Hanser Berlin E-Book
DIE LAGE DES LANDES
Roman
Aus dem Englischen
von Frank Heibert
Hanser Berlin
Die Originalausgabe erschien 2006
unter dem Titel The Lay of the Land bei Alfred A. Knopf, New York
ISBN 978-3-446-25105-2
© Richard Ford 2006
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
©Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015
Cover: Peter-Andreas Hassiepen. München, unter Verwendung eines Fotos von © Songquan Deng / Thinkstock
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Kristina
Letzte Woche habe ich in der Asbury Press eine Geschichte gelesen, die noch immer in mir brennt wie eine Nessel. Eigentlich war es eine typische Nachricht, wie wir sie jeden Morgen lesen, sie versetzt uns einen tiefen, sich ausbreitenden Stich des Schocks und Grauens, und wir starren eine Weile in den Himmel, dann wendet sich das Auge anderen Themen zu – Prominentengeburtstagen, Sportmeldungen, Todesanzeigen, neuen Immobilienangeboten –, was uns zu anderen Sorgen bringt, und am Spätvormittag haben wir sie schon vergessen.
Diese Story aber berichtete unter der verkrüppelten Schlagzeile »Pflegetode in Tex« detailliert von einem ansonsten normalen Tag am Fachbereich Krankenpflege des staatlichen Lehrer-Colleges San Ysidro (Paloma-Playa-Campus) in Südtexas. Ein frustrierter Pflegestudent (diese Leute sind immer Männer) betrat das Gebäude durch den Vordereingang und suchte den Kursraum auf, wo er gerade hätte am Unterricht teilnehmen sollen, genauer gesagt, an einem Test, der schon im Gange war. Reihenweise über die Arbeit gebeugte Studentenköpfe. Die Dozentin, Professor Sandra McCurdy, starrte aus dem Fenster und dachte an wer weiß was – eine Pediküre, einen Angelausflug, den sie mit ihrem Mann vorhatte (sie waren seit einundzwanzig Jahren verheiratet), ihre Gesundheit. Der Kurs hieß, ja, so plattfüßig und unsubtil kann das Schicksal sein, »Sterben und Tod – Ethik, Ästhetik, Vorbereitung«. Worüber das Pflegepersonal ja Bescheid wissen muss.
Don-Houston Clevinger, der frustrierte Student – Navy-Veteran und Vater zweier Kinder –, hatte schon beim Test zur Semesterhalbzeit schlecht abgeschnitten und musste sich wohl auf eine schlechte Note und die Rückfahrkarte nach McAllen gefasst machen. Dieser Clevinger betrat den stillen Kursraum voller ehrfürchtiger Prüflinge und ging zwischen den Tischen hindurch nach vorn, wo Ms McCurdy mit verschränkten Armen sinnierend, vielleicht lächelnd am Fenster stand. Er richtete eine 9-mm-Glock auf den Punkt zwischen ihren Augen, etwa eine Handbreit entfernt, und fragte: »Bist du bereit, deinem Schöpfer zu begegnen?« Ms McCurdy, die sechsundvierzig war, eine überdurchschnittlich gute Lehrerin und Canasta-Spielerin, und die außerdem bei der Operation Wüstensturm in einem fliegenden Lazarett gedient hatte, blinzelte nur zweimal neugierig mit ihren immergrünen Augen und sagte: »Ja. Ja, ich glaube, ja.« Woraufhin dieser Clevinger sie erschoss, sich langsam den verblüfften Krankenschwestern in spe zudrehte und mit einem Schuss an ungefähr dieselbe Stelle umbrachte.
Als ich das las, wollte ich mich gerade hinsetzen, in mein verglastes Wohnzimmer mit Blick über die grasige Düne, den Strand und die schläfrige Schindel des Atlantiks. Es ging mir übrigens insgesamt ziemlich gut. Es war sieben Uhr an einem Donnerstagmorgen in der Woche vor Thanksgiving. Um zehn hatte ich einen Vertragsabschluss mit einem »glücklichen Klienten« im Maklerbüro hier in Sea-Clift, was der Verkäufer und ich nachher im Bump’s-Roh-Kost feiern wollten. Meine gesundheitlichen Beschwerden der letzten Zeit – ich hatte mir in der Mayo-Klinik die Prostata mit sechzig radioaktiven Smart Bombs aus titaniumumhüllten »Schrotkugeln« namens Jod-Seeds beschießen lassen – schienen auf dem Weg der Besserung zu sein (Systeme laufen, Waffen geladen und gesichert). Meine Thanksgiving-Pläne für ein halbfamiliäres Treffen zu Hause hatten mir noch nicht die Laune verdorben (Stress ist schlecht für die Halbwertzeit der strahlenden Jod-Seeds). Und ich hatte seit einem halben Jahr nichts mehr von meiner Frau gehört, was unter den Umständen ihres neuen und meines alten Lebens erklärlich, wenn auch nicht ideal war. Mit anderen Worten, alles, was das Lebensgefühl mit fünfundfünfzig ausmacht, lag um mich her verstreut wie Mohnblüten.
Meine Tochter Clarissa Bascombe schlief noch, das Haus lag still und leer, abgesehen von den üblichen Kaffeearomen und dem angenehmen Hauch Feuchtigkeit in der Luft. Doch als ich Ms McCurdys Antwort auf die Frage ihres Mörders las (ich bin mir sicher, selber hatte er nie darüber nachgedacht), stand ich sofort auf, mein Herz hämmerte plötzlich, meine Hände, meine Finger waren kalt und kribbelten, die Kopfhaut spannte um meinen Schädel, als führe gerade ein Zug zu nah vorbei. Und ich sagte laut, obwohl mich keiner hören konnte: »Verdammt noch mal! Woher wusste sie das bloß?«
Überall die mittlere Küste rauf und runter (die Press ist die maßgebliche Zeitung an den Ufern von New Jersey) muss es von Haushalt zu Haushalt Hunderte Male solches Grummeln, solche unhörbar läutenden Alarmglocken gegeben haben, als die Leser über Ms McCurdys letzte Worte nachgrübelten. Wie ferne Detonationen, die sich bei den Empfindsamen erst als Erstaunen niederschlagen und dann als Unruhe. Elefanten spüren den todbringenden Tritt des Wilderers auf hundert Meilen Entfernung. Katzen huschen aus dem Raum, wenn Austern geöffnet werden. Und so weiter und immer so weiter. Das Unsichtbare existiert und hat Eigenschaften.
»Würde ich das jemals sagen?«, war natürlich der Sinn meiner Frage im Klartext, einer Frage, die sich von Highlands bis Little Egg vermutlich jeder bedrückt gestellt hatte. Und mit der, so ist es nun mal, uns das Leben in der Vorstadt nicht regelmäßig konfrontiert. Das Leben in der Vorstadt tut stattdessen so ziemlich das Gegenteil.
Obwohl, wer weiß.
