Benedikts Vermächtnis,
Franziskus’ Auftrag
Entweltlichung
Eine Streitschrift
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: agentur IDee
Umschlagfoto: © picture alliance
ISBN (E-Book) 978-3-451-80071-9
ISBN (Buch) 978-3-451-21977-1
Inhalt
Vorwort
A. Entweltlichung als geistliches Abenteuer
Paul Josef Cordes
Päpstliche Therapie – Eine persönliche Vorbemerkung
I. Entweltlichung – Im Anfang war das Wort
1. Dissonanzen im Konzerthaus – Ein Papst provoziert
2. Entlarvende Missverständnisse – Haltet den Dieb!
3. Kleine Sprachschule – Der Worte sind genug gewechselt!
II. Entweltlichung als Ereignis – Im Anfang war der Sinn
1. Simone Weil – Entweltlichung bis zum Tod
2. Charles Taylor – Gottesdämmerung
3. Ausgerechnet Bultmann! – Eine ökumenische Überraschung
III. Sich selbst entweltlichen – Im Anfang war die Kraft
1. Ein begnadeter Theologe – Karl Rahner stellt das Licht auf den Leuchter
2. Ein spirituelles Genie – Hans Urs von Balthasar meint, drei Dinge brauche jeder Christ …
3. Das göttliche Drama – Eine Anleitung zum Glücklichsein
IV. Entweltlichte Menschen, „merkwürdige“ Heilige – Im Anfang war die Tat
1. Mutter Teresa – Aus der reichen Welt in die heilige Armut
2. Bruder Klaus von Flüe – Aus der geschäftigen Welt in die heilige Ehelosigkeit
3. Charles de Foucauld – Aus der selbstherrlichen Welt in den heiligen Gehorsam
B. Die Entweltlichung der Kirche in Deutschland
Manfred Lütz
I. Die Kirche, die Liebe und die Macht – Das Kölner Ereignis
II. Entweltlichung als Aufbruch – Zwei Päpste, ein Gedanke
1. Entweltlichte Verkündigung, begeisterndes Bekenntnis – „Theologensprache ist unverkäuflich“
2. Entweltlichte Caritas – Wie das Mitleid erfunden wurde
3. Entweltlichung als Chance – Wie der Heilige Geist den Überblick verlor
III. Entweltlichung als Lösung – Die Karosserie ist zu groß für den Motor
1. Ein päpstlicher Befreiungsschlag gegen Potemkinsche Dörfer
2. Warum die Apostel beim Caritasverband keine Chance hätten
3. Brauchen wir noch die katholische Herzoperation?
IV. Entweltlichung praktisch – Laien an die Macht!
1. „Wer genau weiß, wie man stirbt, den können wir nicht brauchen!“
2. „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen …“
3. „Die Kirche muss an die Ränder gehen!“
Anhang
Ansprache von Papst Benedikt XVI. an engagierte Katholiken aus Kirche und Gesellschaft am 25. 9. 2011 in Freiburg i. Br.
Predigt von Papst Franziskus bei der Eucharistiefeier mit den Kardinälen am 14. 3. 2013 in der Sixtinischen Kapelle
„Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“
Friedrich Nietzsche
„Irdisches haben sie im Sinn. Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dorther erwarten wir auch Jesus Christus, den Herrn, als Retter, der unsern armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes.“
Der Apostel Paulus im Brief an die Philipper
Milliarden starrten gebannt auf ein Ofenrohr, das aus einer alten Kapelle ragte. Es war der 13. März 2013. Wie seit Jahrhunderten waren die Kardinäle tags zuvor ins Konklave gezogen. Der Zeremonienmeister hatte mit dem „Extra omnes“ die Welt aus der Sixtinischen Kapelle gewiesen. Und als um 19.6Uhr der weiße Rauch in den Abendhimmel stieg, jubelte das Volk – wie immer, wenn der Kirche ein neuer Papst geschenkt wird. Als Papst Franziskus dann aber auf die Loggia von Sankt Peter trat, da änderte sich in wenigen Minuten so viel an der ersten Begegnung eines Papstes mit seiner Diözese wie zuvor in Jahrhunderten nicht.
