Ela Aslan

In Zusammenarbeit mit
Veronika Vattrodt

Plötzlich war ich
im Schatten

Mein Leben als Illegale in Deutschland

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In dieser Reihe außerdem erschienen:

Christina Helmis: Mein Lollimädchen-Ich
Mein Leben mit der Magersucht
Josephine Opitz: Auf dem Laufsteg bin ich schwerelos
Mein Leben als Model im Rollstuhl
Angela S.: Dann bin ich seelenruhig
Mein Leben als Ritzerin
Mihrali Simsek: Mit 18 mein Sturz
Mein Leben im Gefängnis
Sabrina Tophofen: So lange bin ich vogelfrei
Mein Leben als Straßenkind

 

 

 

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nachfolgenden Text von der Redaktion geändert.

1. Auflage 2012
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Frauke Schneider
unter Verwendung einer Illustration
von © plainpicture/Mohamad Itani
ISBN 978-3-401-80150-6

www.arena-verlag.de
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Prolog

Gleich kommen sie. Ich sitze neben meinem Onkel Ardar auf der Parkbank, meine Hand ganz fest in seiner. Seine Hände sind groß und innen schwielig von der Arbeit. Sie sind warm und trocken. Ich kenne sie mein Leben lang. Sie fühlen sich nach zu Hause an.

Es ist heiß hier, obwohl wir unter mächtigen, alten Bäumen sitzen. Von der Straße wabert der Lärm der Autos und der Straßenhändler zu uns herüber. Mit einem tiefen Grollen fliegt ein Passagierflugzeug im Landeanflug über unsere Köpfe hinweg. Mit offenem Mund starre ich ihm hinterher. Das ist das größte Flugzeug, das ich jemals gesehen habe. Ich bin tatsächlich in Istanbul!, denke ich voll freudiger Aufregung. Meine Traumstadt! Hier will ich später leben und studieren, das habe ich mir schon genau ausgemalt.

Als wir gestern Nachmittag endlich die Vororte der Stadt erreichten, habe ich mir die Nase an der Busscheibe platt gedrückt. Noch nie habe ich so viele Menschen und Autos und so viel Gewimmel auf einmal gesehen. Für einen Moment war alles andere vergessen, das ganze Chaos der letzten Wochen und Monate. Wie toll und aufregend muss es sein, hier zu leben!

Die Hand meines Onkels umschließt meine Finger ganz fest, während er konzentriert zum Parkeingang hinüberschaut. Mein neuer Koffer steht neben der Bank und ich fühle den Stoff meines weichen grünen Minirocks an den Beinen.

Er hat sie gesehen. Ich folge seinem Blick. Dort, in der Nähe des Eingangs, biegen zwei Männer um die Ecke und kommen auf uns zu. Hilfe suchend sehe ich meinen Onkel an. Was passiert jetzt? Seine Augen sind fast schwarz, als er meinen Blick erwidert. Da ist etwas in ihnen, was ich nicht deuten kann. Er versucht zu lächeln.

»Ela, du musst jetzt groß und tapfer sein! Ich weiß, dass du das schaffst. Jetzt darfst du endlich einmal selbst in einem echten Flugzeug sitzen, das hast du dir doch immer so gewünscht!«

Aufmunternd zwinkert er mir zu. Ich verstehe nicht.

»Aber du kommst doch mit?« Meine Stimme klingt dünn, nicht wie die einer Zwölfjährigen. Die beiden Männer sind schon fast auf unserer Höhe. Noch um den Brunnen herum, dann haben sie uns erreicht. Mein Blick flitzt zwischen ihnen und meinem Onkel hin und her. Mein Onkel holt tief Luft und versucht, mich zu beruhigen.

»Ela, glaub mir, wir würden dich doch niemals irgendwelchen bösen Männern mitgeben! Die beiden bringen dich zu deinen Eltern. Endlich darfst du zu deinem Papa und deiner Mama!«

Seit fast einem Jahr wache ich jeden Morgen in meinem Bett im Haus meiner Großeltern auf und wünsche mir genau das. Dass ich endlich meine Eltern und Geschwister wiedersehe. Dass alles wieder so wird wie früher. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie sie plötzlich vor der Tür stehen und wie ich mich in die Arme meiner Mama werfe und tief ihren Geruch einsauge.