Angesichts von Mr Clevingers Frage und unter Zeitdruck hätte ich bestimmt angefangen, lautlos all die Dinge aufzulisten, die ich noch nicht getan hatte – mit einem Filmstar vögeln, vietnamesische Waisenzwillinge adoptieren und sie auf ein edles College wie Williams schicken, den Appalachian Trail entlangwandern, Hilfsaktionen für ein leidgeprüftes, überschwemmtes afrikanisches Land organisieren, Deutsch lernen, zum Botschafter in einem Land ernannt werden, wo keiner hinwill außer mir. Die Republikaner wählen. Ich hätte überlegt, ob mein Organspenderausweis unterschrieben, ob die Liste meiner Sargträger auf dem neuesten Stand war, ob in meinem Nachruf auch keine wichtigen neuen Details fehlten – ob ich, mit anderen Worten, meine Botschaft richtig rübergebracht hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte ich also, während die Herbstbrise zu den Fenstern im hellen Paloma Playa hereinwirbelte und die Pflegestudentinnen ihren süßen Kaugummiatem anhielten, um meine Antwort zu hören, zu Mr Clevinger gesagt: »Wissen Sie, eigentlich nicht. Ich glaube nicht. Noch nicht ganz.« Woraufhin er mich trotzdem erschossen hätte (sich selbst womöglich aber nicht).
Je mehr ich mich gedanklich in das traurige, schreckliche Rätsel vertiefte, desto weniger interessierte mich meine übliche Morgenroutine – die fünfzig Sit-ups, die vierzig Liegestütze, ein paarmal Nackendehnen, eine Schüssel Müsli mit Obst, ein erleichterndes Intermezzo auf der Toilette. Stattdessen hatte die Geschichte von Ms McCurdys unglücklichem Ende das Bedürfnis nach einem schroffen, stimulierenden, den Kopf durchlüftenden Sprung in die See ausgelöst. Es war der 16. November, genau eine Woche vor Thanksgiving, und der Atlantik war polierter Zinn, so glatt und kalt und still wie das Herz des alten Neptun. (Wenn man sich am Meer einkauft, ist man anfangs fest davon überzeugt, dass man jeden Morgen reinspringen wird und ein entsprechend glücklicheres und längeres Leben geschenkt bekommt, dass man fröhlicher wird und der alten Pumpe noch mal eine Generalüberholung gönnt, während viele andere gerade die ersten Symptome ihres Herzinfarkts spüren. Nur dass man es dann nicht tut.)
Aber wir alle können ergriffen sein, wenn wir Glück haben. Wie ich – über Ms McCurdy. Sodass es erforderlich schien, mit dem Plötzlichen und dem Eigentlichen in Kontakt zu treten. Und nicht, dass ich – beim Griff nach meiner Badehose in der Schublade, beim Umziehen und beim Weg barfuß zur Seitentür hinaus und die sandigen Stufen hinunter in die scharfe Luftigkeit am Strand – ernstlich verängstigt gewesen wäre von der kleinen Episode. Der Tod und sein heimtückischer Hinterhalt machen mir keine große Angst. Nicht mehr. Letzten Sommer habe ich im rasengepflegten, genormten, vorschriftsmäßigen Rochester, Minnesota, den Tod mit großem T offiziell, zügig und ein für alle Mal überwunden. Hab das Ewigkeitskonzept aufgegeben. Ich werde meine Hypothek ebenso wenig überleben wie mein Dach (noch fünfundzwanzig Jahre), vielleicht nicht mal mein Auto. Weil die So-lala-Gene meiner Mutter – Brustkrebsgene, die eine schleichende Ausbreitung von Prostatakrebsgenen anstießen, die als Nächstes wer weiß was anstießen – allmählich die Oberhand gewannen. Das traurige Schicksal der Flüchtlinge in Gaza, die Debatte um den zukünftigen Euro, die abschmelzende Eiskappe am Pol, das lang gefürchtete Riesenerdbeben, das auf die Bucht von San Francisco zurumpelt wie eine Flotte Harley-Davidsons, das Schwermetall in der Muttermilch – all das erschien mir furchtbar, doch, doch, aber von meinem Ende des Teleskops aus, ehrlich gesagt, erträglich.
Es war schlicht so: Ergriffen, wie ich war, und in Erwartung einer Woche voller Überraschungen und altbekannter Feiertagsmorbiditäten wollte ich mit allen Sinnen daran erinnert werden, dass ich am Leben war. In den schwindenden Wochen dieses Jahres 2000, für das ich mir vorgenommen hatte, einiges zu vereinfachen (für das ganze Jahrhundert eigentlich, doch bis jetzt hatte es noch nicht ganz geklappt), musste ich dringend reinen Tisch machen, so gründlich wie Ms McCurdy bei ihrem Abgesang oder zumindest beinahe, damit ich, falls ich mit so etwas wie ihrer Frage konfrontiert werden sollte, auch so etwas wie ihre Antwort geben konnte.
Barfuß, Rücken, Brust und Beine entblößt und prickelnd im kalten Wind, tappte ich unbeholfen über die grobsandige Strandböschung, durch den Strandhafer und hinaus auf den überraschend kalten Sand. Der weiße Hochsitz des Rettungsschwimmers stand vornehm, aber unbemannt am Strand. Die Ebbe legte eine schwarz glitzernde feuchte, abschüssige Sandebene frei. Irgendjemand hatte das Strandschild zerbrochen, für Feuerholz wohl, sodass an dem Pfosten nur EIGENE GEFAHR in roten Blockbuchstaben übrig war. Sea-Clift, mitten an der Küste New Jerseys, mitten im November, das kann der ideale Ort für einen idealen Tag sein. Jeder von uns 2300, die ganzjährig hier leben, kann Ihnen das bestätigen. Das Gefühl, dass hier Leute das Leben genießen, es verschlunzen, es schlendernd auf sich zukommen lassen, herrscht überall. Nur die Leute selber sind weg. Auf dem Heimweg – nach Williamsport und Sparta und Demopolis. Nur die einsam wirkenden Winterbewohner, die Langsamjogger, die Einzelhundgassigeher, die dünnen Männer mit den Metalldetektoren (deren Frauen, John Grisham lesend, im Van warten), die sind hier. Aber auch nicht um sieben Uhr früh.
In beiden Richtungen war der Strand fast leer. Ein Containerschiff, Meilen vom Land entfernt, folgte langsam der flachen Horizontlinie. Gewitterwolken, die es nie bis zur Küste schaffen würden, hingen am östlichen, heller werdenden Himmel. Ich warf einen Vergewisserungsblick zurück auf mein Haus – lauter verspiegelte Fenster, kleine Erker, Kupferkappen, ein Wetterhahn auf dem höchsten Giebel. Ich wollte nicht, dass Clarissa aufstand, sich streckte und kratzte, dann freudig aufs Meer schaute und plötzlich annehmen musste, ihr Dad hätte sich allein zum Sprung ins Vergessen aufgemacht. Zum Glück sah ich aber niemanden, der mich beobachtete – nur die erste Sonne, die die Fenster wärmte und tiefrot und heißgold färbte.