Auch andere Päpste hatten davon gesprochen, sie träten nun den Dienst des Bischofs von Rom an, aber Franziskus brachte gleich seinen Kardinalvikar für Rom mit auf den Balkon und erklärte, mit ihm zusammen wolle er zunächst einmal diese Diözese Rom evangelisieren. Dann bat er das Volk, für ihn um den Segen Gottes zu bitten, und erst danach gab er seinen apostolischen Segen. Und vor allem trat dieser Franziskus ganz schlicht und ohne Insignien der Macht vor die Welt, ohne die päpstliche Mozzetta, jenen prachtvollen Schulterüberwurf, dessen Rot an das Blut der Märtyrer erinnern soll, und ohne das kostbare Brustkreuz, sondern mit einfachem weißem Papstgewand und einem Kreuz aus Blech.
Viele wollten in diesen Zeichen eine Abkehr von seinem Vorgänger sehen, aber schon in seiner ersten Ansprache als Papst würdigte er Benedikt XVI. ausdrücklich und machte augenfällig, dass beide Päpste sich vor allem in ihrer liebenswürdigen Demut ähnelten: Benedikt, der persönlich auf Äußerlichkeiten überhaupt keinen Wert legte und der in den ihm auferlegten päpstlichen Gewändern geradezu körperlich die Last seines Amtes erduldete, und Franziskus, der diese Demut nach außen trug und auch äußerlich auf die majestätischen Zeichen des päpstlichen Amtes verzichtete. Was den Theologenpapst Joseph Ratzinger und den Seelsorgepapst Jorge Mario Bergoglio aber geistig verbindet, das wurde in der ersten Ansprache von Papst Franziskus an die Kardinäle klar. „Immer in Bewegung“ müsse die Kirche sein, hatte Papst Benedikt XVI. in seiner berühmten Freiburger Rede am 25. September 2011 gesagt, und Papst Franziskus betonte vor den Kardinälen am 14. März 2013: „Unser Leben ist ein Weg, und wenn wir anhalten, geht die Sache nicht.“ Als Franziskus dann aber von der Weltlichkeit des Teufels, von der Weltlichkeit des Bösen sprach und die Kardinäle davor warnte, „weltlich“ zu sein, da nahm er für alle hörbar die Melodie Benedikts XVI. auf, der in derselben Freiburger Rede vor allem der Kirche in Deutschland „Entweltlichung“ verordnet hatte.
Diese Rede damals war ein unerhörter Skandal. Mitten in Deutschland, am Bischofssitz des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und am Sitz des mächtigen Deutschen Caritasverbandes sagte der deutsche Papst nicht das, was er hätte sagen müssen, um absehbar den Beifall seiner Zuhörer zu erlangen, sondern er redete der deutschen Kirche ins Gewissen. Die Freiburger Entweltlichungsrede war das Vermächtnis des deutschen Papstes an seine deutschen Landsleute. Wie immer hatte Papst Benedikt seinen Text in ruhigem, liebenswürdigem Ton vorgetragen, aber der Inhalt war explosiv. Er rührte an die Grundfesten des deutschen Institutionskatholizismus. Der Beifall war verhalten, und nach der Rede brach sich völlige Verwirrung Bahn. Ein empörter Kirchenfunktionär stieß aufgeregt hervor, so etwas dürfe ein Papst doch nicht tun. Damit entziehe er der deutschen Kirche die Basis ihrer Existenz. Das stelle ja alles zur Disposition, die Kirchensteuer, die Macht und den Einfluss der Kirche.