Aber das hier, das will ich nicht. Mein Leben ist doch hier, wo ich zu Hause bin. Mein Bauch zieht sich vor Angst zusammen.

Ich will hier nicht weg! Ich will morgen früh wieder zur Schule gehen und nachmittags mit meiner Freundin Ümran Musik hören. Oder mit den Ponys ein Wettrennen über die große Wiese hinterm Garten machen. Ich will auf dem Rücken liegen und die Sprühflugzeuge beobachten, die über mich hinwegfliegen. Von mir aus auch den Gemüsegarten von Oma und Opa wässern. Ich will mit meinem Onkel auf seinem Trecker über das Feld fahren und dabei so heftig hin und her geschüttelt werden, dass wir beide lachen müssen. Ich will meine Lieblingsserie im Fernsehen anschauen und Meral Nachhilfeunterricht in Mathe geben. Bei der nächsten Klassenarbeit schafft sie bestimmt eine Zwei und das müssen wir doch feiern.

Ich will einfach nur, dass alles wieder gut wird. Dass ich wieder mit Mama und Papa und Selin und Deniz in unserem Haus neben Oma und Opa wohne. Seitdem sie weg sind, bin ich nicht mehr vollständig. Es fühlt sich an, als ob mir jemand einen Arm oder ein Bein abgehackt oder etwas aus meinem Inneren herausgerissen und mitgenommen hat.

Mein Onkel steht ruckartig von der Parkbank auf. Dabei lässt er meine Hand nicht los, sodass er mich mit sich hochzieht. Mit seiner freien Hand streicht er sich seine Hose glatt. Er ist groß und stark — und mein Lieblingsonkel. Und er sieht aus wie mein Papa, nur etwas jünger.

Die beiden Männer sind jetzt nur noch ein paar Meter von uns entfernt. Der eine nickt meinem Onkel zu, gibt ihm zu verstehen, dass er uns erkannt hat. Wie betäubt klammere ich mich an die Hand meines Onkels und starre ängstlich auf meine Schuhspitzen. Bitte, bitte, lass mich jetzt aufwachen aus diesem schlimmen Traum.

Und dann stehen sie vor uns. Der eine hat einen Schnauzer und unter seinen dichten Augenbrauen huschen flinke dunkle Augen hin und her. Der andere hat eine große Nase, obwohl er sonst eher klein und schmächtig ist. Sie begrüßen meinen Onkel wie einen alten Bekannten, den man zufällig im Park trifft. Der mit dem Schnauzer streicht mir über den Kopf, dann nimmt er meinen Koffer und wir gehen alle nebeneinander durch den Park und hinaus auf die Straße.

Den Blick auf meine Füße geheftet sehe ich, wie sie einen Schritt vor den anderen machen, vollkommen automatisch. Die Panik schnürt mir die Luft ab. Ich versuche, mich nur noch auf die warme Hand meines Onkels zu konzentrieren, die noch immer ganz fest meine Finger umschließt. Am liebsten würde ich mich ganz in der Wölbung seiner Hand verkriechen und mich darin einrollen. Von weit weg höre ich die drei Männer miteinander sprechen, dazwischen das Klacken unserer Absätze auf dem Asphalt.

Ich weiß nicht, wie lange wir so gehen. Wir passieren eine Reihe von Taxis. Die Fahrer stehen in Grüppchen zusammen, jemand lacht. Niemand scheint uns zu beachten.

Dann betreten wir ein großes Gebäude. »Flughafen Istanbul Atatürk« steht über dem Eingangsportal. Wir durchqueren lange Gänge und große Hallen, bis wir vor einem Schalter stehen bleiben. Der Mann mit dem Schnauzer zieht drei Flugtickets aus seiner Jacketttasche und reicht sie der Frau hinter dem Schalter. Dann hebt er meinen neuen Koffer auf das Rollband. Während sie einen Aufkleber um den Griff bindet, unterhalten sie sich über die Hitze in diesem September. Lachend schaltet sie das Rollband ein und der Koffer ruckelt davon, immer weiter von mir weg, bis er zwischen grauen Plastikstreifen verschwindet.

Nur ein paar Meter neben den Schaltern ist ein Durchgang, der von zwei Polizisten bewacht wird. Sofort schrillt in meinem Kopf eine Alarmglocke – Polizei! Beruhigend drückt mein Onkel meine Finger, aber ich kann fühlen, dass auch seine Hand vor Nervosität feucht geworden ist.

