HERZKLAPPENPOKER
Ich liege im Bett und höre meinem eigenen Herzen beim Arbeiten zu. Es schlägt etwas kräftiger als sonst, denn ich bin vor dem Schlafengehen noch einige Bahnen geschwommen. Ich schaue auf meinen Wecker und zähle in 15 Sekunden 19 Schläge. Ich rechne: 4 mal 19, das ist 19 mal 2 mal 2. Oder 2 mal 38, also 76 Schläge in der Minute. Ich schaue an mir herunter und sehe, wie sich mein Brustkorb mit jedem Herzschlag mitbewegt.
Als angehender Mediziner habe ich ein Stethoskop griffbereit in der Nähe und höre mich ab. Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm. Ich bin gerade 25 Jahre alt geworden. Etwa 900 Millionen Mal hat mein Herz schon so geschlagen. Voller Pflichtbewusstsein und unbeirrt seiner Aufgabe folgend, mich am Leben zu halten. Danke, liebes Herz, dass du diese monotone Arbeit für mich erledigst.
Doch lauscht man genauer, fällt etwas auf: So monoton ist die Arbeit des Herzens gar nicht. Es macht schließlich nicht einfach nur wie der Bass aus dem Lautsprecher Bumm, Bumm, Bumm, Bumm. Im Gegenteil: Es scheint, als sei da noch eine Art Echo zu hören. Bu-Bumm, Bu-Bumm, Bu-Bumm. Ein Herzschlag besteht nämlich nicht nur aus dem Zusammenziehen des gesamten Herzens, sondern aus einem zeitlich abgestimmten Zusammenspiel von Vorhof- und Kammermuskulatur sowie dem Öffnen und Schließen der Herzklappen.
Zuerst ziehen sich die Vorhöfe zusammen und drücken Blut in die Kammern. Diesen Vorgang kann man mit dem Stethoskop normalerweise nicht belauschen. Kurze Zeit danach, im Normalfall etwa 150 Millisekunden später, ziehen sich die Kammern zusammen und befördern das Blut weiter in die Lunge und schließlich in den Körper. Das Zusammenziehen der Kammermuskulatur verursacht das »Bu«. Das darauffolgende »Bumm« wird jedoch nicht vom Herzmuskel selbst, sondern vom Schluss der Taschenklappen an der Aorta und der Lungenarterie verursacht. Ich setze das Stethoskop an einen anderen Punkt meines Brustkorbes. Der Ton verändert sich. Etwas weiter oben ist er wieder anders. Ich könnte Stunden damit zubringen, meinem Herzen zuzuhören.
Das, was mich an diesem Abend besonders begeistert, sind vor allem die Töne, die von meinen Herzklappen ausgehen. Die sorgen ja dafür, dass sich das Blut auf der Reise durch unser Herz immer nur in eine Richtung bewegt und nicht plötzlich den Rückweg antritt. Wie wir gesehen haben, unterscheidet man vier Klappen, von denen zwei Segel- und zwei Taschenklappen sind. Immer im Wechsel öffnen und schließen sie sich. So entstehen Geräusche, die sich je nach Herzklappe unterscheiden. In der Medizin unterscheidet man vier Herztöne, von denen wir mit dem Stethoskop allerdings nur zwei hören kann.
Der erste tiefere Herzton entsteht durch das Zusammenziehen der Muskulatur der Herzkammer. Daher nennt man ihn auch den »Muskelanspannungston«. Der zweite, höhere Ton dauert nicht ganz so lang wie der erste, ist etwas lauter und heller. Man bezeichnet ihn auch als Klappenschlusston, denn er entsteht durch das Verschließen der beiden Taschenklappen. Während des Einatmens kann dieser Ton seinen Klang verändern und sich aufspalten. Die Aortenklappe schlägt hierbei etwas früher zu als die Pulmonalklappe.
Kinder und Jugendliche tönen mehr rum als Erwachsene – ihr Herz tut es ihnen gleich. Denn weder den dritten noch den vierten Ton kann man bei einem gesunden Erwachsenen mit dem Stethoskop wahrnehmen, gelegentlich aber bei Jugendlichen. Den dritten Ton hört man, wenn sich die linke Herzkammer füllt. Das ist vor dem Erwachsenenalter ganz normal. Ist der dritte Ton bei einem Erwachsenen zu hören, kann das auf Probleme hindeuten. Genauer gesagt auf Probleme mit der Bikuspidalklappe zwischen linkem Vorhof und linker Kammer,6 auf eine krankhafte Aufblähung der Herzkammer7 oder auf eine Herzinsuffizienz (unzureichende Herzarbeit). Und wenn die Restmenge Blut in der Kammer beim erneuten Volllaufen zu groß ist, schwappt das einfließende Blut gegen diesen Rest, und das erzeugt ebenfalls einen Ton.