Natürlich werden Sie sich denken können, was mir durch den Kopf ging. Liegt ja nahe. Man kann nicht zu einem morgendlichen Verjüngungs- und Selbstverwirklichungsbad losziehen, gierig auf eine Prise Unwiderlegbarkeit, Undifferenziertheit und natürlicher Zwangsläufigkeit, ohne sich neugierig zu fragen, ob man in geheimer Mission unterwegs ist. Oder? Einige müssen doch, dachte ich, als der saukalte Atlantik matt an meinen Oberschenkeln emporstieg, ich den cremig-flachen Sand unter den Zehen spürte und meine Weichteile sich in Panik zurückzogen – einige müssen doch ganz friedlich über die Reling des Vergnügungsdampfers gehen (wie angeblich der Dichter) oder viel zu weit in den Abend hinausschwimmen, bis das Land träumerisch versinkt. Aber sie sagen vermutlich nicht: »Ups, oje, Mist, guck dir das an. Jetzt sitze ich aber wirklich in der Patsche, was?« Ich wüsste wirklich gerne, was zum Teufel sie tatsächlich sagen, während sie im Vorzimmer des Todes warten, während die Lichter des sich entfernenden Schiffes schwächer werden, das Wasser kälter und kabbeliger als erwartet. Vielleicht sind sie ein bisschen überrascht über sich selbst und darüber, wie endgültig die Dinge plötzlich aussehen können. Obwohl man mit dieser Information dann auch nicht mehr viel anfangen kann.
Aber das ist eigentlich keine Überraschung. Und während ich bis zur Taille hineinwatete, heftig zitternd, Salzgeschmack auf den Lippen, wurde mir klar, dass ich nicht hier war, gleich hinter dem Rand des Kontinents, um einen übereilten Abgang hinzulegen. O nein. Ich war aus dem einfachen Grund hier, dass ich wusste, ich hätte Don-Houston Clevingers fatale Frage niemals so beantwortet wie Sandra McCurdy: weil es immer noch etwas gab, das ich wissen musste und noch nicht wusste, etwas, das ich unbedingt noch herausfinden wollte, wie mir die Wucht des Ozeans mit seinem energischen Heben und Ziehen spürbar zu erkennen gab, und das mich glücklich machen konnte. Laut den Akademikern ist freilich ein Ja auf die schreckliche Frage des Todes dasselbe wie ein Nein und alles, was verschieden aussieht, in Wahrheit identisch – nur unsere Bedürftigkeit trennt den Weizen von der Spreu. Natürlich ist es ihr abgestorbenes Leben, das sie so denken lässt.
Doch als ich spürte, wie das Meer anstieg und über meine Brust leckte, wie mein Atem kurz und flach wurde und meine Arme anfingen, gegen die Strömung ins Nirgendwo anzukämpfen, da wusste ich, dass der Tod anders war und dass ich ihm jetzt ein Nein entgegenhalten musste. Und mit dieser Gewissheit und dem Ufer hinter mir, wo die Sonne das langsame Erwachen der Welt glanzvoll begrüßte, tat ich den Sprung und schwamm ein Stück, um mein Leben zu spüren, bevor ich an Land zurückkehrte, zu all dem, was dort lag und auf mich wartete.
Toms River, auf der anderen Seite der Barnegat Bay, liegt wimmelig vor mir im eisigen morgendlichen Sturmwind und der hohen Herbstsonne eines amerikanischen Thanksgiving-Dienstags. Wenn man von der Brücke in Richtung Sea-Clift blickt, lässt die Sonne das Wasser unter den Gitterträgern diamanten glitzern. Zwischen den weißen Schaumkronen ist aus der Entfernung nur ein einzelner Jet-Skifahrer mit nassem Anzug zu erkennen, der vor sich hin pflügt und hoppelt, festgeklammert an seiner Teufelsmaschine, die von einer stählernen Welle zur nächsten hüpft. »Nass und eisig ist schlecht für den Zeisig«, sangen wir in der Sigma-Chi-Studentenverbindung, »trocken und warm, wird er groß wie ein Arm.« Na, Babyarm. Ich werfe einen schnellen Blick zurück, ob unser Schild NEW JERSEYS BESTGEHÜTETES GEHEIMNIS die Touristensaison überlebt hat – die jetzt vorbei ist. Jeden Sommer empfängt die langgezogene, der Barnegat Bay vorgelagerte Halbinsel, deren Südspitze Sea-Clift praktisch bildet, sechstausend Besucher pro Meile, und viele davon sind ganz wild auf eine Runde Sun & Fun-Vandalismus und schweren Diebstahl aus Imponiergehabe. Unser Schild, das der Maklerzirkel bezahlte, als ich sein Vorsitzender war, landete regelmäßig jenseits vom Haupteingang der Rutgers-Unibibliothek oben in New Brunswick. Heute steht es erfreulicherweise da, wo es hingehört.
Neue Reihen von dreistöckigen Apartmenthäusern in Weiß und Rosa säumen auf dem Festland die Küste, nördlich wie südlich. Weiter oben, nicht weit von Silver Bay und den staatlichen Sümpfen, wo es Weißkopf-Seeadler gibt, steht der niedrige blassgrüne Ytongbau des Stammzellenlabors, das einer Supermarktkette gehört, und daneben eine weiße Kondomfabrik, deren Besitzer Saudis sind. Aus dieser Entfernung sehen sie beide so unschuldig aus wie ein Sears-Kaufhaus. Und sie gehören auch zu der gutnachbarlichen Sorte Industrie, deren Angestellte und Führungskräfte höfliche Kinder in die hiesigen Schulen und Gebetshäuser schicken, deren Leitung sich streng und finanzstark gegen Drogen und Pädophilie einsetzt und gute Landschaftsgestalter und Sicherheitsdienste beschäftigt. Außerdem stabilisieren diese sauberen Industriezweige die Steuerbemessungsgrundlage und liefern den Einheimischen ein paar gute Igitt-Anlässe.
Von der Brücke aus kann ich das Yachtbecken von Toms River erkennen, einen Wald leerer Masten, die sich im Wind wiegen, und weiter nördlich einen glatten grünen Wasserturm hinter der Hülle eines alten Atomkraftwerks, das zum Verkauf steht und 2002 stillgelegt werden soll. Das ist unsere Aussicht aufs Festland, vom Verwaltungsbezirk Sea-Clift aus Richtung Westen – so könnte ein Positivist beschreiben, wozu die meisten Landschaften am Meer in der Vielzweckgesellschaft mittlerweile geworden sind.