Tatsächlich hatte der Papst in mildem Ton die Gefahren kirchlicher Verweltlichung gegeißelt, hatte auf die schmerzlichen geschichtlichen Erfahrungen hingewiesen und sich sogar nicht gescheut, die kulturschänderische Säkularisation zu loben. Dass ein Papst die Kirchenenteignungen im Gefolge der Französischen Revolution als heilsam für die Kirche darstellte, wann hatte es das schon einmal gegeben? Wie dringlich musste Benedikt XVI. das Problem der fatalen Verwobenheit der deutschen Kirche mit der Welt sehen, wenn er den wohl endgültigen Abschied von seiner Heimat nicht mit einer wohltemperierten, harmonischen Rede ausklingen ließ, sondern mit einem flammenden Appell zur Umkehr. Und er hatte in dieser spektakulären Rede der Kirche verheißen, dass sie gerade durch Verzicht auf weltliche Macht kraftvoller in der Welt wirken könne. Der Papst hatte für eine veritable Reformation plädiert, für eine geistliche Neuformung der Kirche von ihren Ursprüngen, von ihren Quellen her. Und das galt nicht nur für die Institutionen, sondern auch für das geistliche Leben jedes einzelnen Christen – im Sinne von Mutter Teresa, die einmal gefragt wurde, was sich in der Kirche ändern sollte, und die darauf antwortete: Sie und ich. Dann jedenfalls können Christen befreiter und überzeugender auf die säkulare Welt zugehen. Schon morgens hatte der Papst bei der Messe auf dem Freiburger Flugplatz erklärt: „Agnostiker, die von der Frage nach Gott umgetrieben werden … sind näher am Reich Gottes als kirchliche Routiniers, die in ihr (der Kirche) nur noch den Apparat sehen, ohne dass ihr Herz davon berührt wäre, vom Glauben berührt wäre.“ Das Jahr des Glaubens hatte Benedikt dann für 2013 ausgerufen, und sein Nachfolger hält aus offensichtlich tiefer Überzeugung daran fest. Das unermüdliche Hinweisen auf Christus kennzeichnete den Pontifikat Papst Benedikts XVI., und bruchlos knüpfte Papst Franziskus daran an, als er mahnend in der Predigt an die Kardinäle, unmittelbar nach seiner Wahl, sagte: „Wenn wir nicht Jesus Christus bekennen … (werden wir) eine wohltätige Nichtregierungsorganisation, aber nicht die Kirche, die Braut Christi.“ Und dann sagte Papst Franziskus in seiner Ansprache an die Journalisten am 16. März 2013 etwas Alarmierendes. Er sagte, er wünsche sich eine Kirche für die Armen. Das allein wäre für die deutsche Kirche noch nicht beunruhigend gewesen. Denn in der Tat geben deutsche Katholiken vor allem durch die zahllosen Hilfswerke viel Geld für die Armen in der Dritten Welt. Doch Papst Franziskus hatte noch mehr gesagt: Er wünsche sich, so lautet das vollständige Zitat, „eine arme Kirche für die Armen“.
Eine arme Kirche, was um Gottes willen sollte das heißen? Schon Papst Benedikt XVI. hatte in seiner Freiburger Rede eine arme Kirche gefordert, die in dieser Armut wieder missionarischer werden könnte. Ganz auf dieser Linie machte Papst Franziskus schon gleich nach seinem Amtsantritt klar, dass auch er das nicht metaphorisch meinte. Den Mercedes, der den neuen Papst die paar Hundert Meter zu seiner Unterkunft bringen sollte, ließ er stehen und bestieg mit den Kardinälen den Bus. Auch an der schlichteren Limousine, die am nächsten Tag dastand, ging er vorbei. Die ersten Gottesdienste zelebrierte er mit der schlichten Mitra, die er aus Buenos Aires mitgebracht hatte, und das blieb auch beim Ostergottesdienst so.
