Joachim Masannek

V8 – Komm, wenn du dich traust!

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Mit Illustrationen von
Astrid und Marc Reimann

BASTEI ENTERTAINMENT

ratpack

Vorsatz

Inhaltsverzeichnis

  1. 01 Am Rand des Rosengartens

  2. 02 Erdbeeren mit Zahnpasta

  3. 03 Diamond Dachsmann von Drachenherz

  4. 04 Die Straße des Ruhms

  5. 05 Die aus dem Süden

  6. 06 Die richtigen Freunde

  7. 07 Du willst der Beste sein

  8. 08 Traumkiller

  9. 09 Mama und Papa können nicht helfen

  10. 10 Ein magischer Furz

  11. 11 Vier Münzen. Vier Feinde.

  12. 12 Das darfst du nicht fragen

  13. 13 Gefahr im Verzug

  14. 14 Komm, wenn du dich traust

  15. 15 Enttäusch mich nicht, Robin!

  16. 16 Superfreak und ich leben nicht in derselben Welt

  17. 17 Darauf verwette ich meinen Hintern

  18. 18 Mein Sohn ist ein Sieger

  19. 19 Superdachse arbeiten im Süden

  20. 20 Das ist ein Bulle

  21. 21 In der Höhle des Löwen

  22. 22 Wenn du über diese Brücke gehst, sind wir geschiedene Leute

  23. 23 Die Herrscher des Südens

  24. 24 Du musst dich entscheiden, Robin

  25. 25 7 Straßen 7 Siege 7 Türme

  26. 26 Die Geburt der V8

  27. 27 Traust du ihm wirklich?

  28. 28 Papa, ich werde dich nicht noch einmal enttäuschen

  29. 29 In der Falle

  30. 30 Zwischen den Welten

  31. 31 Ein Traum wird Wirklichkeit

Es gibt ein Geheimnis,

Gerüchte umwoben,

das niemand, der es kennt, verraten darf.

Es gibt eine Legende über die Burg,

die die Weltmeisterschmiede der Rennfahrer ist.

Doch niemand, der da war, darf von ihr erzählen.

Und für Erwachsene ist alles tabu.

01 Am Rand des Rosengartens

So grell wie die Flamme eines Schweißbrenners, erhob sich die Sonne hinter den Bergen im Osten und verwandelte den Fluss mit ihren Strahlen in eine Straße aus funkelndem Gold. Tausend kleine Wellen glitzerten, als wären Sterne vom Himmel gefallen, und schnitten die noch schlafende Stadt in zwei ungleiche Hälften: den feinen und wohlhabenden, behüteten Norden und den gefährlichen Süden, den man im Norden, in Davids Welt, nur die verbotene Zone nannte.

Die verbotene Zone. Denn dort ging man nicht hin. Dort ging man nicht hin, weil man es nicht überlebte. So hieß es auf jeden Fall in den prächtigen Villen auf dem nördlichsten Hügel und so erzählte man es sich auch im Rosengarten. In der friedlichen Einfamilienhaussiedlung zu ihren Füßen am Fluss.

Doch dieser Rosengarten war zu friedlich für David. Für David Michele, der heute am ersten Tag seiner Sommerferien fast schon elf Jahre alt war. Und er war auch zu friedlich für ihr kleines Haus.

Ja, das Haus seiner Eltern war einfach anders. Anders als alle anderen Häuser hier. Es war nicht nur anders. Es war besonders. Besonders und einzigartig und absolut wild. Denn weil es so klein war, befand sich das Zimmer von David in einem Anbau, der besser als jedes Baumhaus war. Er wuchs aus dem Dach über die Regenrinnen hinaus und stützte sich dort auf drei mächtige Stelzen.

David liebte sein Zimmer. Er hatte es mit seinen Eltern erdacht und gebaut und ihn störte nur eins: dass er es teilen musste. Teilen mit Luca, seiner gerade einmal neunjährigen Schwester. Und die war nicht nur verrückt. Nein, die war richtig durchgeknallt. Spleenig. Meschugge. Das heißt: Sie war einfach die Pest.

Doch noch schlief die Pest. So wie der Rosengarten schlief. Während die Südstadt mit ihren Fabriken und Schornsteinen längst aufgewacht war. Während die Menschen, die dort lebten, seit Stunden arbeiteten, war es auf der Nordseite noch absolut still.