Heute Morgen bin ich mit dem Auto unterwegs von Sea-Clift, wo ich seit zehn Jahren lebe, über die 65-Meilen-Hinterlandstrecke nach Haddam, New Jersey (wo ich die zwanzig Jahre davor war), vor mir ein Tag mit vielfältigen Verpflichtungen – einige ernüchternd, einige beängstigend, eine ausschließlich hoffnungsvoll. Um halb eins will ich in einem Bestattungsunternehmen von meinem Freund Ernie MacAuliffe Abschied nehmen, der am Samstag gestorben ist; später, um vier, soll ich meine Exfrau Ann Dykstra auf ihren Wunsch in der Uni, wo sie arbeitet, »treffen«, was bei mir lauter Hochspannungsängste in Bezug auf die möglichen Anlässe ausgelöst hat – meine Gesundheit, ihre Gesundheit, unsere beiden erwachsenen (Sorgen-)Kinder, eventuell (Überraschung!) ein neuer Verehrer in ihrem Leben (solche Ereignisse teilen Exfrauen gern mit). Dann will ich einen kurzen Zwischenstopp bei meinem Zahnarzt einlegen, damit er mir auf die Schnelle meine Nachtschiene anpasst (die ich dabeihabe). Außerdem habe ich um zwei eine Sponsors-Verabredung – das ist der hoffnungsvolle Teil.
»Sponsors« ist ein Netzwerk von Bürgern vor allem aus dem mittleren New Jersey – Männern und Frauen –, die einfach nur anderen Leuten helfen wollen (die Frauen behaupten, ihr Ansatz sei eher humanistisch/mütterlich, aber aus eigener Erfahrung kann ich das nicht bestätigen). Der Grundgedanke von Sponsors ist, dass viele Menschen mit Problemen ab und zu einen kleinen vernünftigen Rat brauchen, mehr nicht. Dafür würde man keinen Therapeuten bezahlen, Medikamente schlucken oder an einem von der Krankenkasse mitfinanzierten »Programm« teilnehmen. Es ist einfach irgendetwas, womit man nicht klarkommt und das sich nicht von selbst erledigt, aber wenn man mit irgendwem darüber ein reelles Gespräch führte, ginge es einem sofort um Klassen besser. Ein Beispiel: Angenommen, Sie besitzen ein Segelboot, können aber nicht besonders gut segeln. Nach einer Weile merken Sie, dass Sie das verdammte Ding kaum noch betreten, aus Angst, damit irgendeinen Felsen zu rammen, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen, Ihr investiertes Geld zu verlieren und der Verbitterung anheimzufallen, weil alles so peinlich ist. Währenddessen liegt es im atemberaubend teuren Trockendock von Brad’s Marina in Shark River, verzieht sich schon ein bisschen, weil es so lange nicht im Wasser war, und Sie werden zur Zielscheibe getuschelter Blöder-Anfänger-Sprüche und Beleidigungen durch das Bootspersonal. Schließlich fahren Sie nicht mal mehr hin, wenn Sie Lust dazu haben, und ertappen sich dabei, dass Sie jeden Gedanken an Ihr Segelboot verdrängen, als hätten Sie vor Jahrzehnten einen Mord begangen, für den Sie nur deshalb nicht bestraft wurden, weil Sie in einen anderen Staat gezogen sind und eine neue Identität angenommen haben, aber allmorgendlich um vier wachen Sie schweißgebadet auf und fühlen sich grässlich.
Sponsors-Gespräche drehen sich um genau solche Probleme, oftmals um die schwächende Wirkung von unklugen Spontankäufen oder falschen persönlichen Entscheidungen bezogen auf Besitz oder Dienstleistungen. Als Makler weiß ich eine Menge von solchen Dingen. Ein anderes Beispiel. Was sagen Sie zu Ihrer holländischen Haushälterin Bettina, die, statt zu putzen, inzwischen den ganzen Tag in Ihrer Küche sitzt, Kaffee trinkt, raucht, fernsieht und Auslandsgespräche führt, aber Sie wissen nicht, was tun, damit sie wieder spurt oder, im äußersten Fall, die Koffer packt. Ein Sponsors-Rat wäre genau das, was ein Freund Ihnen empfehlen würde: Stoßen Sie das Boot ab oder nehmen Sie nächsten Frühling ein paar Privatstunden im Yachtclub. Wahrscheinlich steht es noch gar nicht so schlimm um das Boot – die werden doch dafür gebaut, dass sie lange halten. Oder ich schreibe ein paar deutliche Worte auf, die Sie Bettina direkt sagen oder als Nachricht in der Küche hinterlegen können, und das wird sie, zusammen mit einem ordentlichen Scheck, schnurstracks in Bewegung setzen. Wahrscheinlich ist sie illegal im Land und selber unglücklich.
Jeder, der eine bodenständige Vorstellung davon hat, was in dieser Welt sinnvoll ist und was nicht, kann solche Ratschläge geben. Und doch ist es erstaunlich, wie viele Menschen keine Freunde haben, die sie um Rat fragen können – geschweige denn Selbstvertrauen. Alles Mögliche treibt sie unablässig in den Wahnsinn, obwohl das Problem meistens nicht komplizierter ist, als eine Radmutter festzuziehen.
Die Sponsors-Theorie lautet: Wir bieten anderen Menschen die Chance, menschlich zu sein; zu suchen und auch zu finden. Keine Spenden, keine Fragen.
Eine Fahrt über den Küstenhang zurück nach Haddam ist für mich absolut nichts Ungewöhnliches. Trotz der letzten zehn Jahre, die ich glücklich am Meer verbrachte, trotz einer neuen Frau, einer neuen Bleibe, einer neuen Arbeitsadresse – Realty-Wise Associates –, trotz einer kompletten Neugestaltung meines Lebens habe ich die Verbindung zu Haddam aufrecht-, ja ziemlich lebendig erhalten. Eine Stadt, in der man früher gewohnt hat, sagt etwas – womöglich Interessantes – über einen aus: was man einmal war. Und was man war, birgt immer einen eigenen Reiz und Trost. Ich sorge zum Beispiel stets dafür, dass meine Maklerlizenz für Haddam gültig bleibt, ich gebe Empfehlungen und Gutachten für die United Jersey Bank ab, wo ich die meisten Angestellten kenne. Eine Zeitlang war ich stolzer Besitzer zweier (kostspielig zu unterhaltender) Mietshäuser dort, die ich allerdings im Sanierungsboom der späten Neunziger verkauft habe. Und ein paar Jahre lang saß ich im Komitee des Gouverneurs für das Theologische Institut – genauer gesagt, bis fanatische Koreaner der Fresh-Light-Sekte den ganzen Laden kauften, ihn umtauften in Fresh-Light-Seminar (Erlösung durch ausgeklügelte Akte der Disziplin) und mir den Rücktritt nahelegten. Auch meine Human-Infrastruktur (Arzt, Zahnarzt) beließ ich in Haddam, wo Leistungsstandards und Steuerbemessungsgrundlage aneinandergekoppelt sind. Und ehrlich gesagt, mir tun die baumbeschatteten Straßen dort oft richtig gut, ich bemerke diese Veränderung oder jene Verbesserung, welches Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt wurde, welches zu welchem astronomischen Preis auf den Markt gekommen ist, wo historische Straßenführungen umgeleitet, Gebäude abgerissen, errichtet oder neu gestaltet wurden, und ebenso betrachte ich still (meistens durch mein Autofenster) die vertrauten blassen Gesichter von Nachbarn, die ich seit den Siebzigern kenne, Gesichter, mittlerweile weicher, die vom Lauf der Zeit umgeprägt worden sind.