Mein Onkel zieht mich in eine Ecke, außer Sichtweite der Polizisten. Die beiden Männer bleiben abwartend ein paar Meter entfernt an einem Zeitungsstand stehen und blättern scheinbar interessiert in Zeitschriften.

Mein Onkel geht in die Hocke, sodass wir uns in die Augen sehen können. Er versucht, mich aufmunternd anzulächeln, und will etwas sagen. Aber dann atmet er laut aus, als hätte er beschlossen, es doch lieber zu lassen. Ich bemerke, wie sich seine dunklen Augen mit Tränen füllen und seine Mundwinkel zucken. Ganz fest nimmt er mich in seine Arme. Da ist er wieder, dieser seltsame Blick. Und auf einmal begreife ich. Abschied, in seinen Augen steht Abschied.

Für einen kurzen Moment öffnet sich in meinem Kopf eine Tür.

Ich verlasse meine Heimat. Ich fliege in ein Land, das ich noch nie gesehen habe. Vielleicht komme ich nie mehr wieder.

Dann schließt sich diese Tür wieder.

Das ist einfach zu viel, das kann nicht sein.

Ich atme tief ein, als müsste ich gleich eine lange Strecke unter Wasser tauchen. Dabei rieche ich den vertrauten Geruch seiner Jacke.

»Ela, denk jetzt nur noch an Mama und Papa, hörst du?«

Die Stimme von meinem Onkel ist ganz rau. Ich grabe mein Gesicht in seine Schulter, schluchze leise und nicke.

Dann steht er auf und schaut zu den beiden Männern hinüber. Sofort sind sie an meiner Seite. Jetzt ist es der Schmächtige mit der großen Nase, der nach meiner Hand greift. Sie fühlt sich fremd an, kalt und glatt. Er sieht mich freundlich an. »Du brauchst keine Angst zu haben! Wir bringen dich zu deinem Papa, der freut sich so auf dich! Und deine Mama hat schon ein Festessen gekocht!«

Die beiden nehmen mich in ihre Mitte und wir gehen auf die Tür mit den Polizisten zu. Heimlich blinzle ich eine Träne weg.

Mein Onkel bleibt in der Halle stehen. Ich solle mich nicht umdrehen und nichts sagen, flüstert mir der Schnauzbart mit den flinken Augen zu. Dann stehen wir vor den Polizisten, die unsere Tickets kontrollieren.

Einer von ihnen schaut auf mich herab: »Na, dein erster Flug? Du brauchst keine Angst zu haben, runter kommt man immer!« Die beiden Männer und der andere Polizist lachen, dann passieren wir die Kontrolle.

Ich versuche tapfer zu sein und beiße mir auf die Lippen, bis sich ein metallener Geschmack in meinem Mund ausbreitet. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so allein und schutzlos gefühlt.

Jetzt werfe ich doch einen schnellen Blick zurück. Ich kann einfach nicht anders. Durch die große Glasfront sehe ich meinen Onkel. Er steht noch genau da, wo wir uns verabschiedet haben. Als er sich vorhin aus der Hocke wieder aufgerichtet hat, hat er seine Hose nicht glatt gestrichen, sodass sie an den Knien noch ausgebeult ist. Seine Arme hängen schlaff herunter und ich kann sehen, wie ihm Tränen das Gesicht herunterlaufen. Für einen Augenblick scheinen sich unsere Blicke zu begegnen, dann verschwimmt alles vor meinen Augen und in mir zerreißt etwas mit einem lauten »Ratsch«.

1. Kapitel

Türkei – mein Zuhause

Ich bin zehn Jahre alt und ich mag mein Leben.

Heute ist es so heiß, dass die Felder hinter dem Schulfenster nicht nur flimmern, sondern vor meinen Augen zerfließen. Es ist stickig im Klassenzimmer und ich spüre ein paar Schweißtropfen meinen Nacken hinunterlaufen. Aber davon lasse ich mich nicht ablenken. Konzentriert schaue ich nach vorn zur Tafel, an die die Lehrerin mathematische Formeln schreibt. Ich mag meine Lehrerin.

