Fünf Pferde sind irgendwo ausgebrochen und laufen nun zwischen hier und Dettingen auf der Landstraße herum. Die Polizei hat angerufen, wir sollen sie einfangen!«

»Hast du dein Lasso dabei?« Chris runzelte die Stirn, und Kaya fand, dass er zum Anbeißen aussah. Wenn er nur nicht so elend auf ältere Frauen stehen würde. Dabei hatte ihre Schwester Alexa ihm schon klar gemacht, dass er nicht ihre Kragenweite war, aber es nützte nichts. Vor lauter Körbchengröße kriegte er wohl nicht mal mehr mit, dass sie schon 17 war.

»Willst du bei uns mitfahren? Dann helfen wir auch!« Endlich – die Erlösung. Die Frau war einfach auf Zack!

»Ja, gern!« Kaya stieg hinten ein und schickte dann eine SMS an ihre Schwester. Die würde ihre Eltern schon davon unterrichten, dass die Kleine heute voraussichtlich später nach Hause kommen würde.

»Fünf Pferde? Das muss doch jemandem auffallen, wenn die fehlen«, wunderte sich Simone Waldmann. Sie hatte eine dicke Daunenjacke an und eine Wollmütze auf dem Kopf. Sie sah immer wie Chris’ ältere Schwester aus, trug gern alte Jeans und T-Shirts, obwohl sie eine erfolgreiche Steueranwältin war. Ihr Mann dagegen lief immer wie aus dem Ei gepellt rum, ein Geschäftsmann vom Scheitel bis zur Sohle, sogar im Urlaub.

Wild Thing