EDITH WHARTON
DER PRÜFSTEIN
Novelle
Aus dem Amerikanischen
von Manfred Allié
DÖRLEMANN
Die Novelle »The Touchstone« erschien erstmals 1900
in Scribner’s Magazine.
eBook-Ausgabe 2014
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 1900 Edith Wharton
© 2004 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlagfoto: pio3/Shutterstock.com
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-908778-28-8
www.dörlemann.de
Edith Wharton
I
Im Namen von Professor Joslin, der, wie unsere geneigte Leserschaft wissen wird, mit der Abfassung von Mrs. Aubyns Biographie betraut ist, bitten wir alle Freunde der großen Schriftstellerin, die noch Informationen zu ihrem Leben vor der Zeit in England beisteuern können, um Mithilfe. Mrs. Aubyn hatte so wenige enge Freunde und folglich ist die Korrespondenz so schmal, daß jeder Brief von größtem Interesse wäre. Professor Joslins Adresse lautet Augusta Gardens 10, Kensington, und er bittet uns zu versichern, daß er alle ihm anvertrauten Dokumente umgehend zurückerstatten wird.
Glennard ließ den Spectator sinken und blickte ins Feuer. Der Club füllte sich allmählich, aber noch hatte er das kleine Hinterzimmer für sich, die Aussicht auf die im Dunkel versinkende regenglänzende Fifth Avenue. All das war so öde und trübsinnig, aber noch wenige Augenblicke zuvor hatte er, so absurd das war, etwas wie Empörung gespürt bei dem Gedanken, daß er selbst das ungeliebte Privileg, sich in diesen vier Wänden zu langweilen, noch würde aufgeben müssen. Nicht daß ihm der Club besonders am Herzen gelegen hätte, doch nun war ihm der Gedanke, daß er darauf verzichten sollte, gerade weil er so kleinlich, ja lächerlich war, ein Symbol seines unaufhaltsamen Niedergangs; immer weiter schraubte er seine Ansprüche zurück, bis ihm am Ende nichts weiter bleiben würde als die schiere Mühsal des Überlebens. Dies Gefühl der Vergeblichkeit, die Summe all seiner Rückschläge und Entbehrungen, machte jede stoischere Haltung unmöglich; er wußte, daß, auch wenn er sich noch so sehr mühte, alles Überflüssige abzustreifen, das eine, wonach er strebte, auch weiterhin unerreichbar fern am Horizont stehen würde. Es war leicht, etwas aufzugeben, wenn man damit die Mittel zur Ehe mit der geliebten Frau gewann; aber anders war es, wenn man diesem Ziel damit um keinen einzigen Schritt näher kam.
Durch die offene Tür sah er den jungen Hollingsworth, wie er sich, nur wenig erquickt von einem Brandy mit Soda, gähnend erhob und seine nichtsnutzige Gestalt ans Fenster schleppte. Glennard folgte seinen Bewegungen mit verächtlichem Blick. Das paßte zu Hollingsworth, daß er just in dem Moment ans Fenster ging, in dem es zu dunkel geworden war, um etwas zu sehen! Ein Mann, der reich genug war, alles zu tun, was ihm Freude machte – hätte er die Fähigkeit besessen, Freude zu empfinden –, und doch von allem ausgeschlossen durch seine eigene undurchdringliche Stumpfheit; und ein paar Schritt weiter Glennard, der nur genug für eine anständige Jacke wollte und ein Dach über dem Kopf der Frau, die er liebte – Glennard, der sich abgeplagt, geschuftet, der sich selbst verleugnet hatte, nur um die eine winzige Chance zu bekommen, aus der er in seinem Überschwang ein ganzes Königreich gemacht hätte, und der nun zusammengesunken dasaß und grübelte, daß er, selbst wenn er seine Mitgliedschaft im Club aufgab, wenn er auf die Zigarren und die Sonntagsausflüge aufs Land verzichtete, so weit von dieser Chance entfernt war wie am ersten Tag.
Der Spectator war zu Boden geglitten, und als er ihn aufhob, fiel sein Blick von neuem auf die an die Freunde von Mrs. Aubyn gerichteten Zeilen. Kaum merklich hatte sich bei der ersten Lektüre seine Aufmerksamkeit geregt: Ihr Name war schon so lange allgegenwärtig, daß er ihn längst überlas, wie die Menschenmenge an einem Denkmal vorüberhastet, ohne es eines Blickes zu würdigen.
