Über dieses Buch:
Das Frankenreich gegen Ende des sechsten Jahrhunderts. Eigentlich sollte Merovech eines Tages das Erbe seines Vaters antreten und den Thron Neustriens besteigen – doch er hat es gewagt, seinem Herzen zu folgen und sich gegen die Familie zu stellen. Dafür muss er einen hohen Preis bezahlen. Und obwohl Merovech aus seinem Gefängnis fliehen kann, steht er ganz alleine da und findet nirgendwo in den drei Königreichen der Franken eine Zuflucht: Von nun an ist er ein Heimatloser, dem niemand vertraut und dem jeder nach dem Leben trachtet.
Die fesselnde Familiensaga über eine der mächtigsten Familien des frühen Mittelalters, die mit Blut und Schwert Geschichte schrieb: die Merowinger.
Über den Autor:
Robert Gordian, geboren 1938 in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasst er historische Romane und Erzählungen. Robert Gordian lebt in Eichwalde, einem Vorort Berlins.
Robert Gordian veröffentlichte bei dotbooks bereits zwei historische Romanserien:
ODO UND LUPUS, KOMMISSARE KARLS DES GROSSEN
Erster Roman: Demetrias Rache
Zweiter Roman: Saxnot stirbt nie
Dritter Roman: Pater Diabolus
Vierter Roman: Die Witwe
Fünfter Roman: Pilger und Mörder
Sechster Roman: Tödliche Brautnacht
DIE MEROWINGER
Erster Roman: Letzte Säule des Imperiums
Zweiter Roman: Schwerter der Barbaren
Dritter Roman: Familiengruft
Vierter Roman: Zorn der Götter
Fünfter Roman: Chlodwigs Vermächtnis
Sechster Roman: Tödliches Erbe
Siebter Roman: Dritte Flucht
Achter Roman: Mörderpaar
Neunter Roman: Zwei Todfeindinnen
Zehnter Roman: Die Liebenden von Rouen
Elfter Roman: Der Heimatlose
Zwölfter Roman: Rebellion der Nonnen
Dreizehnter Roman: Die Treulosen
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Überarbeitete Neuausgabe Mai 2014
Die komplett überarbeiteten und erweiterten Neuausgaben der Merowinger-Romane von Robert Gordian, die bei dotbooks erscheinen, beruhen auf einer Tetralogie, die zwischen 1998 und 2006 in verschiedenen Verlagen veröffentlicht wurde. Teile des vorliegenden elften Romans der Serie erschienen erstmals 1998 in Die schrecklichen Königinnen, veröffentlicht im Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 1998 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH, München
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München
ISBN 978-3-95520-591-1
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Robert Gordian
DIE MEROWINGER
Der Heimatlose
Elfter Roman
dotbooks.
Im Reich der Franken, um die Jahrhundertwende vom fünften zum sechsten von Chlodwig begründet, regiert jetzt die Generation der Enkel. Es besteht aus drei Teilreichen, die jeweils einer der Merowinger-Brüder regiert: dem Ostreich Austrasien (Sigibert), dem Nordwestreich Neustrien (Chilperich) und dem Südreich Burgund (Gunthram). Jeder der drei besitzt auch noch im Raum von Paris und südlich der Loire Erbanteile eines vierten Bruders, der früh verstarb. Der Streit um dieses Erbe hat kriegerische Konflikte zur Folge.
Besonders Chilperich, den anderen beiden nur ein Halbbruder, fühlt sich benachteiligt und sucht die Ergebnisse der Teilungen nachträglich zu korrigieren. Zwei Morde, deren Urheber er und seine Ehefrau Fredegunde sind, führen zur Todfeindschaft zwischen den neustrischen und den austrasischen Merowingern: Brunichilde, die Königin Austrasiens, sucht die Ermordung ihrer Schwester, der Königin Neustriens, in radikalster Weise zu rächen – mit einem Kriegszug zur Vertreibung Chilperichs und zur Vernichtung seines Reiches. Aber ehe noch eine militärische Entscheidung fällt, ist sie die Verliererin. Sigibert, ihr Gemahl, König Austrasiens, stirbt unter den Hieben zweier Mörder, die ihm Fredegunde sendet.