Solche Botschaften ohne Worte schaffen Fakten. In Zukunft wird es also nicht mehr bloß so sein, dass ein deutscher Kaplan mehr verdient als ein römischer Kurienkardinal; ein deutscher Weihbischof wird sich dann wohl in seinem Dienstwagen etwas unwohl fühlen, weil er weiß, dass der größer ist als der Wagen des Papstes, und auch seine Mitra ist mutmaßlich kostbarer. Natürlich ist der Prunk, mit der manche Kirche ausgestattet ist, zur höheren Ehre Gottes gedacht, und im Goldglanz ihrer Kirchen ahnen manche Arme Lateinamerikas das Paradies, auf das sie nach einem mühevollen Leben hoffen. Natürlich sind die prachtvollen Gewänder von Priestern und Bischöfen nicht für die armseligen Menschen gedacht, die auch Priester und Bischöfe manchmal sind, sondern sie sind eine sinnfällige Ehrung Christi, in dessen Person diese geweihten Amtsträger gottesdienstlich handeln. Doch wenn schon der Papst bescheidenere liturgische Gewänder wählt, dann wird sich das sicher auch auf den Aufwand auswirken, den Bischöfe und Priester ihrer liturgischen Kleidung wegen nicht selten betreiben. Worte und Taten des neuen Papstes wirken sich jetzt schon aus.
Was bedeutet aber das Vermächtnis des deutschen Papstes für die deutsche Kirche? Was bedeutet „Entweltlichung“ genauer, was bedeutet der Auftrag des neuen Papstes, nicht weltlich zu sein, für uns in Mitteleuropa? Nehmen wir, um diese Frage konkret zu machen, als Beispiel einmal Köln: Was bedeutet das für den Jahresetat von rund einer Milliarde Euro allein im Erzbistum Köln mit über 50.000 kirchlichen Angestellten unter anderem in 54 katholischen Krankenhäusern angesichts von nur etwa 215.000 sonntäglichen Kirchenbesuchern?
Der Vorfall im Dezember 2012 an zwei katholischen Krankenhäusern in Köln, wo die diensthabenden Ärztinnen die Aufnahmeuntersuchung einer mutmaßlich vergewaltigten Frau verweigerten, warf ein Schlaglicht auf diese prekäre Situation. Die Ärztinnen waren sich offenbar über die „katholischen Prinzipien“ der Häuser im Unklaren und scheuten sich, ihre Hilfe anzubieten. Dabei verstießen sie gerade damit ausdrücklich gegen die auch in den Leitbildern der Krankenhäuser niedergelegten Prinzipien. Man kann aber auch andere Prinzipien nicht durch Texte anordnen und notfalls arbeitsrechtlich durchsetzen. Wenn die Überzeugungen der Mitarbeiter erheblich von diesen Prinzipien abweichen, dann entwickelt sich das Arbeitsrecht zum Instrument einer weltanschaulichen Nötigung, und das akzeptieren weder die einzelnen Betroffenen noch die Gesellschaft im Ganzen. Dabei ist die Rechtslage noch vergleichsweise klar. Juristisch hat die Kirche immer noch erhebliche Möglichkeiten, in ihren Einrichtungen ihre Vorstellungen durchzusetzen, auch was die persönliche Lebensführung der Mitarbeiter betrifft. Aber gesellschaftlich gelten vor allem arbeitsrechtliche Konsequenzen aus persönlichen Lebensentscheidungen als absolut inakzeptabel. Die öffentliche Empörung in jedem solchen Fall schadet dem Ruf der Kirche aufs Schwerste. Es wäre eine Illusion, anzunehmen, die katholische Kirche könne über das Arbeitsrecht einklagbar sicherstellen, dass (noch einmal für den Bereich des Erzbistums Köln gesprochen) 50.000 kirchliche Angestellte oder auch nur eine wichtige Gruppe davon „katholisch“ leben. Inzwischen ist die Situation so weit eskaliert, dass dringend Konsequenzen gezogen werden müssen.