Heute Mittag kann ich nicht schnell genug nach Hause kommen. Wie der Wind flitze ich aus der Schule heraus, dann durch ein paar Baumwollfelder und schließlich durch die breite Dorfstraße nach Hause. Ich mache mir nicht die Mühe, die Schuhe auszuziehen, auch wenn ich deswegen bestimmt Ärger kriege. Meine Schultasche noch über der Schulter, renne ich durch den Flur in die Küche.

»Mama, weißt du, was? Morgen kommt der Bürgermeister in unsere Schule! Und Frau Aydin hat gesagt, dass die besten Schüler von ihm eine Urkunde bekommen!«

Mama steht an der Spüle und schneidet Kräuter. Ich erkenne mein Lieblingsessen am Geruch, noch bevor ich den Topf auf dem Herd erblicke, in dem es vor sich hin blubbert. Aus dem Wohnzimmer höre ich den Fernseher, meine Geschwister sind schon zu Hause.

Mama schaut erschrocken auf, sie hat nicht bemerkt, wie ich zur Tür hereingekommen bin. Als sie meine Schuhe sieht, zieht sie für einen Moment ärgerlich die Augenbrauen zusammen.

»Mama, überleg doch mal! Vielleicht krieg ich ja auch eine Urkunde!« Jetzt muss sie doch lachen und schaut mich liebevoll an.

»Und bis dahin bleibt dir noch genügend Zeit, dir die Schuhe auszuziehen und den Tisch zu decken – Deniz und Selin sind schon ganz quengelig vor Hunger.«

Immer noch aufgedreht schmeiße ich meine Schultasche achtlos auf einen Stuhl, wofür ich mir von Mama ein tadelndes Zungenschnalzen einfange. Aber das überhöre ich einfach. Ob der Bürgermeister wohl ganz alleine kommt? Aus dem Küchenschrank hole ich fünf Teller und beginne, den Tisch zu decken.

»Papa isst nicht mit, Schatz, vier Teller reichen.«

Erstaunt schaue ich Mama an. Ihr rechtes Auge zuckt ein bisschen. Wie immer, wenn sie sich über irgendwas aufregt oder angespannt ist. Schnell senkt sie den Blick und wäscht sich die Hände.

»Er kommt sicher in ein paar Tagen wieder. Er muss die Saisonarbeiter in die Stadt fahren und hofft, gleich wieder neue Arbeiter für die Zuckerrohrernte mitbringen zu können.«

Ich bin enttäuscht: Dann ist er ja morgen gar nicht da! Aus dem Wohnzimmer ertönt ein Knall, dann fängt mein kleiner Bruder an zu schreien.

Meine Mutter seufzt. »Ela, schau mal bitte nach, worüber sich die beiden jetzt schon wieder streiten.«

Genervt marschiere ich ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ab. Mein fünfjähriger Bruder Deniz hält sich den Arm und heult wütend, während meine siebenjährige Schwester Selin schimpfend auf dem Boden herumkriecht und kleine Puppentassen und Teller aufsammelt. Auf so was hab ich jetzt echt keine Lust. Streng schaue ich beide an.

»Deniz – du weißt genau, dass du nicht mit Selins Puppengeschirr spielen darfst! Und du hörst endlich auf, Deniz zu kneifen, du bist doch kein Baby mehr!«

Ich überlege gerade, ob ich noch einen draufsetzen soll, da spüre ich, wie mir etwas ums Bein streicht. Erfreut bücke ich mich.

»Na, du alter Langschläfer! Haben dich die beiden geweckt?«

Mein Kater Pamuk stellt sich auf die Hinterbeine und versucht, sich mit den Vorderpfoten an meiner Schulter hochzuziehen. Mit seinem weißen Fell sieht er aus wie ein Wollknäuel. Er wird langsam alt und schläft fast nur noch. Ich helfe ihm auf meine Schulter, wo er es sich schnurrend bequem macht.