Mit ihren drei Kindern gerät Brunichilde in neustrische Gefangenschaft. Zum Glück gelingt es Herzog Gundoald, einem treuen Gefolgsmann, ihren fünfjährigen Sohn zu retten und in die austrasische Hauptstadt Metz zu bringen. Ihre beiden Töchter werden ihr weggenommen und in ein Kloster gesteckt. Brunichilde selbst wird auf Betreiben ihrer unversöhnlichen Feindin Fredegunde in einem unwirtlichen Königsgut bei Rouen gefangen gehalten. Dort erhält sie eines Tages Besuch: Merovech, Chilperichs Sohn von einer früheren Ehefrau, hat sich in sie verliebt und bricht alle Konventionen, um zu ihr zu gelangen. Er lässt sogar das Heer im Stich, als dessen Feldherr er gegen die Austrasier ziehen soll.
Die junge Witwe Brunichilde erwidert die Liebe des tollkühnen Jünglings und lässt sich – auch zu ihrem Schutz – zur Heirat mit dem Thronfolger überreden. Der Bischof von Rouen, Praetextatus, Pate Merovechs, vollzieht die Trauung. Die Ehe zwischen nahen Verwandten ist nach fränkischem Recht strafwürdig und löst am neustrischen Hof Empörung aus. Fredegunde verlangt von Chilperich Gegenmaßnahmen. Mit einem Heer zieht er nach Rouen. Das Paar flieht in eine Kirche, unter das Schutzdach des heiligen Martin.
Chilperich, der die schöne Gotin Brunichilde heimlich verehrt und rasend eifersüchtig auf seinen Sohn ist, versucht, mit einem brachialen Auftritt in der Kirche, das Paar zu trennen. Am Altar kommt es zum Schwertkampf zwischen Vater und Sohn. Der König muss sich geschlagen zurückziehen, wagt aber nicht, das Asylrecht aufzuheben. Er ändert seine Taktik, erscheint ein paar Tage später erneut in der Kirche und spielt diesmal den Kranken, sogar den Sterbenden. Angeblich sucht er Versöhnung mit seinem Sohn und Nachfolger. Das Paar ist uneins darüber, wie es auf sein Angebot, nach Verlassen des Asyls die Ehe zu tolerieren, antworten soll.
Merovech vertraut seinem Vater. Brunichilde, die ihren Gemahl seiner Charakterschwächen und Unbeständigkeit wegen schon nicht mehr liebt, sieht klar, dass der König nach wie vor ein Ziel verfolgt: sie und Merovech zu trennen. Da ihr das recht ist und es überdies Hoffnung auf Befreiung, Flucht und einen neuen Anfang gibt, verlässt auch sie das schützende Gotteshaus.
Brunichildes Hoffnung ruht auf zwei Säulen. Die eine ist die Wahl ihres kleinen Sohns Childebert zum König Austrasiens. Sie ist zwar noch immer Gefangene, doch nicht mehr ganz hilf- und rechtlos, sondern als Königinmutter wieder eine hochrangige Persönlichkeit.
Die zweite Säule ist Godin, ein austrasischer Großer, der die Abwesenheit Chilperichs und seines Heeres nutzen will, um Soissons zu erobern und ihre Rache doch noch zu vollenden.
Aber der Plan wird verraten – von Merovech: Kaum hat dieser das Asyl verlassen, bekommt er von seinem Vater den Auftrag zu einem mehrwöchigen Besuch in entfernten Gegenden des Reiches. Zynisch gibt Chilperich zu, sich inzwischen um seine Gemahlin kümmern zu wollen. Im Zorn darüber macht der Prinz seinen Vater darauf aufmerksam, was hinter seinem Rücken geschehen soll: die Eroberung seiner Hauptstadt und die Vernichtung seines Reiches.
Merovech, Sohn des Chilperich
Gailenus, Gefolgsmann und Freund Merovechs
Grindio, Gefolgsmann und Freund Merovechs
Ciucilo, Vertrauter Merovechs
Chilperich, König von Neustrien
Fredegunde, seine Gemahlin, Königin
Chlodwig, Chilperichs zweiter Sohn
Chuppa, neustrischer Marschalk
Brunichilde, Mutter des Königs von Austrasien
Gundoald, austrasischer Herzog
Godin, ein austrasischer Abenteurer
Herzog Gunthram Boso, im Kirchenasyl
Thirza, Geliebte des Herzogs Gunthram Boso
Ein Vicarius aus Thérouanne
Ein Domesticus aus Thérouanne
Faro, Mühlknecht
Während König Chilperich sich mit seinen Heerhaufen der bedrohten Hauptstadt Soissons näherte, war die Königin Fredegunde schon auf der Flucht.