Bereits zu Beginn seiner Tätigkeit als Erzbischof von Köln hatte Kardinal Meisner mit Blick auf die aufgeblähten kirchlichen Institutionen darauf hingewiesen, dass der Motor zu klein für die gewaltige kirchliche Karosserie sei. Gerade aus Kirchenkreisen hatte man ihm daraufhin polemisch entgegengehalten, das sei Ghettodenken; Joachim Meisner komme halt aus dem Osten und kenne nur eine kleine Kirche, er müsse sich erst noch an westliche Dimensionen der katholischen Kirche gewöhnen. Und auch Papst Benedikt schallte es nach einer Schrecksekunde aus dem kirchlichen Establishment maliziös entgegen, seine Freiburger Rede sei offensichtlich die Flucht eines akademischen Traumtänzers aus der realen Welt. Der Sinn des Ausdrucks Entweltlichung wurde kurzerhand völlig pervertiert, indem man vorgab, der Papst habe für Weltflucht plädiert – was der wirklichen Rede diametral widersprach, in der es geheißen hatte: „Das heißt natürlich nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern das Gegenteil. Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-caritativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln.“ Wenn bewusste Verdrehungen der Freiburger Rede nicht verfingen, blieb als Verteidigungslinie gegen diese gefährliche Rede die Behauptung, Papst Benedikt XVI. habe in Freiburg vor allem als Papst der Weltkirche gesprochen. Er habe natürlich nicht die deutsche Situation gemeint, die Kirchensteuer nicht, die Institutionen nicht und auch nicht den Umgang mit Macht. Man scheute sich also nicht zu behaupten, dass ein deutscher Papst, wenn er in einer deutschen Stadt vor Deutschen auf Deutsch rede, vor allem Lateinamerika gemeint haben müsse …
Absurder ging es eigentlich nicht mehr. Doch inzwischen holt die Realität solche Eskapaden ein. Alle paar Wochen wird der Ruf der Kirche durch entsprechende Ereignisse erschüttert. Die öffentliche Empörung auslösende Entlassung einer beliebten Kindergärtnerin aus einem katholischen Kindergarten, weil sie zu ihrem Lebensgefährten gezogen war, die gerichtlich erzwungene Wiedereinstellung eines Chefarztes, der nach seiner Scheidung wieder geheiratet hatte, zuletzt die Geschichte mit der vergewaltigten Frau in der Notaufnahme, aber auch das in einer evangelischen Einrichtung erstrittene Streikrecht – all das sind deutliche Zeichen dafür, dass das kirchliche Institutionswesen so nicht mehr zu halten ist, wenn die Kirche nicht noch weiter schweren Schaden an ihrem öffentlichen Ruf nehmen soll. Institutionelle Macht über Menschen auszuüben, bei denen von vornherein klar ist, dass sie sich gar nicht mit der Kirche identifizieren wollen, toleriert die Gesellschaft nicht mehr. Und da scheint plötzlich die Freiburger Rede Papst Benedikts XVI. und die Warnung vor der Weltlichkeit durch Papst Franziskus einen Ausweg zu weisen, der die Kräfte der Kirche nicht in juristischen Rechthabereien verbraucht, sondern sie für das Wesentliche freisetzt, die Verkündigung des Glaubens an einen menschenfreundlichen Gott. Und deswegen befasst sich dieses Buch mit diesem Thema. Es ist das Schicksalsthema der katholischen Kirche in Deutschland. Ob es der Kirche hierzulande freilich gelingen wird, aus eigener Einsicht und eigenen Kräften eine Wende herbeizuführen, das ist ungewiss. Vielleicht schafft die Kirche den Verzicht auf institutionelle Macht ja nicht aus eigenem Antrieb. Dann bleibt nur die Alternative einer gnädigen Säkularisation von außen. Damit es dazu nicht kommen muss, dazu soll dieses Buch beitragen.
Damit Entweltlichung aber nicht bloß als ein oberflächliches Selbstsäkularisierungsprogramm missverstanden wird, sondern damit sie im Gegenteil als geistliches Ereignis begriffen wird, das jeden Einzelnen zur Besinnung kommen lässt, und damit ihre eigentliche Kraft entwickelt, darum stellt im ersten Teil Kardinal Paul Josef Cordes die Freiburger Rede Papst Benedikts XVI. in ihren historischen und theologischen Kontext. Er verweist auf eindrucksvolle moderne Menschen, die sich auf den Weg der Entweltlichung gemacht haben, und dabei nicht nur auf Katholiken, nicht einmal nur auf Christen. Erst dadurch wird die moderne und übrigens auch die ökumenische Dimension des Entweltlichungsbegriffs sichtbar.