Natürlich kann sich auch ein lastendes Gefühl von Torschlusspanik einstellen, man weiß nicht, wann, nur dass es kommt; die Luft wird zugleich dünn und dicht, der Boden unter den Füßen härter, die Straßen gähnen leer, die Häuser erscheinen mir viel zu neu, und mich packt das Schlottern. Worauf ich schnurstracks wende, die Warnblinkanlage einschalte und Gas gebe, zurück Richtung Sea-Clift, zum Ozean, zum Rand des Kontinents und zu meinem gewählten neuen Leben – glücklich, wieder ein halbes Jahr nicht an Haddam denken zu müssen.
Was ist eigentlich Heimat, fragen Sie sich vielleicht. Der Ort, wo man das Licht der Welt erblickt hat, oder der Ort, den man sich selber wählt? Oder ist es irgendein Ort, an den man einfach immer wieder zurückkehren muss, obwohl die Luft dort schlechter geworden ist – die Zukunft ist vorbei, keiner will einen wiederhaben –, ein Ort, den man einst in Windeseile verlassen hat, ohne einen Blick zurück? Heimat? Heimat ist genug Stoff zum Grübeln, wenn man wie ich an einem Ort (der Südküste mit ihrer Sirupluft) geboren wurde, an einem anderen (der gletschergehobelten Mitte des Kontinents) aufgewachsen und schließlich an einem dritten zum Stehen gekommen ist – wo man seit Jahren das passende »Heim« für andere sucht. Vielleicht ist Heimat nur dort, wo man den Stadtplan auswendig kennt, wo man mit einem Scheck bezahlen kann, wo jemand Bekanntes einem den Blutdruck misst und die Leber abtastet, hie und da einen Finger reinsteckt und misst, um wie viel Ångström die Backenzähne weiter abgeschliffen sind – mit anderen Worten, wo die wichtigsten Pflegekräfte schon mit übergestreiften Plastikhandschuhen auf einen warten.
Meine andere Verpflichtung an diesem Vormittag besteht darin, meinem Büropartner Mike Mahoney in einer geschäftlichen Angelegenheit ein guter Ad-hoc-Berater und Vertrauter zu sein. Über ihn gibt es einige interessante persönliche Fakten mitzuteilen.
Mike stammt aus dem fernen Gyanze in Tibet (dem echten Tibet, nicht dem in Ohio) und ist ein eins sechzig großer dreiundvierzigjähriger Immobilien-Hansdampf mit dem typisch flachen strahlenden Chinesengesicht der Tibeter, mit hohen Wangenknochen und Schießschartenaugen, mit verkürzter Armlänge und raspelkurzem schwarzem Haar, durch das seine beige Kopfhaut schimmert. »Mike Mahoney« war der Name, den ihm die Kollegen bei seinem ersten Job in den USA anhängten, in einer Industrietextilienfirma in Carteret – sein ursprünglicher Name, Lobsang Dhargey, klang zu sehr nach einem verunglückten Scrabble-Versuch, fanden sie. Ich hab ihm gesagt, das eine oder das andere – Mike Lobsang oder Mike Dhargey – könnte ein interessanter Trumpf im Beruf sein. Aber er hat sich nach all den Jahren daran gewöhnt und ist gern ein »Ire«. Er ist tatsächlich auch ein eingebürgerter Vollblutamerikaner geworden – im Gericht von Newark, zusammen mit vierhundert anderen. Es fällt nicht schwer, ihn sich in einer magentafarbenen Robe, Sandalen und einem gelben Spitzhut vorzustellen, während er gerade auf der zerklüfteten Seite des Qomolangma-Berges eine zeremonielle Trompete bläst – so sehe ich ihn oft vor mir, obwohl er das nie gemacht hat. Wer behaupten würde, dass ich nie und nimmer erwartet hätte, einen Tibeter als Partnermakler zu bekommen, und dass die Kunden aus New Jersey sich bei ihm etwas zieren könnten, der hätte wohl recht. Wobei zumindest für Letzteres gilt, dass das Wahrscheinliche nicht immer eintritt. In den anderthalb Jahren, die er für mich arbeitet, seit er durch meine Bürotür bei Realty-Wise spazierte und nach einem Job fragte, hat sich Mike förmlich als Umsatzlöwe und äußerst geschäftstüchtig erwiesen: Unablässig fährt er neue Aufträge ein, macht Besichtigungstermine, kann beim Telefonmarketing ebenso hartnäckig sein wie einfallsreich darin, scheuenden Kunden Gebote zu entlocken, Zustimmung zu ertricksen, Käufer zu umschmeicheln, verhandelnde Parteien im Dunkeln zu lassen, Kreditanträge auf dem kurzen Dienstweg durchzubringen und Geld auf unser Bankkonto zu schaffen, wo es auch hingehört.
Was nicht heißen soll, dass er ein normaler Partner im Immobiliengeschäft wäre, auch wenn er sich gar nicht so sehr von dem Makler unterscheidet, der über die Jahre aus mir geworden ist, und zwar aus denselben Gründen – uns beiden macht es nichts aus, von morgens bis abends unter Fremden zu sein, und anscheinend passt nichts anderes richtig zu uns. Mir ist schon bewusst, dass hinter unserem Rücken ein paar Konkurrenten schief grinsen, wenn sie sehen, wie Mike unsere Schilder in den Vorgärten aufstellt. Und obwohl potenzielle Käufer wahrscheinlich einen kurzen Verblüffungsmoment überwinden müssen, wenn ihre innere Stimme ruft: »Halt. Das ist ja ein Scheiß-Tibeter, der mir gerade einen Strandbungalow zeigt!«, brauchen die meisten Klienten nicht lange, bis sie Mike als jemand Besonderen erkennen, der für sie da ist, über seine exotische Asiatenhaftigkeit hinwegkommen genau wie ich und ihn alsbald genauso behandeln wie jeden anderen Zweibeiner.
Von einem erdumkreisenden Satelliten aus gesehen, ist Mike nicht viel anders als die meisten Immobilienmakler, von denen die meisten auf ihre Weise auch Exoten sind: Ex-Concorde-Piloten, Ex-Footballverteidiger, Ex-Kerouac-Experten, Exfrauen, deren Exmänner mit dem vietnamesischen Au-pair-Mädchen abgehauen sind und dann am liebsten um jeden Preis zurückkehren würden, aber nicht dürfen. Die Rolle des Immobilienmaklers ist schließlich keine, die man voll und ganz ausfüllt, ganz gleich, wie lang man schon dabei ist. Irgendwie sieht man sich immer als »eigentlich« was anderes. Mike begann die Odyssee seines Lebens in den späten Achtzigern mit Telefonmarketing für eine US-Firma in Kalkutta, wo er Amerikanisch reden lernte, indem er Aufträge für digitale Bratthermometer und Moleskin-Hosen von Hausfrauen aus Pompton Plaines und Bridgeton entgegennahm. Doch kann er mit seinen kurzen fuchtelnden Armen, seinem Lächeln und seiner aggressiven Fröhlichkeit aussehen und auftreten wie ein bebrillter, adamsapfliger kleiner Matheprof von der Iowa State University. Und tatsächlich sieht er sich in seinem Immobilienberuf als »Metapher« für den staatenlosen Einwanderer im Assimilationsprozess, der immer bleiben wird, was er ist (insbesondere wenn er aus Tibet kommt), und sich doch zu einem nützlichen, zielstrebigen Bürger entwickelt, indem er anderen Fremden dabei hilft, ein Dach über dem Kopf zu finden (ich weiß von ihm, dass er ein bisschen in Camus herumgelesen hat).