»Kinder – Essen!«

Später sitze ich in meinem Zimmer am Schreibtisch und mache Hausaufgaben. Pamuk liegt schnarchend auf meinem Bett hinter mir. Das Fenster steht offen und immer wieder verirrt sich ein Hundebellen, das Rufen von Kindern oder ein Mopedknattern zu mir herein. Von meinem Fenster aus kann ich das Haus meiner Großeltern sehen. Mein Onkel, der jüngste Bruder meines Vaters, wohnt auch noch dort. Ich liebe meinen Onkel. Er ist lustig und immer da. Im Gegensatz zu Papa. Nachdenklich kaue ich auf meinem Stift und starre ins Leere. In letzter Zeit ist er oft weg. Das war doch früher anders, oder?, überlege ich. Vielleicht liegt es daran, dass er noch mehr Land gekauft hat . . .

»Ela! Ich bin schon fertig, ich komm zu dir hoch!« Das ist die Stimme meiner Freundin Ümran. Ich beuge mich zum Fenster hinaus und spähe auf die Straße hinunter, aber da höre ich sie schon die Treppe hochrennen. Mist, ich hab vor mich hin geträumt und bin noch nicht fertig mit meinen Hausaufgaben.

Ümran und ich wollen Musik hören. Das haben wir vorhin in der Schule beschlossen. Stolz schaue ich zum Regal hinüber. Da steht er, mein nagelneuer Ghettoblaster. Ein Onkel, der ältere Bruder meiner Mutter, hat ihn mir letzte Woche geschenkt. Er lebt mit seiner Familie in der Schweiz und war zu Besuch hier. Wenn ich das silbrig glänzende Gerät anschaue, komme ich mir gleich viel älter vor, cooler irgendwie. Die Tür fliegt auf und Ümran kommt rein und wirft sich schnaufend aufs Bett. Pamuk schaut irritiert auf, dann kringelt er sich wieder zusammen. Ümran hält eine CD in die Höhe. »Der neuste Hit aus Istanbul – Bauchtanz!« Lachend stehe ich auf und schiebe die CD in den Rekorder. Hausaufgaben kann ich später auch noch machen.

2. Kapitel

Türkei – Flugblätter

Normalerweise trödle ich morgens immer und Mama muss mich antreiben, damit ich noch Zeit zum Frühstücken habe. Aber heute Morgen bin ich die Erste im Bad. Das wird bestimmt ein super Tag – der Bürgermeister kommt und deswegen fällt der Religionsunterricht aus, einfach klasse! Ich liebe die Schule, aber ich hasse den Religionsunterricht. In allen anderen Fächern bin ich Klassenbeste und krieg nie eins mit dem Rohrstock auf die Finger, nur in Religion. Ich kann das einfach nicht, den Koran auf Arabisch lesen, das ist der totale Horror für mich! In meinem Dorf leben viele kurdische Aleviten wie wir, aber auch Türken und Libanesen. Es gibt weder Kirche noch Moschee und zu Hause beten wir auch nicht regelmäßig. Mein Opa sagt immer: »Wir glauben an Gott, das ist die Hauptsache. Wichtig ist außerdem, nicht zu lügen und nicht böse zu deinen Mitmenschen zu sein! Wenn du danach lebst, musst du dir keine Gedanken über das Paradies oder die Hölle machen, dann kommst du schon an den richtigen Ort.«

Aber meine Lehrerin scheint das ganz anders zu sehen.

Heute bin ich besonders gründlich mit meiner Morgentoilette. Ich kämme meine Haare, bis sie glänzen. Sie reichen mir fast bis zum Po und es dauert eine Weile, bis ich sie zu zwei ordentlichen Zöpfen geflochten habe, die ich mit Schleifen festbinde. Meine dunkelblaue Schuluniform ist frisch gewaschen und der weiße Kragen ist glatt gebügelt. Prüfend betrachte ich meine Finger. Alle sauber und die Nägel schön kurz. Wenn ich heute schon um die Schläge im Religionsunterricht rumkomme, muss ich ja nicht durch die Morgenkontrolle fallen, um sie mir da einzufangen!

Aufgeregt schlinge ich noch ein Stück Fladenbrot mit Schafskäse runter und stecke mir ein paar kleine Tomaten aus Omas Garten in den Mund. Dann springe ich auf, küsse Mama und bin schon zur Tür hinaus. Als ich die Hälfte des Schulwegs geschafft hab, fällt mir siedend heiß ein, dass meine Mappe mit den Zeugnissen noch auf dem Küchentisch liegt. Verdammt, die sollten wir heute doch mitbringen, damit sie der Bürgermeister sehen kann! So schnell ich kann, renne ich nach Hause. Als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich, wie sich Mama von zwei Männern verabschiedet. Ich kenne sie nicht, sie sind nicht von hier. Verstohlen schaut sich Mama um, ob auch kein Nachbar in der Nähe ist, dann schließt sie die Tür. Kurz darauf stürze ich in die Küche. Mama fährt zu mir herum. Dabei versucht sie hektisch, irgendwelche Papiere hinter dem Rücken zu verbergen.