Ja, absolut still. Bis auf ein leises Geräusch im Inneren des Baumhauses. Das Geräusch eines Jungen, der nur eines wollte: Rennfahrer sein. Der schnellste und beste Fahrer der Welt. Teuflisch verdrehte Haarnadelkurve! David träumte schon wieder mit offenen Augen, und aus seinem Mund ertönte ein Röhren, das einen Formel-1-Boliden mit Stolz erfüllt hätte. Noch fauchte er leise, während sein Blick durch das Baumhaus glitt.

Er sah Lucas Welt. Die Welt von Diamond Dachsmann, dem Superdachsmann von Drachenherz. Über den hatte ihr ihr Vater mehr als tausendundeine Geschichte erzählt und den lebte sie jetzt. Sie trug seine Mütze aus schwarz-weißem Fell. Selbst wenn sie schlief, trug sie den pelzigen Helm. Die Kettenhemduniform hatte sie samt Unterwäsche mit ihrer Mutter genäht. Die Buhmies, die Bumerangs Bäng, Buhm und Bäng, hatte ihr Vater für sie aus Treibholz geschnitzt und die hingen zusammen mit der Herz-von-Drachenherz-Kette an den Super-Elektromagnet-Heldenstiefeln über dem Bett.

Davids Blick schweifte über die knallrote Grenzlinie, die die Dachsmannwelt von seiner Welt trennte. So wie der Fluss den Norden vor dem Süden beschützt, beschützte sie seine Welt vor seiner Schwester: die Welt eines zukünftigen Profirennfahrers, die Luca niemals betreten durfte. Nein, nie und nimmer durfte sie das, denn sie würde alles zerstören. Alles, was David etwas bedeutete und dieses „Alles“ hing über ihm an der Wand: das Kart auf dem Poster.

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Beim qualmenden Goodyearslick! Ein richtiges Rennkart. Das würde sich David in sechs Wochen kaufen. Am Ende der Ferien. Und jetzt raste er in seiner Vorstellung über die Bahn, die Kartbahn der Stadt: den Path of Glory. Der hing über ihm an der Baumhausdecke. Er hatte ihn detailgetreu nachgebaut. Jede Schikane und Kurve, die es dort gab. Und er kannte sie auswendig.

David schoss gerade in die Schneckenhauskurve und die hatte es in sich. Kurz vor der Geraden flog man schnell aus der Bahn. Doch David war gut. Er fuhr ein erbarmungsloses Rennen gegen die Zeit. Er schaute zur Rennfahrerwanduhr neben der Kartbahn. Das blaue Kart auf dem Sekundenzeiger jagte das rote des Minutenanzeigers. Das Getriebe schrie auf. Der Motor heulte und jaulte. Die Hinterreifen begannen zu rutschen. Sie verloren den Grip. Das spürte sein Hintern. Sein Rennfahrerhintern. Oh Mann, war das knapp! Doch als das blaue Kart das rote kurz vor der Ziellinie überholte, als es endlich sechs Uhr war, hatte David es wieder geschafft. Er war Bestzeit gefahren: Rundenrekord.

David schrie auf. „Raaah!“, schrie er. „Ja!“

Er gab wieder Gas, und während er triumphierend die Ehrenrunde drehte, weckte sein Motorenlärm seine Schwester.

„Oh nein! David, nein!“, beschwerte sich Luca und kroch dabei unter ihr Kuscheltier. Das war lebensgroß und – genauso wie sie – bis ins Detail ein echter Dachsmann von Drachenherz.

„Nein! Nicht schon wieder!“, flehte das Mädchen.

Aber David hatte dafür keinen Sinn.

„Doch“, rief er lachend. Er sprang aus dem Bett. „Es ist endlich sechs. Endlich sechs Uhr.“

„Ja, David sechs“, verfluchte ihn Luca. „Doch heute ist Samstag. Samstag, kapierst du?! Heilige Wildernacht, und wir haben Ferien!“

02 Erdbeeren mit Zahnpasta

Blitzschneller Boxenstop. Hose, T-Shirt, Schuhe. Die lagen noch genau so neben dem Bett, wie er sie gestern ausgezogen hatte. Jetzt nur keine Zeit verlieren!, dachte David und schlüpfte schon auf dem Weg ins Bad in die Klamotten.