Der vierte Ton wird durch die Anspannung der Vorhöfe erzeugt. Tritt er bei Erwachsenen auf, kann er auf Bluthochdruck, eine Vergrößerung der Muskelwanddicke oder eine Stauung im Ausflusstrakt der linken Herzkammer oder – seltener – eine Verengung der Aortenklappe, eine sogenannte Stenose, hinweisen. In der Regel folgt ihm direkt der erste Herzton.
Das alles mit dem Stethoskop zu hören ist jedoch eine echte Kunst. Es gibt Mediziner, die ein derart geschultes Gehör haben, dass sie damit nicht nur die kleinsten Veränderungen am Herzen erkennen, sondern sogar kleine Mikrotumoren in der Lunge. Dazu setzt man das Stethoskop auf den Brustkorb und beginnt an bestimmten Stellen zu klopfen. Anhand des Echos soll es möglich sein, solche Tumore zu identifizieren. Mir ist so eine beeindruckende Leistung allerdings noch nie gelungen, aber auch hier macht wohl ständige Übung den Meister.
Das Stethoskop ist mir dennoch immer eine große Hilfe, nicht nur um das Herz, sondern auch den Rest des Körpers abzuhören. Ich bin im Harz aufgewachsen, in einer Gegend, die im Sommer bei Motorradfahrern sehr beliebt ist. Da passieren in der Saison häufig schwere Unfälle, und nicht selten sind die Folgen solcher Horror-Crashs üble Verletzungen. Komme ich dann als Rettungssanitäter an den Unfallort, höre ich zuerst die Lungenflügel und den Bauchraum ab. Denn immer wieder hört man bei solchen Patienten trotz vorhandener Atmung auf einer Brustkorbseite keine Atemgeräusche.
Die Ursache für diesen scheinbaren Widerspruch ist meist ein zusammengefallener Lungenflügel (Pneumothorax) auf dieser Brustkorbseite, manchmal auch eine Blutansammlung im Brustraum (Hämatothorax) oder schlimmstenfalls die Kombination aus beidem (Hämatopneumothorax). Klopft man zusätzlich beim Abhören auf den Brustkorb (in der Medizin nennt man das »perkutieren«), kann man anhand des Schalls Luft und Blutansammlung unterscheiden. Eine Luftansammlung klingt eher wie ein Trommelschlag, während eine Flüssigkeitsansammlung den Klopfschall etwa so dämpft, als würde man auf eine wassergefüllte Pauke hauen. Wenn der Patient jetzt noch singen und Gitarre spielen würde, wäre er fast reif für die Bühne, müsste er nicht noch weiter behandelt oder untersucht werden.
Bei einer normalen Untersuchung wird oft der Bauch abgehört, um die Darmfunktion zu überprüfen. Nach einem Motorradunfall hört man den Bauch dagegen klopfenderweise ab, um auch hier Flüssigkeitsansammlungen und Blutungen auszuschließen oder zu bestätigen. Du siehst: Das Stethoskop ist alltäglicher und nützlicher Begleiter in der Medizin und bei Behandlungen, vor allem am Herzen, nicht wegzudenken.
Doch es hat wie alles seine Grenzen. Zwar gibt es Kardiologenstethoskope, mit denen man fast die Regenwürmer kriechen hört, doch alles kann man auch damit nicht erkennen. Zum Beispiel den dritten und vierten Herzton. Dann ist eine spezielle Ultraschalluntersuchung des Herzens, ein sogenanntes Herz-Echogramm (Echokardiogramm), angebracht. Auf diese Weise kann man beispielsweise die Größe des Herzens, der Kammern und Vorhöfe, die Dicke der Wände, die Beweglichkeit des ganzen Herzens, seiner Klappen und fehlerhafte Blutströme feststellen. Oft bekommt der Arzt so Hinweise auf eine krankhafte Herzveränderung, seien es Klappenfehler oder Engstellen in herznahen Blutgefäßen.
Während des Studiums habe ich einen Merksatz gelesen, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht: »Anton pokert mit Tom um 22:54«. Das klingt erst mal nach allem anderen als einer medizinisch relevanten Information. Es sei denn, man will sich die Punkte merken, an denen das Stethoskop zur Kontrolle der Herzklappen aufgesetzt wird.
Das Einzige, was man sich neben dem Satz und der Kombination rechts-links-links-rechts einprägen muss, ist nämlich, dass die Uhrzeit für die Zwischenrippenräume 2, 4 und 5 steht und die Anfangsbuchstaben des Merksatzes identisch mit denen der Klappen (Aorten-, Pulmonal-, Mitral- und Trikuspidalklappe) sind. Weiß man das, kann man recht genau seinen eigenen Herzklappentönen und, falls vorhanden, -geräuschen zuhören. Doch die Beurteilung ist kompliziert und sollte erfahrenen Kardiologen überlassen bleiben, denn die haarfeinen Unterschiede zu erkennen ist ohne jahrzehntelange Praxis kaum möglich.
Anton pokert mit Tom um 22:54 – an diesen Punkten setzt man das Stethoskop auf.