Die erste Nachricht hatten tags zuvor Kaufleute aus Köln gebracht, die nach Paris und Orléans unterwegs waren. Sie hatten die Pferde fast zu Tode gehetzt, um mit ihren hochbeladenen Wagen den austrasischen Heerhaufen zu entkommen, die plötzlich hinter ihnen aufgetaucht waren. Nicht einmal übernachten wollten die Händler in der neustrischen Hauptstadt. Sie zogen die Gefahr eines Raubüberfalls auf der Landstraße, der sich unter Umständen abwehren ließ, einer völligen Ausplünderung vor, unvermeidlich, wenn das beutelüsterne Kriegsvolk sie hinter den Mauern überraschte.
Es dämmerte schon, als sie, nachdem sie zu Wucherpreisen neue Zugpferde gekauft hatten, Soissons in westlicher Richtung verließen.
Wenig später sah man von den Wachtürmen aus in der Ferne die Biwakfeuer aufflammen. Über hundert wurden gezählt. Noch bis spät in die Nacht trafen in der Stadt Bauern ein, die von ihren Feldern geflüchtet waren, um sich mit Sack und Pack, Weibern und Kindern, Ochsen und Ziegen in Sicherheit zu bringen.
Am Hof wurde ein Kriegsrat einberufen, doch alles, was dabei nach endlosem Hin-und-her-Gerede herauskam, war Ratlosigkeit. Fredegunde, die den Vorsitz führte, verstand nichts von militärischen Dingen, und ihr Beitrag erschöpfte sich in hysterischen Klagen über den Unverstand und die Nachlässigkeit ihres königlichen Gemahls, der sie und ihre Kinder schutzlos den Feinden preisgab.
Der knapp einundzwanzigjährige Chlodwig, König Chilperichs zweiter Sohn aus einer früheren Ehe, hatte seit seiner Flucht aus Bordeaux vor drei Jahren nicht viel an Verstand hinzugewonnen und wollte mit dem kläglichen Haufen, der die Besatzung Soissons’ bildete, ausfallen und dreinschlagen.
Der Comes, ein halbblinder Greis, und ein paar ebenfalls schon betagte, kriegsversehrte Antrustionen stritten darüber, wie lange man einer Belagerung, auf die man nicht vorbereitet war, standhalten könne.
Gegen Mitternacht hatte Fredegunde genug. Sie jagte den Kriegsrat der alten Trottel auseinander und befahl der Dienerschaft, zu packen.
Im Morgengrauen verließ die Wagenkolonne der Königin, von ihrer Leibwache eskortiert, die Stadt, zunächst in Richtung des Krongutes Berny. Chlodwig und die meisten der ratlosen Herren folgten zu Pferde.
Die Besonnenen blieben zurück, schlossen die Tore, besetzten die Mauern mit Schützen und sammelten alle verfügbaren Kräfte unter den Bewohnern der Stadt zum Widerstand.
Es wurde höchste Zeit. Große, ungeordnete Haufen rückten von Osten her auf beiden Seiten der Aisne an. Der Anführer, dessen Löwenhaupt jedermann in der Stadt und ihrer Umgebung bekannt war, näherte sich dem Haupttor und verlangte die Übergabe. Andernfalls werde man auf Leben und Gut der Einwohner keine Rücksicht nehmen.
Da jedoch solche Rücksichtnahme nach Öffnung des Tors erst recht nicht zu erwarten war, antwortete von den Mauern ein Pfeilregen. Der Feind traf Anstalten zur Belagerung.
Unterdessen raffte Fredegunde in Berny, wo in steinernen Gewölben der größte Teil des königlichen Schatzes lagerte, alles zusammen, was sich in der Hast fortschaffen ließ.
Ein Eilbote nach dem anderen ging ab, um Chilperich in Rouen das Unglück zu melden.