Informationen zu ihrem Leben vor der Zeit in England … Die Worte waren wie ein Zauberspruch. Sie erschien von neuem vor seinem inneren Auge, so wie sie gewesen war, als sie sich zum erstenmal begegnet waren, die arme, geniale Frau mit dem langen, bleichen Gesicht und den kurzsichtigen Augen, damals noch mit einem gewissen Charme jugendlicher Unbefangenheit, aber auch da schon alles andere als atemberaubend. Wenn sie sprach, war sie wunderbar, mehr vielleicht als später, als, in Glennards Vorstellung zumindest, das Bewußtsein, daß sie denkwürdige Dinge sprach, selbst ihren vertraulichsten Worten den Liebreiz des Intimen nahm. Wenn er je einem Gefühl der Liebe zu ihr nahegekommen war, dann damals in jener ersten Zeit; obwohl es auch da schon eine flüchtige Regung war. Später, als jeder Mann sich ausgemalt hatte, wie es wäre, von ihr geliebt zu werden, hatte er, er hätte nicht sagen können warum, in ihrer Gegenwart eine solche Beklemmung verspürt, daß sie alle Anziehung des Geistes übertönt hatte, und die letzten Jahre waren für sie beide eine Qual, ein ständiger iderstreit aus Anziehung und Abstoßung gewesen. Selbst jetzt erfüllte ihn, wenn er in alten Papieren suchte und dabei auf ihre Briefe stieß, ein dumpfes, unbestimmbares Gefühl des Elends …
Mrs. Aubyn hatte so wenige enge Freunde … daß jeder Brief von größtem Interesse wäre. So wenige Freunde! Über Jahre hinweg hatte sie nur einen einzigen gehabt; einen, der in den letzten Jahren ihre wunderbaren Zeilen, ihre tragischen Liebesschwüre, ihre Zerknirschung, ihr Flehen um Verzeihung nur noch mit den knappen Erwiderungen vergolten hatte, mit denen ein Mann sich aus der schimpflichsten aller Herzensverstrickungen windet. Er hatte sie gekränkt, ohne es zu wollen, und nun, wo die Erinnerung an ihr Antlitz verblich und nur ihre Stimme und ihre Worte ihm blieben, grämte er sich, weil seine eigene Schwachheit verhindert hatte, daß er sich auf die Höhe ihrer Leidenschaft erhob. Er mochte selbstsüchtig gewesen sein, aber es war nicht die Art von Eitelkeit, die in einem solchen Abenteuer ihr Vergnügen findet. Daß die faszinierendste Frau ihrer Zeit ihn geliebt hatte und daß er nicht in der Lage gewesen war, sie wiederzulieben, schien für ihn, nun wo er darauf zurückblickte, ein Beweis einer geradezu lächerlichen Unzulänglichkeit, und in das zärtliche Gefühl der verlorenen Chance mischte sich eine Portion Wut darüber, daß sie ihm so deutlich die Grenzen seiner eigenen Fähigkeit zur Liebe vor Augen geführt hatte. Allerdings geschah es nicht oft, daß er so zerknirscht an seine Vergangenheit zurückdachte. Je mehr die Öffentlichkeit Besitz von Mrs. Aubyn ergriffen hatte, desto mehr hatte sie die Last von seinen Schultern genommen. Es war töricht, sich mit dem sentimentalen Gefühl des Versagens einer Frau gegenüber zu plagen, die bereits Legende war: sich Vorwürfe zu machen, daß man Margaret Aubyn nicht geliebt hatte, das war, als quäle einen die Unfähigkeit, die Venus von Milo zu bewundern. Aus ihrer kühlen Nische des Ruhms blickte sie ein wenig spöttisch hinunter auf die Art, wie er sich geißelte … Nur wenn er auf etwas stieß, was ihn an sie erinnerte, spürte er, wie das alte Gefühl zurückkehrte, der seltsam widersprüchliche Impuls, der ihn zu ihrer Stimme hingezogen hatte, doch vor ihrer Hand zurückschrecken ließ, so daß selbst jetzt noch beim Anblick von allem, was sie berührt hatte, sein Herz sich schmerzlich zusammenzog. Aber inzwischen kam es nur noch selten vor. Eins nach dem anderen waren ihre kleinen Geschenke aus seiner Wohnung verschwunden, und die Briefe, aufbewahrt aus einem kindischen Stolz auf die Schätze, die er besaß, fielen ihm kaum noch in die Hände …
Jeder Brief von größtem Interesse … Er mußte Hunderte davon besitzen – genug für einen ganzen Band. Es hatte Zeiten gegeben, da schien es ihm, als kämen sie mit jeder Post – er sah schon gar nicht mehr in den Briefkasten, wenn er nach Hause kam, aber es war, als sprängen ihm ihre Briefe entgegen, sobald er den Schlüssel ins Schloß steckte.