»Ela! Mein Gott, du hast mich zu Tode erschreckt! Was ist denn los, warum bist du nicht in der Schule?«

Ich bin verunsichert, irgendwas stimmt nicht. Mama klingt sauer, nicht besorgt wie sonst. Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Schnell schnappe ich mir die Zeugnismappe vom Tisch, dabei fällt mein Blick auf ein Blatt, das zu Boden gefallen ist. »Freiheit für die Kurden!«, steht in dicken Buchstaben darauf. Haben die Männer, die ich eben weggehen gesehen habe, etwas damit zu tun?

Der Bürgermeister! Wenn ich jetzt nicht sofort losflitze, komme ich zu spät!

»Ich hab die Mappe vergessen, Mama, ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät!« Und weg bin ich.

Mittags lassen Ümran und ich uns Zeit. Wir reden über das neue Kleid, das die Lehrerin heute anhatte. Und darüber, wer vom Bürgermeister gelobt wurde. Meine Backen sind ganz rot, so stolz und aufgeregt bin ich noch immer. In meiner Schultasche steckt in einem durchsichtigen Schutzumschlag eine Urkunde vom Bürgermeister, mit Unterschrift und Siegel. Die vier besten Schüler der Schule haben eine gekriegt, darunter Ümran und ich. Meine Freundin und ich strahlen uns an.

»Weißt du, was, Ela? Wenn wir so weitermachen, können wir später vielleicht sogar studieren! Vielleicht werden wir ja selbst Lehrerinnen?«

Ich muss an meinen letzten Besuch in der Kreisstadt denken. Diese großen Häuser. Und jedes sieht anders aus – manche haben ganz viele Fenster oder welche, die so glänzen wie diese supercoolen Sonnenbrillen. Ich mag Häuser. Und ich liebe es, mir vorzustellen, zu wem welches Haus am besten passen würde. Es muss schön sein, sich solche Gedanken zu machen und dann die jeweiligen Häuser zu entwerfen.

»Ich will mal Architektur studieren – in Istanbul!«

Istanbul, das ist meine Traumstadt, auch wenn ich sie nur aus dem Fernsehen und von Bildern kenne; sie ist großartig.

»Du spinnst ja!« Lachend knufft Ümran mich in die Seite. »So was studieren doch nur Männer!«

Zu Hause angekommen ziehe ich mir meine Schuhe im Flur aus, bevor ich in die Küche marschiere. Durch den Türspalt sehe ich Papa mit Mama am Küchentisch sitzen.

Er ist wieder da! Freudig macht mein Herz einen Satz. Schnell schiebe ich die Tür auf.

»Papa, rate mal, was heute in der Schule passiert ist! Ich habe eine Auszeichnung bekommen und der Bürgermeister hat gesagt, dass ich so weitermachen soll! Und Frau Aydin hatte ein ganz komisches neues Kleid an und Ümran hat auch eine Urkunde gekriegt!«

Ich schaue von Papa zu Mama. Warum sagen sie denn nichts? Mama hat ganz rote Augen und ein zerknülltes Taschentuch in der Hand. Jetzt steht Papa auf und nimmt mich in den Arm.

»Ich bin so stolz auf dich, meine große Tochter.« Er hat seinen Anzug und ein Hemd an. Ich finde es immer ungewohnt, ihn in etwas anderem als seinen dicken Stiefeln und seiner Arbeitshose zu sehen. Aber wenn er in die Stadt muss, zieht er sich immer ordentlich und sauber an. Doch heute ist es anders: Sein Hemd ist am Kragen schmutzig und seine Hose zerknittert. Als ich ihn drücke, kann ich spüren, wie er für einen Moment zusammenzuckt, als ob ihm etwas wehtut. Schnell lasse ich ihn wieder los.

Jetzt steht auch Mama auf und nimmt mein Gesicht in ihre Hände.