Kurz nach Mittag bestieg die Königin, ihren plärrenden Sohn Samson auf dem Arm, die widerspenstige Rigunth hinter sich herzerrend, erneut den Reisewagen. Sie ließ sich auf den schadhaften Straßen durchschütteln und erreichte endlich mit Mühe und Not, erschöpft und, was bei ihr ungewöhnlich genug war, keines Wortes mehr fähig, kurz vor Einbruch der Nacht ein anderes Krongut.
Vor Soissons begann die Belagerung mit Skorpionen, kleinen Wurfmaschinen, die Brände über die Mauer in die Stadt schleuderten. Der Schaden war jedoch unbeträchtlich, da das Feuer schnell gelöscht werden konnte. Vor dem Haupttor wollten die Angreifer einen Sturmbock in Stellung bringen. Dabei verhielten sie sich aber sehr ungeschickt, so dass es den Verteidigern immer wieder gelang, sie zurückzutreiben.
Zu deren Erleichterung machte der Feind im Laufe des Tages keine Fortschritte. Offensichtlich war nur eine Minderheit seiner Leute im Kriegshandwerk ausgebildet, und es stand schlecht um Zucht und Ordnung. Ein großer Teil der Haufen zerstreute sich, um in der Gegend zu plündern. Von der Mauer aus sah man den löwenköpfigen Anführer hierhin und dorthin reiten und Befehle erteilen, um die sich aber kaum jemand zu kümmern schien. So war Hoffnung, dass man durchhalten würde, bis der König benachrichtigt war und zum Entsatz herbeikam.
Dass der erste Eilbote Chilperich schon unterwegs nach Soissons antraf, erhöhte die Aussichten der Verteidiger.
Nachdem der König seinen Zorn an dem leichenblassen Merovech ausgelassen hatte, ordnete er Eil- und Nachtmärsche an. In den mondhellen Mainächten kam das Heer zügig vorwärts. Am Abend des vierten Tages nach dem Aufbruch von Rouen und der Flucht Fredegundes aus Soissons erreichte es das Aisne-Tal und lagerte sich dem Feind gegenüber.
Chilperich, gewöhnlich ein Feldherr der taktischen Rückwärtsbewegung, sah sich in der peinlichen Pflicht, eine Schlacht anzubieten.
In der Frühe schickte er aber seinen Marschalk Chuppa zunächst mit einem Friedensangebot ins feindliche Lager. Es lautete, wie später berichtet wurde, die anderen »möchten ihm kein Unrecht zufügen, damit nicht schweres Verderben über beide Heere käme«. Diese Besorgnis auch um das Wohlergehen des Feindes beantwortete dessen Feldherr jedoch nur mit Hohngelächter. Chuppa kam unverrichteter Dinge zurück. Der Feind sei entschlossen, sich zu schlagen, und er verlange, dass sich der König zum Kampf stelle.
»Warte nur, Godin, du Hundsfott!«, knurrte Chilperich. »Dass du mich so weit gebracht hast, werde ich dir heimzahlen!«
Diesen Ausspruch fassten der Marschalk und die anderen Anführer seines Heers als Befehl auf, ihre Hundertschaften in Marsch zu setzen. Auf eine anfeuernde Rede des Königs konnte ebenso verzichtet werden wie auf das Versprechen von Belohnung.
Die neustrischen Krieger, viele von ihnen Bauern aus der Umgebung der Stadt, sahen erbittert, was die brandschatzenden austrasischen Horden angerichtet hatten. Sie waren kaum noch zu halten.
Wie entfesselt stürmten sie mit Speeren, Lanzen und Schwertern in die gegnerischen Haufen hinein, während die Panzerreiter dem Feind in die Flanken fuhren. Hilflos in der Mitte zusammengedrängt, fielen die Austrasier reihenweise. Panik ergriff sie schließlich, als sie die Neustrier in ihrem Rücken das Zeltlager angreifen sahen. In verzweifelter Sorge um ihre Beute machten sie kehrt und wurden nun von hinten niedergehauen.
Die Sonne erreichte erst den Zenit, als die letzten Versprengten, unter ihnen der Feldherr Godin, in der Ferne verschwanden.
Chilperich hatte, auf seiner Satteldecke sitzend, von einer kleinen Anhöhe aus das Gemetzel beobachtet. Um seinen Kampfesmut zu befeuern und sich zur Lenkung der Schlacht die nötige Klarheit zu erhalten, hatte er mehrere Kannen Wein geleert. Nun setzte man ihn auf sein Pferd, und während zwei Antrustionen den heftig Schwankenden links und rechts stützten, zog er als umjubelter Sieger in seine Hauptstadt ein.