Im Lauf der anderthalb Jahre hat Mike seine neue Berufung schwungvoll angenommen, indem er sich eigenartig stylish kleidet, die neutrale, akzentfreie Redeweise eines Nachrichtensprechers pflegt (manchmal klingt es, als käme seine Stimme aus dem Off statt aus ihm selbst), seine zwei Kinder auf eine kostspielige Privatschule in Rumson schickt, sich bis zur Halskrause verschuldet und von seiner netten tibetischen Frau getrennt hat, einen schicken silbernen Infiniti fährt, niemals Tibetisch spricht (das fällt nicht schwer) und sich eine Freundin hält – sie wahrscheinlich sogar aushält –, von der er mir bislang nichts erzählt hat. Alles prima. Gegen ihn einzuwenden habe ich eigentlich nur, dass er Republikaner ist. (Offiziell ist er ein eingetragenes Mitglied der Libertarian-Partei – in steuerlichen Dingen konservativ, in sozialen eher moderat, unterm Strich also gar nichts.) Aber er hat den Knallkopf Bush gewählt und schwört wie viele wohlhabende Neuankömmlinge auf den Wahlspruch der Plutokraten, dass das, was gut für ihn ist, wahrscheinlich auch für alle anderen gut ist – eine Weltsicht, die ihm, so ansteckend sein Enthusiasmus auch ist, ein gewisses Maß an innerer Lebendigkeit nimmt. Diesen menschlichen Makel, den ich normalerweise mit den Bewohnern von San Francisco und Umgebung verbinde, würde er allerdings darauf zurückführen, dass er Buddhist ist.
Doch da ich ihn geschäftlich berate, hat sich Mikes Name natürlich in den Immobilienkreisen unserer Gegend ein bisschen herumgesprochen – heutzutage kann nichts, was ein Mensch tut, der öffentlichen Aufmerksamkeit lange entgehen –, und letzte Woche fragte ihn ein Parzellen-Bauträger aus Montmorency County, nicht weit von Haddam, ob er als sein Partner einsteigen wolle. Der Bauunternehmer hat eine Kaufoption auf den Erwerb von 150 Morgen, die derzeit noch von gelbem Zuckermais bedeckt sind, aber mitten in New Jerseys Speckgürtel liegen (das Gebiet grenzt an den Delaware River sowie an Haddam und ist zwei Stunden von Gotham und eine von Philadelphia entfernt). Häuser in dieser Gegend – riesige Herrenhäuschen, die an Versailles erinnern sollen – gehen für astronomische Preise weg, ungeachtet der derzeitigen Marktschwankungen, und jeder, der eine Hacke und ein Handy besitzt und nicht gerade im Knast hockt, kann hier reich werden, ohne auch nur morgens aufzustehen.
Mikes Beitrag bei der Sache wäre, dass er Tibeter und Amerikaner ist und deshalb zu einer glaubwürdigen und hoch geschätzten Minderheit gehört. Jede Hausbaugesellschaft, die ihn in eine Führungsposition beruft, kommt automatisch als Kandidat für satte Bundessubventionen in Frage, das heißt, er und sein Partner könnten Trilliardäre werden und müssten dafür nur ein paar Regierungsformulare ausfüllen und einen Haufen Mexikaner die Arbeit machen lassen.
Ich habe ihm erklärt, dass natürlich in jeder normalen Geschäftssituation die – allerdings nicht sehr große – Gefahr besteht, von dem typischen amerikanischen Unternehmerfuzzi als zweiter Handtuchhalter in seinem Tennisclub eingesetzt zu werden. Mike glaubt aber, dass derzeit ein ungewöhnliches Geschäftsklima herrscht. Viele Neuankömmlinge im mittleren New Jersey sind betuchte Inder im Luxusfieber – Gastroenterologen, Krankenhausleiter und Hedge-Fund-Manager –, die es nervt, dass sie ihre Kinder nicht auf edle Schulen wie Dalton und Spence kriegen, und die noch am Tag ihrer Ankunft einen Vertrag unterschreiben würden. Diese beigehäutigen Erwerber, so die Idee, werden einem Bauprojekt wohlwollend gegenüberstehen, dessen Verkäufer ein gut gekleideter kleiner Bursche ist und ihnen irgendwie ähnlich sieht. Wir haben auch besprochen, dass der Häusermarkt sich allmählich beruhigt und bis zum Jahresende eine Bauchlandung machen könnte. Die Konzerne sind zu hoch verschuldet. Die Hypothekenzinsen stehen bei 8,25 Prozent, vor einem Jahr waren sie aber bei 6. Der NASDAQ gibt nach. Die Wahl geht den Bach runter (das sieht er allerdings anders). Und: die Jahrtausendwende. Keiner weiß, was als Nächstes passieren wird, nur dass was passieren wird. Ich habe ihm gesagt, dass es derzeit besser sein könnte, sein ethnisches Kapital in eine automatische Autowaschanlage an der Route 35 zu investieren oder einen Self-Storage-Laden oder einen Botendienst. Solche Unternehmen sind Goldesel, wenn man seine Angestellten im Auge behält und nicht zu viel eigenes Geld reinsteckt. Mike liest seinen Kaffeesatz natürlich anders.
Heute Morgen hat Mike angeboten, zu fahren, seine Hände umsichtig bei zehn und zwei Uhr auf das Steuerrad gelegt und mit Adleraugen den Verkehr von Toms River ins Visier genommen. Ich weiß, dass er als Tibeter wenig Fahrpraxis hat – woher auch? – und deshalb sehr gern meinen großen Suburban steuert. Vielleicht fühlt er sich dann amerikanischer, weil viele Autos in dem zähen Feiertagsverkehr auf Route 37 genauso aussehen, nur neuer.
Seit wir Sea-Clift über die Brücke verlassen haben, Richtung Garden State Parkway, hat er wenig gesprochen. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass er sich im Büro grüblerisch gibt, er kaut auf seiner Unterlippe herum, fährt sich mit der Hand über den Stoppelschädel, seufzt und runzelt die Stirn, augenscheinlich ins Nichts hinein. Wahrscheinlich gehören diese Gesten zur Grundausstattung des Einwanderers oder des Buddhisten oder des angehenden Bauunternehmerpartners – oder alles auf einmal. Ich habe das weitgehend ignoriert und bin froh, heute schweigend herumchauffiert zu werden, mir die Landschaft anzuschauen und alle ernsten Gedanken in die Randbezirke meines Gehirns zu schieben – den Trick beherrsche ich mittlerweile ziemlich gut, seit Sally letzten Juni abreiste und ich im August, während der Olympischen Spiele, erfuhr, dass ich einen langsam wachsenden Tumor in meiner Prostatadrüse beherberge. (Es ist übrigens tatsächlich eine Drüse, anders als der Schwanz, von dem das viele annehmen – ist er aber nicht.)