»Ela, das müssen wir feiern! Heute Abend lade ich Oma und Opa und Onkel Ardar zum Essen ein.«

Sie lächelt mich an, aber ihre Augen sehen trotzdem traurig und dunkel aus.

In der Nacht wache ich auf. Pamuk hat sich in meiner Armbeuge zusammengerollt und schnarcht leise. Seine rechte Vorderpfote zuckt im Schlaf. Von unten dringen Stimmen zu mir herauf. Das sind bestimmt nur Mama und Papa, die noch mit Oma und Opa und Onkel Ardar im Wohnzimmer sitzen, beruhige ich mich und will mich umdrehen, um weiterzuschlafen. Aber dann höre ich lautes Stimmengewirr wie bei einem Streit. Alarmiert schlage ich die Bettdecke zurück und schleiche zum Treppenabsatz.

»Wir können uns doch nicht immer nur wegducken und uns kleinmachen lassen – was soll denn aus unseren Kindern werden?!«

Opas Antwort klingt fast bittend. »Du weißt, dass ich es wichtig finde, aufrecht zu sein und für seine Rechte einzustehen. Aber was du da machst, führt doch zu nichts, außer dass du dich und deine Familie in Gefahr bringst. Das hast du doch schon am eigenen Leib zu spüren gekriegt!«

Ich vernehme ein Schluchzen – wer weint da? Dann schließt jemand leise die Tür.

3. Kapitel

Türkei – wir müssen weg!

Heute ist Sonntag. Die Tage werden langsam kürzer und es wird kühler. Papa und Onkel Ardar sind jetzt jeden Tag draußen bei der Ernte. Papa ist immer noch viel unterwegs – in der Stadt, um Dinge zu regeln. Ich frage nicht mehr nach, versuche einfach, nicht mehr darüber nachzudenken. Aber jedes Mal, wenn ich nach Hause komme und seine Schuhe im Flur stehen sehe, bin ich erleichtert.

Die Vormittage verbringe ich mit meinen Geschwistern und Ümran bei Oma und Opa. Omas Gemüsegarten ist voller reifer Auberginen, Zucchini und Tomaten. Es macht Spaß, meinen Großeltern beim Pflücken zu helfen. Oma hat immer leckere Limonade für uns und Opa albert mit Deniz herum, bis der glucksend auf dem Rücken zwischen den Gemüsereihen liegt.

Ümran und ich sind dafür zuständig, das geerntete Gemüse in die Küche zu tragen. Schnaufend hieve ich einen Korb voller Möhren auf die Spüle. Als ich mich umdrehe, werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Von hier schaut man auf unser Haus, das etwas versetzt auf der anderen Straßenseite steht. Jetzt parkt ein großer Polizeijeep direkt vor unserer Haustür. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück, obwohl man mich hier drinnen nicht sehen kann. Aber Polizei bedeutet Ärger, das weiß jedes kurdische Kind in unserem Dorf.

Papa! Mama! Was mach ich denn jetzt? Ich will zu Opa und Oma in den Garten rennen, aber meine Beine gehorchen mir nicht und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Was ist, wenn die Polizisten jemanden mitnehmen? Papa ist heute Morgen ganz früh aufs Feld hinausgegangen, hoffentlich ist er noch nicht zurück! Ich starre aus dem Fenster. Los, kommt schon raus und steigt in euren Jeep!

Nach einer gefühlten Ewigkeit geht endlich die Tür auf. Zwei Polizisten treten selbstbewusst und breitbeinig auf die Straße. Hinter ihnen kann ich Mama in der Tür stehen sehen. Sie hat ihre Küchenschürze umgebunden und die Hände vor dem Bauch gefaltet. Sie steht ganz aufrecht und still da. Aber ich bilde mir ein zu sehen, wie ihr rechtes Augenlid zuckt. Sie hat Angst. Ohne sich noch einmal umzudrehen, brausen die Polizisten im Jeep davon. Mama verharrt ein paar Sekunden lang unbewegt in der Tür, dann wandert ihr Blick über die Straße zum Haus meiner Großeltern. Hastig weiche ich noch einen Schritt vom Fenster zurück, sodass sie mich nicht sehen kann. Und dann drehe ich mich um und renne wieder hinaus und zu den anderen in den Garten. Keiner fragt mich, wo ich so lange gesteckt habe.