Dies war im fünfzehnten Jahr seiner Regierung sein erster persönlich errungener militärischer Sieg, der in die Geschichte als die »Schlacht von Soissons im Jahre 576« eingehen sollte.
Ein Stück des in diesen Juniwochen meist blauen, wolkenlosen Himmels war alles, was Merovech durch ein kleines Fenster unter der Decke von der Außenwelt wahrnahm.
Schwül war es, und die Hitze, die auch schon in den steinernen Wänden steckte, machte träge. Der Prinz lag die meiste Zeit, nur mit einer Hose bekleidet, auf dem breiten, für mehrere Schläfer bestimmten Bett, wälzte sich mal auf die eine, mal auf die andere Seite, kratzte den von Floh- und Wanzenbissen geschundenen Körper und hing seinen Gedanken nach.
Manchmal las er auch ein wenig in den Bekenntnissen des heiligen Augustinus oder anderen Schriften, die ihm genehmigt waren. Allerdings gelang es ihm selten, seine Aufmerksamkeit auf die erbaulichen Texte zu richten.
Bald legte er sie wieder weg und starrte erneut auf die kahlen Wände, in denen ringsum eiserne Haken steckten, zum Aufhängen von Speeren, Schwertern, Beilen und Schilden bestimmt. Es befand sich jedoch keine einzige Waffe im Raum. Sogar das kleine Messer, das er sonst immer am Gürtel trug, war ihm abgenommen worden.
Um eine Flucht unmöglich zu machen, hatte man ihm diese schmale, schräge Kammer im zweiten Stock eines Hauses zugewiesen, wo sonst die Gefolgsleute vornehmer Gäste schliefen. Durch die Fenster konnte sich gerade eine Katze zwängen. Die Tür war verschlossen. Die Treppe draußen wurde bewacht. Ein Knecht brachte zweimal täglich eine karge Mahlzeit. Sonst hatte sich schon seit zwei Wochen niemand um den Prinzen gekümmert.
Was seine Zukunft betraf, so befand sich der neustrische Thronfolger in einem Zustand vollkommener Ungewissheit. Wie lange würde seine Gefangenschaft dauern? Was hatte sein Vater mit ihm vor? Ging irgendwann plötzlich die Tür auf, und sein Henker trat ein?
Würde er sterben, ohne seine Frau Brunichilde noch einmal wiedergesehen zu haben? An sie zu denken, sich mit ihr zu beschäftigen, war die einzige Annehmlichkeit in seiner traurigen Lage. Sein Gedächtnis versuchte immer noch einmal, die Bilder der kurzen, glücklichen Zeit auf dem Gut Rotoialum in allen Einzelheiten zurückzurufen.
Es erschien ihm jetzt wieder wie ein Wunder, dass er die schönste, begehrenswerteste Frau dieser Welt geliebt hatte, dass er trotz allem ihr Gemahl war. Jeder Zug ihrer Erscheinung und ihres Charakters, an den er sich nun erinnerte, war wieder großartig und außerordentlich. Sie war für ihn mehr denn je ein vollkommenes Wesen, in dem sich weibliches Ebenmaß mit edlen männlichen Eigenschaften wie Kühnheit, Stolz und dem Streben nach erhabenen Zielen vereinigten.
Jetzt, aus der Ferne, vergötterte er sie umso mehr, und schnell geriet alles in Vergessenheit, was das herrliche Bild getrübt, was ihn verstimmt und zum Widerspruch gereizt hatte.
Dachte er an ihr gemeinsames Unglück, fielen ihm nur immer wieder Anklagen gegen sich selbst ein. Dann wiederholte er sich endlos und quälend, wie unwürdig er einer solchen Frau war und wie schmählich er sie enttäuscht hatte.
Ihr Abschiedsblick und die entsagungsvollen Worte dazu gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er war sicher, dass sie nun abermals auf ihn wartete, in der Hoffnung, er würde noch alles wieder gutmachen.
Wie sollte er aber hier herauskommen?
Immer wieder sprang er auf und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Oder er brach in laute Klagen aus.