„Hosenknopf zu, fertig und dann weiter geht’s. Zähne putzen!“, trieb er sich an und schaltete einen Gang höher: „Dass der Mund schäumt wie ein qualmender Reifen!“

„David, du nervst!“, schimpfte Luca unter dem Dachsmann.

Doch das war genau das, was David wollte: Schwesterchen nerven!

Er schoss aus dem Zimmer. Achtung Kurve! Kurz in die Bremsen. Dann Treppe hinunter. Scharf links in die Küche. Auf dem Scheitelpunkt Gas geben. Bis zum Waschbecken noch mal richtig beschleunigen. Zahnbürste aus dem Mund und dann noch der butterweiche 180-Grad-Slide nach rechts!

„Raaah! Fertig! Geschafft!“

Gekonnt drängte David seine Mutter zur Seite und spuckte die Zahnpasta ins Küchenspülbecken, direkt auf die frisch geviertelten Erdbeeren, die sie dort fürs Frühstück wusch. Doch David schien das nicht zu bemerken.

Er saß längst am Frühstückstisch und nahm sich ein Brötchen. Er war voll konzentriert auf das, was er tat. Denn das wusste David: Nur wenn alle Handgriffe saßen und wie Zahnräder ineinandergriffen, war eine neue Bestzeit möglich. Das hatte er von den Profis gelernt. Doch plötzlich spürte er den Blick seines Vaters. Er sah, wie der zur Mutter schaute. Zur Mutter am Spülbecken. Er wollte etwas sagen. Etwas wie: „Tickst du noch richtig!“ Doch David war schneller und kam ihm zuvor:

„Ich hab keine Zeit!“, erklärte er ihm, während er vom Brötchen abbiss und dann, fast ohne zu kauen, schluckte. „Ich habe drei Jobs! Drei Jobs jeden Tag! Sechs Tage die Woche.“

Sein Vater war sprachlos.

„Und das die gesamten Sommerferien! Die gesamten sechs Wochen, und wenn die Schule dann losgeht, hab ich das Geld für mein Kart.“

Er sprang wieder auf, griff seine Lederjacke und den Rennfahrerhelm, die beide wie die seines Vorbilds aussahen: wie Jacke und Helm von Steve McQueen. Er zündete seinen Rennkartmotor. Sein Mund machte dazu die coolsten Geräusche und er rannte zur Tür, die in den Garten führte. Doch gerade in dem Moment, als er die Klinke berührte, riss ihn ein unsichtbares Gummiband wieder zurück.

„Halt!“, sagte sein Vater.

Er sagte das cool. Ganz ruhig und leise, so wie er das immer tat, wenn David zu frech war. Und dem blieb nichts anderes übrig, als eine Vollbremsung hinzulegen. Nein er wurde gebremst. Das „Halt“ hielt ihn fest und dann hörte er sein Todesurteil:

„Ich glaube, du hast da noch was vergessen!“, sagte sein Vater und David drehte sich ganz langsam um.

Er drehte sich um, obwohl er es nicht wollte. Obwohl es ihm wehtat. Er stöhnte und seufzte und sein Blick sprühte Funken, Funken vor Zorn, als er auf seine Schwester fiel: auf Luca. Die stand da im Dachsmannunterwäschenschlafanzug und hielt ihren Kuscheldachsmann an der Pfote. Sie stand an der Treppe, die zum Baumhaus hochführte.

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„Oh nein, bitte nicht!“, seufzte er wie ein Fahrer, dem ein gerupftes Huhn kurz vor der Ziellinie die Straße versperrt.

„Doch!“, sagte seine Mutter und kannte kein Mitleid. „Das war unser Deal!“

„Nein, das ist Wucher!“, protestierte David energisch „Die ist ein Kolbenfresser!“ Er suchte verzweifelt nach noch schlimmeren Worten. „Die da ist …“

„… deine kleine Schwester“, ermahnte ihn seine Mutter, worauf sich Luca vehement beschwerte. „Ich bin keine Schwester!“, rief sie erbost. „Ich bin der Superdachsmann von Drachenherz!“

„Ganz genau!“, lachte sein Vater, und während Luca auf seinen Schoß krabbelte und ihn grinsend umarmte, erinnerte er David an das, was der in diesem Moment überhaupt nicht mehr wissen wollte. „Sie ist der Dachsmann von Drachenherz, um den du dich in der schulfreien Zeit brüderlich kümmerst. Dafür zahlen wir dir die Hälfte des Karts.“