Manfred Lütz stellt dann noch einmal die aktuelle Frage nach der Zukunft der kirchlichen Institutionen in Deutschland. Im Anhang ist schließlich die Freiburger Rede Papst Benedikts XVI. abgedruckt sowie die Predigt von Papst Franziskus vor den Kardinälen am Tag nach seiner Wahl.
Kardinal Paul Josef Cordes
Dr. Manfred Lütz
Der Rücktritt von Papst Benedikt XVI. war für mich mehr als ein überraschendes Ereignis der Zeitgeschichte. Er traf mich ganz persönlich. Mehr als dreißig Jahre hindurch hatten sich unsere Wege im Vatikan gekreuzt: wenn ich ihn aus dienstlichen Gründen in seinem Büro aufsuchte und um Rat fragte; wenn wir uns am Aufzug des Sant’ Uffizio – seinem damaligen Arbeits- und meinem Wohnort – sahen; wenn wir uns über Angelegenheiten und Vorkommnisse in Deutschland austauschten; wenn wir uns aus Anlass unserer Namenstage jeweils gegenseitig einluden. Noch Mitte Januar 2013, knapp einen Monat vor der Ankündigung seines Rücktritts am 11. Februar, durfte ich zum Abendessen sein Gast sein und erlebte ihn mit seiner für einen 85 -Jährigen brillanten geistigen Präsenz.
Die Rede des Papstes an uns Kardinäle an jenem Vormittag des 11. Februar war für mich ein Schock. Doch verminderte sich in den darauffolgenden Tagen meine Niedergeschlagenheit ein wenig. Sein Pontifikat als Ganzes trat in den Blick. Die Medien kommentierten überwiegend positiv: „… will kein Chaos hinterlassen …“, „Vorbild für die Welt“, „Menschen vom Schlag Benedikts braucht die Welt“. Das war nicht immer so gewesen. Doch den „Hass der Welt“ (Joh 15,18) hatte Jesus Christus selbst seinen Jüngern schon angekündigt. Die Anfeindungen, denen er oft ausgesetzt war, stärkten darum in mir eher noch die Glaubwürdigkeit seines Dienstes.
Je länger ich nachdachte, umso mehr erkannte ich in dem Rücktritt etwas von der Wesensart Joseph Ratzingers: Seine geistliche Unterscheidungskraft hatte schon häufig mein Vertrauen in sein Urteil geweckt. Ungemein selbstkritisch und anspruchsvoll kam er seinen Pflichten nach, und er fürchtete wohl, diesen eigenen hohen Ansprüchen an sich selbst und das verantwortungsvolle Amt nicht mehr gerecht werden zu können. Dabei ist er von entwaffnender Demut: Einmal, als wir uns während des Sommerurlaubs in Brixen trafen, lud er mich in ein Lokal zum Essen ein: Wir kamen auf Hans Urs von Balthasar und dessen geniales theologisches Werk zu sprechen. Keine einzige Bemerkung zu seinen eigenen Publikationen kam Joseph Ratzinger über die Lippen. Sein einziger Kommentar zu Balthasar beeindruckte mich durch totale Selbstvergessenheit: „Was für eine Gnade, diesen Mann erlebt zu haben!“
„Was für eine Gnade, diesen Mann erlebt zu haben!“ Er hatte dieses Wort über den Schweizer Theologen gesagt. Ich möchte es aber auch auf ihn selbst anwenden. Natürlich bin ich nicht so vermessen, die Schätze jetzt darlegen zu wollen, die uns seine Authentizität als Person und Amtsträger, seine pastorale Sensibilität, seine theologische Genialität und seine kirchenpolitische Weitsicht hinterlassen haben. Ich möchte mich nur mit einem vom ihm in Umlauf gesetzten Begriff befassen, weil dieser Begriff so ungewöhnliche Aufmerksamkeit und so heftigen Widerspruch geweckt hat, mehr noch: weil dieser Begriff einen zentralen Grundimpuls seines Pontifikats formuliert. Die Rede ist von dem Ausdruck „Entweltlichung“. Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., hat dieses Wort keineswegs in polemischer Absicht gewählt, sondern als Therapie für die Katholiken in Deutschland.