Beides hatte aber höchstens die Wirkung, dass ein Wächter durch den Türspalt hereinsah und grob nach seinem Begehr fragte. Sich auf ein Gespräch einzulassen oder Auskünfte zu erteilen, war den Männern unter Strafandrohung verboten. Wenn sich die Tür wieder schloss, war er wie vorher mit seinen bohrenden Fragen allein.
Wie mochte es ihr jetzt ergehen? Wurde sie ebenso streng behandelt wie er? Was hatte ihre Todfeindin Fredegunde ihr zugedacht? Zu welcher neuen schrecklichen Untat würde die Stiefmutter seinen Vater anstiften?
Immerhin hatte er nichts verraten. Da er den Angriff Godins vorausgesagt hatte, wenngleich im festen Vertrauen darauf, dass er nie stattfinden würde, stand seine Mitwisserschaft zunächst außer Zweifel.
Sein Vater wollte ihn nicht einmal anhören und ihn gleich in das finstere Verlies für unfreie Verbrecher werfen lassen. Chuppa und ein paar andere einflussreiche Vertraute des Königs sprachen sich aber zu Merovechs Gunsten aus und erreichten, dass er zunächst in Freiheit blieb und Gelegenheit zu einer Rechtfertigung erhielt.
Nachdem sich alle von der Siegesfeier erholt hatten, trat im Palast von Soissons eine Versammlung der vornehmsten Antrustionen als Hofgericht zusammen. Hier brachte der Prinz dann tatsächlich das Kunststück fertig, seine Mitschuld in Frage zu stellen.
Godins Anwesenheit auf seiner Hochzeit mit Königin Brunichilde erklärte Merovech durch einen Zufall. Der Austrasier habe sich in Rouen auf dem Rossmarkt befunden, als einige der Geladenen vorüberzogen. Dabei habe er sich einfach angeschlossen.
Da der Prinz kurz vorher in Berny Godins Aufsässigkeit gegenüber dem König miterlebt hatte, sei er darüber nicht sehr erfreut gewesen. Es sei ihm am Tag nach dem Fest auch zu Ohren gekommen, dass Godin zweideutige Reden geführt habe. Kurz darauf habe der Bischof die Nachricht gebracht, der Austrasier sei auf und davon.
Lag die Vermutung nicht nahe, fragte Merovech vor den Versammelten, dass er mit schlechter Absicht zurückkehren würde? Und sei es nicht seine Pflicht gewesen, fragte er weiter, seinen Vater, der den plötzlichen Entschluss zu einem längeren Aufenthalt in Rouen fasste, vor einer solchen Gefahr zu warnen?
Nach dieser Frage neigten sich viele Köpfe zustimmend, ernst und bedächtig. Einige würdige Männer ergriffen das Wort zur Verteidigung des Prinzen und wiesen darauf hin, dass seine Warnung den raschen Aufbruch bewirkt habe. Nur dadurch sei der König womöglich imstande gewesen, den Feind noch vor den Toren der Stadt zu schlagen. Wären die Verluste nicht größer gewesen, wenn Godin sich schon hinter den Mauern befunden hätte?
Chilperich verwahrte sich zwar dagegen, seinem Sohn auch nur den geringsten Anteil an seinem glorreichen Sieg zuzusprechen. Doch wegen seiner eigenen Sorglosigkeit und des schlechten Verteidigungszustands der Stadt hatte er kein gutes Gewissen. So war er schon fast geneigt, zu vergeben.
Er hatte auch keine Lust, zu Gericht zu sitzen, sondern verbrachte lieber die Zeit im Hafen, in der Gesellschaft seiner Schiffer und Zimmerleute. Mit ihnen besprach er, wie die beste Galeere flottgemacht und über die Aisne und Oise in die Seine geleitet werden konnte. Er wollte schon fort sein, wenn Fredegunde nach Soissons zurückkehrte.
Die Königin war jedoch schneller als seine Tag und Nacht arbeitenden Handwerker.
Die Botschaft vom Sieg und der Vertreibung des Feindes erreichte sie bereits nach wenigen Tagen, obwohl sie sich immer noch mit ihrem Tross in Richtung Westen bewegte. Augenblicklich befahl sie, kehrtzumachen. Drei Meilen vor dem Ziel wurde sie von einer Abordnung ihrer eifrigsten Ohrenbläser erwartet. Mehrere der vornehmen Herren waren mit Chilperich in Rouen gewesen.