„Ja, und ich zahl die andere!“ David blitzte ihn an. „Und weil ich das tue, muss ich jetzt weg. Jetzt und sofort und das tut mir leid, denn die da …“, er zeigte verächtlich auf seine Schwester, „… ist noch nicht einmal angezogen. Und dann, dann muss sie auch noch frühstücken!“

Er rannte zur Tür. Er musste hier raus. Er konnte seine Schwester heute gar nicht gebrauchen. Doch die Tür war nicht da. Oder besser gesagt. Dort wo sie bis gerade eben gewesen war, stand jetzt seine Mutter und die hielt die Erdbeeren vor ihrer Brust.

David starrte sie an.

„Genauso wie du!“, sagte sie lächelnd. „Du hast auch nicht gefrühstückt. Und du kannst die Erdbeeren haben. Hier! Die mit der Zahnpasta sind besonders gut.“ Sie nahm eine Gabel, pikste in eine der weiß-roten Früchte und bot sie ihm an.

„Dafür bring ich dich um!“ David sagte das lautlos. Aber der Blick, den er seiner Schwester zuwarf, sollte sie töten: „Dafür bring ich dich um! Du, du, du Diesellutscher!“

Doch er hatte verloren.

„Papa, David hat Diesellutscher zu mir gesagt!“, triumphierte das Mädchen auf dem Schoß seines Vaters und David blieb nichts anderes übrig. Er biss in die Zahnpasta-Erdbeere und schluckte sie würgend.

03 Diamond Dachsmann von Drachenherz

David war abfahrbereit. Er steckte die letzte der zusammengerollten Zeitungen in einen der Köcher, die er links und rechts neben dem Schalensitz angebracht hatte. Dann setzte er den Helm auf und schwang sich in sein Gokart. Das hatte er so umgebaut, dass es fast so aussah wie das Rennkart auf dem Poster über seinem Bett.

David hatte die aus Plastikrohren gebauten Spoiler und Kotflügel blau-weiß lackiert und mit Rennaufklebern versehen. Und wenn er – so wie jetzt – seine täuschend echten Motorengeräusche fauchte und röhrte, war die Illusion perfekt. Dann war er wieder auf der Kartbahn. Dem Path of Glory. Der Straße des Ruhms.

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David trat in die Pedale. Zeitungaustragen war der erste der drei Jobs, die er ab jetzt jeden Tag erledigen musste, und weil es drei Jobs waren, hatte er keine Zeit. Das hatte er seinen Eltern beim Frühstück mehr als deutlich erklärt und deshalb konnte er nicht länger auf seine Schwester warten. Zum Glück konnte er das nicht. Er fuhr durch den Garten auf das Gartentor zu. Gleich war er weg. Gleich würde er Luca, den Zahnpasta-Erdbeeren und dem Wucher-Babysitter-Deal mit seinen Eltern doch noch entkommen.

Da stürzte seine Schwester aus der Tür.

„Halt! Warte auf mich!“, rief sie aufgeregt und wedelte dabei mit ihren Dachsmann-Kettenhemd-Uniformarmen. „Ich bin doch schon fertig. Ich komme … ahhhh!“

Sie spreizte die Finger mit den Krallenhandschuhen, versuchte verzweifelt, sich in der Luft festzuhalten und dotzte der Länge nach auf den Boden. David stieg in die Bremsen und sah die Gitterfußmatte, die an Lucas Super-Elektromagnet-Heldenstiefeln klebte. Die hatte sie von den Beinen geholt und die fiel erst wieder von den Schuhsohlen ab, als Luca den Schalter an ihrem Gürtel betätigte.

„Da muss ich was ändern!“, erklärte sie ernst. „Dieser reptisch versepte Schalter hat einen Wackelkontakt.“

Sie stand mürrisch auf, ging zu ihrem Kart mit dem Dachsmannkissen als Kühlerknautschzone und den Brems-Regen-Fallschirmen am Heck. Sie setzte den Cromwellhelm auf die Dachsmannmütze, die sie wie ihre eigenen Haare trug, und fragte dabei, als wäre das mit der Fußmatte gerade gar nicht passiert:

„Was heißt das eigentlich: Diesellutscher?“

David verdrehte hilflos die Augen.