Wohl selten hat die Rede eines römischen Bischofs in Deutschland solche Wellen geschlagen wie diejenige Papst Benedikts XVI. bei seinem Besuch im Konzerthaus in Freiburg am 25. September 2011. (Der Text, der in gewisser Weise das Vermächtnis dieses Papstes an seine Landsleute ist, findet sich im Anhang dieses Buches.) Die zentrale Aussage, die der Papst dann noch näher ausführte, lautete: „Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird sie (die Kirche) auch immer wieder Distanz zu ihrer Umgebung nehmen müssen, sich gewissermaßen ,entweltlichen‘.“ Was das heißt und was das nicht heißt, darum soll es in diesem Buch gehen.
Diese Rede stand im Zentrum einer Begegnung mit „engagierten Katholiken aus Kirche und Gesellschaft“ im Freiburger Konzerthaus. Sie bildete nicht nur den Abschluss der kraftvollen Verkündigung während der Tage in seinem Vaterland. Sie richtete sich nach den Gottesdiensten in verschiedenen Städten und den Begegnungen mit ihren unterschiedlichen Gruppen und lokalen Aspekten an alle Glaubenden des Landes – unabhängig von der jeweiligen örtlichen, staatlichen, kirchlichen, sozialen und hierarchischen Verantwortung. Keiner im Auditorium konnte denken, er sei nicht gemeint. „Kirche sind wir alle“, formulierte der Papst unmissverständlich. So wollte er denn auch mit seinen Worten nicht bloß kirchliche Organisationen und Institutionen ansprechen, worauf manche die Freiburger Rede zu reduzieren versuchten. Benedikt ist ein zu erfahrener Hirte, als dass er unbeachtet ließe: Die fällige Veränderung kann den einzelnen Christen nicht überspringen; sie muss vielmehr von ihm ausgehen. Darum begann er auch mit der Erzählung einer kleinen Episode. Er berichtete, die selige Mutter Teresa sei gefragt worden, was sich ihrer Meinung nach als Erstes in der Kirche ändern müsse. Ihre Antwort sei gewesen: „Sie und ich!“ So spricht Benedikt XVI. von dem Weg, auf dem „sich die Weltoffenheit des einzelnen Christen wirksam und angemessen vollziehen kann“.
Den päpstlichen Aufruf zur Entweltlichung nimmt also nicht zuletzt derjenige ernst, der seinen Anspruch an jeden einzelnen Christen heraushört. Mehr noch: Der Papst sieht seine Rede als ein Element der umfassenden Grundabsicht für seine Reise „in mein Deutschland“, wie er auf seinem Hinflug über die Alpen formulierte, nämlich „die Botschaft Christi in mein Land zu tragen“. Seine Rede richtet sich gegen die Versuchung der Kirche, dass sie „zufrieden wird mit sich selbst, sich in dieser Welt einrichtet und sich den Maßstäben der Welt angleicht“. Auch wenn solche „Verweltlichung“ in kirchlichen Institutionen unübersehbar ist, beginnt sie nicht mit diesen Einrichtungen. Wenn der Glaube neue Kraft gewinnen soll, hat zunächst der Einzelne bei sich selbst anzufangen. Jesus selbst ist das ewig gültige Beispiel dafür: Der einzelne Heilige sammelt „Hör-Willige“ um sich, die sich dann heiligen und sich senden lassen. So geschieht Erneuerung.
Bei genauerem Blick auf die Rede des Papstes springt sofort ins Auge, wie sehr sie von der Heiligen Schrift inspiriert ist. Benedikt sieht die Kirche aus zwei Blickwinkeln, dem der Öffnung auf die Welt und dem der Öffnung auf Gott hin:
„Und deshalb muss sie (die Kirche) sich immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selbst gehört, sich ihnen ausliefern …“ Die wahre Entweltlichung „heißt natürlich nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern das Gegenteil“.
„In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich …, dass die Kirche zufrieden wird mit sich selbst, sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zu der Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin.“