So war Fredegunde über alles wohlunterrichtet, als sie in Soissons aus dem Wagen stieg.
Wie ein Sturmwind der Entrüstung raste sie durch den Palast. Nachdem sie den König geküsst und ironisch seinen »glücklichen Sieg« gerühmt hatte, überhäufte sie ihn mit Vorwürfen.
Für die Missgeschicke der überstürzten Flucht, auf der sie und ihre Kinder ständig in Lebensgefahr gewesen seien, machte sie ihn verantwortlich. Seine Gefolgschaft bezeichnete sie als Bande von Feiglingen und Dummköpfen.
Als sie Merovech sah, den Ehemann ihrer Todfeindin, der zu ihrer Begrüßung herbeikam, schrie sie auf, bekreuzigte sich und rannte davon, als sei ihr der Leibhaftige begegnet. Dabei zerrte sie Rigunth, die Zwölfjährige, die ihrem Lieblingsbruder um den Hals fallen wollte, mit sich fort.
Es empörte sie, dass man den Urheber allen Übels frei herumlaufen ließ, damit er zu seiner Mittäterin Verbindung aufnehmen und neue Schandtaten aushecken konnte. In einer Scheune, wo Verwundete lagen, stimmte sie ein Klagegeheul an über »all das Leid, das bei besserer Wachsamkeit vermeidbar gewesen wäre«.
Sterbende ließ sie mit kirchlichem Pomp vor das Stadttor zur Basilika des heiligen Medardus tragen und neben dem Grabmal des einstigen Bischofs von Noyon und Tournai niederlegen. Sie selbst warf sich auf die Knie, zerraufte sich die schwarze Mähne, schlug sich die Brust, zerriss ihr Gewand und schrie zu dem Heiligen, er möge nicht nur diese Unglücklichen, sondern sie selbst und ihre Kinder retten, die sie nur gerade davongekommen und von neuen satanischen Ränken bedroht seien. Die lärmende Kassandra erreichte sehr schnell, was sie wollte.
Das Hofgericht trat schon am nächsten Tag erneut zusammen, um die Untersuchung gegen Merovech, die bereits im Sande verlaufen war, wiederaufzunehmen.
Fredegunde saß selbst neben Chilperichs Richterstuhl. Sie hatte den Argwohn ihres Gemahls gegen den Prinzen und seine Angst vor weiteren Anschlägen zwar ohne Mühe wieder aufgerührt, doch fürchtete sie, der König könnte aus gewissen Gründen, die sie nur zu gut zu kennen glaubte, auch weiterhin durch die Finger sehen. Deshalb warf sie sich von Beginn an zum Ankläger auf und lenkte die Verhandlung in die von ihr gewünschte Richtung.
Den Ursprung der Verschwörung, die Merovech hartnäckig ableugnete, machte sie bereits während des Winteraufenthalts in Paris aus.
Beim heimlichen Treffen im Hause des Comes, wo die Gefangene untergebracht war, habe die Gotin ihre giftige Saat gelegt. Von da an sei der Prinz ihr gehorsamer Sklave gewesen. In Tours habe er in heimlichen Gesprächen mit Herzog Boso, ihrem Vertrauten, die weiteren Schritte beschlossen, unter anderem den Raubüberfall auf Leudast, den Comes der Stadt. Mit der Beute seien dann Godin und andere geködert worden. Inzwischen habe das schamlose Weib ihrerseits Verräter gekauft und den Bischof Praetextatus für die skandalöse Heirat gewonnen. Am Hochzeitstag sei das Komplott bekräftigt und endgültig geschlossen worden. Waddos Flucht habe wenigstens eines verhindert: die Vereinigung der austrasischen Eindringlinge mit den einheimischen Verrätern.
»Aber beinahe hätten uns die Austrasier auch allein überrannt!«, rief Fredegunde. »Und wissen wir, ob das nicht erst ihre Vorhut war? Ob nicht das gotische Reptil gemeinsam mit deinem Sohn Merovech, König, noch mehr Schlangenbrut gezeugt hat, die morgen vielleicht schon über uns kommt? Glaubst du, dass die Gefahr vorüber ist? Du wirst dich noch wundern!«
Merovech wurde in Haft genommen.