Route 37, die »Wundermeile« von Toms River, ist schon um halb zehn verstopft von den Autos der Einkaufenden, die alle erdenklichen zweitklassigen Factory-Outlet-Stores, Kettenfilialen und Megamärkte frequentieren, und bald stehen wir die meiste Zeit in Kreuzungsrückstaus unter grellen Schildern, begleitet von ohrenbetäubendem Gehupe. Der Schwarze Freitag, der Tag nach Thanksgiving, wenn der Handel hofft, sich in die schwarzen Zahlen zu schieben, ist traditionell der heilige Einzelhandelstag des Jahres, wo Schwadronen von Hausfrauen in Morgenmänteln und Omis mit Gehhilfen sich am Sicherheitspersonal bei Macy’s und Bradlees vorbeidrängen, um sich elektrische Tranchiermesser zu krallen und orthopädische Wasserkissen für Arthritiker mit chronisch schmerzenden C6- und C7-Wirbeln. Außerdem haben dieses Jahr – wegen der wabernden wirtschaftlichen Unsicherheit – die Händler und ihre Alliierten, die Kunden, »gigantische« Sonderangebotstage geplant, am Schwarzen Dienstag und am Schwarzen Mittwoch, und hissen das »Alles muss raus!«-Banner – für den Fall, dass das ganze Land am Freitag schon »rausgefahren« sein sollte.
In alle Richtungen sind Autos unterwegs. Ein riesiger gelbroter Master-Card-Zeppelin schwebt über der summenden Landschaft wie eine Gottheit. Die Multiplex-Kinos haben schon geöffnet, die ersten Schlangen bilden sich, um Der Gladiator und Der Kleine Vampir zu sehen. Menschenmassen drängen sich bei Target und dem Internationalen Möbel-Abverkauf (»Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht«). Weihnachtsmusik dröhnt, wobei unklar ist, wo sie herkommt, und der Verkehr steht praktisch still. Feuerwehrmänner in Asbestanzügen und Pilgerväterhüten sind unterwegs und sammeln mit Eimern Geld an den Eingängen zur Mall und den Ampeln. Gruppen zerlumpter Menschen, die nicht nach Amerikanern aussehen, hasten über die breite Avenue, als wären sie vor irgendetwas auf der Flucht, während einsame Männer rauchend in glänzenden Pick-ups sitzen, glotzen und darauf warten, dass ihre Autos bei Cosy-Wash drankommen. An der großen Kreuzung Hooper Avenue hat ein Fernsehteam einen Kommandoposten aufgebaut, davor steht eine durchtrainierte Latina mit schimmernden Beinen, den festen kleinen Popo zum Stau gewandt, und schreit den Zuschauern der Sechsuhrnachrichten entlang der Küste zu, was es mit diesem Tohuwabohu hier unten auf sich hat.
Doch all das finde ich, ehrlich gesagt, so aufregend, dass es mir im Magen kribbelt. Zügelloser Kommerz ist meist nicht sehr ansehnlich, aber er ist stets vorausdenkend. Und da mein Leben zurzeit aus dem Tritt ist und mich unsere Zivilisation zum größten Teil kaltlässt – Politik, Nachrichten, Sport, alles außer dem Wetter –, ist es ein gutes Gefühl, dass zumindest der Handel ein Forschungsinteresse in mir wachruft. Schließlich gehört er zu den Grundfesten meines Glaubenssystems, auch wenn es wohl stimmt, wie die moderne Vermarktungstheorie lehrt, dass wir beim Kaufen nicht mehr etwas Bestimmtes kaufen wollen. Wenn man ernsthaft nach der Tinktur sucht, die man mal im Keller von Onkel Beckmer gesehen hat und die selbst die Flecken einer Hyäne entfernen würde, oder wenn man einen Schubladengriff aus gedrechseltem Messing braucht, nur einen einzigen, um den alten Erbschrank von Tante Grony fertig aufzuarbeiten – nichts zu machen. Kein Mensch, der heute irgendwo arbeitet, weiß noch irgendwas, und jeder lügt einen hemmungslos an. »Die gibt es nicht mehr.« »Die haben wir schon vor zwei Jahren nachbestellt.« »Diese Kugelschreiberfirma hat Pleite gemacht, ist nach Myanmar gegangen und stellt jetzt Abwasserpumpen her ... Wir haben bloß die hier.« Man muss nehmen, was sie haben, auch wenn man es nicht will oder noch nie davon gehört hat. Es fällt schwer, diese Art Nullsummenvermarktung Handel zu nennen. In ihrer Ziellosigkeit unterscheidet sie sich aber gar nicht so sehr von der Immobilienbranche, wo am Ende oftmals zumindest einer glücklich von dannen zieht.
Wir haben es inzwischen bis in die westlichen Außenbezirke von Toms River geschafft. Hier sind die Motels voll. Bei den Gebrauchtwagenhändlern kriegt man’s »GESCHENKT!«. Eine Bonsai-Baumschule hat ihre gemarterten kleinen Pflänzchen schon ins Lager gebracht, und die Angestellten stapeln Weihnachtsbäume und Adventskränze. Flatternde Fahnen an vielen Parkplätzen stehen auf Halbmast – keine Ahnung, warum. Weitere Schilder krakeelen GEDENKSKULPTUR 2000! DIE RICHTIGE INVESTITION: IMMOBILIEN STATT AKTIEN! KNACKÄRSCHE MACHEN MICH HEISS! WILLKOMMEN SELBSTMORDÜBERLEBENDE. Gelbe Kegel und ein riesiger blinkender gelber Pfeil zwängen den Verkehr nach rechts auf nur eine Spur, entlang einem tiefen Loch im frisch geöffneten Asphalt, neben dem große helmtragende weiße Männer stehen und andere Männer anstarren, die schon unten drin sind – da arbeitet unser Steuerdollar.
»Ich versteh das wirklich nicht«, sagt Mike, das Kinn wachsam gereckt. Sein Sitz ist weit nach vorn gestellt, damit er mit den Zehen an die Pedale kommt und die Hände das Steuerrad greifen können. Er mustert mich, während wir durch den Feiertagstumult manövrieren.