Er erhob sich und schlenderte hinüber in den anderen Raum. Hollingsworth hatte sich zu einer Gruppe von Männern gesellt, die müßig beieinanderstanden; in Worten so zögernd, als ringe er um die letztgültige Fassung einer philosophischen Wahrheit, legte er ihnen dar, was für eine Schande es war, daß man in einem Loch mit einem so jämmerlichen Klima lebte, daß man es schon im Februar nicht mehr aushielt, und daß einem, da es ja keinen anständigen Ort gebe, an den man mit seiner Jacht im Winter fahren könne, nichts anderes übrigblieb, als in einem genauso jämmerlichen Loch, an der Riviera, Zuflucht zu suchen. Glennard, der am Rande dieser Gruppe innegehalten hatte, wanderte weiter zur nächsten, wo eine Stimme, deren Unterschied zu Hollingsworths tonlosem Organ nicht größer hätte sein können, einem weiteren Zirkel von gelangweilten Zuhörern zusetzte.
»Kommen Sie, lassen Sie sich von Dinslow von seinem Patent erzählen: Eintritt frei«, rief ihm einer der Männer mit gespielter Verzweiflung entgegen.
Dinslow sah Glennard an, ein Grinsen, schon beinahe bissig vor Selbstvertrauen. »Geben Sie ihm noch ein halbes Jahr, dann wird es seine Geschichte selbst erzählen«, verkündete er. »Die ersten Worte plappert es schon.«
»Sagt es schon Papa?« fragte ein anderer.
Dinslows Grinsen wurde noch breiter. »In einem Jahr werden Sie froh sein, wenn Sie zu ihm Papa sagen dürfen«, antwortete er. »Da wird es so im Geld schwimmen, daß es sogar Ihre Rechnung zahlen kann. Aber lassen Sie sich erklären, was es damit –«
Ungeduldig zog Glennard weiter. Die Männer im Club – außer denen, die »dazugehörten« – konnten die Geschichten von Dinslows Patent nicht mehr hören, und keiner von ihnen war ihrer überdrüssiger als Glennard, der genug darüber wußte, daß es einen Platz ganz oben im langen Katalog seiner verpaßten Chancen einnahm. Die beiden Männer hatten sich auf Anhieb gut verstanden, und Dinslows Angebot, ihn »mit an Bord zu nehmen«, war für Glennard nur ein weiterer Beweis seiner Unfähigkeit, das Glück beim Schopfe zu packen, wenn es sich ihm bot. Einige, die innegehalten hatten und zuhörten, waren schon in Abendgarderobe, andere waren auf dem Heimweg, um sich umzuziehen; und Glennard gestand sich mit einem nur zu gut gekannten Gefühl der Beschämung ein, daß er nur deswegen blieb, weil er die elende Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, daß einer von ihnen ihn zum Abendessen einlud. Miss Trent hatte ihn wissen lassen, daß sie mit ihrer reichen Tante in die Oper gehe, und wenn er Glück hatte und eine Einladung zum Essen fand, konnte er ihnen dort ohne zusätzliche Kosten Gesellschaft leisten.
Er zog durch den Raum, hielt bald hier, bald dort inne und heuchelte Interesse; doch auch wenn die Männer ihn freundlich begrüßten, lud ihn keiner ein, sich ihm anzuschließen. Zweifellos hatten sie alle schon ihre Verabredungen, diese Männer, die sich ihr eigenes Essen leisten konnten und nicht nach einer Einladung fischen mußten wie ein Bettler in einem Aschkübel nach Brotkrusten. Doch nein – als Hollingsworth sich von dem schon kleiner gewordenen Zirkel verabschiedete, rief ein jugendlicher Bewunderer: »Holly, essen Sie doch mit mir!«
Hollingsworth sah ihn an, mit seinen groben Zügen, die immer wie die umgestülpte Rückseite eines ansehnlicheren Gesichtes wirkten. »Schon vergeben, tut mir leid. Man erwartet mich zu einem Festbankett.«
Glennard ließ sich in einen Lehnstuhl fallen. Warum sollte er sich die Mühe machen, im Regen nach Hause zu fahren und sich umzuziehen? Was hatte er davon, wenn er mit einer Droschke zur Oper fuhr, was hatte er davon, wenn er überhaupt dorthin fuhr? Sein Werben um Alexa Trent war so unaufrichtig zu dem Mädchen, wie es heuchlerisch gegenüber sich selbst war. Da er nicht in der Lage war, sie zu heiraten, sollte er das Feld räumen und einem besseren Mann die Chance lassen – und er mußte eingestehen, daß unter den Umständen ein Mann, der gute Chancen hatte, Hollingsworth war.