Ich weiß natürlich, was ihn beschäftigt. Er hat das Schild WILLKOMMEN SELBSTMORDÜBERLEBENDE auf der Markise des Quality-Court-Motels gesehen. Da ich Krebs habe, macht er sich vermutlich Sorgen um mich, und das bringt ihn über seine eigene Zukunft ins Grübeln. Als ich letzten August in der Mayo-Klinik war, übergab ich ihm die Leitung meines Büros, und er führte den Laden reibungslos weiter. Aber letzte Woche lag auf seinem Büroschreibtisch ein ausgedruckter Artikel aus der New York Times, es ging darum, dass die Hälfte aller Bankrotterklärungen gesundheitliche Gründe hat und dass es, rein finanziell gesehen, eine kluge Investition wäre, sich selbst aus dem Weg zu räumen. Ich habe ihm erklärt, dass einer von zehn Amerikanern Krebsüberlebender ist und dass ich gute Chancen habe (könnte stimmen). Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Gesundheit ihn beschäftigt und womöglich auch die heutige Kundschaftermission in die Welt der vorstädtischen Bauerschließung erklärt – und: In genau einer Woche fliege ich nach Rochester zu meiner ersten Nachuntersuchung in der Mayo-Klinik, vielleicht spürt er, dass ich unruhig bin (durchaus möglich), und er ist es auch.
Buddhisten sind von Natur aus kompromisslos, was Selbstmord betrifft. Sie sind dagegen. Und sosehr er für den freien Markt, die Deregulierung, das Wall Street Journal und die Einheitssteuer ist, Mike zählt auch zu den Anhängern seiner Heiligkeit, des Dalai Lama. Sein Bildschirmschoner im Büro zeigt derzeit ein strahlendes Foto, auf dem er selbst neben dem schmächtigen Wiedergeborenen zu sehen ist, letztes Jahr im Meadowlands-Stadion aufgenommen.
Die Wand hinter seinem Schreibtisch zieren außerdem Gebetsfahnen in Rot, Weiß und Blau, ein kleines Gemälde des tausendarmigen Chenrezig und darunter eine Autogrammkarte von Ronald Reagan – etwas zum Nachdenken für unsere Klienten, während sie ihre rechtschaffenen Schecks ausstellen. Der DL findet, mit einer korrekten, friedlich-mitfühlenden Einstellung könne man alle Schwierigkeiten überwinden, sodass wir vom Karma her genau das bekämen, was uns zustehe, weil wir alle unsere eigenen Väter seien, die Welt sei das Ergebnis unserer Handlungen und so weiter und so fort. Mit anderen Worten, es sollte nicht nötig sein, sich umzubringen – ganz meine Meinung. Anscheinend sind sich der trotz Exil lächelnde erlauchte Beschützer und der große Kommunikationspräsident in dieser Hinsicht einig, und nicht nur in dieser. (Ich hatte keine Ahnung von Tibet oder von den Buddhisten und musste mir nachts erst mal was anlesen.)
Außerdem weiß Mike von meiner Sponsors-Arbeit, was ihn zu der Ansicht bewogen hat, ich wäre spirituell, obwohl ich das nicht bin, und nun stellt er mir alle möglichen provokativen Moralfragen und tut dann so, als verstünde er meine Antworten nicht, um seine Überlegenheit zu demonstrieren – was ihn glücklich macht. Eins seiner aktuellen Diskussionsthemen ist das Massaker von Columbine, seiner Meinung nach auf den Irrweg ausschweifenden Lebens zurückzuführen, nicht auf die Macht des Bösen – was nämlich ich glaube. Bei der ansonsten sinnlosen Kontroverse um Elián González stellte er sich mit ostentativer Einwanderersolidarität auf die Seite der amerikanischen Verwandten, während ich es mit den Kubanern in Kuba hielt, weil mir das einfach stimmiger erschien.
Es war ein Lernprozess, sollte ich noch sagen, bis Mikes Moralprinzipien in fröhlicher Koexistenz mit den eigennützigen Konsum- und Handelsgrundsätzen der Immobilienbranche funktionierten. Als mein Angestellter bekommt er ein Drittel von 6 Prozent sämtlicher Hausverkäufe, die er selbst abschließt (ich nehme zwei Drittel, weil ich alle Rechnungen bezahle), eine Zulage bei all meinen großkalibrigen Abschlüssen, plus 20 Prozent von der ersten Monatsmiete aller Ferienhäuser, was keineswegs zu verachten ist. Und wenn ich in Spendierlaune bin, gibt es noch eine Weihnachtszulage. Im Gegenzug bezahle ich keine Arbeitgeberanteile, keine Rente, keine Spesen, kein Garnichts – ein gutes Arrangement für mich. Aber auch eines, das ihm erlaubt, gut zu leben und protzige Sportlerkleidung in kleinen Sondergrößen bei dem darauf spezialisierten Filipino in Edison zu kaufen. Heute ist er zu seinem Termin in rehbraunen Hosen mit Schlag erschienen, die aussehen, als wären sie aus Gummi, und auch sein wachsendes Bäuchlein noch bedecken, dazu trägt er einen Kaschmirpullunder in einer rosa Eiscremefarbe, spiegelglatt gewienerte Brancusi-Slipper mit Troddeln, gelbe Seidensocken, eine getönte Pilotenbrille und einen senffarbenen Kamelhaarblazer, der im Augenblick auf dem Rücksitz liegt – nichts davon sieht an einem Tibeter richtig passend aus, aber er meint, das würde seine Glaubwürdigkeit als Makler steigern. Ich schweige dazu.
Amerika hat immer noch vieles an sich, das ihn verblüfft, obwohl er seit fünfzehn Jahren hier lebt und alles geduldig studiert hat. Als Buddhist begreift er den Stellenwert der Religion bei unserem politischen Tun nicht. Er war noch nie in Kalifornien, nicht einmal in Chicago oder Ohio, und anders als instinktiv jeder hier Geborene begreift er Geschichte nicht als eine Funktion der Landmasse. Obwohl er Immobilienmakler ist, versteht er letztlich nicht, warum die Amerikaner so oft umziehen, und genauso wenig interessiert ihn meine Erklärung: weil sie es eben können. Doch seit er hier lebt, hat er sich einen neuen Namen zugelegt, ein Haus gekauft, drei Präsidenten gewählt und einiges Geld verdient. Er hat auch den kompletten Historischen Atlas von New Jersey auswendig gelernt und kann einem mitteilen, wo das Fenster mit Sprungfeder und die Büroklammer erfunden wurden – in Millrun und Englewood; wo der erste Feldversuch mit einem Jauchesprenger stattfand – in Moretown; und welche amerikanische Stadt die erste atomfreie Zone war – Hoboken. Derlei Angelesenes, glaubt er, macht ihn für Hauskäufer besonders überzeugend. Darin ist er wie viele unserer Mitbürger, auch die Abkömmlinge der Pilgerväter: Er hat sich mit genug Informationen gewappnet, um (selbst wenn sie falsch sind) daran glauben zu können, dass ihm zusteht, was er begehrt, dass Verblüffung eine Form der Neugier ist und dass aus beidem zusammen eine innere Kraft erwächst, mit deren Hilfe er an alle tief hängenden Früchte herankommen dürfte. Und wer weiß schon, ob er sich irrt? Womöglich braucht er sich kein bisschen mehr zu assimilieren als jetzt schon, niemals.